Im Namen des Islam - Susanne Schröter - E-Book

Im Namen des Islam E-Book

Susanne Schröter

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Beschreibung

Das Grundlagenbuch zum politischen Islam von Deutschlands führender Ethnologin

Das Buch ist zuerst 2019 unter dem Titel »Politischer Islam: Stresstest für Deutschland« beim Gütersloher Verlagshaus erschienen.

Viele Deutsche glauben, der Islam gehöre nicht zu Deutschland. Sie verbinden die zweitgrößte Weltreligion vor allem mit dem Terror im Namen Gottes, der Unterdrückung von Frauen und Minderheiten sowie einer Ablehnung westlicher Werte. Die Gründe für diese Assoziationen resultieren aus dem Erstarken radikalislamischer Milieus, die sich zunehmend auch in Deutschland ausbreiten. Die Islamforscherin Susanne Schröter klärt über die Ursprünge, Erscheinungsformen und Akteure dieser Gruppierungen auf – einer radikalen Minderheit der Muslime in Deutschland, deren Ziel die Umgestaltung und Unterwerfung von Gesellschaft, Politik, Kultur und Recht unter islamistische Normen ist, und die so unsere pluralistische Demokratie bedrohen. Ein ebenso fundierter wie hochaktueller Überblick für alle, die sich über Islamismus in Deutschland informieren wollen.

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Seitenzahl: 458

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Buch

Viele Deutsche glauben, der Islam gehöre nicht zu Deutschland. Sie verbinden die zweitgrößte Weltreligion vor allem mit dem Terror im Namen Gottes, der Unterdrückung von Frauen und Minderheiten sowie einer Ablehnung westlicher Werte. Die Gründe für diese Assoziationen resultieren aus dem Erstarken radikalislamischer Milieus, die sich zunehmend auch in Deutschland ausbreiten. Die Islamforscherin Susanne Schröter klärt über die Ursprünge, Erscheinungsformen und Akteure dieser Gruppierungen auf – einer radikalen Minderheit der Muslime in Deutschland, deren Ziel die Umgestaltung und Unterwerfung von Gesellschaft, Politik, Kultur und Recht unter islamistische Normen ist, und die so unsere pluralistische Demokratie bedrohen. Ein ebenso fundierter wie hochaktueller Überblick für alle, die sich über Islamismus in Deutschland informieren wollen.

Autorin

Susanne Schröter, geboren 1957 in Nienburg/Weser, studierte Ethnologie, Soziologie, Politikwissenschaften und Pädagogik an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Sie lehrte und forschte unter anderem an der University of Chicago und der Yale University, wurde 2004 Inhaberin des Lehrstuhls für Südostasienkunde an der Universität Passau und 2008 auf die Professur für »Ethnologie kolonialer und postkolonialer Ordnungen« und an die Goethe-Universität Frankfurt berufen. Dort war sie 11 Jahre lang Principal Investigator im Exzellenzcluster »Herausbildung normativer Ordnungen« und leitet seit 2014 das »Frankfurter Forschungszentrum Globaler Islam«. Sie ist neben anderen ehrenamtlichen Tätigkeiten Vorstandsmitglied des »Deutschen Orient-Instituts«, Senatsmitglied der »Deutschen Nationalstiftung« und Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der »Bundeszentrale für politische Bildung«.

Susanne Schröter

Im Namen des Islam

Wie radikalislamische Gruppierungen unsere Gesellschaft bedrohen

Pantheon

Das Buch ist 2019 unter dem Titel Politischer Islam beim Gütersloher Verlagshaus erschienen und wurde für die Pantheon-Ausgabe aktualisiert.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Pantheon-Ausgabe April 2021Copyright © 2019 by Gütersloher Verlagshaus

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Umschlagabbildungen: © shutterstock/Dvorko Sergey; © shutterstock/esfera

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-28195-3V001www.pantheon-verlag.de

INHALT

Vorwort

I HISTORISCHE URSPRÜNGE DES POLITISCHEN ISLAM

1. Was bedeutet politischer Islam?

2. Wahhabismus und Salafismus – Ideologien des politischen Islam

3. Die Verlockungen des Westens und die Geburt der Muslimbruderschaft

4. Moderate Muslimbrüder?

II DER GLOBALE SIEGESZUG DES POLITISCHEN ISLAM

1. Die islamische Revolution im Iran

2. Abschied vom lächelnden Islam in Südostasien

3. Neo-osmanische Träume in der Türkei

4. Islamisten an der Macht

III DEUTSCHLAND – OPERATIONSGEBIET DER MUSLIMBRUDERSCHAFT?

1. Die Anfänge der Muslimbruderschaft in Deutschland

2. Konvertiten als Speerspitze des deutschen Islamismus

3. Netzwerke

4. Der Herr der Winkelzüge

IV TÜRKISCHER ISLAMISMUS IN DEUTSCHLAND

1. Deutschtürkische politische Ambivalenzen

2. Nationalisten, »Graue Wölfe« und ein Rockerclub

3. Die DITIB: Religionsgemeinschaft oder politisches Instrument Erdogans?

4. Die »Milli-Görüs«-Bewegung

V DER LANGE ARM DER IRANISCHEN MULLAHS

1. Der Stellvertreter des obersten Führers in Hamburg

2. Die »Islamische Gemeinschaft der schiitischen Gemeinden in Deutschland«

3. Islamistische Propaganda im Internet

4. Das »Al-Mustafa-Institut« in Berlin: Ideologieexport im wissenschaftlichen Gewand

5. Iranischer Islamismus, iranische Dissidenten und die deutsche Politik

6. Verbindungen zur Hisbollah

VI KRIEG IM NAMEN DES ISLAM

1. Die Etablierung einer dschihadistischen Internationale

2. Der dschihadistische Untergrund in Deutschland

3. Rechtfertigungen des Dschihad

4. Salafismus als Subkultur

VII DIE UNTERWERFUNG DER FRAUEN

1. Liebe im Land des Dschihad

2. Gehorsam und häusliche Gewalt

3. Mord im Namen der Ehre

4. Die Sündhaftigkeit des weiblichen Körpers

VIII KONFLIKTZONEN

1. Religiöses Mobbing und Gewalt in Schulen

2. Die Instrumentalisierung des Fastens und Betens

3. Zwanzig Jahre Kopftuchstreit

4. Islamischer Extremismus bei Geflüchteten

IX MUSLIMISCHER ANTISEMITISMUS: DIE TABUISIERTE GEFAHR

1. Gewalt gegen Juden in Frankreich

2. Muslimischer Antisemitismus in Deutschland

3. Judenfeindlichkeit in der islamischen Geschichte

4. Leugnungen, Relativierungen und der schwierige Kampf gegen Antisemitismus

X DEUTSCHLAND UND DER POLITISCHE ISLAM

1. Die ungebrochene Faszination des Radikalen

2. Islamisten als Kooperationspartner des Staates

3. Islamische Diversität

4. Herausforderungen und Leitlinien einer zukünftigen Islampolitik

Literatur

Anmerkungen

VORWORT

Die Mehrheit der Deutschen glaubt, der Islam gehöre nicht zu Deutschland. Sie verbindet die zweitgrößte Weltreligion weniger mit hehren ethischen Prinzipien oder einer tiefen Spiritualität als mit Gewalt im Namen eines unbarmherzigen Gottes, der Unterdrückung von Frauen und Minderheiten sowie einer allgemeinen Ablehnung westlicher Werte. Für diese Assoziationen gibt es viele nachvollziehbare Gründe. Zu ihnen zählen an erster Stelle die terroristischen Anschläge und Anschlagsversuche, die im Namen des Islam durchgeführt wurden, aber auch die offenkundige Distanz vieler Muslime zu unserer Gesellschaft, die sich beispielsweise in Jubelveranstaltungen für Erdogan, Bekenntnissen zur Scharia oder dem aggressiven Einfordern von Sonderrechten äußert. Allen Präventions- und Deradikalisierungsprojekten zum Trotz breiten sich radikalislamische Milieus in Deutschland aus, die besonders bei Jugendlichen großen Anklang finden. Unbestreitbar ist weiterhin, dass so manche islamische Vereinigung, die hierzulande als respektabler Partner von Politik und Zivilgesellschaft gefeiert wird, von ausländischen Islamisten finanziert und gesteuert wird. Ein Beispiel ist die DITIB, der größte muslimische Dachverband, der vollständig unter Kontrolle der staatlichen türkischen Religionsbehörde steht und durch Kriegspropaganda, antichristliche und antisemitische Homepages sowie durch Spitzeldienste für den türkischen Geheimdienst in die Kritik geraten ist. Im öffentlichen Raum, vor allem in Schulen und mittlerweile auch an Universitäten, mehren sich mittlerweile Vorfälle, die selbst diejenigen ratlos machen, die Multikulturalität und Vielfalt bislang begrüßt und gefördert haben. Dabei geht es um den Missbrauch von Gebetsräumen, um Respektlosigkeit gegenüber Frauen, um religiöses Mobbing und um zahlreiche Versuche, islamische Normen durchzusetzen.

Die genannten Probleme resultieren, so das zentrale Argument dieses Buches, aus dem Erstarken des politischen Islam. Der politische Islam stellt eine Sonderform des Islam dar und sollte nicht als charakteristisch für die gesamte Weltreligion gesehen werden, die auch in Deutschland eine Vielzahl von Facetten besitzt. Durch machtbewusstes und strategisch geschicktes Agieren seiner Funktionäre übt der politische Islam allerdings großen gesellschaftlichen Einfluss aus und dominiert zunehmend die Bühne staatlicher Islampolitik und zivilgesellschaftlicher Dialogveranstaltungen.

