Der neue Kulturkampf - Susanne Schröter - E-Book

Der neue Kulturkampf E-Book

Susanne Schröter

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Beschreibung

Identitätspolitik, Cancel Culture und Wokeness – was an den Universitäten seinen Ausgang nahm, beeinflusst mittlerweile nicht nur Medien, Kultureinrichtungen und Bildungsinstitutionen, sondern ist auch in der Politik und Wirtschaft angekommen. Angetreten, um gegen Rassismus und Diskriminierung zu kämpfen und sich für Demokratie und Zusammenhalt einzusetzen, bewirkt eine woke Linke das genaue Gegenteil. Mit Sprachregelungen, der Tabuisierung gesellschaftlicher Missstände vor allem im Bereich der Migration oder der Reduzierung der Wissenschaft auf eine Erfüllungsgehilfin der Politik verhindert sie eine offene demokratische Auseinandersetzung. Susanne Schröter, oft genug selbst Ziel woker Angriffe, analysiert die Ideologie der woken Linken und beschreibt, wie diese versucht, in zentralen Bereichen der Gesellschaft die Deutungshoheit zu erobern.

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Susanne Schröter

Der neue Kulturkampf

Wie eine woke Linke Wissenschaft, Kultur und Gesellschaft bedroht

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2024

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Zero Media

E-Book-Konvertierung: Daniel Förster

ISBN Print 978-3-451-39710-3

ISBN E-Book (EPub) 978-3-451-83228-4

Inhalt

Vorwort

Teil I Universitäten im Griff woker Ideologen

Kapitel 1 Wie man in der Wissenschaft zu einer umstrittenen Person wird

Wenn Forschungsergebnisse nicht in den ideologischen Mainstream passen

Minenfeld Dschihadismus

Legalistischer Islamismus – kein Thema für die Wissenschaft?

Kopftuch als Tabu

Kapitel 2 Angst und Einschüchterung im Wissenschaftsbetrieb

Wer Probleme benennt, wird als Rassist verunglimpft

Stimmungsmache gegen eine Konferenz

Freies Feld für radikale Gruppen

Rufmord und Vernichtungswille

Kapitel 3 Die woke Linke an den Universitäten

Wie Canceln funktioniert

Systemische Repression

Abhängigkeiten und universitäre Leitbilder

Wenn Wissenschaft zur Religion wird

Teil II Die Ausdehnung der Tabuzonen und die Erschaffung einer neuen Wirklichkeit

Kapitel 4 Der Traum vom Ende des Nationalstaats

Einwanderungsland wider Willen

Die Verlockungen einfacher Weltbilder

Armut, Bürgergeld und die Macht der Nichtregierungsorganisationen

Integrationsverweigerung als Programm

Kapitel 5 Die »Islamophobie«-Lobby reicht bis Katar

Die verlorene Ehre des Constantin Schreiber

Warum über islamistisches Mobbing an Schulen nicht gesprochen werden soll

Kampfbegriffe Islamophobie und antimuslimischer Rassismus

Kapitel 6 Die Irrwege des Feminismus

Gleichberechtigung oder Gleichstellung?

Die feministische Rechtfertigung patriarchalischer Gewaltverhältnisse

Trans-Chic und Queer-Feminismus

Gendersternchen, Sprachpolizisten und die Eliminierung des Weiblichen

Teil III Diskurshoheit und Geschäftsinteresse

Kapitel 7 Die Antirassismus-Industrie

Was ist Rassismus?

Antirassismus als Geschäftsmodell

Die Allianz zwischen Islamisten und Linken

Zweifelhafte Studien und die Förderung einer Denunziationskultur

Kapitel 8 Die woke Linke in Medien, Verlagen und Museen

Das Kreuz mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk

Woker Kapitalismus oder die Rückkehr der Zensoren

Die postkoloniale Begeisterung für Sklavenjäger

Kapitel 9 Antisemitismus, Islamismus und postkoloniale Ideologie

Details eines Massakers

Muslimischer Antisemitismus und das Kalifat

Die antisemitische Querfront

Kultivierte Feindschaft

Ausblick

Danksagung an Freunde und Unterstützer

Literatur

Über die Autorin

Anmerkungen

Vorwort

Beunruhigende Dinge ereignen sich zurzeit in Deutschland. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk warnt die Zuschauer vor älteren Comedy-Produktionen, Kinderbücher wie Pippi Langstrumpf werden umgeschrieben und der Ravensburger Verlag zog Winnetou-Bücher aus dem Verkehr, weil im Internet kulturelle Aneignung moniert wurde. Karnevalsvereine müssen sich rechtfertigen, weil ihre Kostüme als rassistisch diffamiert werden, und in Kindergärten herrscht ein strenges Regiment politisch korrekter Verkleidungsbeauftragter. Museen und Theater mutieren zu Instanzen, in denen vornehmlich moralisierende Botschaften verkündet werden, und an Universitäten werden die Themen des Erforschbaren auf ein schmales Feld des vermeintlich politisch Korrekten eingeschränkt. Medienvertreter bekennen, dass sie weniger an einer ausgewogenen Berichterstattung interessiert sind als daran, Haltung zu zeigen und eine als richtig empfundene Botschaft zu vermitteln. Die vierte Gewalt ist selbst zum politischen Akteur geworden und verwischt die Grenze zwischen Journalismus und Propaganda.

Verantwortlich für diesen Irrsinn sind woke Aktivisten, die mit äußerster Aggressivität gegen alle vorgehen, die ihrer eigenen politischen Ideologie widersprechen. Der Begriff woke ist eine Selbstbezeichnung aus dem amerikanischen Raum und bedeutet wach oder erwacht. Das klingt nach einer Religion, und in der Tat ähneln Rhetorik und Aktivitäten der woken Linken denen von Erweckungspredigern, werden sie von einer Mission getrieben, die auf eine vollkommene Umgestaltung der Gesellschaft abzielt.

Im öffentlichen Raum treten sie als Kämpfer für hehre Ziele und eine höhere Gerechtigkeit auf. Vieles klingt auf den ersten Blick harmlos oder sogar liebenswert. Man engagiert sich angeblich gegen Rassismus und Diskriminierung sowie für Demokratie und Zusammenhalt. Bei näherem Hinsehen wird jedoch deutlich, dass die Begriffe hohl sind oder ihr genaues Gegenteil implizieren. Die anvisierte schöne neue Welt zeigt sich als hässlicher Totalitarismus, der an Aldous Huxleys berühmten gleichlautenden Roman erinnert. Ein identitätspolitischer Furor verbreitet sich. Menschen werden anhand äußerer Merkmale in zwei Gruppen einsortiert: eine Opfergruppe und eine Tätergruppe. Täter werden vor allem durch ihre weiße Hautfarbe definiert, denn weiß zu sein gilt in woken Kreisen als Makel. Die Forderung, Weißen ihre angeblichen Privilegien zu entziehen und diese den Vertretern von Opfergruppen zu geben, zeigt, wohin die Reise gehen soll. Opfergruppen sind schwerer zu definieren, weil sie aus gutem Grund immer mehr werden. Muslime und Menschen mit dunkler Hautfarbe stehen zurzeit an der Spitze der Opferpyramide, doch schon drängen andere nach, denn mit einem anerkannten Opferstatus sind Fördergelder, lukrative Jobs und politische Positionen verbunden. Wokismus ist seit vielen Jahren ein einträgliches Geschäftsmodell.

