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Bisher schaffte er scheinbar alles mit links: Frederic Reitmayr ist dreiundvierzig und frisch zum Partner der Sozietät Flachs & Delk gewählt worden. Eigentlich hat er, aus einfachen Verhältnissen stammend, alles erreicht. Eckbüro, Teilhaberschaft einer Kanzlei und den lang ersehnten Sportwagen. Wäre da nicht der Multi- Aufsichtsrat Burchardt, der ihn ständig behelligen will und seine Nasenringtragende Assistenz Constanze Neuhaus, die mehr an Reitmayrs bestem Freund Seydler interessiert ist als allen drei lieb ist. Als eine Wirtschaftsprüferin verunglückt, rückt Reitmayr in den Fokus der Ermittlungsbehörden. Doch bevor Reitmayr reagieren kann, verglüht sein bisheriges Leben schlagartig und die Frage ist: Wie wehrt man sich, wenn man sich nicht mehr wehren kann?
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Seitenzahl: 270
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Über dieses Buch:
Bisher schaffte er scheinbar alles mit links: Rechtsanwalt Frederic Reitmayr ist dreiundvierzig und frisch zum Partner der Sozietät Flachs & Delk ernannt worden. Eigentlich hat er, aus einfachen Verhältnissen stammend, alles erreicht. Eckbüro, Teilhaberschaft einer renommierten Kanzlei und den lang ersehnten Sportwagen. Wären da nicht der Multi-Aufsichtsrat Burchardt, der ihn ständig behelligen will und seine nasenringtragende Assistentin Constanze Neuhaus. Als eine Wirtschaftsprüferin verunglückt, rückt Reitmayr in den Fokus der Ermittlungsbehörden. Doch bevor er reagieren kann, verglüht sein bisheriges Leben schlagartig und die Frage ist: Wie wehrt man sich, wenn man sich nicht mehr wehren kann?
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Impressum
Herausgeberin:
edition:behmann ist ein Imprint-Verlag der
medicteach GmbH
Offenbacher Straße 91
63165 Mühlheim am Main
Telefon: +49 69 175 370 42-0
medicteach.de
behmann.de
Geschäftsführung:
Jan C. Behmann
Sitz der Gesellschaft:
Frankfurt am Main
Amtsgericht Frankfurt am Main, HRB 91438
USt. ID: DE278350938
Copyright für alle Texte:
© Jan C. Behmann
Alle Rechte vorbehalten.
Juli 2023
Lektorat:
Heide Sommer, Wacken
Layout, Satz und Reinzeichnung:
Berthold Schnitzer, Offenbach am Main,
bsj-creative.de
Cover:
Gabor Farkasch, Berlin,
gaborfarkasch.de
Vertrieb:
Vertrieb: epubli - ein Service der neopubli GmbH, Berlin
ISBN der gedruckten Auflage: 978-3-9824174-0-0
ISBN der eBook-Auflage: 978-3-7575625-6-4
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Für
Christopher Bulle
Jan C. Behmann
Reitmayr machte immer
alles mit links
Roman
edition:behmann
Reitmayr wollte sich endlich selbst ein guter Freund sein. Er blickte aus einem der Fenster seines Eckbüros in der Frankfurter Innenstadt; es hatte zu stürmen begonnen. Auf dem Trottoir sah er das Herbstlaub in Kreisen tanzen. Er ließ den Blick schweifen und seine Gedanken fliegen. Mit dem Bezug dieses großzügig geschnittenen Büros im zwölften Stock hatte Reitmayr alles erreicht, was es in der Jurisprudenz zu erreichen gab. Denn das Eckbüro war viel mehr als ein Zimmer mit Aussicht auf den Main und den großen Monolithen am östlichen Ende Frankfurts, die EZB. Das Zauberwort hieß Partnerschaft. Und das war mit dem Beginn ihres Jurastudiums für sie alle das erklärte Ziel gewesen. Was sie aber auch alle wussten, die meisten aber verdrängten: Es würden niemals alle Partner werden. Es galt, die ganzen Anstrengungen, Ausbeutungen und Erniedrigungen dem hehren Ziel, der Teilhaberschaft in einer angesehenen Anwaltskanzlei, unterzuordnen. Dann würde man alles geschafft haben. Dachten sie. Und Reitmayr hatte es geschafft. Mit dreiundvierzig. Damit lag er am unteren Ende des Altersdurchschnitts in seiner Firma, die knapp zweihundert Berufsträger, man hätte auch einfach Anwälte sagen können, an vier Standorten in Deutschland beschäftigte. Und nur zweiundzwanzig davon waren Partner. Und nur zwei von diesen Namenspartner. Alle anderen standen zwar auf der Rückseite des Briefbogens, aber nicht auf dem Firmenschild. Das war den beiden Gründungspartnern vorbehalten. Sie hatten nie ein Schild mit vielen Namen gewollt.
