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Als nachts um halb zwei mein Telefon klingelt und Sarahs Name auf dem Display erscheint, weiß ich, dass etwas Schlimmes passiert sein muss. Nur wie schlimm, ahne ich noch nicht. Wir sind seit zwanzig Jahren getrennt, aber ich bin so ein Auf-mich-ist-immer-Verlass-Typ. Egal wie schlecht man mich behandelt hat. Und Sarah hatte mich gar nicht schlecht behandelt. Ich nehme den Anruf ohne Zögern an - und sie sagt darauf hin, ohne zu zögern: "Mein Baby ist tot." Was sagt man darauf? Ich sage nichts. Ich stehe auf und fahre los.
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Seitenzahl: 117
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Impressum
Herausgeberin:
edition:behmann ist ein Imprint-Verlag der
medicteach GmbH
Offenbacher Straße 91
63165 Mühlheim am Main
Telefon: +49 69 175 370 42-0
medicteach.de
behmann.de
Geschäftsführung:
Jan C. Behmann
Sitz der Gesellschaft:
Frankfurt am Main
Amtsgericht Frankfurt am Main, HRB 91438
USt. ID: DE278350938
Copyright für alle Texte:
© Jan C. Behmann
Alle Rechte vorbehalten.
Juli 2023
Layout, Satz und Reinzeichnung:
Berthold Schnitzer, Offenbach am Main,
bsj-creative.de
Cover mit einem Bild des Autors: Gabor Farkasch,
Berlin,
gaborfarkasch.de
Vertrieb:
Vertrieb: epubli - ein Service der neopubli GmbH, Berlin
ISBN der gedruckten Auflage: ISBN: 978-3-9824174-6-2
ISBN der eBook-Auflage: 978-3-7575641-3-1
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Für
Christopher Bulle
Jan C. Behmann
Im Licht des
vergessenen Zustands
Ein Psychogramm modernen Lebens
edition:behmann
Der Inhalt dieses Buchs ist fiktional.
Triggerhinweis:
Dieses Buch beschäftigt sich
mit dem Tod eines Säuglings.
Die Momente,
die Menschen für immer prägen,
sind die,
von denen die wenigsten wissen.
Neneh Cherry & Youssou N´Dour:
7 Seconds Away
Prolog
Eine kleine Vorbemerkung zu dieser Geschichte sei mir als Autor erlaubt, obwohl ich finde, dass Geschichten generell für sich selbst stehen. Da einige Menschen aufgrund der Vorankündigung aber fragten, ob dieser Roman autobiografisch sei, möchte ich darauf hinweisen, dass die Geschichte völlig frei erfunden ist.
Im Februar 2018 fuhr ich mit der Straßenbahn in Wien ziellos durch die Gegend und genoss den winterlichen Tag mit tiefstehender Sonne und klarer Sicht. Durch Zufall fuhr ich mit der Linie 71 bis zum Wiener Zentralfriedhof und entschloss mich spontan ein wenig diese riesige Liegenschaft zu erkunden. Ich passierte ein monumentales Grab eines Autohändlers (mitsamt abgebildeter S-Klasse) und kam dann in einen Bereich, in dem die Gräber ungewöhnlich verfallen wirkten. Erst auf den zweiten Blick bemerkte ich, dass es sich um den Teil des Friedhofs handelte, auf dem Babys und Kleinkinder begraben lagen. Auf einem frischen Grab wehte an einem Kranz das Band mit der Aufschrift »Deine Kindergartengruppe«. Als ich dann wieder auf dem Weg zum Ausgang war, fragte ich mich, warum gerade diese Gräber, obwohl die Sterbedaten nicht lange zurücklagen, bereits so verfallen waren. Hatte Grabpflege doch etwas mit Lebensdauer zu tun? Mir fiel Helmut Schmidt ein, der in der Reportage Außer Dienst von Sandra Maischberger gefragt wurde, warum er das Grab seines Sohnes nur einige wenige Male besucht habe. Schmidt antwortete, dass der Sohn auch nur ein halbes Jahr alt geworden sei. Vielleicht hat Lebensdauer doch etwas mit Erinnerungsdauer, oder noch grundlegender, mit Erinnerungsfähigkeit zu tun?
