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Die Frau seines Lebens, bleibt bei dem Mann ihres Lebens. Reuter hat so einen richtigen Lauf im Leben. Leider in die ganz falsche Richtung. Er verliert seinen Job, fliegt aus seiner Wohnung und die Frau seines Lebens, bleibt bei dem Mann ihres Lebens. Künstlerfreundin Alba geht derweil für ein Stipendium nach Brasilien und Mangold verliebt sich hoffnungslos in eine italienische Fernsehmoderatorin. Zurück bleibt Reuter, der sich alleine in seiner Wohnung verkriecht. Der Versuch sich selbst aus dem Leben zu katapultieren, scheitert für ihn in grotesker Kläglichkeit. Als sogar eine Schweizer Sterbehilfeorganisation ihn mit dem Hinweis nachhause schickt, er solle lieber sein Leben statt den Freitod finden, denkt Reuter sich, dass es wohl doch an der Zeit wäre das zu entdecken, was er bisher anscheinend gar nicht kannte: sich selbst.
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Seitenzahl: 311
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Impressum
Herausgeberin:
edition:behmann ist ein Imprint-Verlag der medicteach GmbH
Offenbacher Straße 91
63165 Mühlheim am Main
Telefon: +49 69 175 370 42-0
medicteach.de
Geschäftsführung:
Jan C. Behmann
Sitz der Gesellschaft:
Frankfurt am Main
Amtsgericht Frankfurt am Main
Handelsregister B 91438
USt. ID: DE278350938
© 2023 Jan C. Behmann
Alle Rechte vorbehalten.
Kein Teil dieses Werks darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie oder einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet werden.
Dezember 2023
Covergestaltung, Layout, Satz und Reinzeichnung:
Berthold Schnitzer,
Offenbach am Main,
bsj-creative.de
Zitat Jörg Fauser
Jörg Fauser: Rohstoff
Copyright © 2019 Diogenes
Verlag AG, Zürich
Zitat Cormac McCarthy
Cormac McCarthy: Kein Land für alte Männer
© 2008 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
No Country for Old Men
Copyright © 2005 by M-71 Ltd.
Zitat Matthäus-Evangelium
Lutherbibel, revidiert 2017
Copyright © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart
Fluchtweg-Piktogramm Cover:
Adobe Stock, Stefanie
Vertrieb:
Vertrieb: epubli - ein Service der neopubli GmbH, Berlin
ISBN der gedruckten Auflage: ISBN: 978-3-9824174-3-1
ISBN der eBook-Auflage: 978-3-758447-22-8
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Wir wünschen Ihnen ein grandioses Leseerlebnis!
Jan C. Behmann
Reuter
Ein rettendes Drama
edition:behmann
Für
Christopher Bulle
Triggerwarnung
Dieses Buch beschäftigt sich – auch, aber nicht ausschließlich – mit den möglichen dunklen Phasen eines Lebens.
Wir bitten die Leser*innen, dies bei der Lektüre eigenverantwortlich zu berücksichtigen.
Für schwierige Phasen im Leben gibt es immer Hilfe. Sie erreichen dazu u.a. die Telefonseelsorge jederzeit unter 0800 111 0 111 oder 0800 111 0 222 und auch per Chat auf telefonseelsorge.de.
In Notfällen erreichen Sie, auch als dritte Person, jederzeit die Polizei unter Notruf 110 und den Rettungsdienst unter Notruf 112.
Einem Mann die Liebe wegzunehmen,
war so gut wie Mord,
aber mit einer Schreibmaschine,
konnte er ihn überleben.
Jörg Fauser
Du glaubst, wenn du morgens aufwachst,
dass das Gestern nicht zählt.
Dabei zählt nichts anderes.
Cormac McCarthy
Präludium in den Bergen oder:
Wenn es nicht anders gekommen wäre
Die Sonne stand hoch, Tabea hielt sich die Hand über die Augen, als sie in die Ferne des Alpenvorlands blickte. Die Fahrräder standen aneinander gelehnt am Eingang zur Terrasse des Restaurants, das vor allem mit seiner Aussicht punktete. Seit Jahren war das ihr Treffpunkt.
Ein Gefühl der Unbeschwertheit durchfuhr sie, wenn sie in das Tal blickte, aus dem sie gestartet waren. Alles wirkte so klein, plötzlich so weit entfernt, wie auf einer Modelleisenbahn. Das Leben der anderen, das vorher so sehr gegenwärtig war, schien dem eigenen Leben nur durch eine halbstündige Fahrt mit dem Fahrrad entrückbar zu sein.
Die Dielen knarzten, als sie sich auf der Terrasse an den Tisch setzten. Vögel zwitscherten und der Wind durchfuhr die gelb-weiß gestreifte Markise. So konnte es immer bleiben, dachte sie, und merkte, dass die Anstrengung des Radfahrens ihr Entlastung verschafft hatte. Wenn man sich nur hart genug ablenkte, konnte man fast alles verblassen lassen. Verdrängen konnte sie gut.
Der Mann, der auf die Terrasse kam, atmete angestrengt. Er trug neongrüne Funktionskleidung, seine Sonnenbrille steckte in seinem Schutzhelm.
Das Lokal war Gäste mit Fahrrädern gewohnt und doch stach dieser Mann hervor. Er war trainiert, drahtiger als die Touristen, die sich in ihren spärlichen Ferien die Seelen freistrampelten. Auf seinem Rücken trug er einen Rucksack aus grüner LKW-Plane. Er blickte sich um, hielt seine Hand über die Augen und ließ seinen Blick über die Terrasse schweifen. Er suchte jemanden, taxierte die Gäste. Es schien ihm schwierig, die Person zu erkennen, die er scheinbar so dringend suchte.
Er sollte sie finden. Seine Handschuhe klebten an den Händen, zwischen dem Daumen und Zeigefinger der rechten Hand hatte er eine schmerzhafte Blase, die zu pochen begann. Alles, was während des Fahrens von ihm abfiel, befiel ihn im Stillstand wieder. Manchmal wünschte er sich daher, das Leben wäre eine Radtour. Eine immerwährende. Aber es kam ihm auch die Erkenntnis, das man sich immer mitnahm, egal wohin oder wie weit man sich bewegte.