Reitmayr fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger am gesteppten Revers seines Maßanzugs entlang. Ein gedecktes Nachtblau, das seine noch immer sportliche Figur umschmeichelte. Wie ein billiger Stereotyp war Sport immer noch sein Ausgleich zum Schreibtischdasein. Sport und eine erweiterte Form von Sport: hemmungsloser Sex. Um hemmungslos zu sein, brauchte es für ihn nur eins: Unverbindlichkeit. Und nichts war in einer Großstadt leichter zu bekommen als Unverbindlichkeit – zu anderen, aber vor allem zu sich selbst. Ob sie nun Larissa, Svea oder Ricarda hießen: Alle waren jung, gutaussehend und unglaublich strebsam. MBA, LL.M., egal welche Titel ihre Namen am Tage schmückten, nachts waren nicht nur alle Katzen, sondern auch die Gelüste grau. Für Reitmayr manchmal zu grau. Nur der sportliche Aspekt reizte ihn noch. Seine letzte Affäre, wenn man diesen zwischenmenschlichen Stellungskampf überhaupt so nennen konnte, brach unrühmlich und klischeehaft auseinander, als er beim Orgasmus den falschen Namen stöhnte. Wie schnell doch durch ein einziges herausgepresstes Wort sämtliche Zuneigung (Linda, wie sie hieß, hatte sich vorher, im Restaurant La Vie im Grüneburgweg, noch hingebungsvoll um seine liebende Aufmerksamkeit bemüht) wie eine abgedrehte Gasflamme plötzlich auslöschen konnte. Sie war aufgestanden und hatte ihre spärliche, aber sündhaft teure (noch von Reitmayrs Vorgänger bezahlte) Abendbekleidung zusammengerafft. Reitmayr hörte nur noch seine schwere Wohnungstür zuschlagen.
Raus kam man aus seiner Wohnung inzwischen deutlich leichter als rein. Denn auch die Diebesbanden hatten begriffen, dass in den Wohnblöcken am Mainufer mehr zu holen war, als man ihnen von außen ansah. Das war ungewolltes Understatement. Die Baubehörde hatte keine ausufernde Architektur an der Mainuferlinie zugelassen, und so waren halbhohe Hochhäuser in nahezu gleicher Optik entstanden. Ein wenig erinnerte es Reitmayr an die funktionalen Bauten Le Corbusiers: Nüchtern betrachtet waren diese Wohnarrangements an der Wasserlinie auch nichts anderes als Sozialbauten. Aber die Wohnungen waren nicht für den Blick von außen gebaut worden. Aus ihnen sollte man hinausschauen.
Reitmayr hatte sich schon zwei Jahre vor seiner Partnerschaft dazu entschieden, zumindest bei seiner Wohnsituation alles auf ein gesundes Fundament zu stellen. Er hatte vorher in einer relativ schmucklosen Altbauwohnung im Frankfurter Nordend gewohnt. Das Viertel war hip und wurde immer teurer, allerdings fehlte Reitmayr die Weite. Der Blick prallte nach nur wenigen Metern auf eine Hauswand. Und wenn Reitmayr in die Wohnungen derer blickte, die das bildungsbürgerliche Ideal so sehr verinnerlicht hatten, fragte er sich immer wieder, wo denn deren Bühne eigentlich endete und sie mal müde und abgeschafft eine Zigarette rauchten. Stattdessen alberten sie mit den Kindern herum und hatten ein Lächeln im Gesicht, das bei ihm Aggressionen hervorrief. Mit dem Kauf der Wohnung am Main zwang er sich unbewusst auch, die Weichen für eine zukünftige private Partnerschaft zu stellen. Im Kopf formulierte er Annoncen: »Mann mit Wohnung sucht Frau mit Platzbedarf.« Dabei musste er oft kurz kichern und sich über seine alberne Seite wundern, die ihm im Studium abhandengekommen, ja ausgetrieben worden war. »Sie werden Ihr Leben für die nächsten Jahre hier im Hörsaal lassen. Sie gehören mir. Und wer nicht jeden Tag eine von mir als geeignet klassifizierte Tageszeitung mit Wirtschaftsteil liest, kann gleich wieder gehen!«, hatte sein Professor Riebert gesagt. Und sollte damit Recht behalten. Hinterher waren sie eine homogenisierte Gruppe. Selbst in privaten Emails ertappte Reitmayr sich, dass er juristischen Duktus anwendete. Man hatte sie normiert. Das war der Deal, damit sie danach mit einem satten Vergütungssystem Kasse machen konnten. »Gesellschaft in legitimer Weise abschöpfen«, hatte der Professor bei einer etwas beschwingten Feier verlautbart. Reitmayr dachte damals nur kurz: Aber auch legal?
Während der Schulzeit war Reitmayrs humorige Seite kurzzeitig aufgeblüht. Doch wie die Knospen eines Rosenstrauchs wurde diese von seinen Eltern zurückgeschnitten. Er wurde ermahnt, bekam Hausarrest. Bis er funktionierte und sie glücklich waren. Und wer wollte keine glücklichen Eltern?