Viele Menschen sind angesichts der Komplexität der gegenwärtigen Situation, des Unvermögens, zwischen einem politischen und anderen Spielarten des Islam zu unterscheiden, sowie vieler sich zuspitzender Probleme überfordert – nicht zuletzt, weil ihnen das Wissen fehlt, um Situationen richtig einzuschätzen und angemessene Handlungsstrategien zu entwickeln. Das betrifft Lehrer und Lehrerinnen, die durch einen komplizierter werdenden Schulalltag navigieren müssen, Sozialarbeiter, die gefährdete Jugendliche begleiten, ehrenamtlich Engagierte, die sich um Geflüchtete kümmern oder an interreligiösen Dialoggruppen beteiligen. Herausgefordert sind auch die Angehörigen der Polizei, die um den Schutz der Bevölkerung vor gewalttätigen Extremisten bemüht sind, die Mitarbeiter von Ämtern und Ministerien, die für die Konzipierung und Umsetzung von Integrationsmaßnahmen verantwortlich zeichnen, die Angehörigen der Justiz, die mit Augenmaß eingreifen müssen, wenn schon einiges schief gegangen ist, und last but not least die Mitglieder politischer Parteien, die die Rahmenbedingungen für unsere pluralistische Gesellschaft erstellen und verantworten.

Das Buch richtet sich an diese Menschen sowie an alle, die sich für den Islam in der gesellschaftlichen Gegenwart interessieren. Es liefert Hintergrundwissen und hilft bei der Einordnung muslimischer Vereine, die in kommunalen Dialogforen mitarbeiten, Partner der Bundesländer beim islamischen Religionsunterricht sind und eine Stimme in der »Deutschen Islamkonferenz« haben.

I HISTORISCHE URSPRÜNGE DES POLITISCHEN ISLAM

Der politische Islam ist ein Gegenentwurf zur säkularen Moderne und den Freiheitsrechten des Individuums. Seine Wurzeln gehen weit in die islamische Geistesgeschichte zurück und stehen häufig in Zusammenhang mit Enttäuschungen muslimischer Akteure über misslungene politische Expansionen oder den Verlust von Herrschaftsgebieten. Seine gegenwärtige Spielart stellt eine Reaktion auf den Zusammenbruch des osmanischen Kalifats und die weltweite Dominanz des Westens dar.

1. Was bedeutet politischer Islam?

Das Phänomen, das in dieser Publikation als politischer Islam bezeichnet wird, erscheint in den Debatten der vergangenen Jahrzehnte unter mehreren Bezeichnungen, die jedoch nicht vollständig deckungsgleich sind. Einer der gebräuchlichsten Begriffe ist der des Fundamentalismus. Ursprünglich war er nicht islamisch konnotiert, sondern auf eine Bewegung amerikanischer Protestanten gerichtet, deren Anhänger zu Beginn des 20. Jahrhunderts die »Christlich-fundamentalistischeWeltvereinigung« gründeten. Ihrer Meinung nach befand sich die Menschheit in einer schweren Krise, die nur durch ein Zurück zu den Fundamenten des christlichen Glaubens bewältigt werden könne. Der Religionswissenschaftler Martin Riesebrodt betont den patriarchalischen Charakter der Bewegung, deren Mitglieder sich besonders durch die beginnende Frauenemanzipation herausgefordert sahen.1 In der rauchenden, geschminkten und Alkohol trinkenden modernen Frau, schreibt er, offenbarte sich für sie das ultimative Wirken Satans in der Welt.

Ähnliche Phänomene hat ein Team interdisziplinärer Wissenschaftler unter Leitung von Martin E. Marty und R. Scott Appleby von 1987 bis 1995 an der Universität Chicago auch bei anderen Religionen erforscht, und heute wird der Begriff »Fundamentalismus« als Strömung verstanden, die in allen Weltreligionen nachweisbar ist.2 Gemeinsam ist Fundamentalisten der Glaube an eine absolute Wahrheit, die nur innerhalb ihrer eigenen Religion zu finden sei, und die Überzeugung, dass gesellschaftliche Normen und Werte in Einklang mit religiösen Dogmen zu bringen seien. Fundamentalisten bringen eine zum Ideal verklärte Vergangenheit mit einer religiösen Ursprungsgemeinde gegen eine vermeintlich vom Glauben abgefallene und in Sünde lebende moderne Welt in Stellung und streben die Herstellung einer moralischen Ordnung an, die auf der Befolgung vermeintlicher göttlicher Gesetze beruht, die man aus den jeweiligen religiösen Quelltexten herausliest.

Während das Weltbild christlicher Fundamentalisten auf einer wortwörtlichen Bibelexegese basiert, geht es im islamischen Fundamentalismus um die Exegese des Korans und um die Person Mohammed, der nach Meinung aller Muslime Prophet und Werkzeug der göttlichen Offenbarung gewesen sein soll. Der Koran soll Mohammed von Gott buchstäblich diktiert worden sein. Progressive Theologen deuten den Koran mit hermeneutischen Methoden zeit- und offenbarungsgeschichtlich, Fundamentalisten dagegen lehnen moderne wissenschaftliche Verfahren ab und betonen die ewige Wahrheit jedes Satzes. Bei Widersprüchen zwischen einzelnen Aussagen gilt der Grundsatz, dass neuere Texte ältere »aufheben«. Diese Herangehensweise begünstigt ein kriegerisches und patriarchalisches Religionsverständnis, da sich der Islam historisch von einer Minderheitenreligion in Mekka zu einer dominanten Staatsreligion in Medina wandelte und die Verse der mekkanischen Periode einen eher spirituellen Charakter besitzen, während die medinensischen problematische Aussagen wie Aufrufe zum Töten von Nichtmuslimen enthalten. Als fragwürdiges Orientierungsmodell muss man auch die Überlieferungen bezeichnen, die das Leben Mohammeds und seiner Gefährten betreffen. Man nennt sie Sunna des Propheten oder kurz »Sunna«. Mohammeds Gedanken, Botschaften und Taten werden von islamischen Fundamentalisten niemals in Zweifel gezogen, sondern dienen stets als Leitlinien für gegenwärtiges Handeln. Das hat vielerlei Konsequenzen. Die Menschen des 7. Jahrhunderts auf der arabischen Halbinsel folgten anderen Prinzipien als diejenigen, die wir heute für richtig halten, und Mohammed handelte im zeitgenössischen normativen Rahmen. Er einte verfeindete Gruppen, erließ Gesetze und etablierte eine spätere Weltreligion, doch er führte auch Kriege, überfiel Karawanen, ließ seine Gefolgschaft plündern und bestrafte mangelnde Loyalität mit Vertreibung und Hinrichtungen. Ein unkritisches Nacheifern der Person Mohammeds kann daher im schlimmsten Fall die Rechtfertigung von Sklaverei und die Ermordung all derjenigen bedeuten, die sich der muslimischen Herrschaft nicht bedingungslos unterwerfen.

Islamischer Fundamentalismus kann unterschiedliche Formen annehmen. In Situationen der Schwäche, wenn Muslime sich in einer Minderheitensituation befinden, geht es islamischen Fundamentalisten um eine Gemeindeordnung, in der die Frommen unter ihresgleichen nach ihren eigenen Regeln leben; grundsätzlich wird allerdings, so Gudrun Krämer, Leiterin des Instituts für Islamwissenschaft an der Freien Universität Berlin, die Etablierung einer islamischen Ordnung (nizam islami) angestrebt, in der »die göttlichen Gebote und Verbote öffentlich wirksam durchgesetzt werden«.3 Der Islamwissenschaftler Martin Riexinger hält den terminologisch angelegten Vergleich mit dem christlichen Fundamentalismus daher für wenig hilfreich.4 Er votiert stattdessen für den Begriff Islamismus, den auch Tilman Seidensticker, Professor für Islamwissenschaft an der Universität Jena, verwendet. Seidensticker definiert Islamismus als »Bestrebungen zur Umgestaltung von Gesellschaft, Kultur, Staat oder Politik anhand von Werten und Normen, die als islamisch angesehen werden«.5 Islamismus meint also letztendlich nichts anderes als einen politischen Islam, dessen Herrschaftsanspruch die gesamte Gesellschaft mit allen ihren Teilbereichen umfasst.6 Diese Politisierung der Religion bedeutet im Einzelnen u. a. die Reglementierung der Lebensführung von Muslimen anhand der Kategorien des Erlaubten (halal) und Verbotenen (haram). Was halal oder haram ist, wird dem Koran oder der Sunna entnommen. Der Verzehr geschächteter Rinder und Schafe ist beispielsweise halal, das Fleisch nicht »islamisch« getöteter Tiere ist dagegen haram. Halal ist die Ehe eines Mannes mit mehreren Ehefrauen, haram wäre die Ehe einer Frau mit mehreren Ehemännern. Homosexualität und nichtehelicher Sex sind immer haram, ebenso die physische Nähe nicht verwandter Männer und Frauen, da diese zu illegitimem Sex führen kann. Nach salafistischer Vorstellung ist Sex eines Mannes mit einer Frau oder einem Kind, die zuvor versklavt wurden, ebenfalls halal, doch das sehen die meisten Muslime anders. Die Heirat minderjähriger, teilweise sogar präpubertärer Mädchen wird allerdings von vielen Muslimen als halal angesehen, da eine der Ehefrauen Mohammeds zum Zeitpunkt ihrer Eheschließung erst neun Jahre alt gewesen sein soll. Die Liste ließe sich unendlich weiter fortführen. Jede nur erdenkliche Handlung wird in das halal-haram-Raster eingeordnet, jede Person wird nach ihrer Unterwerfung unter die Ge- und Verbote des Islam beurteilt.