Er holte sein Handy aus der wasserdichten Hosentasche. Tropfen rannen von seinem Kinn auf das Display. Das Bild war ein Passfoto. Nie und nimmer sah sie jetzt so aus, in ihren Bergferien. Wenn sie ihre Haare anders gefärbt hätte, er würde sie nicht erkennen. Auf der Terrasse saß niemand mit grün gefärbten Haaren. Kurz füllte sich sein Inneres mit Enttäuschung. Er ließ den Blick weiter schweifen und zuckte kurz zusammen. Sie hatte keine grün gefärbten Haare mehr und dennoch konnte nur sie es sein. Sie lehnte sich im Stuhl zurück und trank einen Ingwertee, als er sich Schritt für Schritt über die knarzenden Dielen ihr näherte.
»Entschuldigen Sie?«, brachte er als Einstieg in das belebte Gespräch hervor, was sich scheinbar um die vorherige Etappe drehte. Die Gesichter waren offen, man mochte sich nicht nur der Situation wegen.
»Ja?«, antwortete sie. Noch nie hatte er einen solchen Auftrag ausgeführt. Er wäre bei einer Reaktion dabei, die nichts ändern würde, aber alles durcheinanderbrachte.
»Ich habe Sie gesucht«, sagte er und zeigte auf Tabea.
»Mich?«
»Ja, genau Sie. Ich hatte ein Foto, aber da sehen Sie etwas anders aus.«
Sie stockte und die Mundwinkel entglitten ihr mehr als sie wollte.
»Ich verstehe nicht ganz?«, brachte sie hervor.
»Ich habe etwas für Sie«, arbeitete er sich vor.
»Sie haben etwas für mich? Habe ich etwas verloren?« Ihr Stocken war die klare Aufforderung an ihn, endlich Licht ins Dunkel zu bringen.
Am Tisch kehrte Ratlosigkeit und auch ein wenig Sorge ein.
Er griff wortlos zu seinem Rucksack. Die Schnalle klackte in die Stille, es raschelte und er zog ein Päckchen hervor. Er richtete seine Hand neu aus, damit sie ihm nicht zu zittern begann. Wie die Realität sich in solchen Momenten abspalten konnte. Sie waren weiterhin unter so vielen anderen Gästen und doch waren sie entrückt. Wie in einer Blase, die sich um die Szenerie bildete.
»Ich habe Post für Sie.«
Zögerlich griff sie nach dem Päckchen. Er blickte sie an und merkte, dass die Blicke der anderen sich auf sie verlagerten.
»Nun mach’ doch auf, das klingt doch spannend!«, unterbrach ihre Freundin sie.
»Sie sollten das aber erst nur für sich lesen«, ergänzte er, wissend, dass auch nur sie es verstehen würde.
Mit einem Ruck, der zum Ende stärker zu werden schien, öffnete sie das Paket. Ein hellblaues Buch fiel ihr in die linke Hand. Sie hatte eine langgezogene, grazile Hand.
»Machen Sie es auf«, ermutigte er sie eindringlich, »genießen Sie den Moment!«
Sie drehte das Buch um.
Reuter. Ein rettendes Drama stand darauf. Sie riss die Folie an der rechten oberen Ecke auf.
»Was ist das denn für ein Buch?«, fragte ihre Freundin mit einem Lächeln.
Tabea lächelte nicht mehr.
Er stand weiter neben dem Tisch und spannte seine Unterschenkelmuskeln an, um nicht vor Anspannung mit den Füßen wackeln zu müssen.
»Möchten Sie einen Stuhl, der Herr?« fragte der Kellner aus dem Hintergrund.
»Nein, danke, das geht schon«, beschwichtigte er mit einer abwehrenden Handbewegung.
Sie schlug das Buch auf, der Rücken knarzte auf eine Weise, wie er es nur beim ersten Öffnen tat. Dieser Moment war einmalig.
Sie las die Widmung:
Für Tabea.
Vielleicht war alles nur ein Traum.
Sie schaute ihn ungläubig an. Schüttelte langsam den Kopf.
Sie blätterte weiter.
Sie las:
Die Sonne stand hoch, Tabea hielt sich die Hand über die Augen, als sie in die Ferne des Alpenvorlands blickte. Die Räder standen aneinander gelehnt am Eingang zur Terrasse des Restaurants, das vor allem mit seiner Aussicht punktete. Seit Jahren war das ihr Treffpunkt.
Sie schaute ihn an. Ihn, den Fahrradkurier. Er wusste, dass sie zur Sekunde nicht mehr wusste, was Realität war und was Fiktion.
Er nickte in die Runde, und drehte sich auf der Sohle stehend um und ging.
Es war ihr lautes Schluchzen, das er während seiner Abfahrt hörte. Es wurde stärker und stärker, gar hätte man denken können, die Tränen würden zu Wasser und das Wasser zu Regen. Es rauschte in seinen Ohren, derweil die Emotionen in ihm rasten.
Er trat noch fester in die Pedale.
Musikhinweis
Luke Howard: Bear Story I
Auf kalten Schienen
Das Wasser rauschte rhythmisch an den Strand, um sich dann nach ein paar Sekunden in rollenden, tanzenden Bewegungen ins Meer zurückzuziehen.
Reuter stand mit seinen nackten Füßen im Sand und blickte auf das schier unendliche Meer, nur begrenzt zum Himmel durch den gebogenen Horizont. Die Sonne legte sich als warmer Strahl auf seine hellen Schultern und der Wind strich durch sein kurzes Haar. Vögel krähten und der Wind dehnte diese rhythmischen Laute. Reuter setzte sich, ließ den Rücken langsam auf den körnigen Sand sinken. Er schloss die Augen, der Wind zog an seiner Nasenspitze vorbei und die Gischt berührte immer wieder seine Füße. Der Sand in seinem Rücken wurde grobkörniger, die Sandkörner wurden immer größer, härter, kühler. Sie wurden zu immer größeren Steinen, ihre Kanten begannen sich in seinen Rücken zu schneiden. Reuter wurde unruhig. Doch dazu gab es eigentlich keinen Anlass.