Seine Eltern waren bei seiner Geburt schon Ende dreißig, was in den Siebzigern noch eine Besonderheit war. Ob das seine Großeltern seien, fragte ihn einmal ein Mitschüler. Reitmayr hatte sein Pokerface aufgesetzt und tapfer verneint. Dass er danach auf der Schultoilette weinte, hatte er keinem erzählt. Vor allem nicht seinen Eltern. Sie waren, und das fasste es ziemlich genau zusammen, das, was man anständig nannte. Sie zahlten alle Verbindlichkeiten pünktlich, gingen Streit durch übertrieben sorgsames Verhalten aus dem Weg und taten auch sonst alles, um möglichst ruhig und störungsfrei durch das Leben zu kommen. Reitmayrs Vater war Beamter im sogenannten »einfachen Verwaltungsdienst« gewesen, seine Mutter die klassische Hausfrau. Warum sie ihn so spät und als einziges Kind, bekommen hatten, war nie ein Thema. Auf der großen Couch im Wohnzimmer wurde nicht geredet, man sah fern, und je älter die beiden wurden, desto weiter schien sich jeder in sein eigenes Universum zurückzuziehen. Für Reitmayr stellte sich bloß immer die Frage, was in diesen Universen wohl passierte. Seine Eltern lebten ihr ganzes Leben so vor sich hin und schienen keine persönlichen Interessen oder Wünsche zu haben. Das Leben wurde gelebt wie qua Geburt befohlen, so kam es Reitmayr vor. Wenn er daran dachte, überkam ihn ein leichtes Ziehen im Bauchbereich. Hatten seine Eltern nie eine unbekannte Leidenschaft? Kein dunkles Geheimnis? Wenigstens zusammen hätte er ihnen das irgendwie gegönnt. Aber er nahm an, dass es da einfach nichts gegeben hatte. So einträchtig und einförmig die beiden lebten, so starben sie auch. Kurz hintereinander, ohne großes Aufsehen, und ohne ihr einziges Kind, den Sohn, damit zu behelligen. Reitmayr wunderte sich, wie leicht und dennoch betäubt er diese Zeit hinter sich und seine Eltern unter die Erde gebracht hatte. Manchmal hatte er sich in dieser Zeit ernsthaft eine Schulter zum Anlehnen gewünscht. Dann hörte er morgens wieder die Weltansichten einer dieser Frauen, die er abends aus einem Club mit nach Hause genommen hatte, und war froh, dass es nicht so gekommen war. Sie faselten alle das Gleiche. Alle ihre Sätze begannen mit Ich. Gefolgt von angelernten Plattitüden, die sich um Eventmanagement, Master oder Äitsch-Arrr, also Human Resources, drehten. Oder noch schlimmer: Personalentwicklung. Er konnte vor lauter Ekel ein Schütteln nicht vermeiden.
Das Telefon klingelte, Reitmayr schreckte in seinem Eames-Lounge-Chair, in dem er saß, hoch und ging etwas benommen zum Telefon.
»Reitmayr«, sagte er mit etwas zu fester Stimme.
»Ja, hallo Herr Doktor Reitmayr, wir suchen die Akte von Herrn Burchardt. Diese Übernahme der ER12-Com Investment AG durch die ZER7-Investment SE…«, blubberte es aus dem Hörer. Reitmayr musste erst einmal die Stimme seiner Assistentin erkennen. Sie war neu, und bisher hatte er sich noch nicht an sie gewöhnen können. Ihre Vorgängerin hatte sich sechs Jahre um ihn gekümmert. Frau Schmiedle war eine stille Person mit streng zusammengebundenem Haar gewesen, und obwohl sie erst in ihren Zwanzigern war, wirkte sie schon müde. Ob manche Menschen vielleicht schon müde auf die Welt kamen? So müde, wie sie auf ihn immer gewirkt hatte, war sie aber wohl nicht, denn eines Tages verkündete sie ihm, dass sie schwanger sei und schon bald in den Mutterschutz ginge. Reitmayr gestand sich ein, den Bauch, den sie deutlich sichtbar vor sich hertrug, bis zu diesem Tag nicht wahrgenommen zu haben. Das war jetzt aber sowieso hinfällig. Seit acht Wochen wirkte Constanze Neuhaus in seinem Sekretariat. Es herrschte anscheinend Flaute am Arbeitsmarkt für juristisches Assistenzpersonal. Die Leiterin der Personalabteilung hatte nur matt mit den Schultern gezuckt, als er pikiert auf das Foto von Neuhaus zeigte. »Haben die jetzt alle einen Nasenring, damit man sie abends festbinden kann?«, hatte Reitmayr spontan gefragt. Der Personalerin war es egal, denn ihre Abteilung bekam sowieso am wenigsten Anerkennung innerhalb von Flachs & Delk, so der Name der Sozietät, der er sein berufliches Leben anvertraute.
Die beiden Gründer Flachs und Delk hatten die Kanzlei Ende der achtziger Jahre in Frankfurt eröffnet. Alfred Flachs war trotz seines Namens nie zum Scherzen aufgelegt. Er war ein erzkonservativer Jurist »mit alten Werten«, wie er vor jungen Berufsträgern gerne mit einem Charme betonte, bei dem man trockenen Staub aus seinem Mund erwartete. Flachs war früher in einer schlagenden Verbindung gewesen und hatte seit dieser Zeit einen Schmiss an der linken Wange seines hageren Gesichts. Seine Wangen waren immer ein bisschen zu auffällig eingefallen, das Haar dunkelgrau, die Augäpfel lagen tief. Generell wirkte er hager und verzagt. Reitmayr glaubte, Flachs´ Leben hätte sich wohl schon immer mehr hinter seiner Stirn als im realen Leben abgespielt. Wie solche Männer überhaupt zu Frauen kamen und diese hielten, hatte er sich schon immer gefragt.
Da fiel ihm ein, wie viele Ehen nur auf einem Wertekonstrukt, dem Vorspiegeln einer intakten Ehe, basierten. Es waren, und sind bis heute, Kuhhändel. Sie dienten nicht dem inneren Ankommen, sondern dem passgenauen Einfügen in das gesellschaftliche Wertesystem. Denn es war kein Zufall, dass auf den Webseiten in den Anwaltsbiografien der Familienstatus samt Anzahl der (natürlich glücklichen) Kinder angegeben wurde. Nein, die potenziellen Mandanten sollten sich in ihren Anwälten menschlich wiedererkennen. Und da viele selbst ein Trugspiel vollführten, war die oberflächliche Ebene geklärt. Fast wie geteiltes Leid: »Ach, du auch zwei Gören und eine geldgierige Ehefrau?« Aber das sprach natürlich niemand aus.