Zu den Mitteln, die die woke Linke zur Durchsetzung ihrer Ziele anwendet, gehören neue Sprachregelungen, die Tabuisierung gesellschaftlicher Missstände, vor allem im Bereich der Migration und des Islamismus, die Reduzierung der Wissenschaft auf eine Erfüllungsgehilfin woker Politik und die maximale Denunziation von Gegnern. Ohne jegliche Faktengrundlage werden Menschen als Rassisten, Sexisten, als islamophob oder transphob abgekanzelt. Um die Ächtung perfekt zu machen, wird zudem stets das Label rechts im Sinne von rechtsradikal vergeben. Kein Wunder, dass die Mehrheit der Bundesbürger in Umfragen regelmäßig bekundet, die eigene Meinung nicht mehr öffentlich äußern zu können. Das Schweigen all derjenigen, die den Woken widersprechen könnten, ist ein von diesen bewusst herbeigeführter Ausschluss, denn das anvisierte Ziel ist eine Gleichschaltung der öffentlichen Debatte.

Ausgangsorte der woken Ideologie sind die Universitäten, in denen bestimmte Konzepte, die jahrzehntelang in Nischen wuchern konnten, weil niemand sie für gefährlich hielt, langsam den akademischen Mainstream eroberten. Dass ihnen auch jetzt nur selten Einhalt geboten wird, ist das Ergebnis einer mangelnden intellektuellen Satisfaktionsfähigkeit bürgerlicher Kräfte, die den Sektor der Kultur noch immer für vernachlässigbar halten. Sie irren sich fundamental, denn mittlerweile infiltrieren woke Ideologen alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, inklusive der Wirtschaft. Zur Eroberung der Meinungsführerschaft durch woke Linke hat beigetragen, dass sie nach dem Vorbild eines langen Marsches durch die Institutionen in Kultur, Medien, Bildungseinrichtungen und den vorpolitischen Raum vordrangen. Zum vorpolitischen Raum ist zu sagen, dass momentan eine kaum überschaubare Fülle an Nichtregierungsorganisationen mit staatlichen Geldern alimentiert wird, die die woke Agenda vorantreiben.

Fakten sollen geschaffen werden, die nicht mehr so leicht zu beseitigen sind und selbst eine Abwahl woker Politiker überdauern könnten. Dazu dienen einerseits Umerziehungsprogramme, die in Schulen, Verwaltungen und Unternehmen als Bildungs- oder Fortbildungsmaßnahmen gegen Rassismus und Diskriminierung angeboten werden und nach Auffassung woker Akteure bald verpflichtend sein sollen. Ein anderer Baustein sind Beschwerdestellen, in denen zur Denunziation derjenigen aufgerufen wird, die sich dem neuen Zeitgeist nicht anpassen. Besonders beunruhigend ist der Umstand, dass woke Konzepte zu Gesetzen werden und diejenigen, die dagegen verstoßen, juristisch belangt werden könnten.

Innerhalb der Bevölkerung führt dies zu starken Frustrationen und zunehmender Politikverdrossenheit. Für eine lebendige Demokratie ist diese Entwicklung brandgefährlich, denn sie benötigt den Bürger, der bereit ist, Verantwortung zu übernehmen, und sich mit seinen Kompetenzen in die Gestaltung der Gegenwart und Zukunft einbringt. Die liberal-konservative bürgerliche Mitte und die klassische Linke dürfen nicht länger schweigen. Sie sind aufgerufen, Position zu beziehen und unsere Demokratie gegen systemischen Gesinnungsterror und den schleichenden Aufbau eines neuen Überwachungsstaates zu verteidigen. Dieses Buch liefert Argumentationshilfen für die alltägliche Debatte mit Ideologen.

Teil I

Universitäten im Griff woker Ideologen

Woke Ideologien entstammen den Universitäten. Dort sind sie entstanden, dort werden sie gelehrt, angeeignet und erprobt. Professoren, Instituts- und Fakultätsleitungen, ja selbst ganze Präsidien werden von woken Aktivisten und ihren akademischen Unterstützern vor sich hergetrieben. Diese geben vor, im Namen von Gerechtigkeit, Humanität und Weltoffenheit zu agieren und sich dem Kampf gegen Diskriminierung und Rassismus verpflichtet zu fühlen. Tatsächlich geht es um die Durchsetzung einer totalitären Ideologie, die weder gerecht noch human ist. Wer widerspricht, muss mit Störungen von Veranstaltungen, Rufmordkampagnen oder tätlichen Angriffen rechnen. Das schüchtert viele Wissenschaftler ein und führt zu einer Kultur des Schweigens sowie zu einer signifikanten Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit. Doch es geht nicht nur um Freiheitsrechte, sondern letztendlich um einen Angriff auf die Wissenschaft selbst, da woke Akteure eine vollständige Eliminierung von Themen und Positionen anstreben, die ihrer eigenen Weltauffassung widersprechen.

Kapitel 1

Wie man in der Wissenschaft zu einer umstrittenen Person wird

Da die Mechanismen dieses Prozesses für Außenstehende schwer verständlich sind und die Existenz einer universitären Zensurkultur zudem von woken Akteuren bestritten wird, werde ich anhand meiner eigenen Erfahrungen schildern, wie das woke System an den Universitäten funktioniert. Ich werde illustrieren, wie ich langsam und unmerklich in eine Opposition zum woken Mainstream geriet, wie dies zunächst nur Irritationen, dann jedoch Ablehnung auslöste und wie man schließlich versuchte, mich als Rassistin und Rechtspopulistin abzustempeln und sowohl meine moralische Integrität als auch meine wissenschaftliche Kompetenz infrage zu stellen. Ich werde aber auch verdeutlichen, warum dies geschah, welche wissenschaftlichen Inhalte sanktioniert werden sollten und warum mein Beispiel exemplarisch für einen allgemeinen Trend an den Universitäten steht, der in letzter Konsequenz die Wissenschaft selbst ad absurdum führt.