Er wollte die Augen öffnen, aber es ging nicht. Aus dem Meeresrauschen wurde immer mehr Regenrauschen, der Wind mischte sich mit einer dichten Flut an dünnfädigen Regentropfen. Aus dem Kreischen der Vögel wurde ein Rufen. So mehr er hinhörte, desto mehr hörte er seinen Namen. Warum sollten die Vögel an einem Strand seinen Namen rufen? Das Rufen wurde immer klarer, die Steine immer schärfer, der Regen immer kälter. Reuter fror. Er begann zu zittern. Woher kam die Kälte? Er lag doch am warmen Strand. Er bibberte, die Möwen schrien immer lauter seinen Namen. Bis er merkte, dass die Möwen einen Klang von Alba hatten. Er atmete schneller, eine Unruhe ergriff ihn. Seine Hände griffen neben ihn und ertasteten kalte, nasse Steine. Wo war er? Das Rufen wurde lauter, sein Kopf dröhnte. Mit einem Ruck riss er die Augen auf, es regnete auf ihn. Es war Nacht. Er blickte Alba ins panische Gesicht. Reuter war perplex. Sein Körper war mit einem Mal schwer wie Blei. Alba schrie seinen Namen. Und: »Warum liegst du hier! Bist du verrückt?« Es war keine Frage, es war vielmehr eine Anklage.
In seinem Nacken machten sich Schmerzen breit, kalter Stahl drückte auf seine Wirbelsäule. Albas Augen waren weit aufgerissen, er konnte das Weiß deutlich sehen.
»Wo liege ich denn?«, brachte er mit brüchiger Stimme hervor. Seine Lippen fühlten sich rissig an.
Alba erstarrte.
Dann schrie sie: »Hier! Verdammt, was machst du hier? Steh auf!«
Reuter drehte den Kopf zur Seite. Wenn direkt neben seinem Kopf ein Schienenstrang lag, dann lag auch er wohl auf den Schienen. Aber, was machte er auf Schienen? Im Regen, nachts. Und wie kam Alba dazu?
Musikhinweis
Flying Pickets: Only You
Liebe ohne Erwartung
Wenn man nichts erwartete, passierten einem die wildesten Dinge, hatte Reuter mal in einem Buch gelesen. Wobei Reuter generell wenig erwartete. Ob er damit hoffte, mehr zu erleben, war ihm selbst nicht klar.
Die Kaffeemaschine auf seiner Etage war schon wieder defekt. Reuter blickte auf das Schild, dass das Facility Management formvollendet an die Kaffeemaschine gehängt hatte. Wenn die doch so gut reparieren könnten wie Schilder aufhängen, dachte sich Reuter.
»Auch einen Kaffee?«, fragte es unvermittelt hinter ihm.
Reuter drehte sich um. Er behauptete von sich, jeden im Verlag zu kennen. Dieses Gesicht kannte er nicht. Grün gefärbte lange Haare, zu einem Dutt zusammengefasst, eine braune Hornbrille. Ein rundes Gesicht mit weichen Zügen und großen Augen. Den Dutt hielt ein Zopfband mit einer Krümelmonsterfigur. Ihre Beine waren ungewöhnlich lang und sie trug unter der zu kurzen Jeans (das sollte nun Mode sein, hatte Reuter beim Besuch seines Friseurs Richard in der Yellow Press gelesen) Ringelsocken. Ihre Sneaker waren abgelaufen und die Sohlen lösten sich leicht an den Rändern.
Reuter legte den Kopf schief und sagte erstmal nichts.
»Hallo, Sie, auch Kaffee?«, wiederholte sie langsam.
»Äh«, brachte Reuter hervor.
»Ah, der eloquente Typ Mensch. Sind mir die liebsten.«
Reuter fing sich und fühlte sich wie bei einem Windows-Neustart.
»Kaputt«, sagte er und deutete auf die Maschine.
»Ach, was!«, gab die Frau kess zurück.
»Ja, oder?«, lächelte Reuter unsicher.
»Tabea!«
»Ja?«
»Ich. Und Sie?«
»Reuter.«
»Vornerum oder hintenrum?«
»Wie?«
Sie blinzelte ihn durch ihre Brille mit dem dicken braunen Gestell an.
»Vorname oder Nachname? Oder, halt! Modename?«
»Eigentlich Nachname.«
»Reimann!«
»Wie?«
»Mein eigentlicher Nachname.«
»Äh, danke. Ich Reuter.«
»Wunderbar. Sie, Reuter, auch Kaffee?« Sie lachte. Mit ihren schmalen Lippen und dem breiten Mund. Wer war diese Person, fragte Reuter sich.
»Ja, aber woher?«
»Mitkommen!«, befahl sie mit einem Kopfnicken gen Tür.
»Ich wusste gar nicht, dass wir im Kopierraum einen Wasserkocher haben«, schaute sich Reuter erstaunt um.
»Haben wir auch nicht.«
Reuter guckte sie irritiert an.
»Genauer: Hatten wir nicht. Jetzt schon. Ist der vom Abteilungsleiter der Anzeigen.«
»Meinem Chef?«
»Sie machen hier bei den Werbeanzeigen mit?«
»Sieht so aus.« Konnte man noch dämlicher antworten, fragte Reuter sich.
»Aussterbende Gattung, finden Sie nicht?«
»Tja, also, ich finde…«
Sie goss das heiße Wasser auf das Kaffeepulver im Filter.
»Meine Oma sagte immer, das Beste sei das Einfache. Et voila: Da haben wir das Einfache. Kaffeefilter, Kaffeepulver, heißes Wasser drauf und fertig.«
Reuter nickte.
»Und als was arbeiten Sie hier? Ich meine, ich dachte, ich kenne jeden hier im Haus.«
»Bin neu. Recruiting.«
»Äh, was ist das?«
Sie schaute ihn schmunzelnd an.