Für Reitmayr war das oft das Faszinierendste. Es gab so viele Alltagslügen, und keiner wagte es, sie anzusprechen. Und wenn, dann nur im Vollsuff. Auf der Weihnachtsfeier zum Beispiel. Dort enthemmte sich so vieles, dass es Reitmayr erst dort bewusst wurde, in welch fixen Bahnen sich ihrer aller Leben zwischen Eigentumswohnung, Fernreise und Eckbüro bewegte.
Der zweite Gründungspartner, Simon Delk, war ein Lebemann. Aber nicht im Sonnyboy-Modus mit Surfbrett. Eher in der Rubensform. Den Genuss von teurem Rotwein und Zigarren, die auf schweres Essen folgten, sah man Delk an. Und was Maßschneider alles imstande waren zu kaschieren, auch. Denn trotz aller Hingabe an die leiblichen Genüsse, war Delk der ästhetischen Konturierung seines voluminösen Körpers zugetan. Bei ihm war es der berufliche Erfolg gewesen, der ihn beim begehrten Geschlecht eine Existenz hatte erlangen lassen. Denn mitnichten schauten Frauen nur auf den Körper. Sicher, in ihren orientierenden Zwanzigern vielleicht, durchaus. Aber dann wird ihnen nach dem fünfundzwanzigsten Geburtstag schnell klar, dass man mit einem optisch nur auf sich selbst fixierten Sportler die Eigentumswohnung nicht realisieren kann. Und überhaupt schätzten die Frauen der Kollegen, die Reitmayr umgaben, vor allem eins: Stabilität. Aber mit Niveau.
Alle gingen ihrer Wege, nur genug Geld musste da sein. Das war ein stillschweigender Konsens zwischen den Ehepartnern. Sex war bei den meisten nach den Kindern eh passé. Und entweder suchte sich die Frau Hobbys, um den Sexualtrieb abzureagieren, oder, und das wusste Reitmayr ganz genau, sie ließ sich vom Fitnesstrainer beglücken. Aber den meisten Ehemännern war das sowieso völlig egal. Hatten sie doch an ihrer Frau den Gefallen verloren, und so passte es, dass sich die neue Praktikantin mit den festen Brüsten gerne mal in der innenstädtischen Zweitwohnung bei diversen »Besprechungen« durchfeuern ließ. (Einer seiner geachteten Kollegen kam mal mit Flecken auf der Hose zum Partnermeeting. Reitmayr musste ein lautes Lachen unterdrücken und gab dem sichtlich verwunderten Kollegen den Rat, die Hose schleunigst in die Reinigung zu bringen.)
Die jungen Damen taten das wiederum auch nicht aus Mildtätigkeit. Sie wussten um die Gunst ihrer frühen Stunde. Nichts ist vergänglicher als der Vorteil jugendlicher Schönheit, dachte Reitmayr. Eine anerkannte Schauspielerin soll einmal gesagt haben, sie hätte genau gemerkt, ab wann die männlichen Kollegen sie nicht mehr als begehrtes Lustobjekt, sondern als alte Frau wahrnahmen. Das hatte wohl sehr wehgetan.
Also galt es für die jungen Damen, die Pfründe ins Trockene zu bringen – oder irgendwann regelrecht um sie zu zanken. Dies war umso dringender zu erledigen, je geringer die eigene Ausbildungsperspektive war. Reitmayr kannte eine minderbegabte Assistentin, die es gleich mit sechs Partnern verschiedener Kanzleien getrieben hatte. Leider war sie immer aus der engeren Auswahl herausgefallen und vom Schreibtisch geschoben worden. Jetzt stand sie oft in der Raucherecke und wippte nervös mit dem Fuß. Die Uhr tickte. Es war wie das Spiel »Reise nach Jerusalem« – die freien Stühle wurden immer knapper. Reitmayr war immer wieder verwundert, wie viele seiner Kollegen eine Zweitwohnung für ihr Zweitleben besaßen, die sie dann sogar noch als »Büroraum« von der Steuer absetzten. Die Ehefrauen waren natürlich ahnungslos. Diese hatten sie gewohnheitsmäßig in einem schmucken Eigenheim in Eschborn, einem gesichtslosen Örtchen im Vordertaunus, geparkt. Dort hegten und harkten die Frauen dann den Garten und waren, wenn der Gatte spätabends nach Hause kam, schon immer sehr müde.
Wenn Reitmayr an Flachs und Delk in Kombination dachte, musste er immer wieder den Kopf schütteln. So respektabel er auch die Leistung der beiden Gründungspartner fand, irgendwann gab es den Punkt, an dem sie nur noch skurril und altbacken wirkten. Gänzlich aus der Zeit gefallen. Sie leiden an dem point-of-no-return des Fortgangs der Dinge. Auch wenn die Firma, ihr Baby, weiterhin besteht, so verweht sich doch ihre Rolle wie eine schuppende Haut. Sie werden immer schwächer. Sowohl im Einfluss im Unternehmen als auch in ihrer physischen Präsenz und psychischen Konstitution.