Die individuelle Freiwilligkeit bleibt nicht nur wegen des sozialen Drucks auf den Einzelnen auf der Strecke. Dort, wo die frommen Eiferer des politischen Islam Teile des Rechtssystems nach ihren Vorstellungen umgestalten, sprich: die Scharia eingeführt haben, drohen bei Nichtbefolgung empfindliche Sanktionen, die von Geldbußen über Inhaftierungen bis zu Körperstrafen reichen und Auspeitschungen, Stockschläge, Amputationen von Gliedmaßen sowie die Todesstrafe durch Steinigung oder Enthauptung mit dem Schwert umfassen können. Wer sich nicht widerstandslos fügt, wird der islamistischen Ordnung mit Zwang unterworfen. Nicht nur in Saudi-Arabien und dem Iran, den islamistischen Ländern per se, auch in Pakistan, Indonesien und anderen islamisch geprägten Staaten werden Oppositionelle, Unangepasste oder Nichtmuslime schikaniert, verfolgt oder umgebracht. Die konkreten Gründe sind meist nichtig. Gern führt man Blasphemie oder andere schwer zu beweisende Anklagepunkte ins Feld, um Menschen zu inhaftieren, zu foltern oder zu ermorden. Beispiele sind der Fall des saudi-arabischen Bloggers Raif Badawi, der 2015 wegen »Beleidigung des Islam« zu einer zehnjährigen Haftstrafe und zu 1.000 (!) Peitschenhieben verurteilt wurde, oder der Mord an dem Christen Shehzad Masih und seiner schwangeren Frau Shama Bibi durch einen islamistischen Mob im Jahr 2014 in Pakistan. Man hatte ihnen »Schändung des Koran« vorgeworfen. Unter besonderen Repressionen leiden liberale Muslime, Konvertiten und Atheisten. Im Koran wird den Abtrünnigen (murtadd) das Höllenfeuer nach dem Tode angekündigt, in der weltlichen Realität kann die Abkehr von der »wahren Religion« eine richterlich verhängte Todesstrafe oder einen Lynchmord nach sich ziehen.

Zum islamistischen Kanon gehört die Überzeugung einer Vorrangstellung des religiösen Gesetzes vor dem weltlichen. Das macht den politischen Islam in seinem Kern demokratiefeindlich, wenngleich sich islamistische Akteure unter gewissen Umständen an Wahlen beteiligen und sogenannte »moderate Islamisten« bekunden, die islamistische Transformation ganzer Gesellschaften mit demokratischen Verfahren durchführen zu wollen.7 Im Zentrum des politischen Islam steht unangefochten die islamistische Genderordnung, deren augenfälligste Merkmale eine umfängliche Geschlechtertrennung, ein extremer Patriarchalismus, der partielle oder vollkommene Ausschluss von Frauen aus der Öffentlichkeit und die Fetischisierung der Bedeckung des weiblichen Körpers und Kopfes sind. Insgesamt handelt es sich beim politischen Islam um ein komplexes Gebilde religiös begründeter Normen, die die Grundlage einer alle Bereiche des Lebens umfassenden sozialen und politischen Ordnung darstellen. Der Fundamentalismus ist in einer engen Definition lediglich ein Teilbereich dieser Spielart des Islam, in seiner weiten Form aber identisch mit ihm. Der Begriff des Islamismus fällt ebenfalls weitgehend mit ihm zusammen, wird allerdings manchmal als Synonym »des« Islam missverstanden. Es sei betont, dass es in diesem Buch nicht um »den« Islam an sich geht, den es im Singular gar nicht gibt, sondern um eine spezifische Ausprägung dieser Religion, die auf die totalitäre Umgestaltung des Politischen und auf eine Unterwerfung von Gesellschaft, Kultur, Politik und Recht unter islamistische Normen zielt. Aufgrund der inhaltlichen Übereinstimmungen werde ich die Begriffe »Islamismus« und »politischer Islam« synonym verwenden, im Adjektivischen von »islamistisch« sprechen und Vertreter des politischen Islam als »Islamisten« bezeichnen.

2. Wahhabismus und Salafismus – Ideologien des politischen Islam

Historisch betrachtet war der politische Islam ein Krisenphänomen. Es waren tief greifende Erschütterungen, die zu den radikalen Rückbesinnungen auf eine idealisierte Vergangenheit führten und Gelehrte dazu trieben, sich allein am Koran und der Sunna festzuhalten. Eine dieser Krisen war die Eroberung Bagdads durch die Mongolen im Jahr 1258. Sie war in jeder Hinsicht desaströs und beendete die glanzvolle Herrschaft der Abbasiden, die das Schicksal der muslimischen Welt von der Mitte des 8. Jahrhunderts an geprägt hatten. Ihre Hauptstadt Bagdad war im 13. Jahrhundert eine Großstadt mit einer Million Einwohnern, mit prunkvollen Palästen, Moscheen und Gartenanlagen, in der urbanes Leben auf höchstem Niveau blühte. Die abbasidischen Herrscher kultivierten eine ausgefeilte höfische Etikette, förderten Kunst, Musik, Literatur und eine allgemeine Gelehrsamkeit. Im »Haus der Weisheit« wurden wissenschaftliche Texte aus aller Welt übersetzt, darunter auch die antiken Werke von Platon, Aristoteles, Galen und Hippokrates. Der Historiker Dimitri Gutas vergleicht das mittelalterliche Bagdad mit der Zeit des Perikles im antiken Griechenland, der italienischen Renaissance und den naturwissenschaftlichen Revolutionen der beginnenden Neuzeit.8 Die Mongolen zerstörten diese blühende Metropole und alles, was sie ausmachte. Ihre Einwohner wurden massakriert, die Gebäude niedergerissen und die Bücher der zahlreichen Bibliotheken in den Tigris geworfen.

Für muslimische Wissenschaftler war dieses Unglück erklärungsbedürftig. Einer derjenigen, die über die Ursache der Katastrophe nachdachten, war der Rechtsgelehrte Ahmad ibn Taymiyya (1263–1328). Er war überzeugt, dass der Sieg der Mongolen kein Zufall, sondern vielmehr eine Folge muslimischer Glaubensschwäche gewesen sei, und forderte eine vollständige Rückkehr der muslimischen Gemeinschaft zu den Fundamenten des Islam.9Jede Norm oder Handlung müsse den Regularien des Korans oder der Sunna entsprechen, jedes Rechtsgutachten mit diesen Quellen begründet werden. Ibn Taymiyya lehnte sufistische Auslegungen islamischer Texte sowie die damals populären Heiligenverehrungen und Gräberkulte ab und distanzierte sich scharf von Andersgläubigen, dabei auch von Schiiten, denen er vorwarf, mit den Mongolen kooperiert zu haben. Sein Islam war ein rigides und intolerantes Ordnungssystem und stieß zu seinen Lebzeiten auch bei der Obrigkeit auf erhebliche Ablehnung. Insgesamt sechsmal wurde der Gelehrte inhaftiert und starb schließlich im Gefängnis. Sein Wirken überdauerte jedoch die Zeit, und bis heute gilt er vielen Islamisten als Inspiration.

Die erste große Bewegung des politischen Islam, die durch die Schriften Ibn Taymiyyas beeinflusst wurde, ist der Wahhabismus. Der Begriff leitet sich von seinem Gründer Muhammad Ibn Abd al-Wahhab (1703–1792) ab, der als Sohn eines Richters auf der arabischen Halbinsel geboren wurde. Schon als Kind soll al-Wahhab die Pilgerfahrt nach Mekka angetreten und danach Theologie und Rechtswissenschaften studiert haben. Dabei entdeckte er die Schriften Ibn Taymiyyas, die ihn nachhaltig prägten. Auch ein anderer Gelehrter soll ihn beeinflusst haben. Es handelte sich um Ahmad Ibn Hanbal (780–855), einen Theologen der nach ihm benannten hanbalitischen Rechtsschule. Ibn Hanbal hatte sich zu Lebzeiten gegen muslimische Intellektuelle gewandt, die von der griechischen Philosophie beeinflusst waren und einen vernunftorientierten Islam predigten. Seiner Ansicht nach sollten es allein die Buchstaben des Korans und das Vorbild des Propheten Mohammed sein, die eine Anleitung für die Gläubigen darstellten. Die Schriften Ibn Hanbals und Ibn Taymiyyas überzeugten al-Wahhab davon, dass nur der Koran und die Sunna als Quellen rechtsverbindlicher Normen zu akzeptieren seien. Den drei Theologen war gemein, dass sie den Islam in der denkbar simpelsten Form verstanden haben wollten. Philosophische und theologische Debatten waren ihnen ebenso zuwider wie Interpretationen der sakralen Texte, die von der unmittelbar erschließbaren Wortbedeutung abwichen. Solche Praxen wurden als unerlaubte Neuerungen (bida) verurteilt. Wie Ibn Taymiyya verdammte auch al-Wahhab zeitgenössische arabische Bräuche. In seinem »Buch der Einheit Gottes« (Kitab at-Tauhid) bezeichnet er sie als Götzendienst (schirk) und die Anhänger des volkstümlichen Islam als Götzendiener (muschrikun). Da er jede Art der Vermittlung zwischen Gott und dem Menschen als Abweichung vom islamischen Monotheismus (tauhid) verurteilte, wurden auch die Sufis, die ihre spirituellen Führer nach dem Tod zu Heiligen erklärten und an deren Gräbern beteten, zu Häretikern erklärt. Der Islam des al-Wahhab war puritanisch, freudlos und lehnte Musik, Tanz, den Genuss von Tabak sowie andere irdische Vergnügungen ab. Daher war es nicht verwunderlich, dass die Zahl seiner Anhänger zunächst überschaubar blieb. Das erschütterte ihn jedoch wenig. Er bezeichnete sich und seine Getreuen als »Bekenner der Einheit Gottes«, verstand seine Gruppe als Nachfolger Mohammeds und seiner Gefährten oder nannte sie einfach »die Muslime«, womit allen anderen Muslimen das Muslimsein abgesprochen wurde.10 Diejenigen, die seiner Sicht der Dinge nicht folgen wollten, erklärte er zu Ungläubigen (eine als takfir bezeichnete Art der Exkommunikation) und damit zu Feinden des Islam. Gegen sie musste der Dschihad, der heilige Krieg im Namen Allahs, geführt werden, bis sie entweder vernichtet waren oder sich der fundamentalistischen Ordnung unterwarfen.11 Auch denjenigen, die sich nicht gebührend von den vermeintlichen Abweichlern distanzierten, wurde das Muslimsein abgesprochen. Dieser »Takfirismus« ist bis auf den heutigen Tag ein probates Mittel von Dschihadisten, andere Muslime als »Ungläubige« zu denunzieren und so ihre Vernichtung leichter zu rechtfertigen.