»Hier mal ein paar mehr frische, junge Menschen installieren. Wie wollen wir denn sonst die Zukunft stemmen? Kauft doch keiner mehr. ›Print is dead‹. Der Spruch an sich ist schon dead. Wenn selbst die Londoner Times sich für ’n Euro im Monat an die Leser:innen prostituiert, sagt das viel über unsere Branche aus.«
»Ich denke, wir halten uns wacker.«
»Jaja.«
Der Kaffee dampfte, und Tabea blies über den Kaffeespiegel. Sie hielt die Tasse mit beiden Händen.
»Gern hier?«
»Schon fast immer hier.«
Sie blickte ihm in die Augen.
»Was machen Sie heute Abend außer das, was Sie immer machen?«
»Wäre das nicht meine Frage gewesen?«
Sie wartete an einen Stromkasten gelehnt, direkt rechts neben dem Ausgang des Verlags an der Mainzer Landstraße. Sie trug einen khakifarbenen Pullover, der wie die Resteverwertung einer Velourscouch wirkte. Er war Reuter beim Kennenlernen gar nicht aufgefallen. Über der Schulter hatte sie einen Fjällräven-Rucksack hängen und las in einem Reclam-Bändchen. Etwas klischeehaft, dachte Reuter.
Er trat aus dem Verlagsausgang und wickelte sich seinen moosgrünen Schal um. Seine Wachsjacke zog er zu. Es windete. Der Winter verabschiedete sich mit böigen, verregneten Tagen. Tabea schien das nichts auszumachen. Sie trug keine Jacke und schien auch keine dabeizuhaben.
»Sie auch hier?«, lächelte Sie.
»Ein Zufall, nicht?«
»Und schon was vor?«
»Soll eine Frau treffen, die ich gar nicht kenne.«
»Unfassbar, und das in der Abenddämmerung?«
»Ja, wilde Zeiten sind das. Und das im Gallus.«
»Dann passen Sie mal auf, dass Sie nicht ohne Nieren in Paraguay aufwachen.«
Reuter guckte irritiert.
»Kleiner Scherz.«
»Wo gehen wir hin?«
»Ich dachte, das sei Ihre Rolle?«
Reuter lachte unsicher.
»Nein, nein, kommen Sie mal mit. Wir fahren mit der S-Bahn. Wissen Sie noch, wie das geht?«
»Wie?«
»Sie sind doch mit Sicherheit so ein Autofahrer. ›ÖPNV nein danke‹ und so?«
»Naja, ich bin eher der Autofahrer, ja.«
»Wusste ich’s doch.«
Sie stiegen die Stufen zur S-Bahnstation Gallusanlage empor. Reuter Treppenstufe für Treppenstufe, Tabea nahm immer zwei Stufen auf einmal.
»Sie halten den Handlauf fester als eine Geliebte.«
»Sicher ist sicher.«
»Geistig schon was älter?«, grinste sie ihn an, als sie auf dem Bahnsteig angekommen waren.
»Nicht nur geistig, auch ganz formal.«
»Besser als jung. Die jungen Männer sind alle, was soll ich Ihnen sagen?«
Reuter zuckte mit den Schultern.
Tabea winkte ab. »Nix halbes, nix ganzes.«
»Das klingt jetzt so, als wenn Sie auf die Vierzig zugingen.«
»Vielleicht tue ich das auch gerade.« Sie lachte verwegen.
Die S-Bahn fuhr ein.
»Sie haben noch nie vom WILDSTEIN gehört?« Ihr Blick war so konsterniert, als hätte er verwundert auf die Existenz des Telefons reagiert.
»Nein, muss ich mich schämen?«
»Auf die stille Treppe mit ihnen! Nein, aber das kennt man doch.«
»Weil?«
»Ja, weil!«
»Ich lehne Dinge ab, die man angeblich kennen muss.«
»Das habe ich aber nicht gesagt.«
»Und weswegen dann?«
»Weil ich dort glücklich bin.«
Hinter der Eingangstür hing ein dicker, purpurner Windfang, durch den Tabea sich galant durchmanövrierte, wogegen Reuter sich direkt darin verfing. Grandios, dachte er, Rentnerperformanz.
Sie zog mit ihren langen Fingern den Windfang zur Seite und deutete eine Willkommensgeste an.
»Nett hier«, Reuter schaute sich neugierig um. Die Wände waren aus Lehm, beklebt mit Plakaten, die Geschichten erzählten, so alt wirkten sie. Das ganze Café atmete gelebtes Leben. Reuter war beeindruckt, er kannte diesen Laden nicht. Nicht mal vom Hörensagen.
»Aber waren Sie schonmal in Baden-Württemberg?«
Reuter schaute irritiert. »Ja, also…«
»Nee, der Werbespruch. ›Nett hier, aber waren Sie schonmal…‹«
»Ah, den hatte ich nicht spontan parat.«
Sie nahmen an einem kleinen runden Tisch in der Ecke Platz. Die Bedienung kam an ihren Tisch und trug eine ausgefranste Jeans.
»Na, auch wieder da?«, schaute sie Tabea herzlich an, die nickte.
»Aber wer ist er?«
›Er‹, dachte Reuter, zieht sich grad die Wachsjacke aus und ist neu hier.
»Ein Kollege, Reuter.«
»Hi Reuter. Ich bin Lissy.«
Reuter nickte.
»Ist das ´nen Tweed-Sakko?«
Reuter schaute an sich herunter und bejahte.
»Selten hier gesehen, dennoch willkommen. Dein erstes Mal hier?«
»Ja, noch nie gehört von diesem Café.«
Lissy verzog das Gesicht und rieb sich an ihrem Nasenring.
»Wir sehen uns auch nicht als Café im klassischen Sinne.«
Reuter schaute sich um. »Als was dann?«
»Als Heimat.«
Sie bestellten zwei Cappuccino.
»Ich hätte gerne auch ein Wasser mit Gas dazu.«
»Bekommst du hier eh immer zu jedem Heißgetränk«, unterbrach ihn Lissy.