Er hörte ein lautes, weibliches Räuspern im Telefonhörer.
»Sind Sie noch dran, Herr Doktor Reitmayr?«
»Bitte?«
»Neuhaus, Ihr Vorzimmeruniversum ist noch dran, Herr Doktor!«, flötete sie provokant.
»Lassen Sie den Doktor bitte weg«, sagte Reitmayr etwas zu wirsch, um gleich anzufügen »Entschuldigen Sie, aber Sie wissen …«
Weiter kam er nicht, Frau Neuhaus unterbrach ihn, was ihn früher zum Rasen gebracht hätte.
»Jaja, ist in Ordnung, Herr Doktor. Nochmal zu dieser Übernahme: Wie weit sind Sie da inzwischen? Und – kann ich Herrn Burchardt etwas mitteilen?«
»Ich melde mich bei ihm.«
»So wie immer?«
Reitmayr reizte ihre selbstgefällige Art, wenngleich sie ihn bereits nach wenigen Wochen durchschaut hatte. Bei Burchardt meldete er sich immer nur im allerletzten Moment.
»Und wollen Sie die Akten nochmal zur Beurteilung sehen?«
Reitmayr hatte keine Ahnung, er war zu tief in seinen Gedanken, also sagte er einfach ja. Mehr wollte Frau Neuhaus auch nicht wissen und legte grußlos auf.
Er fühlte sich matt und ließ sich wieder in seinen Eames-Lounge-Chair mit passendem Ottoman fallen. Die meisten Kollegen kauften sich von ihrem ersten Geld die obligate Rolex, diejenigen, die wirklich Geschmack hatten, wenigstens eine IWC. Aber Reitmayr hatte kein Interesse am Fortgang der Zeit. Wenn das schon nicht zu verhindern war, dann wollte er dabei wenigstens gut sitzen. Da konnten die Geizigen sagen, was sie wollten, aber dieser Sessel mit seinem Fußteil war nicht nur ein Designklassiker aufgrund seiner Form, sondern auch, weil man sich darin wie von Gottes Hand getragen fühlte. Das schwarze Leder, das sich an ihn schmiegte und ihn nie frieren ließ. Die Einfassungen aus fein gemasertem Palisanderholz, über das er mit seiner Hand strich. Knapp zehntausend Euro hatte er für den Stuhl ausgegeben. Aber bei wenigen Sachen war er sich so sicher gewesen, die richtige Investition getätigt zu haben, wie bei diesem Sessel. Er würde ihn für sein ganzes Leben haben, sagte ihm der Verkäufer im Münchner Vitra-Store voraus. Der Mann hatte recht, dachte Reitmayr. Bei dem Argument hatte er auch an die Uhrenmarke Patek Philippe denken müssen, die damit warb, man kaufe diese sündhaft teuren Uhren nie nur für sich allein, sondern schon für die nächste Generation. Aber Zeit war ihm unangenehm, da sollte sie nicht auch noch teuer sein.
Einmal die Woche nahm er den Fahrstuhl und verließ heimlich das Büro. Er bog dreimal links ab und stand vor dem Laden von Frau Suk. Sie machte keine Termine, man konnte einfach so vorbeikommen. Am liebsten gab Reitmayr wenig Geld für solche Sachen aus. Daher kam ihm die mittägliche Happy Hour (es hieß wirklich so!) grade recht. Er bezahlte passend, und immer, wenn er Frau Suks dezent verhangenen Laden verließ, ging er auf seinen sündhaft teuren Schuhen von John Lobb ziemlich beschwingt den Gehweg entlang. Frau Suk hatte das Talent, mit unaufdringlicher Direktheit auf ihn einzugehen, sie gab ihm einen Schliff, den er in anderen Läden nicht bekommen hätte. Ihr liebstes Werkzeug für das beste Ergebnis war dabei eine Nagelpfeile, mit der sie bogenartig und flink über Reitmayrs Nägel schoss. Keinem erzählte Reitmayr von diesen Terminen, die ihm über die Zeit sehr wichtig geworden waren. Ja, er zelebrierte sie sogar. Er nahm vorher noch einen ruhigen Cappuccino, den er sich in seinem Büro selber kredenzte. Die Kaffeeindustrie hatte begriffen, dass man mit sogenannten Kaffeespezialitäten auch im Büro punkten musste, aber da die wirklich guten Varianten eben Handarbeit und Können erforderten, hatte sich die Industrie einiges einfallen lassen, um optische Placebos möglich zu machen, die einem bis zum ersten Schluck vorgaukelten, lecker zu sein. Reitmayr aber konnte diesen Industriemist nicht trinken, er widerte ihn an. Daher beschaffte er sich eine Siebträgermaschine mit einem elektrischen Mahlwerk, und so wurde ein Teil seines Büros zur Barista-Ecke. Es hatte etwas gedauert, bis er den Kollegen auf diplomatische Weise vermittelt hatte, dass sein Zimmer nicht die neue Teeküche war.
Jetzt war das aber eh passé. Er hatte sein Partnerbüro auf einem Stockwerk mit nur drei weiteren Partnern und einigen Senior Associates. Die meisten davon waren auf Reisen oder überzeugte Teetrinker. Reitmayr hatte also seine Ruhe, wenn er sich den Kaffee mit fast mönchischer Ruhe kredenzte. Nur Frau Neuhaus musste er noch beibringen, dass er nicht ihr Barista war; wie so vieles mehr. Sie saß, wie alle anderen Assistentinnen, auf der inneren Fläche der Etage. Tageslicht bekam man dort nur durch die teilverglasten Zwischenwände der Büros. Wenn die Büronutzer aber die Jalousien der Zwischenwände herunterließen, waren die innen malochenden Damen und Herren in einem fensterlosen Käfig der Erwerbsarbeit gefangen.