Da al-Wahhab die militärischen Mittel für den Dschihad zu Beginn seines ideologischen Feldzuges fehlten, blieben seine Pläne zunächst reines Wunschdenken. Seine Lehren stießen in der Bevölkerung auf Ablehnung, und von einer freiwilligen Übernahme seiner Form des Islam konnte keine Rede sein. Al-Wahhab wurde vielmehr verjagt und gezwungen, sich an seinen Geburtsort zurückzuziehen. Dort hatte er als Sohn einer einflussreichen Familie eine günstigere Ausgangslage für seine Mission, und tatsächlich gelang es ihm, einen lokalen Stammesführer von seinen Ideen zu überzeugen. Gemeinsam machten sie sich ans Werk sein radikales Programm umzusetzen, zerstörten eine wichtige volkstümliche Kultstätte und ließen eine Frau steinigen. Die örtlichen Stämme protestierten daraufhin, drohten gar damit, ihre Tributzahlungen auszusetzen und Handelswege zu blockieren.12 Diese Aussicht gefiel dem lokalen Partner nicht, und al-Wahhab wurde erneut vertrieben. Erfolg stellte sich erst durch eine 1744 geschlossene Allianz mit dem Warlord Muhammad Ibn Saud ein, der sich in der Oasensiedlung Diriyya gegen Konkurrenten durchgesetzt hatte und den Titel eines Amir, eines Führers, beanspruchte. Sauds politische Ambitionen gingen weit über Diriyya hinaus, waren jedoch durch rivalisierende Stämme begrenzt. Für weitere Expansionen benötigte er eine brauchbare Ideologie, die geeignet war, seine militärischen Unternehmungen zu legitimieren und mit höheren Weihen auszustatten. Diese konnte al-Wahhab liefern. Der Takfirimus machte es möglich, die primär weltlichen Eroberungen Ibn Sauds als heilige Kriege zu deklarieren und mögliche Gefolgsleute von seiner vermeintlich gottgewollten Mission zu überzeugen. Al-Wahhab wiederum war auf einen militärisch starken Mitstreiter angewiesen, um seine gesellschaftliche Vision durchzusetzen; und so ergänzten sich die beiden vortrefflich. 1744 kam es zu einem Pakt, der durch einen gegenseitigen Loyalitätseid (baya) und die Heirat von Ibn Sauds Sohn mit al-Wahhabs Tochter besiegelt wurde. Die militärischen Eroberungen Ibn Sauds standen damit unter dem Stern der Ausbreitung des »wahren« Glaubens. Jeder Sieg wurde als Zeichen der göttlichen Unterstützung gedeutet und vergrößerte die Gefolgschaft der beiden. Das lag allerdings auch daran, dass die Besiegten vor die Wahl gestellt wurden, sich entweder der Ideologie al-Wahhabs und der Herrschaft Ibn Sauds zu unterwerfen oder zu sterben.

Die Allianz überdauerte den Tod von Muhammad Ibn Saud. Auf ihn folgte im Jahr 1750 sein Sohn Abdel Aziz Ibn Muhammad an die Spitze des Staates und die Eroberungen gingen weiter. 1773 wurde Riad und 1802 Kerbela im heutigen Irak eingenommen. Die Wahhabiten zerstörten das Grab des als Märtyrer verehrten schiitischen Heiligen Hussein Ibn Ali und damit eine der wichtigsten Kultstätten des schiitischen Islam. 4.000 Männer, Frauen und Kinder sollen massakriert worden sein. Kurze Zeit später erreichten die Truppen Mekka und Medina und machten alles dem Erdboden gleich, was ihrer Ansicht nach eine Abweichung vom wahren Glauben darstellte. Dazu gehörten auch die Moschee, Schreine und Gräber Mohammeds und seiner Familie.13 Die dort lebenden Muslime mussten sich ebenfalls den Vorstellungen al-Wahhabs unterwerfen. Auffällige Kleidung, Rauchen und Musik wurden fortan verboten, und der Bevölkerung wurde ein auf das Jenseits ausgerichteter Lebensstil aufgenötigt. Wer sich nicht anpasste oder nachlässig bei der Absolvierung der religiösen Pflichten war, musste nach den Vorgaben der Scharia mit Körperstrafen oder sogar mit dem Tod rechnen.

Die Verbindung der Wahhabiten mit dem Clan der Saud sorgte in der damaligen islamischen Welt für beträchtliche Unruhe. Die arabische Halbinsel befand sich im Einflussgebiet des Osmanischen Reiches und dort sah man die Aktivitäten der neuen lokalen Machthaber mit einer gewissen Sorge. Vor allem die Besetzung Mekkas und Medinas rief schließlich den osmanischen Kalifen Mahmud II auf den Plan. Nicht zuletzt ging es um die gewaltigen Einnahmen aus dem Geschäft mit den Pilgern, auf die die »Hohe Pforte« nicht zu verzichten gedachte. Der Kalif beauftragte schließlich seinen ägyptischen Vizekönig Ali Pascha damit, dem Expansionseifer der Sauds ein Ende zu bereiten, und ließ Saudi-Arabien 1812 besetzen. Der saudische Amir wurde gefangen genommen, enthauptet, und der erste saudische Staat hörte auf zu existieren. Ein zweiter Staatsgründungsversuch erfolgte 1824, scheiterte aber 1891 an internen Querelen. Heute haben wir es mit der dritten saudischen Monarchie zu tun, die nach wie vor auf der Kooperation zwischen einer wahhabitisch geprägten religiösen Elite und einer weltlichen politischen Oberschicht basiert. Die gesamte normative Ordnung des Staates folgt der Scharia, ein nationales Sicherheitsgesetz verbietet Kritik am Islam, der Regierung und dem Haus Saud bei Strafe der sofortigen Inhaftierung. Auspeitschungen, Verstümmelungen und die absolute Entrechtung von Frauen sind sprichwörtlich.

Das Osmanische Reich, das den Wahhabiten Anfang des 19. Jahrhunderts noch Einhalt geboten hatte, sollte kurze Zeit später zusammenbrechen. Ähnlich wie die Zerstörung Bagdads wurden das Ende des letzten Kalifats und der Siegeszug des Okzidents von Muslimen als Krise des Islam wahrgenommen. Der britische Historiker Bernhard Lewis, der sich in seinen Publikationen mit dem Niedergang der islamischen Welt befasste, hat das islamische Herrschaftsgebiet für die Periode vom Mittelalter bis in die Neuzeit hinein als das »reichste, mächtigste, kreativste und aufgeklärteste Reich der Welt« bezeichnet.14 Der Wendepunkt habe mit der zweiten Belagerung Wiens im Jahr 1683 und der vernichtenden militärischen Niederlage der Osmanen begonnen. Die Irritationen der Muslime wuchsen, nachdem nicht nur die islamische Expansion in Europa gestoppt wurde, sondern europäische Armeen Nordafrika und Teile Asiens unterwarfen. Aus dieser Erfahrung heraus stellten sich die Muslime, so Lewis, zwei Fragen: »Warum hatten die verachteten christlichen Feinde die einst immer siegreichen osmanischen Armeen besiegt? Und wie konnten die Muslime ihre alte Vorherrschaft wiederherstellen?«15 Die Antworten muslimischer Denker auf diese Herausforderungen seien primär religiös gewesen.16 Wie al-Wahhab oder Ibn Tamiyya waren sie davon überzeugt, die offenkundige Schwäche der muslimischen Gesellschaften durch eine Rückkehr zu den Fundamenten des Islam überwinden zu können. Aufgrund des Nacheiferns der »Altvorderen«, die im Arabischen als al-salaf al-salih bezeichnet werden, nennt man sie Salafisten.

Einer ihrer frühen Vertreter war der im Iran geborene Jamal al-Din al-Afghani (1838–1897), der sein Leben dem Kampf gegen den europäischen Kolonialismus verschrieb und als Agitator in der islamisch geprägten Welt herumreiste. Er wurde wegen seiner politischen Betätigungen aus dem Iran, aus Indien, Afghanistan und Ägypten ausgewiesen und hielt sich längere Zeit in London und Paris auf, wo er mit europäischen Intellektuellen zusammentraf. Berühmt geworden ist sein Briefwechsel mit dem Orientalisten Ernest Renan über das Verhältnis von Islam und Moderne. Während Renan den Islam für modernisierungsunfähig hielt, glaubte al-Afghani an eine Synthese zwischen moderner Technologie und islamischer Philosophie und Werteorientierung. Er legte damit den Grundstein für eine selektive Aneignung westlicher Errungenschaften, die der aus Damaskus stammende Politikwissenschaftler Bassam Tibi den »Traum von einer halben Moderne« nennt.17 Tibi meint damit die Trennung zwischen der philosophischen und der technologischen Moderne, die es ermöglicht, Demokratie, Trennung von Staat und Religion sowie die Gleichberechtigung von Männern und Frauen abzulehnen, moderne Technik jedoch zu bejahen und zu nutzen. Als explizit modern muss die Idee des Panislamismus beurteilt werden, die bereits Ende des 18. Jahrhunderts im Osmanischen Reich entstand und von al-Afghani während seines Europaaufenthaltes weiterentwickelt wurde.18 Sie sollte helfen, die nationale Beschränktheit des antikolonialen Kampfes zu überwinden und war als Ressource für die Mobilisierung muslimischer Massen gegen die europäische Vorherrschaft gedacht.