Wenn Forschungsergebnisse nicht in den ideologischen Mainstream passen

In meinem Fall begann alles vollkommen unspektakulär. Erst im Rückblick wurde mir klar, dass die Anfänge weit in der Vergangenheit liegen. Als Ethnologin habe ich mich jahrzehntelang im Einklang mit den in meinem Fach geltenden Konventionen bewegt, über Geschlechterbeziehungen und Religion in Melanesien und verschiedenen asiatischen Gesellschaften geforscht und mich schließlich, als Inhaberin eines Lehrstuhls für Südostasienkunde an der Universität Passau, dem Islam als zentralem Forschungsfeld zugewandt. Zu den Regionen, für die ich zuständig war, gehörten Indonesien – das bevölkerungsreichste muslimisch dominierte Land der Welt –, Malaysia und das Sultanat Brunei. Dazu kamen die muslimischen Siedlungsgebiete im Süden Thailands und auf den Philippinen. Im Vergleich mit dem arabischen Raum galt der Islam Südostasiens bis in die jüngste Zeit hinein als moderat, weil die strengen Gesetze der Scharia nicht angewandt wurden. Frauen bewegten sich frei in der Öffentlichkeit, arbeiteten als Handwerkerinnen und Händlerinnen, verfügten über ein eigenes Einkommen und nahmen respektable Positionen innerhalb der Dorfgemeinschaften ein.1 Vielerorts existierten synkretistische Verbindungen des gelebten Islam mit Hinduismus, Buddhismus und lokalen Religionen. Davon zeugten muslimische Matriarchate, die Verehrung vorislamischer Göttinnen und eine große Akzeptanz gegenüber Transsexuellen.2 Dieser Kosmos der Diversität und Toleranz, der mich auf den ersten Blick fasziniert hatte, entpuppte sich jedoch beim näheren Hinschauen nur noch als glänzende Fassade eines im Verschwinden begriffenen Universums. Junge Islamisten, die ein Studium in Saudi-Arabien, Katar oder Ägypten absolviert hatten, verurteilten die unbeschwerte Lebensart ihrer Eltern und Großeltern als Häresie und forderten die Hinwendung zu einem fundamentalistischen Islam. Sie waren an den arabischen Universitäten indoktriniert und radikalisiert worden und begannen nach ihrer Rückkehr mit einer inneren Mission, also gewissermaßen mit einer Reislamisierung der südostasiatischen Muslime, die ihrer Ansicht nach vom Wege Allahs abgekommen waren. Sie organisierten sich, verkündeten die neue Lehre in Moscheen, Schulen und Universitäten und überschwemmten den Markt, pekuniär unterstützt von den Ölmonarchien, mit Propagandamaterial. Eine fromme Lebensweise wurde durch Filme, Fernsehsendungen und Broschüren beworben.

Der Einsatz der Frommen war erfolgreich. Schon in den 1980er-Jahren wurde ein rigider Islamismus populär, und überall begannen die selbst ernannten Kämpfer Allahs die Scharia durchzusetzen. Bald brannten Kirchen, wurden Anschläge auf Bars, touristische Einrichtungen und Marktplätze durchgeführt. Auf der indonesischen Insel Bali starben im Jahr 2002 bei Attentaten auf Diskotheken 202 Menschen, auf den Molukken kam es zu Massakern an der christlichen Bevölkerung. Frauen gerieten zunehmend unter Druck sich zu verschleiern, weil die Bedeckung von Kopf und Körper zu einem Kriterium für moralische Integrität stilisiert wurde. Es kam zu Übergriffen auf Unverschleierte in öffentlichen Verkehrsmitteln. Einigen wurden von islamistischen Sittenwächtern die Köpfe kahlgeschoren. In vielen Teilen des islamischen Südostasiens wurden mühsam erkämpfte Frauenrechte rückgängig gemacht, wenn sie nicht mit den Normen eines fundamentalistischen Islam kompatibel waren. Ganzkörperverhüllungen wurden Pflicht, und wer sich als besonders gottesfürchtig präsentieren wollte, trug in tropischem Klima Socken, Handschuhe und einen Gesichtsschleier.

Als Wissenschaftlerin wollte ich dieser Entwicklung auf den Grund gehen, ihre Ursachen und Dynamiken erfassen, die treibenden Kräfte identifizieren und die Folgen analysieren. Ich sprach mit orthodoxen und liberalen Muslimen, diskutierte mit Extremisten und Synkretisten und nahm Kontakt mit Koranschulen, muslimischen Frauenorganisationen und Bildungsprojekten auf. Als Professorin betreute ich empirische Forschungen meiner Doktoranden in Indonesien, Thailand, Malaysia und auf den Philippinen. Das Ergebnis war stets ernüchternd. Im Süden Thailands war der Salafismus, eine besonders rigide Spielart des Islamismus, zur Mehrheitsreligion geworden,3 in Malaysia träumten jungen Islamisten davon, einen islamischen Staat zu errichten,4 und auf den südlichen Philippinen wurde die Bevölkerung durch islamistische Banden terrorisiert.5 Auf der indonesischen Insel Java wurden Kunstausstellungen angegriffen und Vertreter eines liberalen Islam bedroht, und in der Provinz Aceh im äußersten Nordwesten des Archipels wurde das gesamte Rechtssystem anhand islamistischer Normen umgearbeitet. Hardliner überboten sich gegenseitig mit Vorschlägen für islamische Reglementierungen, und ein höherer Beamter drohte Frauen sogar Vergewaltigungen an, wenn sie es wagen sollten, Hosen zu tragen.

Diese Dynamiken riefen geradezu nach einer wissenschaftlichen Erforschung, und viele meiner Kollegen befassten sich mit dem neuen Islamismus. Zu meiner Überraschung übernahmen sie nicht selten die Perspektive der Radikalen und verteidigten sie gegen Stimmen, die von ihnen als tendenziell islamfeindlich verurteilt wurden. Andere fanden es schick, das Phänomen zu exotisieren. Sie wurden dafür mit enthusiastischen Rezensionen, finanziellen Förderungen und vielversprechenden Karriereoptionen belohnt. In Publikationen wurde Islamismus als hipper Modetrend oder als bewundernswerte Innerlichkeit beschrieben. Mir erschien dieses Vorgehen in letzter Konsequenz als fahrlässig. Ich wollte durchaus verstehen, wie Islamisten denken, aber ich war nicht bereit, eine islamistische Terminologie zu übernehmen, Extremismus als Frömmigkeit zu verharmlosen oder das Tragen eines Gesichtsschleiers als Empowerment zu glorifizieren.6 In meinen Publikationen definierte ich Islamismus eindeutig als extremistische und patriarchalische Bewegung, deren Ziele nicht mit den allgemeinen Menschen- und besonders nicht mit den Frauenrechten vereinbar waren.7 Damit befand ich mich in deutlichem Widerspruch zur Mehrheit meiner Fachkolleginnen, die sich verpflichtet fühlten, die Stimme der Menschen, die sie erforschten, ungefiltert zu reproduzieren. Wenn eine Islamistin von der Unterwerfung unter das Gesetz Gottes schwärmte, schwärmten die Ethnologinnen in ihren Publikationen gern mit.