Kaffee war für Reitmayr in der Jugend ein Graus gewesen. Er konnte nicht verstehen, wie man dieses bittere Gebräu zu sich nehmen konnte. Aber im Laufe des Studiums war es erst zwingende Notwendigkeit, um das Lernen trotz kurzer Schlafzeiten durchzustehen, und dann wurde irgendwann aus Notwendigkeit Genuss. Denn wenn schon Kaffee trinken, dann in bester Veredelungsform. Das schien selbst Reitmayr in seinem situativen Geiz komplett logisch.
An das morgendliche Aufstehen in seinem normierten Beruf hatte er sich nur deshalb gewöhnen können, weil der Kaffee am Morgen ihm half, mit der Arbeit zurande zu kommen. Aber da er morgens immer aufwachte und sich wie eine festbetonierte Gehwegplatte fühlte, hatte er sich ein Ritual zurechtgelegt, das bei seinen Bettbekanntschaften regelmäßig zur Erheiterung beitrug. Denn so viel diese Frauen auch in der Welt umherreisten und darüber auf Instagram wie ein Maschinengewehr posteten, desto weniger erlebten sie im realen zwischenmenschlichen Austausch, da Abweichungen von der Norm für sie einer Ausgrenzung gleichkamen. Ausgegrenzt werden, das wollten sie aber um gar keinen Preis. Reitmayr verstand das, immer selbst auch an der Grenze zum Ausgeschlossensein lebend. Er bewunderte auf eine morbide Weise die Menschen, die sich in Gruppen integrierten und sich darin aufzulösen schienen; wie Zucker in einem Kaffee. Und das Ganze wurde dann ein süßer Fluss des Lebens, angeblich.
Die Abweichung in Reitmayrs Schlafzimmer stand auf seinem Nachttisch. Gleich über der Schublade mit Kleenex und Kondomen aus der Vorratspackung. Eine Kaffeemaschine zierte den Nachttisch. Jeden Morgen griff Reitmayr – natürlich mit seiner linken Hand – nach der Nespresso-Maschine und steckte, ohne hinzuschauen, eine orangefarbene Kapsel hinein und drückte auf Lungo. Damit er sich nicht mit dem Einschalter beschäftigen musste, hatte die Maschine eine Zeitschaltuhr. Dann lief das schwarzbraune Gold aus dem Auslassventil in seine kleine, henkellose Tasse. Fast hätte er sich auch ins Schlafzimmer eine Siebträgermaschine gestellt, musste dann aber einsehen, dass sich das in seinem tiefen Halbschlaf auch mit links nicht sicher realisieren ließ. So blieb die silberne Maschine mit Druckmanometer in der Küche auf der Kochinsel, und im Schlafzimmer beließ er es bei der Kapsellösung.
Reitmayr arbeitete sich mit einem Ruck aus seinem Sessel und schlich zur Kaffeemaschine in der Ecke neben seiner Tür. Er ließ das Keramikmahlwerk laufen, und frisches Pulver fiel in den Siebträger. Das Surren beruhigte ihn. Er presste das frisch duftende Kaffeepulver zärtlich mit dem schweren Gewicht in die Form und setzte den Träger mit einem horizontalen Rechtsruck unter den Maschinenkopf.
Espresso, dachte er, und beließ die Milch in dem kleinen Kühlschrank mit der Glastür, der links neben der Maschine auf der Anrichte stand. Hier lagerte immer frische Milch aus der Kleinmarkthalle. Das kochend heiße Wasser wurde mit x-bar (Reitmayr las das Manometer nie ab, bewunderte es aber immer wieder) durch das Kaffeepulver gepresst und tröpfelte angenehm zügig in seine Tasse. Er sah, wie die Crema sich in der vorgewärmten Tasse bildete. Wie die Leute es nur fertigbrachten, Espresso aus kalten Tassen mit einer läppischen, viel zu dünnen Wandstärke zu trinken? Igitt, dachte er. Er stellte sich an die Fensterscheibe, drückte die Stirn an das zentimeterdicke Glas und blickte auf den fließenden Verkehr hinunter. Alles ging immer weiter, konnte er noch denken, als Frau Neuhaus nach einem Hauch von Anklopfen in den Raum stürzte.
»Chef!«, dramatisierte sie. Wie sie nur immer wusste, welche Anreden er auf keinen Fall hören wollte. Und sie dann doch immer wieder benutzte.
»Sie sollen doch…«, hob er an.
»Ja, ja, ich weiß, Herr Doktor!«
»Ok«, sagte er matt, »schießen Sie einfach los.«
»Buchardt!«, kreischte sie fast.
»Unser Mandant, ja und?«, konnte er sich nicht ohne Ironie abringen.
»Ja, er hat angerufen, ziemlich erregt.«
»Ja, wie immer, und?«
»Er will sofort einen Rückruf und Sie sollen sich auf was gefasst machen. Soll ich Ihnen ausrichten.«
»Jaja, ich rufe ihn an. Und Sie schreiben mir eine kurze E-Mail als Telefonnotiz, ja?«
»Ja, sehr wohl, mach ich«, sagte sie und verbeugte sich etwas spöttisch.