Al-Afghanis wichtigster Schüler war der Ägypter Mohammed Abduh (1849–1905), der an der al-Azhar-Universität in Kairo Theologie studiert und nach seinem Examen als Lehrer und Journalist gearbeitet hatte. In jungen Jahren befasste er sich mit islamischer Mystik und trat auf Vermittlung eines Onkels einem sufistischen Orden bei. Noch während seines Studiums lernte er al-Afghani kennen. Der eloquente Agitator begeisterte ihn und machte ihn mit philosophischen Texten und europäischer Literatur in arabischer Übersetzung bekannt. Allerdings brachte ihn diese Freundschaft in Konflikt mit den Behörden. Er wurde verhaftet, vor Gericht gestellt und schließlich sogar des Landes verwiesen. 1884 ging er ins Exil nach Paris, wo er zusammen mit al-Afghani eine Zeitschrift herausgab. Im Laufe der Zusammenarbeit wurden die Unterschiede zwischen den beiden Denkern jedoch offenkundig und es kam zu einem Zerwürfnis. Anders als al-Afghani war Abduh nicht davon überzeugt, dass Aufstände die Situation der Muslime verbessern würden. Er setzte stattdessen auf Bildung und war auch bereit, sich an die herrschenden Verhältnisse anzupassen.1889 kehrte er nach Ägypten zurück und hielt sich fortan von der Politik fern. Seiner beruflichen Karriere tat die politische Zurückhaltung gut. Nach einigen Stationen, in denen er das Amt eines Richters (qadi) bekleidete, wurde er 1899 zum Großmufti ernannt. Es war die höchste religiöse Position, die in Ägypten erlangt werden konnte. Im gleichen Jahr wurde ihm zudem die Mitgliedschaft im »Gesetzgebenden Rat« angetragen. Solchermaßen mit Würden und Ämtern ausgestattet, widmete Abduh sein Leben der Umgestaltung der wichtigsten Bildungseinrichtungen Ägyptens und der Reform des Islam. Obgleich dies für ihn ein Zurück zu den islamischen Quelltexten bedeutete, lehnte er die europäische Geistesgeschichte nicht per se ab, sondern integrierte westliche und östliche Philosophien bis zu einem gewissen Grad. Sein Ziel bestand letztendlich darin, einen Mittelweg zwischen Europäisierung und Islam zu beschreiten.19 In diesem Sinne wurzeln die Gedanken Muhammad Abduhs zwar im islamischen Fundamentalismus und im Salafismus, sind aber dennoch weit von denen der heutigen Islamisten entfernt.

Auf Abduhs Schüler und zeitweise engsten Wegbegleiter Muhammad Rashid Rida (1865–1935) traf eine solch differenzierte Herangehensweise nicht zu. In einem Dorf bei Tripoli im Libanon geboren, war auch er seit seiner Schulzeit mit europäischem Gedankengut vertraut und stand in seiner Jugend wie Abduh dem Sufismus positiv gegenüber. Er schloss sich sogar dem Orden der Nakschbandi an, wandte sich aber später entschieden davon ab, nachdem er eine Veranstaltung besucht hatte, bei der Derwische versuchten, Gott durch ekstatische Drehtänze näherzukommen. Für ihn waren dies verbotene Handlungen, die vollständig seinem puritanischen Religionsverständnis widersprachen. Rida ging es um Reinigung des Islam von jedweder vermeintlichen Verfälschung, um eine Rückkehr zu seinen Ursprüngen sowie um die Stärkung der islamischen Gemeinschaft, die er dezidiert als politische Gemeinschaft verstand. Die Orientierung an tradierten Normsetzungen, die im Arabischen als taqlid bezeichnet werden und die Theologie entscheidend prägten, lehnte er ab. Sie waren für ihn die Ursache für die Stagnation der islamischen Welt und den Sieg des Westens. Wie Abduh und al-Afghani setzte er das Prinzip des itschtihad dagegen, was eine vernunftgeleitete eigene Interpretation der heiligen Texte bedeutet. Der frühe Salafismus war zweifellos eine Reformbewegung, auch wenn sein Anliegen eine Rückkehr zu den Prinzipien des 7. Jahrhunderts war. Die ultimative normative Leitfunktion kam in Ridas Gesellschaftskonzept der Scharia zu, vor allem im Bereich des Strafrechts und der religiösen Pflichten.20 Das einzig legitime Herrschaftssystem war für ihn das Kalifat. Auch aus seinen Sympathien für den Wahhabismus machte er kein Hehl. Rida war nicht nur ein theologischer Erneuerer, sondern maßgeblich ein politischer Aktivist. Mit Abduh gab er ab 1898 die einflussreiche Monatszeitschrift »Der Leuchtturm« (al-Manar) heraus, in der er zunehmend radikale Aufsätze verfasste und zur Popularisierung des von ihm verehrten Ibn Taymiyya beitrug.21 Anders als Abduh war Rida strikt antiwestlich eingestellt und versuchte nachzuweisen, dass alle technischen und wissenschaftlichen Errungenschaften des Okzidents eigentlich islamischen Ursprungs seien.

3. Die Verlockungen des Westens und die Geburt der Muslimbruderschaft

Zur Zeit des sich entwickelnden Salafismus befand sich Ägypten im Umbruch. Dieser zeichnete sich bereits im 18. Jahrhundert ab. Nachdem eine französische Militäreinheit unter Führung Napoleon Bonapartes das zum Osmanischen Reich gehörende Land im Jahr 1789 erobert hatte, reagierte der osmanische Vizekönig Muhammad Ali mit einer Übernahme europäischer Errungenschaften und reformierte die Verwaltung und Infrastruktur nach europäischem Vorbild. Unter seinem Nachfolger, dem Gouverneur Ismael, wurde 1869 der Suezkanal fertiggestellt. Eine neue urbane Elite entstand, und auch auf dem Land änderten sich die Verhältnisse grundlegend. Dabei gab es Gewinner und Verlierer. Manch reicher Grundeigentümer profitierte vom Anschluss an den Weltmarkt, andere hingegen verloren ihr Land. Kleinstproduzenten und lokale Händler konnten mit den europäischen Waren nicht mehr konkurrieren, und viele, die in den Dörfern kein Auskommen mehr hatten, drängten in die Städte. Dazu kam eine galoppierende Staatsverschuldung, da die Modernisierungsvorhaben mehr Geld kosteten, als zur Verfügung stand. Im Jahr 1875 konnte Ägypten seine Schulden nicht mehr bezahlen. England kaufte die ägyptischen Anteile der Suezkanal-Aktien, richtete zusammen mit Frankreich eine Kommission zur Kontrolle der ägyptischen Finanzen ein und ab 1879 stand das Land faktisch unter britischer Finanzaufsicht, die einen harten Sparkurs auferlegte. Gehälter konnten nicht mehr bezahlt werden, Beamte und Angehörige des Militärs wurden entlassen. Aus diesen gedemütigten Kreisen heraus bildete sich eine Oppositionsbewegung, der sich traditionelle Eliten und muslimische Intellektuelle anschlossen. Die Briten verhielten sich zunächst abwartend, bis es am 11. Juli 1882 zu gewalttätigen Ausschreitungen gegen Europäer kam und sogar die Nutzung des Suezkanals gefährdet schien. Im September landeten britische Truppen in Ägypten und besetzten das Land. Ab 1883 standen britische Generäle an der Spitze der ägyptischen Armee, ägyptische Soldaten wurden durch britische Offiziere ausgebildet, und wichtige Ämter in der Verwaltung wurden von Briten kontrolliert. Man installierte einen Generalkonsul, der den Gouverneur beriet und seine politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen lenken sollte. Gegen diese Entwicklung formierte sich allerdings entschiedener Widerstand. Das 19. Jahrhundert war das Jahrhundert des Nationalismus, und sowohl im Okzident als auch im Orient begeisterten sich junge Intellektuelle für Ideen von Unabhängigkeit und nationaler Einheit. 1919 kam es zu großen Demonstrationen in Kairo, an denen auch Frauen der Elite teilnahmen, danach zu einem Boykott britischer Waren und zu einer Reihe von Sabotageaktionen. Am 19. April 1922 entließ Großbritannien Ägypten in die Unabhängigkeit. Faktisch sicherten sich die ehemaligen Kolonialherren jedoch eine Reihe von Optionen, um gegebenenfalls wieder in die Geschicke des Landes eingreifen zu können. So verblieben größere Kontingente britischer Truppen weiterhin in Ägypten, und die britische Regierung behielt sich Interventionsrechte vor.