Dass ich nicht bereits zu dieser Zeit den Stempel der Umstrittenen erhielt, lag zum einen daran, dass ich kraft meines Lehrstuhls bis 2008 das Fach der Südostasienwissenschaften vertrat, wo man dem Islamismus wenigstens partiell kritisch gegenüberstand. Ich hatte einige wissenschaftliche Aufsätze veröffentlicht zu religiös motivierter Gewalt, zur Politisierung von Religion und zu islamistischen Angriffen auf nichtmuslimische Minderheiten, die meinen Kollegen ebenso Sorge bereiteten wie mir.8 Außerdem verzieh man mir meine klaren Worte auch deshalb, weil ich mir einen Namen im Bereich des islamischen Feminismus gemacht hatte und mit den wichtigsten Vertreterinnen dieses aufkommenden Forschungsfeldes kooperierte.9

Minenfeld Dschihadismus

Im Jahr 2008 nahm ich einen Ruf auf eine Professur für koloniale und postkoloniale Ethnologie an der Universität Frankfurt am Main an und erweiterte meinen Forschungsradius um islamisch geprägte Länder in anderen Teilen Asiens sowie in Nordafrika. Mein Team, das zur Hälfte aus jungen Wissenschaftlern aus Asien und Afrika und zur anderen Hälfte aus deutschen Wissenschaftlern mit und ohne Migrationshintergrund bestand, führte auch in Iran, in Indien, Pakistan, Afghanistan, Marokko, Tunesien, Ägypten und in der Türkei ethnografische Studien durch, die ich ebenfalls betreute. Ein Thema, das damals an Bedeutung gewann, war der Dschihadismus, der religiös legitimierte Krieg im Namen des Islam, der in Asien und Afrika ganze Regionen destabilisierte. Seine Akteure glauben, im Auftrag Gottes zu handeln. Die positive Konnotation des Dschihad ist bis in die Frühzeit des Islam nachweisbar und seine Rechtfertigung in einer Vielzahl theologischer Texte evident. Immer wieder griffen Islamisten auch im 20. Jahrhundert auf dieses Konzept zurück, wenn sie ihre politischen Ziele mit Gewalt umzusetzen versuchten und dafür eine Legitimation benötigten.

2014 erhielt das Thema eine ungeahnte Brisanz. Der irakische Dschihadist Abu Bakr al-Baghdadi rief in Teilen Syriens und des Iraks einen Islamischen Staat (IS) aus, und dieser entwickelte sich zu einem Magneten für junge Muslime aus aller Welt. In großer Zahl reisten sie in die Region, um sich in den Dienst eines radikalen Experiments zu stellen, das als Beginn einer islamischen Welteroberung propagiert wurde. Die im Ausland angeworbenen jungen Männer wurden für Selbstmordattentate eingesetzt oder in Kampfeinheiten integriert. Sie beteiligten sich an Folter, Verstümmelungen und barbarischen Hinrichtungen. Junge Frauen, die sich rekrutieren ließen, heirateten Kämpfer und gebaren Nachwuchs für künftige Feldzüge. Diejenigen, die zum Zeitpunkt ihrer Ausreise bereits Mütter waren, nahmen ihre Kinder mit in das Kriegsgebiet, setzten sie tödlichen Gefahren aus und ließen zu, dass Knaben im Hinrichten vermeintlicher Gegner gedrillt wurden. Einige beteiligten sich an der Versklavung und Ermordung ezidischer Frauen und Kinder, andere traten der berüchtigten Al-Khansaa-Brigade bei.10 Bei Letzterer handelte es sich um eine weibliche Polizeitruppe, die Frauen verhaften und mit Peitschenhieben bestrafen konnte, wenn sie nicht vorschriftsgemäß verschleiert waren.

Wer die Auswanderung in den islamischen Staat scheute, wurde aufgefordert, der Sache durch Anschläge im Westen zu dienen. Seit der Zerstörung des Welthandelszentrums in New York im Jahr 2001 agierte der internationale Islamismus an zwei Fronten. Die eine befand sich in der islamischen Welt mit dem Ziel, Landgewinne zu machen und die politische Macht zu übernehmen, die andere agierte in westlichen Ländern. Muslime wurden aufgerufen, Attentate in Europa, den USA und Australien durchzuführen, um Verunsicherungen auszulösen. Dieses Ziel wurde schnell erreicht. Anschläge in Bussen und Bahnen, auf öffentlichen Plätzen, in Bars, Cafés, Kirchen und Zeitungsredaktionen erzeugten ein Gefühl latenter Bedrohung, und die Politik stellte finanzielle Mittel in erheblichem Umfang für die Erforschung des Phänomens sowie für die Erarbeitung und Durchführung von Präventionsmaßnahmen bereit.

In Frankreich, einem Land, das besonders stark von dschihadistischen Attentaten betroffen war, zeigte sich die Islamismusforschung gespalten. Während der Politikwissenschaftler Olivier Roy den Islamismus für eine generationenbezogene Protestbewegung hielt und den Verlust religiöser Glaubensfundamente in der Diaspora als wichtigste Ursache ansah,11 betonte der Islamwissenschaftler Gilles Kepel das religiöse Moment des Phänomens.12 In Deutschland war man von solch differenzierten Betrachtungen weit entfernt. Schnell setzte sich die Vorstellung durch, beim Dschihadismus handele es sich eine Form des Widerstands gegen eine als imperialistisch empfundene westliche Geopolitik oder um die Revolte einer muslimischen Jugend, die in der Diaspora marginalisiert und deklassiert worden war. Solche Aspekte spielten meiner Meinung nach durchaus eine Rolle, aber ich hielt sie für weitaus weniger gewichtig als die islamistische Ideologie, die ihrerseits an orthodoxe Theologien anschlussfähig war.13 Dafür sprach, dass die Mehrheit der Personen, die sich dem IS anschlossen, nicht aus dem Westen, sondern aus der islamischen Welt stammte und dass es sich bei den Opfern des Dschihadismus primär um Muslime oder um religiöse Minderheiten in islamisch geprägten Ländern handelte. Die unterschiedliche Herangehensweise an das Phänomen kreiste letztendlich um die tautologische Frage, was Terror im Namen des Islam mit dem Islam zu tun hatte. Viele linke und muslimische Wissenschaftler lehnten diese Frage als islamfeindlich ab, und die Vertreter der großen muslimischen Verbände schlossen sich dieser Abwehrstrategie aus gutem Grund an.

Wie Prävention unter der Prämisse aussah, dass nicht die Islamisten, sondern die nichtmuslimische Gesellschaft am islamistischen Terror Schuld sei, konnte ich konkret mehrere Monate lang mit zwei Teammitgliedern beobachten. Wir hatten die begleitende Evaluierung einer kommunalen Maßnahme übernommen, im Rahmen derer Schüler für den Salafismus sensibilisiert und Lehrer fortgebildet werden sollten. Dafür hatte man zwei Pädagogen engagiert, die punktuell bei der Wissensvermittlung von einem Imam und einem Mitglied des Verfassungsschutzes unterstützt wurden. In der überwiegenden Zeit der nach Zielgruppen getrennten Workshops waren es allerdings die beiden Pädagogen, die die Maßnahme gestalteten. Schon recht bald zeigte sich, dass die These, Radikalisierung sei primär eine Folge von Diskriminierung, das gesamte Beratungskonzept determinierte. Man vermied es peinlich, mit den Schülern über die Faszination dschihadistischer Propaganda zu sprechen, obwohl zu diesem Zeitpunkt bekannt war, dass viele muslimische Jugendliche dafür empfänglich waren. Noch weniger wurden die islamistischen Überzeugungen thematisiert, die die Schüler im Gespräch miteinander selbst zum Ausdruck brachten. Der Islam sollte auf keinen Fall zum Thema einer Diskussion werden, was auch den Imam erfreute. Stattdessen versuchte man, den Schülern Erfahrungen mit Benachteiligungen zu entlocken. Sie wurden aufgefordert zu sagen, wovon sie sich am meisten diskriminiert fühlten, doch dazu fiel ihnen beim besten Willen nichts ein. Nach mehrfachem Insistieren der Pädagogen sagten sie schließlich, der Islam werde in den Medien schlecht dargestellt.