»Eine Heimat, du erinnerst dich.«
»Wusste nicht, dass sowas auch Getränke einschließt.«
Tabea lächelte und nickte: »Habe Ihnen doch gesagt, dass ich hier glücklich bin.«
Lissy schaute irritiert, als Tabea Reuter siezte, sagte aber nichts.
Tabea rückte ihren Holzstuhl spontan in einen Neunzig-Grad-Winkel zu Reuter und lehnte sich mit ihrem Arm auf die Rückenlehne auf. Sie fixierte ihn mit ihrem Blick.
»Und, was macht Sie glücklich?«
Das war eine treffende Frage. So genau hatte sich Reuter da nie Gedanken zu gemacht. Er fand es nahezu selbstsüchtig, ständig über die Optimierung des eigenen Lebens nachzudenken. »Make your Life a Masterpiece« hatte er mal irgendwo gelesen und den Kopf geschüttelt. Was für eine vermessene Sichtweise. Was sollten da Kinder im Kongo sagen? Leben war nicht zum Vergnügen da, hatte er sich mal zurechtgelegt, traute sich diesen Satz bei Tabea aber aus irgendeinem Grund nicht zu sagen.
»Da müsste ich drüber nachdenken.«
»Und was, wenn ich die Zeit hätte, auf Ihre Antwort zu warten?«
Sie legte den Kopf schief und Reuters Herz machte Freudensprünge.
Warum, fragte er sich, und vergaß die Frage zugleich.
»Hier ihr verliebten Häschen, eure Cappuccini und die Wasser«, unterbrach Lissy Tabeas Blick.
Sie stellte grandios kredenzte Cappuccini mit Blumenmuster auf den lasierten Holztisch mit der roten Kerze. Reuter fürchtete Kerzen, aber hier wirkte es wie ein Mosaikteilchen, was das ganze Bild zum Klingen brachte. Das Sprudelwasser plätscherte auf das Eis mit Zitrone. Reuter freute sich unversehens in diese Situation gestolpert zu sein. Und das nur, weil die Kaffeemaschine auf der Arbeit defekt gewesen war.
»Also, wir sind…nicht.« Reuter wollte sachlich korrekt sein.
Lissy lachte. »Was nicht ist, kann ja noch werden!«
Tabea schaute ihn an, Lissy machte kehrt und ging gen Tresen.
»Was sind wir nicht?«
»Verliebte Häschen?«
»Sind wir nicht?«
Reuter blickte sich um. Vielleicht doch ein Prank seiner Kollegen?
Obwohl, so viel Einfallsreichtum traute er ihnen nicht zu. Da musste er an ein Interview mit Papst Franziskus denken. Giovanni di Lorenzo hatte die Anekdote erzählt, dass er den Papst auf Schmähplakate innerhalb Roms angesprochen hatte und dieser sagte, ja, die kenne er, die seien kreativ und wohl von intelligenten Menschen gestaltet worden. Di Lorenzo fragte nach, ob er die Anstifter zu der Kampagne in der Kurie vermutete. Nein, lachte daraufhin der Papst, er hatte doch gemeint, diese sei von intelligenten Leuten gemacht.
»Wie könnten wir? Wir kennen uns doch gar nicht.«
»Noch nicht.«
»Stimmt.«
»Und warum, Herr von und zu Reuter, sollte man sich zum Lieben-können kennen?«
Reuter schaute sie an.
»Weil Liebe doch aus Mögen erwächst und nicht aus, tja, aus was auch immer. Nicht aus einem spontanen Gefühl oder so.«
»Und was bedingt dieses Mögen – und deshalb Lieben – können? Nicht dieser Moment einer Sekunde, der beiden klarmacht, das sie sich wollen?«
Reuter rieb mit den Fingerspitzen über die Lasur. Er atmete ein.
»Ach, wissen Sie, die Liebe…«
»Ist ein besonderes Spiel, ja.«
»Oder so. Aber ich weiß nicht, ob es nicht neben dem, was wir als Liebe bezeichnen, doch nicht mehr ein gesellschaftliches Planspiel ist, was bis heute für die Anbahnung von Liebesbeziehungen maßgeblich ist.«
»Gebe ich Ihnen recht. Aber muss es das immer sein?«
»Das Gegenteil wäre der Beweis.«
Sie nahm einen Schluck ihres Cappuccinos. »Warum sitzen wir jetzt grad hier?«
»Weil Sie das wollten?«
»Und Sie nicht?«
»Doch, schon, aber ich hätte Sie nicht gefragt.«
»Warum nicht?«
»Schlechte Erfahrungen.«
»Sie meinen, weil alle Guten besetzt sind und der Rest beschissen?«
Reuter lächelte. »Ja, so ähnlich.«
»Und wenn nicht?«
»Was, wenn nicht?«
»Diese Regel nicht stimmt?«
Draußen trommelte der Regen an die Scheibe, böiger Wind war aufgezogen.
»Wäre das mal ein Wunder.«
Sie guckte ihm in die Augen.
»Einmal Wunder zum Mitnehmen, bitte.«
Reuter schloss beschwingt seine Wohnungstür auf. Er hatte sein Auto in der Verlagsgarage stehenlassen und war vom WILDSTEIN zu Fuß nachhause gelaufen. Mehr als eine Stunde hatte er gebraucht. Tabea hatte er noch bis zur Hauptwache begleitet. Die Zeit hatte sich aus ihrer Wahrnehmung ausgeklinkt. Es war einer dieser Abende, von denen man Menschen gerne erzählen würde, wenn sie nur ansatzweise verstehen könnten, was man alles erlebt hatte.