Alle Reformer des Salafismus engagierten sich gegen die britische Fremdherrschaft und gegen die negativen Begleiterscheinungen der Modernisierung. Doch es ging um weitaus mehr als um eine Bewegung gegen Armut und für politische Gerechtigkeit. Al-Afghani, Abduh und Rida fürchteten vor allem die Säkularisierung der Gesellschaft und die Verdrängung des Islam durch Ideen, die die Freiheitsrechte des Individuums in den Mittelpunkt stellten. Diese Sorge war durchaus berechtigt, denn das 19. und beginnende 20. Jahrhundert waren nicht nur durch ökonomische und politische Verwerfungen, sondern auch durch einen tief greifenden sozialen Wandel gekennzeichnet. Intellektuelle kritisierten die Religion und die Tradition gleichermaßen als Entwicklungshindernisse, die Bildungselite verlangte säkulare Schulen, und im Jahr 1899 publizierte der Jurist Qasim Amin ein Buch mit dem Titel »Die Befreiung der Frau«. Darin fordert er Schulbildung für Mädchen, Reformen des patriarchalen Familienrechts und die Aufhebung der Verhüllungspflicht für Frauen. 1923 zog die in einem Harem aufgewachsene Aktivistin Huda Shaarawi bei einer öffentlichen Versammlung ihren Gesichtsschleier aus und warf ihn demonstrativ ins Meer. Frauen eroberten Räume, die bis dahin Männern vorbehalten waren, einige von ihnen begannen Auto zu fahren, und in den Zwanzigerjahren wurde die erste Pilotin ausgebildet. Ab 1929 konnten Frauen Universitätsabschlüsse machen. Die alte patriarchalische Ordnung geriet unübersehbar ins Wanken. Diese Entwicklung war den frommen Salafisten zutiefst zuwider, weil sie den Islam als allumfassendes Ordnungsprinzip in Frage stellte, ja letztendlich überflüssig machte. So ist es nicht verwunderlich, dass auf dem Höhepunkt der weltlichen Fortschrittsbewegung ihr fundamentalistisch-religiöses Gegenprogramm aufgelegt und die Muslimbruderschaft, die mächtigste islamistische Vereinigung des 20. und 21. Jahrhunderts, gegründet wurde.

Der noch heute verehrte Gründungsvater der Bruderschaft war Hassan al-Banna (1906–1949), der Sohn eines Uhrmachers aus dem ländlichen Oberägypten. Bereits im Alter von zwölf Jahren soll er einer Gruppe namens »Verein für moralisches Verhalten« angehört haben, in der die Jungen sich selbst strengen islamischen Geboten unterwarfen und Übertretungen durch Strafzahlungen ahndeten.22 Schon bald entwickelte er Ambitionen, den Wirkungskreis der selbst ernannten Tugendwächter auszudehnen, und gründete den »Verein zur Prävention des Verbotenen«, dessen Mitglieder ihre Mitmenschen ermahnten, wenn sie Alkohol tranken oder andere religiösen Verbote missachteten.23 Diesen moralisierenden Eifer behielt al-Banna auch bei, als er mit 17 Jahren nach Kairo zog, um eine Lehrerausbildung zu absolvieren. Er versuchte sein religiöses Programm mit einem politischen Aktionismus gegen die britische Kolonialherrschaft zu verbinden, wurde Mitglied des »Vereins für die Erhabenheit der islamischen Moral« und rief die »Gesellschaft junger muslimischer Männer« ins Leben. 1928 gründete er die Muslimbruderschaft mit der Absicht, sowohl die Unabhängigkeit Ägyptens als auch eine Rückkehr zu den islamischen Werten, wie sie der Salafismus gelehrt hatte, voranzutreiben. Nur in einer Gesellschaft, die den Regeln des Islam folge, glaubte al-Banna, könne Gerechtigkeit verwirklicht werden. Zu seinen Vorstellungen einer islamischen Ordnung gehörte auch die durchgehende Trennung der Geschlechter bis in die Schulen hinein und die Aufrechterhaltung einer absoluten männlichen Dominanz. Frauen sollten ihre Aufgabe als Hausfrauen, Mütter und Ehefrauen erfüllen und das Haus nur verlassen, wenn es absolut notwendig sei. In diesem Fall sei die Verhüllung von Kopf und Körper ein Muss. Der emanzipative Aufbruch der ägyptischen Feministinnen war ihm zutiefst zuwider und entsprach nicht seinen Vorstellungen einer von Allah geschaffenen weiblichen Natur.24

Wie Rashid Rida sah auch Hassan al-Banna die islamische Welt am Scheideweg. Die Bruderschaft sollte das Instrument einer Rückführung der Muslime zum idealisierten Islam der Frühzeit sein und das große Projekt einer vollständigen Unterwerfung der gesamten Menschheit unter die Gesetze Gottes vorantreiben. Es sei eine Pflicht jedes Muslims, schrieb er im Jahr 1934, dafür zu kämpfen, dass das Banner des Islam über die Erde flattere und der Ruf »Gott ist der Größte« in jedem Winkel der Welt erschalle.25 Um dieses Ziel zu erreichen, solle auch das Mittel des Dschihad eingesetzt werden.26 Al-Bannas Ideen und wohl auch seine charismatische Persönlichkeit führten dazu, dass sich die Bruderschaft schnell ausbreitete. Sie wurde zu einer Massenbewegung, nicht zuletzt, weil sie es verstand, Akteure zu vereinen, die sozial und ökonomisch wenig miteinander gemein hatten: das städtische Kleinbürgertum, die Studenten, die Landbevölkerung und Teile der Elite.27 1932 siedelte al-Banna nach Kairo um und war jetzt im Zentrum der Macht. Er modernisierte die Organisationsstruktur der Bruderschaft, etablierte ein Wohlfahrts- und Bildungsprogramm und politisierte die Bewegung. Ein militanter Flügel, der sogenannte »Spezialapparat«, wurde aufgebaut, der eine Reihe von Anschlägen auf Militäranlagen, ägyptische und britische Politiker sowie auf Ziele im britischen Mandatsgebiet Palästina durchführte. 1948 wurde der ägyptische Premierminister al-Nuqraishi von Muslimbrüdern ermordet, und ein Jahr später starb Hassan al-Banna, vermutlich durch einen Vergeltungsschlag des staatlichen Geheimdienstes. 1952 unterstützte die Bruderschaft den Putsch der »Freien Offiziere« unter Gamal Abdel Nasser, überwarf sich aber kurz darauf mit ihm. In einem Video lässt sich die tiefe Kluft zwischen den frommen Brüdern und dem säkularen Premierminister eindrücklich beobachten. Nasser erzählte darin während einer öffentlichen Veranstaltung, er habe sich mit dem Führer der Muslimbruderschaft getroffen, um Modalitäten der Zusammenarbeit zu besprechen, und dieser habe ihm dann mitgeteilt, seine Bedingung sei ein Verschleierungserlass für Frauen. Schallendes Gelächter brach im Publikum aus und eine Stimme sagte: »Lass IHN das tragen!« Er habe den Muslimbruder dann damit konfrontiert, fuhr Nasser fort, dass seine eigene Tochter, die an einer medizinischen Hochschule studierte, kein Kopftuch trage. »Obwohl Sie ihre eigene Tochter nicht dazu bringen können, ein Kopftuch zu tragen, verlangen Sie von mir, dass ich zehn Millionen Frauen dazu bringe? Ich allein?« Vor Lachen konnte er nach diesen Sätzen kaum mehr weitersprechen, und die Zuhörer bestätigten ihn mit einem tosenden Applaus.28 Eine Zusammenarbeit war unter diesen Voraussetzungen nicht möglich, und die Bruderschaft reagierte mit Gewalt auf den Misserfolg. 1954 wurde ein Anschlag auf Nasser durchgeführt, der den Brüdern angelastet wurde, die Organisation daraufhin verboten, und viele ihrer Mitglieder wurden festgenommen.

Unter den Inhaftierten befand sich Sayyid Qutb (1906–1966), eine der wichtigsten Persönlichkeiten des modernen Islamismus. Qutb begann seine politische Laufbahn als religiöser Sozialreformer, wurde dann immer islamistischer, wozu auch ein zweijähriger Aufenthalt in den USA beigetragen hatte, in die er als Beamter des ägyptischen Bildungsministeriums entsandt worden war. Er verurteilte die materialistische Orientierung der Amerikaner, ihre Unterstützung Israels und den ungezwungenen Umgang zwischen Männern und Frauen, der seinen Moralvorstellungen zutiefst widersprach. Die Mischung aus Abscheu und Faszination, die die fremden Sitten bei ihm auslösten, werden bei der Beschreibung einer kirchlichen Tanzveranstaltung deutlich: »Der Tanzsaal wird zu einem Wirbel von Fersen und Schenkeln, Arme schlingen sich um Hüften […] und die Luft ist schwanger vor Lust.«29 Wenn wir uns vor Augen führen, dass religiöse Eiferer zur damaligen Zeit vor allem die Durchsetzung einer rigiden, an frühislamischen Verhältnissen ausgerichteten Sexualmoral im Sinn hatten, verstehen wir seine emotionale Erschütterung. Qutbs Verurteilung des American way of life fiel allerdings so radikal aus, dass er aus dem Ministerium entlassen wurde.