Als er wegen der Verbeugung gerade die Augenbrauen hochzog, legte sie nach.
»Und übrigens, Chef, es ist Ihr Mandant, nicht meiner.«
Bevor er reagieren konnte, zog sie die Tür auch schon wieder von außen zu. Reitmayr schüttelte den Kopf. Diese Nasenringfraktion. Dann fixierte er die Berge in der Ferne.
Man konnte sich nicht aller Insignien erwehren. Auch wenn Reitmayr ohne »Reichenwecker« rumlief und nur preissensible Manschettenknöpfe seine Umschlagmanschetten schmückten. Bei der Fortbewegung hatte ihn dann doch ein Juristenreflex gepackt. Lange fuhr er seinen ersten Wagen weiter, den er sich ein paar Monate nach seiner Anstellung bei Flachs & Delk gekauft hatte. Seine Kreditwürdigkeit war da wieder aus dem Bereich der tausend Schattierungen Rot heraus. Er wusste, seine Eltern hätten ihm auch mit ihrem letzten Geld geholfen. Aber das hatte er partout nicht gewollt, und so waren der Dispokredit und Schwarzarbeit sein Mittel gewesen, über die Runden zu kommen. Meistens ganz knapp.
Ein fast neuer Audi TT in Schwarz war es, den er als passendes Gefährt für sich erkor und auf dessen Beifahrersitz eine Unzahl von Damen Platz genommen hatte. Sie hatten die Sitzheizung geschätzt, das Raunen des Motors giggelnd gelobt und freuten sich auf das, was in der Wohnung wie nach einem festgelegten Drehbuch folgen würde. Das Pflücken, wie Seydler es nannte.
Reitmayr kannte Seydler noch aus Studientagen. Er arbeitete in einer anderen Großkanzlei und war vom Stamme der spröden Juristen mit frühem Haarausfall. Das Spröde war bei ihm aber gepaart mit einer Form angenehmer Herzlichkeit. Ja, vielleicht war Seydler sogar sein einziger Freund. Seydler, der bei Frauen nicht so wirklich den Schlag hatte, den er gerne gehabt hätte, konnte es nicht lassen, Reitmayrs «Eskapaden» (wie Seydler es nannte) mit spitzen Bemerkungen zu garnieren. Aber, das musste Reitmayr zugeben, er traf es oft auf den Punkt. Und Seydler wusste, was er sagen durfte und was nicht.
Das unterschied ihn eigentlich von allen anderen. Reitmayr wusste noch genau, wie sie sich damals kennengelernt hatten. Auf einer dieser elenden Studentenpartys, die hinterher alle mit dem »Weißt du noch…? Geilste Party ever!«-Etikett versahen. Für ihn war das aber nichts als rückwärtsgewandte Verklärung, eine Art deutliche Nostalgie. Er war arm, das Bafög-Geld schon Anfang des Monats immer weg. Sein Zimmer in einer Trabantenstadt östlich von Frankfurt lag im Erdgeschoss, Fußkälte inbegriffen. Zig Erkältungen und traurige Gedanken in dieser völlig verschatteten Bude. Jeden Tag pendelte er mit der S-Bahn auf den Campus. Was daran romantisch gewesen sein soll, fragte er sich immer wieder. Für ihn war diese Zeit nur eine Phase des Müssens und Sollens. Was hätte er auch sonst tun können? Und aufgrund dieser alternativlosen Situation war es ihm auch leicht von der Hand gegangen, das Studieren. Er hatte einfach keine Erwartungen an das Studieren als solches geknüpft. Es war da, so wie er einfach da war in dieser Welt. Es ging ihm leicht von der Hand. Mit links. Alles machte er tatsächlich mit links, nicht nur nebenbei, sondern nach Möglichkeit mit der linken Hand. Manche Linkshänder hatten eine Aufteilung, was sie mit links oder mit rechts machten. Und Reitmayr war immer schon Linkshänder gewesen. Er hatte gelernt, mit geübter Armhaltung über seine bereits geschriebenen Buchstaben hinaus weiterzuschreiben, ohne die Tinte zu verwischen. Seine leicht nach hinten gekippte Handschrift war lesbar, aber sie war eben auch eine erkennbare Linkshänderschrift. Ein wenig ärgerte ihn das. Warum, konnte er nicht genau sagen. Aber es nützte ja nichts: Mit rechts bekam er einfach nichts Gescheites hin. Weder eine Unterschrift noch Kritzeleien und auch kein Loch in die Wand gebohrt. Da man weder in seinem Elternhaus noch in der Schule davon Notiz nahm und auch grade keine Umgewöhnungsphase en vogue war, blieb es so, wie es war.
Seydler hatte mit einem Mal einfach vor ihm gestanden. Damals schon mit Geheimratsecken, wie Reitmayr sie auch für sich immer fürchtete, aber nie bekam. Seydler trug bereits damals Siegelring.
»Hey, ich bin Seydler!«, hatte der ihn angehauen. Seydler suchte Anschluss. Reitmayr war es egal, war er doch schon im Begriff zu gehen. Aber der nette Zug um Seydlers Augen und die Aussicht auf Fußkälte bei sich zu Hause ließen ihn bleiben.
»Wie heißt´n du eigentlich mit Vornamen?« fragte er ihn, nachdem er sich selber vorgestellt hatte.