Er zog seine Kleidung auf dem Flur aus und ging unter die Dusche. Das heiße Wasser lief über seinen Körper. Der Weg war überaus regnerisch gewesen. Der Wind hatte an ihrer Kleidung gezerrt. Nass bis auf die Haut war er geworden, hatte es aber nicht bemerkt. Nicht mal kalt war ihm gewesen. Erst nachdem Tabea an der Hauptwache weitergegangen war Richtung Bornheim, war ihm bewusst geworden, dass er klatschnass war und hatte zu frösteln begonnen. Mit ihr hatte er nichts davon bemerkt. Kurz nach dem Verlassen des WILDSTEIN hatte sie sich bei ihm eingehakt. »Sie erlauben?«, hatte sie formvollendet gefragt. Sie schien einen Mittelweg zu suchen zwischen seiner etwas steifen und ihrer lockeren Art. Und obwohl sie über Gott und die Welt gesprochen und eine emotionale Reise hinter sich hatten, siezten sie sich weiterhin. Atmosphärisch waren sie schon ewig an diesem Abend beim Du angelangt, aber keiner tat den Schritt dazu.
Als sie sich mit einer kurzen Verarmung verabschiedet hatten, drehte sie sich nochmal um.
»Herr Reuter?«, hatte sie ihm nachgerufen.
Er hatte sich mit einem Lächeln umgedreht.
»Ja, bitte, Frau Reimann?«
»Erbitte Sie mögen zu dürfen.«
»Erlaubnis erteilt«, hatte er zurückgerufen.
»Da habe ich aber Glück gehabt!«
»Und ich erst.«
Sie hatte mit ihren schmalen Lippen und dem großen Mund gelächelt und beschwingt kehrt gemacht.
Er hatte ihr nachgeschaut, der Regen ließ ihre Silhouette verschwimmen. Sie war alles, nur nicht sein Typ. Aber was wusste er schon von sich selbst?
»Sie haben mich angenommen!«, schrie Alba durchs Telefon.
Reuter grub sich aus seiner Bettdecke.
»Alba, es ist halb sieben am Morgen. Wann warst du das letzte Mal um diese Zeit wach?«
»Auch wir Künstler:innen können frisch am Morgen sein!«, rief sie spitz ins Telefon, sodass Reuter das Telefon vom Ohr wegnahm.
»Aber was ist denn los?«
»Du musst doch eh aufstehen! Du Nine-to-five-Arbeitsbienchen!«
Reuter rieb sich die Augen. Das stimmte wohl. Aber fünf Minuten hätte sein Wecker ihm noch zugestanden. Er fragte sich, warum er sich so gerädert fühlte, bis ihn wieder ein warmer Fluss an Erinnerung des Vorabends durchflutete.
Kurze Zeit später saß Reuter an seinem kleinen Küchentisch vor dem Küchenfenster und hielt eine Kaffeetasse in der Hand. Es duftete nach Kaffee und er versuchte die Augen aufzubekommen. Ein leichter Druck auf den Nebenhöhlen bewies ihm, dass die Nässe am Vorabend doch real existent gewesen war. Er hoffte, um einen Schnupfen herumzukommen. Reuter hasste Schnupfen.
Er hatte sich wie jeden Morgen seinen Kaffee rituell kredenzt. Erst die Tasse mit Wasser in die Mikrowelle gestellt, um sie zu erhitzen, dann den Kaffee in die Tasse gegossen, derweil die Milch im Milchkännchen ebenfalls in der Mikrowelle erhitzt wurde. Er hatte lange experimentiert, bis die Milch nicht mehr überkochte oder Haut zog. Beides empfand er als Zumutung. Erst seit einiger Zeit hatte er seine Liebe zu Porzellan entdeckt und sich bei Ebay eine kleine Auswahl von der ›Wildrose‹ von Villeroy & Boch zugelegt. Mittlerweile zu vergleichsweise kleinen Preisen, da Porzellan nun wirklich niemand mehr als investitionswürdig empfand. Da Reuter aber gerne antizyklisch agierte, kam ihm das sehr recht. Nachdem er die Kaffeetasse mit Milch aufgefüllt hatte, tat er noch etwas Zimt auf den Kaffeespiegel und trank genüsslich und in völliger Kontemplation den ersten Schluck. Erst danach schaltete er sein Internet-Radio an. Morgens hörte er gerne France Culture. Er mochte diesen französischen Stimmenteppich, von dem er wenig verstand und der klangtechnisch immer eine Art Frieden ausstrahlte. Diese »Morningshows« in den deutschen Radioprogrammen hasste er. Diese frivole Fröhlichkeit, diese agitiert-artifizielle Herzlichkeit, all das hasste er zutiefst. Denn es war alles, aber nicht authentisch. Mit dem Verlag war er mal bei einem dieser Sender zu Besuch gewesen und hatte die angeblich so glücklichen Moderatoren beim Rauchen gesehen. Nervös mit dem Fuß wippend, eine Aufmerksamkeitsspanne, die sich nur noch im Sekundenbereich bewegte und ein Interesse an der Welt, das sich nur noch bis zum nächsten Aufsager erstreckte.
Reuter freute sich sehr für Alba. Endlich wurde ihre Kunst so richtig gewürdigt. Jahrelang hatte sie in Kellerateliers gewerkelt, sich eine Verkühlung nach der nächsten geholt und nie so wirklich Rezeption erfahren. Auch und gerade der Kunstmarkt war eine biestige Veranstaltung. Ihr Sujet war aber auch kein leichtes, sagte Reuter leise zu sich. Abstrakte, in grellen Akryltönen gemalte Vaginas auf Großleinwänden waren nun a priori auch nicht jedermanns oder jederfraus Sache. Erst als ein Frankfurter Immobilienentwickler und Kunstsammler, genauso verwegen im Kleidungsstil wie Alba, auf seinem Veranstaltungsgelände ein ausrangiertes Musterbild von ihr im Müll fand und spontan mitnahm, kam ihre Karriere ins Rollen. Sie hatte es verdient. Alba war sich und ihrem Stil immerzu treu geblieben. Dafür bewunderte Reuter sie sehr. Sie hatte etwas für das sie einstand und wusste, wer sie in der Welt war und wo sie hinwollte. Reuter wollte derweil nur noch einen Schluck Kaffee und goss ihn sich in seine Kaffeetasse. Jetzt also Brasilien. Das Institut für deutsch-brasilianische Kunstverständigung war auf Alba durch ihre Ausstellung in Rom aufmerksam geworden; eine Industriestiftung würde ihren Aufenthalt sponsern. Vier Wochen könnte sie ihre Kunst ausstellen und auf Kosten der Stiftung in Rio de Janeiro leben. Flug, Spesen – alles inklusive.