1953 wurde er Mitglied in der Muslimbruderschaft und besaß bis zu seinem Tod eine Führungsrolle in der Organisation. Als sie 1954 verboten wurde, wurde auch er verhaftet und von einem Gericht zu neun Jahren Haft verurteilt. Seine Erfahrungen im Gefängnis addierten sich zu einem ohnehin schon apokalyptischen Weltbild. Für Qutb stand die Welt am Abgrund. Sie befand sich seiner Meinung nach in einem Zustand, den er als moderne dschahiliyya charakterisierte. Der Begriff der dschahiliyya bezeichnet in der islamischen Theologie die vorislamische Zeit, eine Phase der Geschichte, die gewöhnlich als gesetzlos und barbarisch dargestellt wird und erst mit dem Erscheinen Mohammeds ein Ende gefunden haben soll.30 Das sah auch Qutb so. Mit der Offenbarung des Islam sei die dschahiliyya überwunden worden und an ihre Stelle eine ideale Gemeinschaft getreten, die in Übereinstimmung mit den göttlichen Geboten gelebt und gehandelt habe. Jetzt, im 20. Jahrhundert, so Qutb, sei von den Prinzipien dieser Gemeinschaft nicht mehr viel übrig geblieben. Die politische und geistliche Elite sei korrumpiert worden und habe sich von Gott abgewandt. Die dschahiliyya sei zurückgekehrt, doch sie sei schlimmer und verderbter als die alte, denn sie basiere nicht mehr auf Unkenntnis, sondern auf Apostasie, auf Dekadenz und sowohl geistiger wie sittlicher Entartung. Ein Zurück zu den Ursprüngen war für ihn zwingend. »Nur in der islamischen Lebensordnung«, schrieb er, »werden die Menschen frei von der Dienerschaft einiger Menschen zu anderen und geben sich nur dem Dienst allein zu Allah hin, nehmen allein seine Führung an und verneigen sich nur vor ihm.«31 Um die göttliche Ordnung wiederherzustellen, müssten die modernen Regime von den wahrhaft Gläubigen in einem heiligen Krieg hinweggefegt werden, weshalb der Dschihad nicht nur gerechtfertigt sei, sondern geradezu eine Pflicht darstelle. Qutb legte Wert darauf, den Dschihad nicht primär als Verteidigungskrieg zu verstehen, wie es in Kreisen antikolonialer Aktivisten üblich war. Es gehe um die Durchsetzung der Scharia und um die Etablierung einer normativen Ordnung, die sich im Einklang mit den Geboten Gottes befinde. Diese Rechtfertigung des Dschihad als Mittel der Expansion kollidierte zwar mit der damaligen politischen Leitkultur, entsprach jedoch, so der Politikwissenschaftler Farid Hafez, tonangebenden Positionen der islamischen Rechtswissenschaft.32 Das erkläre, so Hafez, warum Qutb über Ägypten hinaus zum »Vorreiter für militante islamistische Bewegungen« wurde.33

4. Moderate Muslimbrüder?

Nach dem Tode Qutbs geriet die Bruderschaft in Ägypten in unruhiges Fahrwasser. Phasen, in denen sie verboten war, wechselten mit solchen, in denen sie ihren Tätigkeiten nachgehen konnte. Da sie politisch-religiöse Propaganda mit sozialen Aktivitäten kombinierte, hatte sie bei den städtischen und ländlichen Armen, die von der Regierung sträflich vernachlässigt wurden, einen guten Ruf und gewann die ersten freien Wahlen in Ägypten nach dem Sturz Hosni Mubaraks mit überwältigender Mehrheit. Nimmt man die Wahlerfolge der salafistischen »Nur-Partei« hinzu, erhielt der islamistische Block im Jahr 2011 nahezu drei Viertel aller Stimmen. Mohammed Mursi wurde zum Präsidenten gewählt. Ähnliches geschah in Tunesien, wo der »Ennahda« genannte Zweig der Bruderschaft im selben Jahr bei der ersten Wahl nach dem Sturz des Diktators Ben Ali 37 Prozent aller Stimmen erhielt. Hat sich die Bruderschaft im 21. Jahrhundert durch diese erfolgreiche Beteiligung an demokratischen Wahlen verändert, ist sie gar moderat geworden, wie einige Wissenschaftler glauben? Für Ägypten muss dies mit einem klaren »Nein« beantwortet werden. Kaum an der Macht, versuchte Mursi das alte Programm al-Bannas ohne Rücksicht auf demokratische Gepflogenheiten durchzusetzen. Linke und Liberale wurden kaltgestellt und säkulare Abgeordnete aus der von Mursi eingesetzten verfassungsgebenden Versammlung vertrieben, sodass diese letztendlich fast ausschließlich aus Muslimbrüdern und Salafisten bestand. Gemeinsam unternahm man den Versuch, die Verfassung zu islamisieren. Die Scharia sollte die Grundlage aller Gesetze sein, die verfassungsrechtlich garantierte Gleichstellung zwischen Männern und Frauen zugunsten einer eindeutigen Dominanz von Männern nach dem Vorbild des 7. Jahrhunderts und entsprechender koranischer Verse aufgehoben werden. Mursi erließ zudem Dekrete, die die Justiz entmachten und ihm selbst außergewöhnliche Machtbefugnisse verleihen sollten. Außerdem ließ er marodierende Islamisten gewähren, die Terror gegen die Opposition und gegen die christliche Minderheit verbreiteten. Es war klar, dass hier eine islamistische Diktatur durchgepeitscht werden sollte. Die Reaktion ließ nicht auf sich warten. Friedensnobelpreisträger Mohammed al-Baradei kritisierte den Präsidenten öffentlich als »neuen Pharao«, 300.000 Demonstranten versammelten sich auf dem Tahrir-Platz in Kairo, und es kam zu Straßenschlachten. Eine Bürgerinitiative namens »Tamarod« (Rebellion) wurde gegründet. Ihre Mitglieder riefen zum Sturz Mursis auf und sammelten innerhalb weniger Monate Millionen Unterschriften. Das Militär sah die Bewegung mit Freude und putschte sich, solchermaßen legitimiert, im Juli 2013 an die Macht. Danach wurde die Muslimbruderschaft wieder verboten und das demokratische Experiment fand ein Ende.

In Tunesien, wo die »Ennahda« seit 2011 an der Regierung beteiligt ist, verlief die postrevolutionäre Phase positiver. Auch hier schwadronierten Hardliner aus dem islamistischen Lager unmittelbar nach der gewonnen Wahl von einer islamistischen Transformation der Gesellschaft, kritisierten die Gleichstellung der Geschlechter in der Verfassung oder träumten gar öffentlich vom neuen Kalifat. Obwohl sich gemäßigte Kräfte in der Partei durchsetzten, eskalierte die Situation zunehmend. Wie in Ägypten fühlten sich islamistische Radikale ermutigt, ihre Vorstellungen einer islamischen Ordnung mit Gewalt in der Öffentlichkeit durchzusetzen. Sie brannten Ausstellungsräume nieder, in denen Kunst gezeigt wurde, die sie als haram empfanden, erzwangen die Schließung einer Universität, weil das Rektorat ihrer Forderung nach Geschlechtertrennung nicht nachkam, bedrohten liberale Intellektuelle und Sportler, die während des Ramadan tranken, oder Fernsehmoderatoren, die ihnen nicht islamisch genug erschienen. Dschihadisten schlossen sich in der Organisation »Ansar asch-Scharia« zusammen, versammelten sich ungehindert unter schwarzen Fahnen auf öffentlichen Plätzen und lieferten sich Gefechte mit der Polizei. Ihre Führer forderten den Staat wortgewaltig heraus, doch die Politik schwieg und ließ sie ungehindert agieren. Im Jahr 2013 wurden die Oppositionspolitiker Chokri Belaid und Hamadi Dschebali ermordet. Dies war ein Wendepunkt in der postrevolutionären Geschichte. Es kam zu Massenprotesten, die säkulare Opposition forderte den Sturz der Übergangsregierung, und die Lage geriet zunehmend außer Kontrolle. Eine Situation entstand, die derjenigen in Ägypten ähnelte. Doch Rachid Ghannouchi, der Führer der »Ennahda«, war nicht Mursi. Er begann mit der säkularen Opposition zu verhandeln und willigte schließlich ein, die Macht an eine technokratische Übergangsregierung zu übergeben. Im Mai 2014 hatte ich Gelegenheit, ihn in Tunis zu interviewen, und fragte ihn, warum er eingelenkt habe. »Ich wollte nicht enden wie Mursi«, war seine schlichte Antwort. In der Tat zeigte seine besänftigende Strategie Wirkung und die »Ennahda« wurde bei den Wahlen im Jahr 2014 nach der säkularen »Nidaa Tounes« zweitstärkste Partei. Das setzte eine Reihe säkularer Veränderungen innerhalb der Partei in Gang. Auf dem Parteitag 2016 bekannte man sich zur Trennung von Politik und Religion, und Ghannouchi verglich die »Ennahda« mit der deutschen CDU. Ist das glaubhaft? Hat sich die islamistische Organisation tatsächlich demokratisiert? Manches spricht dafür. Wenn man die Situation der Frauen als Gradmesser für die Verfassung einer Gesellschaft nimmt, hat Tunesien, das seit der Unabhängigkeit im Jahr 1956 als eines der emanzipiertesten islamischen Länder galt, unter Regierungsbeteiligung der »Ennahda« seinen reformorientierten Kurs beibehalten bzw. weiter fortgesetzt. Jegliche Form häuslicher Gewalt steht seit 2017 unter Strafe, und Frauen sind in der Ehe nicht mehr zum Beischlaf verpflichtet, wie es ein Koranvers eigentlich vorschreibt. Außerdem dürfen sie mittlerweile Nichtmuslime heiraten, was im Rest der islamischen Welt als unvorstellbar gilt. Diese Entscheidungen waren in der Partei umstritten, doch die Befürworter des neuen Säkularismus konnten sich durchsetzen. Das mag zuallererst eine Form des Pragmatismus darstellen, da die säkulare Zivilgesellschaft in Tunesien breit aufgestellt ist und ein erhebliches politisches Gewicht darstellt.34 Nachdem die »Ennahda« 2011 und 2012 mit Unterstützung salafistischer Organisationen erfolglos versucht hatte, die etablierten Frauenrechte wieder abzuschaffen, mobilisierten Frauenorganisationen Tausende auf die Straßen und zwangen die »Ennahda« zurückzurudern. Bei einer Befragung im Jahr 2013 befürworteten 72 Prozent der Bevölkerung eine Trennung von Religion und Politik.35 Mittlerweile scheint sich einiges konsolidiert zu haben. Im Jahr 2018 wurde mit Souad Abderrahim die erste weibliche Bürgermeisterin von Tunis gewählt. Abderrahim gehört der »Ennahda« an und trug früher einmal ein Kopftuch, das sie ablegte, als sie 1992 Managerin beim Pharma-Unternehmen »Presta Pharm« wurde. Dass sie überhaupt in die Lage kam, ihr politisches Amt wahrzunehmen, ist einer Frauenquote von 50 Prozent für kommunale Ämter geschuldet. Dies wiederum ist das Ergebnis der ungewöhnlich starken tunesischen Frauenbewegung, die bis in die frühe postkoloniale Phase zurückgeht. Ihr und einer traditionsreichen säkularen Mitte der Gesellschaft ist es zu verdanken, dass Tunesien nach dem Sieg der »Ennahda« nicht in eine islamistische Zukunft abdriftete.