»Sag´ einfach Seydler zu mir, das passt.«
»Ja, aber fürs Protokoll – «
»Wir sind nicht vor Gericht. Noch nicht!«, entgegnete Seydler grinsend, als hätte er diesen Gesprächsverlauf schon häufiger erlebt.
»Auch´n Sekko?« fragte Seydler.
Er hatte wirklich Sekko gesagt, was Reitmayr erst irritiert hatte und dann doch für Seydler einnahm. Denn alle anderen tranken, wenn sie sich trafen, immer auf diese eklig-verschwitzte Art Bier, als wäre es der höchste Genuss auf Erden.
Reitmayr bejahte. Nach zwei Sekt und dem gegenseitigen Leidvergleich bezüglich des Studiums wurde Seydler dann doch noch weich. Aber Reitmayr hatte seine Frage nach dem Vornamen schon ganz vergessen.
»Du darfst nicht lachen, schwöre es!«
»Ja, ok, aber – na gut.«
»Das ist jetzt eine Bewährungsprobe.«
Reitmayr nickte, leicht angeschwipst.
»Balthasar.«
»Und wie lautet denn nun…?«
»Das ist…«
»Wie, du meinst…?«
»Ja, wie einer der Heiligen Drei Könige. Dabei bin ich nicht mal am sechsten Januar geboren. Meine Eltern wollten ein gutes Zeichen setzen. Nun ja, zumindest ein lebensbegleitendes ist es geworden.«
»Danke für dein Vertrauen, Seydler!«
Sie prosteten einander zu und standen am offenen Küchenfenster, durch das der Qualm der Zigaretten nach draußen abzog. Reitmayr hatte nicht gelacht.
Ihre Treffen fanden nach einem immer wiederkehrenden Muster statt. Meistens holte Reitmayr seinen Freund Seydler bei dessen Kanzlei auf der Bockenheimer Landstraße ab. Dazu musste er mit seinem Wagen nur aus der Tiefgarage seiner Kanzlei rollen, dann die Neue Mainzer Straße hinunter und unten durch die Hochhausschluchten fahren. Dann am Taunusturm scharf links, an den Deutsche-Bank-Türmen wieder scharf rechts und an der Alten Oper scharf links. Mitten durch den kapitalistischen Geldadel.
Leider hatte Seydler nicht so viel Glück mit der Partnerschaft wie Reitmayr. Lange hielt man ihn hin, vertröstete ihn. Bei Seydler siegte die Bequemlichkeit über das Streben. Er counselte, stieg also aus dem üblichen Partnertrack aus. Das Thema Partnerschaft wurde von ihnen beiden meist gekonnt ausgeklammert. Als Reitmayr Partner wurde, hielten sie das Thema, dass Seydler kein Partner würde, auf der Feier klein. Und gingen danach lieber in einen FKK-Club. Da waren dann alle nackt – ob Partner oder nicht.
Seydler hatte keinen Stellplatz in seiner Kanzlei Keller, Scharr & Möller. Stattdessen ging er von seiner Altbauwohnung im Westend zu Fuß ins Büro. Denn dort bekamen nur die acht Partner einen Parkplatz. Der Platz war sehr limitiert, da mussten alle Opfer bringen. Die Kanzlei hatte sich einen schmucken Altbau gekauft, für Unsummen entkernt und hintendran das eigentliche (und völlig nichtssagende) Bürogebäude geflanscht. Es erinnerte Reitmayr immer wieder an diese Saloons in Westernfilmen. Nur die Fassade war echt, dahinter kam Pappmaché.
Bei Seydler war die Einfahrt zum Eingangsbereich durch schwere schwarze Poller abgesperrt. Man klingelte und einer der voluminösen Poller fuhr rot-blinkend nach unten, versank komplett in den Asphalt. Die Empfangsdame kannte Reitmayr schon und drückte immer sofort den Knopf, wenn er läutete. Er fuhr in enger Kurve direkt vor die Treppe des über Jahrzehnte dunkel gewordenen Hauses, das wie ein amerikanisches Gerichtsgebäude aussah. Fehlte nur noch Tom Clancy. Seydler kam die große Treppe heruntergerannt, nahm immer zwei Stufen auf einmal und sprang zu ihm auf den Beifahrersitz. In seiner typischen Art hatte Seydler auch für Reitmayrs Auto einen Begriff geprägt. Für ihn war Reitmayers Beifahrerseite der »Schleudersitz«. Auch die Damen nahmen Platz und wurden aber nach kurzer Zeit wieder hinauskatapultiert. Vielleicht wollte er damit auch unterschwellig bedeuten, dass er sich freute, in den mittlerweile über zehn Jahren ihrer Freundschaft immer noch auf diesem Platz sitzen zu dürfen.
»Und, wo wollen wir hin?«, fragte Seydler und meinte es eher rhetorisch.
»Da, wo wir hingehören«, lachte Reitmayr und fuhr fast etwas zu sportlich auf den sich wieder versenkenden Poller zu. Er musste an Möller, den dritten Namenspartner von Keller, Scharr & Möller, denken.
Möller stand nicht nur an dritter Stelle im Firmennamen, er war selbst in der ersten Reihe der Letzte. Es war ein unausgesprochenes Kommittent, dass er für die ganze »echte« Arbeit zuständig war. Während also Keller und Scharr die Prestigefälle händelten und dafür beim Branchendienst Juve