Während man bei den muslimischen Schülern mithilfe von Suggestivspielen ein Opferbewusstsein erzeugen wollte, wurden Lehrkräfte von Anbeginn an unter einen generellen Diskriminierungsverdacht gestellt. Auch sie wurden mit manipulativen Fragen und Spielen traktiert. Ihre immer wieder artikulierten Erwartungen, pragmatische Lösungsvorschläge für schulische Konflikte mit muslimischen Schülern zu erhalten, wurden ebenso wenig erfüllt wie ihr Bedürfnis, Sachinformationen über den Islam zu erhalten, die es ihnen ermöglichen würden, zwischen einer ernstzunehmenden Radikalisierung und einer akzeptablen Demonstration muslimischer Frömmigkeit zu unterscheiden.

Unser abschließender Bericht war dementsprechend kritisch, doch zu meiner Überraschung bestand seitens der Verantwortlichen innerhalb der Kommune kein Interesse daran, die Befunde zur Kenntnis zu nehmen und das Projekt anhand unserer Empfehlungen so weit zu modifizieren, dass es tatsächlich präventiv wirken konnte. Ganz offensichtlich hatte man einen Jubelreport erwartet, der die Großartigkeit des eigenen Konzepts bestätigte. Das Dokument verschwand in der Schublade des Integrationsamts und ward nie wieder gesehen.

Legalistischer Islamismus – kein Thema für die Wissenschaft?

Nach meinem Wechsel an die Goethe-Universität Frankfurt am Main war ich nicht mehr auf Südostasien als Forschungsfeld festgelegt und erweiterte dieses um islamisch geprägte Länder in anderen Teilen Asiens sowie in Nordafrika. Aufgrund des weiten regionalen Radius konnten wir Entwicklungen überregional vergleichen und kamen zu einem generellen Befund. In vielen muslimisch geprägten Staaten gewann der sogenannte politische Islam an Einfluss. Er verdrängte gemäßigte Spielarten der zweitgrößten Weltreligion, bedrohte liberale Muslime und entrechtete Frauen, Kinder und religiöse Minderheiten.14 Anders als die Mehrheit deutscher Islamexperten, die kategorisch zwischen moderaten und radikalen Islamisten unterschied, stellten wir fest, dass die Überlappungsbereiche eklatant waren. Ob man gewaltsam oder mit anderen Mitteln vorging, war oft eine taktische Entscheidung, denn das Ziel war das gleiche. Stets ging es um die Errichtung einer islamischen Gesellschaftsordnung. Der ägyptische Muslimbruder Sayyid Qutb (1906–1966) vertrat die Ansicht, dass moderne weltliche Regime von den wahrhaft Gläubigen in einem heiligen Krieg hinweggefegt werden müssen, weshalb der Dschihad nicht nur gerechtfertigt sei, sondern geradezu eine Pflicht darstelle. Moderne Muslimbrüder hingegen setzen auch auf Diplomatie und Sozialarbeit. Ich habe aus diesem Grund in einem wissenschaftlichen Aufsatz die These vertreten, dass es sich beim Islamismus jeglicher Ausprägung um einen gegen die westliche Moderne gerichteten Diskurs handelt, wobei Freiheit und Demokratie gegen Gottesfürchtigkeit und Gemeinschaft in Stellung gebracht werden.15 Ausdrücklich bezog ich mich auch auf den legalistischen Islamismus, der nach außen friedfertig und demokratiekompatibel auftritt, nach innen jedoch am Ziel der Errichtung einer islamischen Gesellschaft festhält, in der die Scharia die Grundlage von Recht und Gesetz darstellt.

Dies ließ sich nicht nur außerhalb Europas beobachten. Von 2011 bis 2014 führte ich eine empirische Studie in Moscheegemeinschaften und sufistischen Orden in einer deutschen Stadt durch. Ich sprach mit Frauen und Männern, die sich hinsichtlich ihres Alters, Bildungsstandes, ihrer familiären Situation und Herkunft voneinander unterschieden, mit Jugendlichen, Imamen und Moscheevorständen. Ich besuchte Freitagsgebete und religiöse Feierlichkeiten, und ich hatte mehrere Monate lang die Gelegenheit, an einem Frauenfrühstück teilzunehmen, das von der Kommune gefördert wurde. Bei aller Diversität der Gemeinden und ihrer Mitglieder war doch offensichtlich, dass sie eine mehr als distanzierte Haltung zu unserer Gesellschaft miteinander verband. Dies betraf auch die soziale Verfasstheit der Gemeinschaften. Als ich entdeckte, dass Eheschließungen mit engen Verwandten keine Ausnahme darstellten, hatte ich ein Tabu berührt, das man vor Nichtmuslimen gern verbirgt. Ähnliches gilt für arrangierte Heiraten, die durchaus mit Zwang durchgesetzt wurden, oder für die religiös gerechtfertigte häusliche Gewalt. Allein die Existenz solcher Missstände wurde zunächst negiert. Gerne sprach man hingegen über religiöse Gefühle und eine Begeisterung für islamistische Normen. Das war bei jungen, in Deutschland aufgewachsenen Muslimen sogar stärker ausgeprägt als bei den Älteren. Mädchen schwärmten davon, ihren gesamten Körper und sogar das Gesicht zu verschleiern, und männliche Jugendliche berichteten über ihre Versuche, in der Schule den Kontakt zu Schülerinnen zu vermeiden, weil sie glaubten, dadurch zur Sünde verführt zu werden. Die Beschränkung der Sexualität auf die Ehe hielten sie für ein Gebot des Islam, allerdings spielten auch patriarchalische Traditionen eine Rolle. Verstöße gegen die Kultur der Ehre konnten Mädchen und Frauen das Leben auf Erden zur Hölle machen, doch Verstöße gegen die Gesetze Allahs hatten weitaus ernstere Konsequenzen, weil sie die Ewigkeit betrafen. Die irdische Existenz sei eine Prüfung, erzählte man mir, und am Tag des Jüngsten Gerichts würden passende Strafen für Abweichungen vom Wege Gottes verhängt. Meine Gesprächspartner wähnten sich grundsätzlich in Sicherheit vor göttlichen Strafen, weil sie als Muslime letztendlich ins Paradies eingehen würden. Nichtmuslime hätten hingegen für alle Ewigkeit in der Hölle zu schmoren. Die Jugendlichen glaubten fest daran, dass gute Taten im Sinne eines islamischen Normenkatalogs sie schneller in den Himmel bringen würden, und dazu zählte auch, andere Muslime zu einem gottgefälligen Leben anzuhalten. Immer wieder beklagten sie, dass die ältere Generation im Befolgen religiöser Normen nachlässig sei. Das konnten sie nicht gelten lassen und entwickelten ausgefeilte Strategien, wie sie Mütter und Tanten zum Anlegen des Kopftuchs bewegen oder Väter und Onkel zu den regelmäßigen Pflichtgebeten anhalten konnten.