»Na, so kleine Augen heute?«, fragte ihn jemand unvermittelt von hinten.
Es war Tabea. Im Gegensatz zu ihm, wirkte sie frisch. Das grüngefärbte Haar zu einem Seitenzopf zusammengefasst, Jeans mit nicht zu übersehenden Löchern und rote Chucks.
Reuter drehte sich auf seinem Bürostuhl zu ihr um und lächelte.
»Wurde gestern Abend länger.«
»Na, wer Sie da wohl abgehalten hat?«, grinste Tabea.
»Frau mit grünen Haaren und zerschlissener Jeans. Schonmal gesehen?«
»Nur im Spiegel.«
Reuter nestelte an seinem Kugelschreiber.
»Kaffeedurst?«
Er grinste breit.
»Aber die Maschine funktioniert leider wieder.«
»Ich glaube nicht…«
Reuter schaute irritiert.
»Aber ich war doch eben noch in der Küche?«
»Hier, habe uns bei den Hausmeistern zwei Klappstühle geborgt.«
»Die geben freiwillig zwei Klappstühle her?«
»Die hoffen halt, dass ich ihnen irgendwann mal meinen Mund borge.«
»Oh.«
»Hoffen ist ja erlaubt«, grinste Tabea.
Sie setzte sich neben Reuter, während der Wasserkocher zu brodeln begann.
»Das war schön gestern. Ich habe mich schon lange nicht mehr so gut unterhalten. Zuhause…«, sie verschluckte den Satz.
»Zuhause?«, fragte Reuter.
Sie schien nach den richtigen Worten zu suchen. »Zuhause ist oft keiner.«
»Und wenn doch?«
»Naja, Freundinnen halt, aber die wollen auch mal wieder gehen.«
Sie goss das nun kochende Wasser in den Kaffeefilter, wartete und wechselte zur nächsten Tasse.
»Und Sie? Jemanden zum Reden daheim?«
»Weder noch.«
»Weder noch?«
»Nicht zum Reden, nicht zum Schweigen, aber auch nicht zum Kochen.«
»Ah, altes Weltbild, junger Mann?«
»Haha, nein, das war eher spontan so dahingesagt.«
»Vermissen Sie es?«
»Was?«
»Das alles?«
Reuter dachte nach. Seine letzte Beziehung war Jahre her und irgendwie attestierte er sich kein besonderes Talent für eine Beziehung, insbesondere in einer gemeinsamen Wohnung. Er bewunderte Menschen, für die eine Beziehung das normalste der Welt war. Die scheinbar gar nicht anders konnten. Aber immer jemanden um sich herum, konnte er sich mittlerweile nur noch schwer vorstellen.
»Ich glaube, eher nicht.«
»Oder nur mit der ›Richtigen‹?«
»Gibt es die denn?«
»Sagen Sie es mir.«
»Ich denke, dass das eher ein Mechanismus ist, um dem Alleinsein zu entgehen. Der Mensch ist ein Herdentier, aber der Preis dafür ist schon hoch. Gerade weil alles so frei wählbar ist heutzutage. Früher lebte man halt in dem Dorf, in dem man geboren worden war und lebte mit den Leuten zusammen, die eben Familie waren. Heute stehen einem so viele Optionen offen, das jede, die man wählt, zugleich als die falsche wirkt. Ich las mal vom ›Leid der Multioptionsgesellschaft‹ und fand das sehr treffend.«
Tabea ließ ihren langen Zeigefinger um den Tassenrand kreisen. Sie wirkte gedankenverloren.
»Und bei Ihnen?«, griff Reuter die Frage wieder auf.
»Ich denke, es ist schwierig. Man will immer das, was man nicht hat. Und man wertschätzt nicht das, was man gerade hat. Am liebsten hätte man beides gleichzeitig.«
»Und was hätten Sie gerne gleichzeitig?«
Tabea überlegte.
»Das was ich habe, und das, was ich gerade entdecke.«
»Und was entdecken Sie gerade?«
Die Tür zum Kopierraum ging auf. Gabriele Sehra trat ein und schaute zugleich erschrocken, in dem fensterlosen Kopierraum von grade mal zehn Quadratmetern zwei Menschen mit Kaffeetassen vorzufinden. Sie wich einen Schritt zurück, fragte dann aber doch: »Ich hoffe, ich störe nicht beim…«
»Kaffeetrinken«, vervollständigte Tabea den Satz.
»Auch einen?«
»Nein, danke, ich brauche nur Kopierpapier«, sagte Sehra und zeigte mit ihrem Zeigefinger hinter Reuter, der ihr einen Packen reichte.
»Ist das die neue inoffizielle Kantine?«
»Nein, aber gestern war die Kaffeemaschine kaputt.«
»Ah«, nickte Sehra. »Lasst euch nicht von Bergmaier erwischen«, lachte sie und verschwand wieder aus dem Kopierraum. Bergmaier war Reuters Chef, obgleich der selbst immer sagte, er wolle kein Chef sein, eher ein guter Kumpel. Reuter hielt das für abwegig. Auch Firmen, die sich als »Familien« deklarierten, waren ebenso wie alle anderen Firmen ein Machtgefüge und von Abhängigkeiten geprägt. Aber Reuter wollte nicht zu ungnädig mit Bergmaier sein. Er war im Rahmen der Möglichkeiten nett, begrabbelte keine und keinen, schrie nicht rum und wollte auch ansonsten Ruhe in der Abteilung haben. Das fand Reuter einen guten Ansatz. Sich gegenseitig in Ruhe zu lassen, sollte eine Grundhaltung des gemeinschaftlichen Zusammenlebens sein.
Reuters Telefon vibrierte. Eine Nachricht von Alba. Ob er heute Abend auf einen kleinen Umtrunk in ihr Atelier kommen wolle. Reuter lächelte.