Auf der Rückreise aus Wien erkrankte ich schwer an der Grippe und lag unversehens im Schockraum eines Krankenhauses der Maximalversorgung. In eben jenem Schockraum, hatte ich als Rettungsdienstler schon Patienten reanimiert, was die Situation nicht angenehmer machte. Diese Erkrankung hätte für mich, wie für viele Menschen 2017/2018, auch anders ausgehen können; es lässt mich die Grippeschutzimpfung noch mehr schätzen. Aber es ließ auch die Frage aufkommen, wer und wie lange sich an mich erinnert hätte.
Jahre später wollte ich literarisch der Frage nachgehen, was es bedeutet, als eigentlich unbeteiligte Person in die Geschehnisse nach dem Tod eines Säuglings eingebunden zu sein und habe daher bewusst die Perspektive eines Ich-Erzählers gewählt. Bei der Wahl des Spielortes habe ich ebenso bewusst meine Heimatstadt Hannover gewählt. Ich halte mich da an Martin Suter, der einmal sagte, er könne das am besten beschreiben, was er am besten kenne, weswegen seine Romane in der Schweiz, seiner Heimat, spielten.
I. KAPITEL
Mit Sarah hatte ich alles falsch gemacht, was man falschmachen konnte. Ihr war das egal, ihr Leben war weitergegangen. Meines stagnierte in der Erinnerung an das Vergangene, in der Hoffnung, die Gegenwart schritte langsamer voran, so mehr man an das Gestern glaubte.
Und ich glaubte gern.
Sie antwortete mir, weil ich ihr gern schrieb.
Das wusste sie. Das hatte ich ihr geschrieben, schreiben müssen, weil sie es sicher nicht wahrnahm.
So wenig wie unsere Vergangenheit.
Ich bin inzwischen alt genug, um Worte wie »Vergangenheit« sagen zu können, da ich um die Vergänglichkeit mittlerweile weiß.
Als sie mir schrieb, sie sei schwanger, war ich so erschrocken, dass ich ihre Kontaktdaten löschte. Kein Status, kein Profilbild – nichts dergleichen wollte ich sehen. Die zwischenmenschliche »Kriegsführung« wurde bewusst oder unbewusst durch solche Meldungen flankiert.
Auch meine digitale Flucht durch proaktives Löschen, kannte sie schon.
Das war mein digitaler Distanzierer geworden.
Eigentlich sagte es mehr aus, als ich wollte.
Die Menschen wurden mir übernah.
Ohne es zu wollen. Für Sarah war die Vergangenheit geschehen, aber eben auch vergangen.
Für sie war es in Ordnung, weil ich eigentlich eine Fiktion aus der vergangenen Vergangenheit für sie war.
Ich war ein Plusquamperfekt.
Hatte sie geliebt, hatte mit ihr gelebt, hatte mit ihr gelitten.
Und was gewesen war, war eben nun mal gewesen und damit schon lange nicht mehr relevant - für die anderen.
»Psychohygiene« höre ich die Menschen immer öfter sagen. Für sie würde nur die Gegenwart zählen, alles andere sei vergangen und die Zukunft nicht planbar.
Wie die das können, frage ich mich.
Nun war sie also schwanger. Es hämmerte in meinem Kopf. Das war die Besiegelung, dass unsere beiden Leben die größtmögliche Distanz angenommen hatten.
Ich weinte in mein Kissen. Mein Kissen kannte mich gut.
Wohl besser als Sarah mich hätte kennenlernen wollen.
Oder hatte sie mich so kennengelernt und ich erinnerte mich nicht mehr?
Ich habe eine große Zuneigung zu meinem Kissen.
Ein treues Wesen.
Sarah würde jetzt die Augen rollen.
Sie ist fernab des Pathos.
Praktisch veranlagt.
Mich aber hatten die Dreißiger zu einem feinfühligen Wesen werden lassen. Das machte das Leben in mir bunter, aber ließ die Menschen in ihrem Alltagstrott umso grauer wirken. Daraus ergab sich eine gefühlte Melange wie ein grau-buntes Batikshirt.
Das konnte reizen – oder sich an manchen Tagen innerlich wie eine rumpelnde Waschmaschine anfühlen.
Wir schrieben ab und an. Auf meine Motivation hin. Wie meistens. Wie bei vielen. Menschen meldeten sich selten, wenn alles gut war.
Als Notfallkontakt schien ich aber relevant.
Wenigstens das.
Etwas mehr wäre auch ganz schön gewesen.
Aber wurden die Menschen wirklich immer grauer?