Islamismus löst in einer nichtmuslimischen Gesellschaft andere Probleme aus als in einer muslimisch geprägten Umgebung. Er produziert segregierte Gemeinschaften und in vielen Fällen sogar regelrechte Parallelgesellschaften, in denen eigene Werte gelten und die Ablehnung der Mehrheitsgesellschaft und ihrer Institutionen gepflegt wird. Ich war mir im Klaren, dass Abschottungen einer numerisch wachsenden Minderheit nicht nur für diese selbst, sondern vor allem für die Gesellschaft ein enormes Problem darstellten. Da meine Gesprächspartner immer wieder von Schulproblemen berichteten und für ihre schlechten Noten angeblich rassistische Lehrerinnen verantwortlich machten, ergänzte ich meine Studie gegen Ende der Erhebungen um einen Part, in dem ich Schulleiter und Lehrer befragte. Hier zeigte sich, dass viele muslimische Eltern zwar akademische Laufbahnen für ihre Kinder anstrebten, aber nicht bereit oder in der Lage waren, dafür einen Beitrag zu leisten. Nicht wenige Mütter waren bildungsfern und hatten Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache. Sie konnten ihren Kindern nicht bei den Hausaufgaben oder beim Lernen für Klassenarbeiten helfen. Die Moscheen versuchten einzuspringen und boten Hausaufgabenbetreuungen an. Das war ehrenwert, konnte die familiären Defizite jedoch nicht ausgleichen. 2016 publizierte ich meine Forschungsergebnisse in einer Monografie, die in den Medien und in der Gesellschaft stark rezipiert, aber in der Ethnologie nicht beachtet wurde.16 Ich zeigte Muslime nicht als Opfer eines angeblichen strukturellen Rassismus, sondern als selbstbewusste Gestalter ihrer eigenen Lebenswirklichkeit, verschwieg aber nicht, dass diese Lebenswirklichkeit sich häufig nur in einer Parallelgesellschaft realisieren ließ. Damit hatte ich die Spielregeln meiner eigenen Disziplin missachtet, die Kritik an migrantischen und durch den Islam geprägten Zuständen für moralisch anrüchig erachtet.

Ungeachtet solcher Irritationen erlebte unsere Forschungseinrichtung eine öffentliche Wahrnehmung, die für eine universitäre Einrichtung ungewöhnlich ist. Seit der salafistischen Offensive des selbsternannten Kalifen Abu Bakr al-Baghdadi war das Informationsbedürfnis innerhalb der Gesellschaft riesig. 2014 gründete ich daher das Frankfurter Forschungszentrum Globaler Islam als einen Ort, der öffentlich sichtbar sein sollte, an dem fachkundige Informationen gegeben werden konnten und Ansprechpartner für die Beantwortung aller aufgekommenen Fragen zur Verfügung standen. Durch die von uns geleisteten Grundlagenforschungen in der islamischen Welt und in den muslimischen Gemeinschaften Europas konnten wir eine einzigartige Expertise vorweisen und wurden zu einer gefragten Institution. Doch wir beließen es nicht bei der Forschung und einer Weitergabe von Informationen auf Anfrage, sondern wirkten mit öffentlichen Workshops, Konferenzen, Vortragsreihen und Podiumsdiskussionen in die Gesellschaft hinein. Wir brachten Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen mit Lehrern, Sozialarbeitern, Polizisten und Justizmitarbeitern in Kontakt, unsere Veranstaltungen wurden von Journalisten, Politikern und Mitarbeitern von Behörden besucht. Das Konzept war von Anbeginn ein voller Erfolg, was einerseits an der Aktualität der Themen lag, die wir bearbeiteten, andererseits aber auch dem Umstand geschuldet war, dass die Begegnungen zwischen Wissenschaft und Gesellschaft stets auf Augenhöhe stattfanden. Auf unseren Tagungen sprachen Führungskader muslimischer Organisationen ebenso wie scharfe Kritiker dieser Organisationen, und das Forschungszentrum wurde dadurch mit Recht als streitbare Einrichtung wahrgenommen.

Für die Mehrheit der Sozial- und Kulturwissenschaftler bedeutete streitbar allerdings umstritten. Dafür gab es Gründe. Islamwissenschaftler und Orientalisten wollten es sich nicht mit Partnern in der islamischen Welt verscherzen, von denen sie in ihren Forschungskontexten abhängig waren. Islamische Theologen suchten die Zustimmung ihrer Studenten, die den islamischen Verbänden angehörten und ihre Professoren ohnehin gern wegen ihrer weltlichen Ansichten kritisierten. Ethnologen meinten in den fundamentalistischen Muslimen das bewunderte exotische Andere zu entdecken, das man gegen Vorbehalte der eigenen Gesellschaft verteidigen wollte. Politikwissenschaftler, Soziologen und Angehörige weiterer Disziplinen machten sich einen kruden Kulturrelativismus zu eigen und feierten mitunter gar vollverschleierte Doktorandinnen als Zeichen gelebter Diversität. Dass eine kritische Positionierung angesichts dieser Umstände nicht auf ungeteilte Begeisterung stieß, muss nicht betont werden. Ich vermute, dass sich die Auffassung, ich sei umstritten, in dieser Phase meiner Laufbahn endgültig verfestigte.

Dazu trug auch der Umstand bei, dass ich mich nach der Moscheestudie eingehender mit der Geschichte des organisierten Islam befasste. Viele der Gemeinden, die ich besucht hatte, gehörten islamischen Verbänden an, deren Zentren in der Türkei, in Iran, am arabischen Golf oder in Nordafrika liegen. Der Islam in Deutschland ist nämlich weitgehend auslandsabhängig. Der numerisch stärkste Verband ist die DITIB (Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e. V.) mit fast tausend Moscheen in Deutschland. In finanzieller, organisatorischer und ideologischer Hinsicht kann man sie als Auslandsdependance der türkischen Religionsbehörde bezeichnen, die wiederum unmittelbar dem türkischen Präsidenten untersteht. Die DITIB-Moscheen werden aus diesem Grund für Wahlkampfauftritte der in der Türkei regierenden AKP und für die Weitergabe türkisch-nationalistischer oder türkisch-islamistischer Propaganda genutzt. Andere islamische Gemeinden agieren im Netzwerk der Muslimbruderschaft, die 1928 in Ägypten gegründet wurde, um die damals beginnende Säkularisierung des Landes zu beenden, oder stehen unter Kontrolle des iranischen Regimes. Die Muslimbruderschaft ist gegenwärtig die mächtigste international tätige Vereinigung von Islamisten.