»Frau der Träume?«, neckte ihn Tabea, als sie ihn breit grinsen sah.
»Nein, meine beste Freundin, die ein Stipendium in Brasilien ergattert hat. Ganz zu Recht, wenn Sie mich fragen.«
»Schön, wie kommts dazu?«
Reuter erzählte Tabea kurz von Albas Kunst, ihrem Atelier, wie sie sich bei einer Vernissage kennengelernt hatten, weil Reuter gestolpert und nur knapp an einem Bild von Alba vorbeigefallen war. »Fast in die Muschi«, hatte Alba damals scherzhaft bemerkt. Seitdem waren sie befreundet.
»Und nun wird sie sogar nach Brasilien eingeladen?«, Tabea pfiff durch die Zähne.
»Heute Abend kleiner Umtrunk in ihrem Atelier.«
Reuter grinste. Tabea grinste auch, sagte aber nichts.
»Mögen Sie mich begleiten?«
Tabea nickte.
Alba hatte lange gesucht, bis sie ihr ideales Atelier gefunden hatte. Jahre waren vergangen, ehe sie sich überhaupt eines leisten konnte. Ihre Eltern hatten immer gehofft, ihre Tochter käme nun endlich zur Vernunft und würde den Beruf der Eltern, Juristen wie sie im Buche standen, ergreifen, wie sie es sich immer gewünscht hatten. Doch da kannten sie ihre einzige Tochter schlecht. Alba scherte sich nicht darum, was ihre Eltern ihr angedacht hatten, und verzichtete auf eine mögliche Erbschaft oder sonstige finanzielle Anreize. Ihre Eltern hätten ihr alles bezahlt, aber Alba hatte immer konsequent abgelehnt. Reuter wunderte sich manchmal, wie weit der Apfel vom Stamm fallen konnte. Bei Albas Familie wirkte es manchmal so, als sei Alba gar kein Apfel, sondern eine Birne, die sich versehentlich im Garten der Wartenburgs verirrt hatte. Ganz so weit lagen Empfindung und Realität gar nicht auseinander, denn Alba war als Adoptivkind aus Ghana nach Deutschland gekommen. Wann, wie und warum, darüber schwieg sie sich auch nach Jahren der Freundschaft zu Reuter aus – und Reuter ließ sie. Seine Sache war das Nachbohren nicht, wollte er selbst auch nicht allzu sehr in seiner Vergangenheit nachgebohrt haben. Die Wartenburgs waren ein klassisch-situiertes Juristenehepaar. Freistehendes Haus, Reuter sagte dazu ›Villa‹, in Berlin-Dahlem, FAZ und Tagesspiegel abonniert und auch sonst allerlei Attitüden und Lebensgewohnheiten, die man heutzutage nur noch alten Menschen attestierte. Jedoch waren die Wartenburgs eines nicht: Interkulturell rückständig. Und so adoptierten sie Alba zu einer Zeit, als das noch nicht en vogue, oder zumindest irgendwie normal war. Ob sie das Kind ihrer Zugehfrau durch die Gegend schöben, wurden sie gefragt. Das hatte die Wartenburgs tief getroffen, wenngleich sie sich wohl nie gefragt hatten, ob die Adoption ein Fehler gewesen sei. Reuter erinnerte sich, wie Alba und er bei ihren Eltern in den tiefen Art-Deco-Polstern im Wohnzimmer mit dem lichtdurchfluteten Riesenerker gesessen hatten, eine Teetasse aus dünnem japanischen Porzellan in der Hand, und Frau Wartenburg diese und noch viele weitere Anekdoten zum Besten gegeben hatte. Unter stillem Protest von Alba, die ständig mit den Augen rollte, und leise »Mama« gepresst hatte. Reuter war damals weniger über die Anekdoten erstaunt gewesen (vom Verhalten der Nachbarn von Albas Eltern, schon), sondern wie groß ein Haus für zwei Menschen sein konnte. So etwas hatte er nicht gekannt. Allein das Wohnzimmer war ihm größer erschienen als die Wohnung seiner Eltern (und war es auch wohl). Und da hatten sie zu dritt gelebt. Er hatte es aber dort nie als eng oder beengend empfunden. Wenn er nun an den Besuch bei den Wartenburgs zurückdachte, sah er den Garten mit dem großen, gepflegten Rasenfeld und den dichten Bäumen vor sich, die sich im Wind wogen. Nette Leute, dachte Reuter. Und hatte das Alba auch damals so gesagt, als sie in der U-Bahn Richtung Bahnhof Zoo gesessen hatten. Alba hatte daraufhin nur kurz gemeint, dass genau das vielleicht der Grund sei, weswegen man sich irgendwann verzanke. Diese ewige Nettigkeit, dieses grenzenlose Verständnis. Irgendwann wäre es ihr nur noch auf den Geist gegangen. Als ihre Eltern dann sich sogar wirklich auf ihren Berufswunsch Künstlerin eingelassen hatten, hatte sie endgültig die Flucht ergriffen und war nach Frankfurt gezogen. Als Künstlerin wäre es sicher in Berlin besser für sie gelaufen, doch Alba hatte sofort abgewunken. Nicht mit dem ständigen Wissen um ihre Eltern in ihrem Nacken. Die hätten ihr noch die Staffeleien geputzt, ohne dass sie sie darum gebeten hätte. Jetzt kamen die Wartenburgs zweimal im Jahr nach Frankfurt und Alba besuchte sie ihrerseits zweimal im Jahr in Berlin. Sie fand, das war Engagement genug. Dass sie viel häufiger in Berlin war, um der Szene nahe zu sein, verheimlichte sie ihren Eltern, ohne mit der Wimper zu zucken. Dafür bewunderte Reuter Alba. Diese Stringenz, Menschen etwas nicht zu erzählen, obgleich man sich eigentlich genötigt fühlte, ihnen davon zu erzählen. »Ist ja schließlich mein Leben und meine Ortsanwesenheit«, hatte Alba gesagt und das nicht weiter als erklärwürdig empfunden. Reuter imponierte das.