Jenseits solch pragmatischer Zwänge lässt sich in Kreisen der Muslimbruderschaft wenig Neigung erkennen, vom radikalen Gedankengut abzuweichen. Das zeigt zum Beispiel ihr Stichwortgeber Yusuf al-Qaradawi, einer der einflussreichsten sunnitischen Gelehrten der Gegenwart. Er publizierte mehr als 100 teilweise populärwissenschaftlich geschriebene Werke, die in unterschiedliche Sprachen übersetzt wurden, und bediente sich schon früh einer Reihe neuer Medien, um weltweit Rezipienten zu erreichen. Bereits 1996 erhielt er eine Fernsehreihe beim Sender »al-Dschasira«. Später verkündete seine Lehre auch über das Internetportal »IslamOnline« sowie über andere Portale der sozialen Medien. Diese Aktivitäten haben ihm den Ruf eines global mufti eingebracht.36 Von Katar aus, einem Land, das mittlerweile das Zentrum der internationalen Muslimbruderschaft darstellt, betätigt er sich außerdem als Organisator und spiritus rector transnationaler Organisationen, die im Geiste der Bruderschaft agieren. Vor seiner internationalen Karriere hatte al-Qaradawi eine erfolgreiche Gelehrtenlaufbahn in Ägypten absolviert, ließ sich in den 1940er-Jahren von Hassan al-Banna begeistern und trat der Muslimbruderschaft bei. 1960 erschien seine Schrift »Erlaubtes und Verbotenes im Islam«, die heute in viele Sprachen übersetzt auch für Muslime im Westen eine wichtige Orientierungshilfe darstellt. Ein nicht unwesentlicher Teil des Buches befasst sich mit der Kontrolle der Sexualität, wobei es in erster Linie um eine Kette von Anweisungen geht, die Frauen zu beachten haben. Keusch, schamhaft und verhüllt sollen sie sein, damit der männliche Trieb nicht unnötig gereizt werde, schreibt er.37 Insgesamt stellt das Buch einen kleinteiligen Regelkatalog dar, der den Gläubigen en detail vorschreibt, wie sie ihr Leben zu führen haben, wobei jede Vorschrift als göttliche Verordnung deklariert wird. Die Besessenheit vieler Muslime, vor jeder Handlung zu überlegen, ob sie haram oder halal sei, hat in solchen Ratgebern ihren Ursprung. Verbote von Alkohol, wie sie in Ägypten angedacht wurden, oder das Zerstören von Kunstausstellungen wie in Tunesien werden dadurch ebenso legitimiert wie Gesetze, die sich an der Scharia orientieren. Wie für Hassan al-Banna gilt die Einführung des islamischen Rechts auch für al-Qaradawi als obligatorisch, wenngleich er sich aus pragmatischen Gründen in Ägypten für eine sukzessive Islamisierung des Rechts aussprach und empfahl, in den ersten fünf Jahren der Herrschaft der Muslimbrüder keine Hände abzuhacken.38 Das politische Ziel war für al-Qaradwi immer die vollständige Umsetzung der Scharia inklusive der Todesstrafe für Sex außerhalb der Ehe oder für die Abkehr vom Islam, die Aufhebung der Trennung zwischen Politik und Religion und die Etablierung eines Kalifats.39 Al-Qaradawis Ideen beschränken sich nicht nur auf Ägypten oder die islamische Welt. Er fordert vielmehr neue Eroberungen. Im Jahr 2017 bekundete er, es sei die Pflicht der islamischen Gemeinschaft, ihre Herrschaft wieder in jenen Gebieten zu errichten, die einst von Muslimen okkupiert waren. Dazu zählt für ihn die gesamte Region von der arabischen Halbinsel bis China, aber auch Europa.40

Die Muslimbruderschaft ist eine Organisation, die schwer zu durchschauen ist. In einigen Ländern agieren ihre Mitglieder offen, in anderen sind sie wie Schatten. Außerhalb der arabischen Welt, so die Politikwissenschaftlerin Petra Ramsauer, erscheine sie niemals unter ihrem eigenen Namen, sondern verberge sich hinter vielen Bezeichnungen, die zwar eine Nähe zur Bruderschaft durchscheinen ließen, aber dies nicht schwarz auf weiß festschrieben. Diese Strategie ermöglicht es den Aktivisten, unerkannt zu bleiben und ihr Gegenüber zu täuschen. Verbindungen zur Bruderschaft werden stets geleugnet, wie auch die von al-Banna und anderen Brüdern postulierten Ziele einer Islamisierung von Staat und Gesellschaft.41 »Wir waren immer dazu angehalten, die Bedeutung des Netzwerks kleinzureden. Denn dies ist das Fundament der Bruderschaft und deshalb der sensibelste Bereich«, zitiert Ramsauer einen ägyptischen Aussteiger.42 Die Strukturen der Vereinigung sind undurchsichtig. Es gibt Quellen, die von einer hierarchischen Organisation ausgehen, die stufenförmig aufgebaut ist und in der der äußerste Ring eine Kleingruppe darstellt, die einen vorgefertigten Lehrplan abarbeitet. Hier soll die primäre Indoktrination stattfinden, die fünf bis acht Jahre dauern könne. Die Teilnehmer gälten als Sympathisanten. Wenn sie sich als verlässlich und formbar erwiesen, stiegen sie in die nächste Stufe auf und seien dann »Unterstützer« der Bewegung. Sie übernähmen bereits gewisse Aufgaben, hielten Predigten in Moscheen und beeinflussten zivilgesellschaftliche Organisationen. Auf einer weiteren Stufe seien die »Angeschlossenen«, die schon selbst junge Muslimbrüder ausbilden dürften. Habe man sich bewährt, werde man »Organisator« und rücke in den Führungskreis auf. Bevor man aufgenommen werde, müsse die Loyalität zur Organisation und die theologische Kompetenz unter Beweis gestellt werden. Zweifel an der absoluten Treue zur Organisation würden zu einer Stagnation des Aufstiegs oder sogar zu einem Ausschluss führen. Die Spitze der Bruderschaft soll eine Zentrale bilden, die Beschlüsse nach unten an die pyramidal verfassten Untereinheiten weitergibt.43 Neben diesem zentralisierten Modell existiert noch ein anderes, das eher davon ausgeht, dass die Bruderschaft eine transnationale panislamische Bewegung darstellt, deren einzelne Abteilungen weitgehende Autonomie genießen. Für diese Theorie sprechen ideologische Abweichungen nationaler Organisationen außerhalb Ägyptens. Wahrscheinlich ist, dass hierarchische Strukturen durchaus vorhanden sind, diese aber nicht auf transnationaler Ebene durchexerziert werden. Transnationalität ist heute ein Markenzeichen der Bruderschaft. Sie war in der Vergangenheit nicht nur in Ägypten und Tunesien aktiv, sondern expandierte nach Syrien, wo sie an Aufständen gegen die Regierung Asad beteiligt war, in den Gaza-Streifen, wo sie unter dem Namen »Hamas« firmiert, nach Marokko, wo sie heute die »Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung« stellt, nach Algerien, wo sie im Jahr 1991 als »Islamische Heilsfront« Wahlen gewann, nach Jordanien, dem Libanon, Libyen, dem Sudan und sogar nach Saudi-Arabien. In Saudi-Arabien kam es während des 20. Jahrhunderts sogar zu bemerkenswerten Allianzen zwischen Muslimbrüdern und Wahhabiten. Verfolgte Muslimbrüder erhielten dort Asyl, konnten ihre Netzwerke ausbauen und rückten aufgrund ihrer Bildung schnell in einflussreiche Positionen auf. So spielten sie beispielsweise bei der Gründung der islamischen Universität von Medina im Jahr 1961 eine wichtige Rolle. Saudi-Arabien wurde durch die zahlreichen Dozenten der Bruderschaft ein Land, das nicht nur den Wahhabismus, sondern auch den Islam der Muslimbruderschaft in aller Welt verbreitete.44

Die Muslimbruderschaft wirkt in vielen Ländern durch Wohltätigkeitsvereinigungen und andere auf den ersten Blick unverdächtig erscheinende muslimische Interessenvertretungen. Wie ich in diesem Buch zeigen werde, verzweigen sich die großen Vereinigungen auf nationaler und lokaler Ebene in kleinere Einheiten, die allerdings stets betonen, autonom zu sein und mit anderen nichts zu tun zu haben. Formal sind ohnehin alle Organisationen, die der Bruderschaft zugerechnet werden, unabhängig. Das einigende Band zwischen ihnen ist die gemeinsame Ideologie, das Ziel ihrer weltweiten Verbreitung und die Herstellung einer islamistischen Ordnung, zunächst in islamisch geprägten Ländern, aber dezidiert auch in Europa. Dieses Ziel teilen sie mit Vertretern anderer Sektionen des transnationalen Islamismus, dem Wahhabismus und dem Salafismus, die sich eher durch strategische als durch ideologische Differenzen voneinander unterscheiden.

II DER GLOBALE SIEGESZUG DES POLITISCHEN ISLAM