2019 erschien mein Buch Politischer Islam. Stresstest für Deutschland, in dem ich den problematischen Einfluss solcher auslandsabhängiger islamistischer Gruppierungen auf die deutschen Muslime fassbar machte. Es ging darin um muslimischen Antisemitismus, die religiös begründete Unterwerfung von Frauen und die integrationsfeindliche Politik der Islamverbände. Meine Kritik des deutschen Verbandsislam brachte mir erwartungsgemäß viele Feinde ein. Die Mehrheit der von mir genannten Organisationen war mittlerweile Partner des Staates und der Kirchen geworden, die sich heftig gegen eine Entzauberung ihrer Dialogfreunde wehrten. In der Wissenschaft fürchtete man, allzu klare Worte könnten Kooperationen gefährden, und entwickelte die irrige These, aus Islamisten würden im Verlauf der Zeit moderate Postislamisten werden. Wer widersprach, würde als Störenfried abgekanzelt. Dies betraf in der Vergangenheit bereits muslimische Kritiker des Islamismus wie den aus Syrien stammenden Politikwissenschaftler Bassam Tibi, der schon Ende des 20. Jahrhunderts vor allzu großer Blauäugigkeit des Westens gewarnt hatte.17 In meiner eigenen Disziplin, der Ethnologie, war die Ablehnung jeglicher Form von Islamismuskritik besonders ausgeprägt, da man eine ins Devote reichende Kritiklosigkeit gegenüber dem kulturell Fremden und damit auch gegenüber jeglicher Spielart des Islam pflegte. Dass mir heute das Etikett eines antimuslimischen Rassismus angehängt wird, hat seine Ursprünge in meiner Verweigerung, den Islamismus zu beschönigen, sowie in der Tatsache, dass ich muslimische Kritiker des Islamismus und liberale Muslime zu Vorträgen und Konferenzen an die Universität einlud.

Schon damals bemerkte ich eine deutliche Diskrepanz zwischen dem wissenschaftlichen Mainstream und der Gesellschaft. Menschen aus unterschiedlichen Berufsfeldern wandten sich an unser Forschungszentrum, um sich über den Islam zu informieren und bestimmte Phänomene einordnen zu können. Für mich begann eine Zeit, in der ich lernte, wissenschaftliche Befunde so zu formulieren, dass mein Gegenüber verstand, was ich meine. Wissenschaftler pflegen ja gemeinhin einen Fachjargon, der für Außenstehende einer Geheimsprache gleicht. Die Formulierungen sind gestelzt, die Terminologie krude, und gewöhnlich sind Texte mit Referenzen auf andere Autoren gespickt, in deren Glanz man sich gern sonnen möchte. Die Distinktion zur Alltagssprache wird zwar mit dem Anspruch auf besondere Präzision begründet, soll aber eher den Status des Besonderen markieren. Tatsächlich isoliert sich die Wissenschaft dadurch von der Gesellschaft und erschafft einen akademischen Elfenbeinturm. Ich ließ mich auf das Wagnis ein, die akademische Blase sprachlich zu verlassen, und je besser ich verstanden wurde, desto zufriedener wurde ich mit mir. Dass Wissenschaft irgendwie im Dienste der Gesellschaft stehen sollte, war stets meine Überzeugung, aber jetzt hatte ich plötzlich eine Idee, wie dieser Vorsatz umgesetzt werden konnte.

Kopftuch als Tabu

Ich ließ mich auf Debatten ein, und ich bezog Position. Beispielsweise gegen die Verschleierung von Mädchen, die nicht nur im Salafismus Mode wurde, oder gegen das Tragen eines Kopftuchs im Schuldienst. Ich hatte mich zur Genüge mit dem Phänomen der islamischen Verhüllung weiblicher Köpfe und Körper auseinandergesetzt, um zu wissen, dass sie in der Regel das Zeichen eines rigiden Islam darstellt, der Mädchen und Frauen in vielerlei Hinsicht benachteiligt und ihnen teilweise sogar elementare Menschenrechte vorenthält. Überall dort, wo säkulare oder moderat-islamische Verhältnisse von Islamisten gekippt wurden, ließ sich das gleiche Muster erkennen. Zunächst forderten islamistische Aktivistinnen das Recht, sich freiwillig zu verschleiern, und argumentieren vordergründig emanzipativ. Sobald ihnen staatlicherseits zugestanden wurde, sich als Lehrerinnen, Schülerinnen oder Mitarbeiterinnen von Behörden islamisch zu bedecken, änderten sie die Argumentation. Anstelle der Freiheitsrechte wurden vermeintliche religiöse Pflichten ins Spiel gebracht. Plötzlich hieß es, die Verhüllung sei moralisch geboten und außerdem von Allah angeordnet, um die Sünde fernzuhalten. Sichtbare Weiblichkeit gefährde die göttliche Ordnung und bringe Chaos in die Welt. Ein jüngstes Beispiel für diese Argumentation lässt sich gegenwärtig im iranischen Mullah-Regime beobachten, wo die Enthüllung von Frauen als Vergehen gegen Gott gewertet und entsprechend juristisch sanktioniert wird. Weibliche Haut und Haare, so das wichtigste Narrativ des Islamismus, sollten für Männer unsichtbar sein, um sie nicht in Versuchung zu führen. Wer sich nicht verschleiere, demonstriere moralische Defizite und müsse bestraft werden.

Es ist nicht einfach, das Recht auf unbedeckte Haare gegen einen solchen Moraldiskurs in einer muslimisch geprägten Gesellschaft zu verteidigen. Vor allem dann, wenn gut geschulte Islamisten theologische Argumente ins Spiel bringen, ist es für unbedarfte Laien fast unmöglich, gegenzuhalten. Persönliche Angriffe und soziale Diffamierung von Unverschleierten tun ein Übriges, um den Druck zu erhöhen, und viele Mädchen und Frauen beugen sich, um in der Schule, am Arbeitsplatz oder in der Öffentlichkeit nicht belästigt zu werden. Doch damit hört es in der Regel nicht auf. Je weiter der Islamismus Raum gewinnt, desto stärker beeinflusst er die Politik und die Judikative. Wir beobachteten immer wieder, dass die Verschleierung in ehemals moderaten muslimischen Ländern gesetzlich angeordnet wurde, wenn sich ein islamistisches Klima etablierte. Unverschleierte Frauen konnten dann festgenommen werden, waren im Polizeigewahrsam Folter und sexuellen Übergriffen ausgesetzt, mussten sich vor Gericht verantworten und wurden immer wieder zu Haftstrafen verurteilt. In islamischen Staaten wie Iran werden sogar Anwältinnen angeklagter Frauen mit Gewalt und Gefängnisstrafen bedroht.