Wurde ich immer älter und innerlich bunter?
Die Menschen glitten in ihrem Leben wie auf Schienen. Und fanden das gar nicht schlimm. Planbarkeit hatte jedwede Abenteuerfreude abgelöst.
Abenteuer waren nun der selbstausgebaute Camper. Der Pauschalurlaub. Die Alpentour.
Für mich wurden diese Dinge immer mehr ein Beweis des Alptraums des westlichen Industrielebens.
Man schnorchelte sich so durch.
In mein imaginäres Notizbuch schrieb ich: Schnorchelleben vermeiden - um jeden Preis!
Der Preis war hoch gewesen.
Ich habe mit großen Tranchen an Alltagseinsamkeit bezahlt.
Aber ob es wirklich Einsamkeit oder vielmehr Alleinsein ist, figuriert meine Tageslaune aus.
Meistens bin ich gern allein.
Kompatible Personen fehlen allerorten.
Sie waren wie Trabanten meinem Leben entschwunden.
Oder sie waren gestorben.
Menschen fühlten sich auch in Gruppen einsam. Wie hoch da wohl die Dunkelziffer war? Ich hörte sie im Restaurant und im Café gackern. Alles toll, alles im Plan, alles im Griff, gluckerten sie so dahin.
Ich hatte derweil am Nachbartisch lediglich meine Kaffeetasse im Griff.
War froh daheim meinen Abwasch hinzubekommen.
Aber das Leben im Griff haben?
Ich finde das vermessen.
Verschreckt man das Leben nicht durch Zugreifen?
Oder redete ich über Dinge, die ich gar nicht verstand?
Oder dachte ich vielmehr Dinge, die ich gar nicht verstand?
Weil reden, tat ich mit fast keinem mehr.
Ich war so redefrei geworden wie Menschen in den Alltagsgeschichten von Elizabeth T. Spira.
Da waren sie, die Menschen, mit denen keiner mehr sprach und die jeden Strohhalm der kommunikativen Möglichkeit suchten, um das Gefühl wiederzuerlangen, ein Mensch zu sein.
Keine vierundzwanzig Stunden nachdem ich ihr geschrieben hatte, ich sei immer für sie da, war ich für sie da. So in echt. So wie ich es mir nie vorgestellt hätte. So wie es sich niemand hätte erhoffen wollen.
Hätte ich den Mund nicht so voll nehmen sollen? Sollte das Schicksal, sofern es das denn überhaupt gab, es wirklich so wollen? Was, wenn ich nichts geschrieben, meine digitale Klappe gehalten hätte?
Schwanger war sie nun. Ein Kind sollte sie bekommen. Von einem anderen.
Natürlich. Es waren immer die anderen.
Die anderen, mit denen sie zusammen waren. Mit denen sie ihre Zukunft planten.
Mit denen sie das überhaupt für möglich hielten.
Mit mir hielt man im Allgemeinen wenig für möglich.
Da konnte ich mittlerweile nur zustimmen.
Ich wollte nichts planen, ich wollte hineinschwimmen in den Tag. In das Leben.
Mein Leben.
Das Leben der Anderen.
Doch die waren mittlerweile alle an Land.
Meine Generation war angekommen.
Nur ich eumete als Boje im Wasser des ungeordneten Lebens und wich den Außenbordern der Widrigkeiten aus.
Von Tag zu Tag.
Freute mich über das situative Umschiffen von Untiefen und Propellern.
Feierte kleine Erfolge.
Erfolge, die für die anderen Selbstverständlichkeiten waren.
Sie haben Renditen, Zinsen, passives Einkommen, eine (gerne auch zwei) Lebensversicherungen. Ein Haus mit Garten. Ein Trampolin. Einen Markengrill.
Ich habe lediglich eine Frotteedecke.
Auf der sitze ich, als mein Telefon klingelt. Mitten in der Nacht.
Ich bin wach. Die Nacht ist mein befreiender Mantel der alltäglichen Pflichten, denen ich mich nicht verpflichtet fühlen will.
Halb drei Uhr nachts.
Sarah.
Sarah?
Sarah!
Woher weiß sie, dass ich wach bin?
Woher das Interesse plötzlich?
Das Kind hatte ich vergessen.
Ich würde es nie wieder vergessen.
Ich nehme ab.