Wenn ich auf diese Verhältnisse in Asien oder Afrika hinwies, wurde mir stets entgegnet, dass in Deutschland alles anders sei. Hier seien es die Kopftuchträgerinnen, die diskriminiert würden. Ich war mir bewusst, dass Frauen in der westlichen Welt sich auch aus eigenem Antrieb, teilweise gegen den Wunsch der Eltern verhüllen, doch auch hier wird die Scharia-konforme Bekleidungsordnung in den muslimischen Communitys häufig mit Zwang durchgesetzt. Selbst in staatlichen Schulen sind unverschleierte muslimische Mädchen nicht selten einem religiösen Mobbing ausgesetzt. Daher gab es für mich gute Gründe, die Neutralität des Staates auch beim Kleidungsstil von Lehrerinnen zu verteidigen und das Kopftuch besonders bei nicht religionsmündigen Schülerinnen unter 14 Jahren zu kritisieren. Ich äußerte diese Position gegenüber der Presse im Rahmen einer öffentlichen Diskussionsveranstaltung der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes und setzte mich für die Beibehaltung des Neutralitätsgesetzes in Berlin ein, das Lehrerinnen das Tragen religiöser Symbole untersagte. Mir brachte diese Positionierung wütende Vorwürfe islamo-linker Aktivisten ein, und die vom Verfassungsschutz beobachtete Gruppe Realität Islam begann eine Serie von Videos, in denen ich im Internet öffentlich als Feindin des Islam gebrandmarkt wurde.

Im Jahr 2019 spitzte sich die Sache weiter zu. Das Museum Angewandte Kunst in Frankfurt am Main zeigte eine Ausstellung mit dem Titel Contemporary Muslim Fashions, in der die Verhüllung muslimischer Frauen als coole Mode präsentiert wurde. Man hatte sogar den Begriff der modest fashion, übersetzt etwa als bescheidene oder zurückhaltende Mode, verwendet, mit dem Islamisten gewöhnlich signalisieren, dass nichtmuslimische Kleidung anmaßend und unmoralisch ist. Vom Zwangscharakter islamischer Bekleidungsordnungen, gegen den mittlerweile weltweit Musliminnen protestierten, war nicht die Rede. Nahtlos reihte sich die Ausstellung an eine andere Veranstaltung vom Oktober des Vorjahres an, bei dem die Bildungsstätte Anne Frank einen Fachtag mit dem Titel Stigma Kopftuch. Rassistische Diskurse über Musliminnen und den Hidschab veranstaltet hatte. Innerhalb kurzer Abstände präsentierten zwei wichtige Frankfurter Einrichtungen damit die islamische Verschleierung im Kontext eines sogenannten antimuslimischen Rassismus oder als reine Modeerscheinung. Der Tenor war in beiden Fällen gleich. Die deutsche Bevölkerung sollte mit ihren vermeintlichen Vorurteilen gegenüber Musliminnen und dem Islam konfrontiert werden und erkennen, wie wunderbar die islamische Bekleidung sei.

Gegen die Ausstellung, die im Vorfeld überregional angekündigt wurde, regte sich Protest von säkularen Musliminnen und muslimischen Feministinnen. Frauen, die aus Iran geflohen waren, riefen verzweifelt bei mir an und baten mich etwas zu unternehmen. Sie hatten ihre Heimat verlassen, weil sie dem islamistischen Terror entkommen wollten, der sich für sie im Kopftuchzwang materialisierte. Jetzt fürchteten sie, dass auch in Deutschland die Freiheit abnähme, wenn Islamisten hofiert würden. Ich sprach mich gegen Boykottideen aus und schlug vor, an der Goethe-Universität eine Konferenz zu veranstalten, auf der das Thema aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet werden sollte. Als explizite Kopftuchgegnerinnen lud ich die Feministinnen Alice Schwarzer und Necla Kelek ein. Khola Maryam Hübsch von der Ahmadiyya Muslim Jamaat vertrat die Gegenposition. Sie hält die Bedeckung weiblicher Köpfe und Körper im Einklang mit dem Kalifen ihrer Organisation für eine von Allah verhängte Pflicht. Den muslimischen Theologen Abdel-Hakim Ourghi und Dina El Omari fiel die Aufgabe zu, die Zuhörer über theologische Quellen bezüglich der Kopftuchfrage zu informieren. Wie Khola Maryam Hübsch trug Dina El Omari eine Kopfbedeckung. Ingrid König, die Leiterin einer Frankfurter Brennpunktschule, berichtete, was islamische Normen für den schulischen Alltag bedeuten, und ich referierte über die Geschichte von Verschleierung und Entschleierung in der islamischen Welt. Wie immer bei meinen Konferenzen, moderierten junge Wissenschaftler aus meinem Team – darunter auch eine verschleierte Doktorandin, die in muslimischen Kreisen beherzt für Frauenrechte kämpfte.

Ich war der Ansicht, meine Referenten vergleichsweise divers ausgewählt zu haben, wobei ein gewisser Überhang zu kopftuchkritischen Haltungen angesichts der beiden erwähnten Veranstaltungen, die gänzlich ohne Gegenposition auskamen, akzeptabel erschien. Daher war ich erstaunt, unmittelbar vor der Konferenz einen Hinwies auf eine Internetkampagne Uni gegen antimuslimischen Rassismus zu erhalten, in der meine Entlassung aus dem Universitätsdienst gefordert wurde. Unter dem Hashtag #schroeter–raus waren Bilder junger Menschen zu sehen, die Plakate hielten, auf denen »Weil mein Kopftuch meine Sache ist«, »Weil ich kein Bock auf Schröters antimuslimische Hetze habe«, »Null Toleranz für Rassismus« und »Kein Platz für antimuslimischen Rassismus« stand. In einem Begleittext warfen mir Personen, die sich als Studenten der Goethe-Universität bezeichneten, vor, Menschen aufgrund ihrer »Religion, Herkunft, Geschlecht und Sexualität« zu diskriminieren und dadurch einem Rechtspopulismus Vorschub zu leisten. Begründet wurden diese Unterstellungen nicht. Anstoß nahm man allerdings an den eingeladenen Referentinnen Schwarzer, Kelek und König, von denen man kritische Positionen zum Kopftuch erwartete und die deshalb als hochproblematisch denunziert wurden. Ganz offensichtlich sollte nach Ansicht der Aktivisten nur noch in affirmativer Weise über das Kopftuch gesprochen werden. Später stellte sich heraus, dass die Kampagne von Zuher Jazmati, einem professionellen Kampagnenprofi, gestaltet worden war, der wie andere der beteiligten Aktivisten gar nicht in Frankfurt studierte. Doch dies sind vielleicht Nebensächlichkeiten. Im Rückblick war damals bereits eine Tendenz sichtbar, die heute mit großem Erfolg bei jedem Thema angewandt wird, das von woken Akteuren gecancelt werden soll. Man skandalisiert einen Anlass unter Verwendung nicht spezifizierter Begriffe wie problematisch oder umstritten