»Hey!«, sage ich und versuche irgendwie normal zu klingen. Wie man halt so klingt, wenn man ans Telefon geht. Durch das Denken darüber, wie man wohl richtig ans Telefon geht, klinge ich dann immer wie einer, der nicht weiß, wie man nicht klingen sollte, wenn man an ein Telefon geht.
»Mein Baby ist tot.«
Was sagt man da?
Ich denke das. Oder denke ich es nur im Nachhinein?
Sie weint nicht. Da ist nur Stille in der Leitung.
250 Kilometer Stille.
Das Leben der anderen dreht sich weiter wie der Planet, auf dem wir leben und doch nicht wissen, was wir hier machen. Und wozu.
Sie sagt nichts mehr. Sie sagt nur diesen einen Satz.
Er scheint alles zu enthalten.
Ich sage nichts.
Ich lege auf.
Ich stehe auf, gehe mechanisch zum Kleiderschrank. Schaue rein. Schließe die Tür wieder.
Beschließe keine Kleidung zu brauchen. Keine Zeit zu verlieren.
Raffe Schlüssel, Portemonnaie, Smartphone und Jacke. Eile die Treppe herunter.
Die Stufen sind noch warm.
Es herrscht die befreiende nächtliche Kühle eines Hochsommertages.
Die Kälte wirkt realer als die Nachricht weswegen ich in ihr stehe.
Meine Autotür fällt ins Schloss.
Ich rolle vom Parkplatz. Ich weiß den Weg, ohne etwas dafür zu tun.
Ich bin sonst wenig orientiert. Nein, nicht nur auf das Leben bezogen. Auch geographisch. Das hat mir den Pilotenschein – lange vor interaktiven Kartentablets im Cockpit – verhagelt. Wer zwar fliegen, aber nicht navigieren kann, sollte nicht durch die Luft düsen.
Die Unwissenheit des richtigen Weges, eine Allegorie auf mein Leben.
Mir ist sofort klar, in welchem Krankenhaus sie ist.
Ich fahre normalerweise weder schnell noch Autobahn.
Dennoch sehe ich mich unter den blauen Schilderbrücken der Autobahn hindurchgleiten. Ich fahre auf die A648 und drehe dann auf die A5, Richtung Hannover. Ewig bin ich diesen Weg nicht mehr gefahren. Und doch fühlt es sich an wie eine Heimkehr. Wenn der Grund nur nicht wäre. Wenn nie ein Grund wäre. Grundfreiheit, das wäre was. Auch der gute Grund kann ja toxisch sein – oder werden. Wie vieles verdirbt, was bleibt. Wie das Leben. Alles verlebt sich. Sollte alles nur um den Moment willen sein?
Ich sehe auf den Tacho. Sehe mich auf der linken Spur. Die Tachonadel meines Autos hat diesen Bereich bisher nicht kennengelernt; die linke Spur kennen meine Reifen auch nicht. Es wird ihnen egal sein. Es ist Materie, die denkt nicht. Denken wir.
Raststätte. Der Wind pfeift. Die Landschaft ist dunkel. Hügel sehe ich, kleine Ortschaften, die friedlich zu ruhen scheinen. Ich würde auch gern ruhen. Ruhe aber nie. Und ruhe genau dann. Der Kaffee dampft, ich liebe ihn. Er ist eine Konstante in meinem Leben. Ein Kuschelschal zum Trinken.
Das Blau der Tankstelle beruhigt mich. Ich mag die Neonreklame und laufe auf dem Bordstein an den Zapfsäulen entlang und denke, ich würde einen Kanister pfeifend umhertragen. Hinter der Leitplanke rauscht der Verkehr.
Diese Orte sind entrückt aus dem normalen Fortgang von allem.
Trabanten, Exile für Menschen on the go.
Ich steige wieder ein, schalte die Sitzheizung auf die höchste Stufe. Der »Eiertoaster«, wie der Verkäufer scherzhaft gesagt hatte. Die Aussage schien eine Teilbefriedigung für fehlende andere Befriedigung zu sein. Das fiel ihm dann auch auf, als er es gesagt hatte. Doch da war es schon zu spät. Wie mit vielen Dingen, die man sagt, gesagt bekommt. Wenn sie draußen sind, sind sie draußen. Wie Medikamente: einmal in der Vene drin, kann man sie nicht mehr herausschütteln.
Ich habe einiges in meinem Leben gesagt, was ich gerne zurücknehmen würde. Einfach Löschen. Die Folgen des Gesagten gleich mit.