Allahs Karawane - Susanne Schröter - E-Book

Allahs Karawane E-Book

Susanne Schröter

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Beschreibung

Muslim*Innen, die neben Allah die Göttin des Südmeeres verehren, das rituelle Fasten durch Arbeit ersetzen oder den Koran feministisch auslegen: Susanne Schröter führt kurzweilig durch unbekannte Kulturen des Islams, die vor allem eines gemeinsam haben: Sie gehören zu den bedrohten Arten, die von Fundamentalisten und Radikalen bekämpft werden. Das anschauliche Buch ist ein längst überfälliger Einspruch gegen die fatale Verkürzung der zweitgrößten Weltreligion auf wenige Prinzipien und eine Einladung, den Islam in all seiner Vielfalt und Farbigkeit neu zu entdecken. Die tanzenden Derwische in der Türkei haben eine eigene Orthodoxie ausgebildet, während es auf dem Balkan seit langem einen unorthodoxen, genuin europäischen Islam gibt. Im Sudan unterläuft der Zar-Kult rigide Scharia-Regeln. Im Senegal leiten mächtige Scheichs zu einem Leben im Rhythmus von Gebet, Arbeit und Musik an. In Malaysia existieren alte muslimische Matriarchate, während in den USA eine progressive muslimische Subkultur blüht und in Deutschland liberale Vereinigungen mit Imaminnen entstehen. Mit den Ibaditen im Oman ist eine traditionell tolerante Glaubensrichtung zu entdecken. In Pakistan haben sich Sufi-Heiligtümer zu gesellschaftlichen Freiräumen entwickelt, auch für Transgender. Auf der Insel Java ist der Islam mit Hinduismus und Buddhismus verschmolzen, und in China entwickelt sich unter den Augen der KP ein interreligiöser Islam. Susanne Schröters erstaunliche Reise durch das islamische Multiversum zeigt auf schönste Weise, dass die zweitgrößte Weltreligion vielfältiger, diverser, kreativer und pragmatischer ist, als es uns islamische Fundamentalisten und wütende Islamkritiker glauben machen wollen.

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Susanne Schröter

ALLAHS KARAWANE

Eine Reise durch das islamische Multiversum

C.H.BECK

Zum Buch

Muslime, die neben Allah die Göttin des Südmeeres verehren, das rituelle Fasten durch Arbeit ersetzen oder den Koran feministisch auslegen: Susanne Schröter führt kurzweilig durch unbekannte Kulturen des Islams, die vor allem eines gemeinsam haben: Sie gehören zu den «bedrohten Arten», die überall auf der Welt von Fundamentalisten und Radikalen bekämpft werden. Das anschauliche Buch ist ein längst überfälliger Einspruch gegen die fatale Verkürzung der zweitgrößten Weltreligion auf wenige Prinzipien und eine Einladung, den Islam in all seiner Vielfalt und Farbigkeit neu zu entdecken.

Über die Autorin

Susanne Schröter lehrt als Professorin für Ethnologie an der Universität Frankfurt a.M., leitet das Frankfurter Forschungszentrums Globaler Islam (FFGI) und nimmt daneben weitere Aufgaben wahr, u.a. als Senatorin der Deutschen Nationalstiftung und Vorstandsmitglied des Deutschen Orient-Instituts. Zuletzt erschient von ihr «Politischer Islam: Stresstest für Deutschland» (2019).

Inhalt

Einleitung

1. TÜRKEI

Drehende Derwische und der laizistische Staat

Zwischen Spiritualität und Scharia

Das Ohr des Herzens

Die sufistische Orthodoxie der Naqschbandis

Islamische Orden im laizistischen Staat

2. BALKAN

Wein und Käse im Gedenken an Ali

Bruderschaften jenseits der Orthodoxie

Die Macht der Tradition

Säkularisierung und ethno-religiöse Konflikte

Erinnerungskulturen

3. SENEGAL

Arbeit als Gottesdienst

Pop-Ikone und Heiliger

Die glückliche Stadt

Beten, Arbeiten und Musik

Die Macht der Marabouts

4. SUDAN

Die Geister des roten Windes

Das Heer der Geister

Die Last der Schamhaftigkeit

Die Herrinnen der Rituale

Soziale Reformen

5. OMAN

Ein Opernhaus am Golf

Der Ibadismus

Aufbruch in die Moderne

Religiöse Toleranz

Die Rechte der Frauen

6. PAKISTAN

Zwischen Bordell und Schrein

Tänzerinnen, Bettlerinnen, Prostituierte

Sufistische Heiligtümer als Freiräume

Die Gemeinschaft der hijras

Das Weibliche im Männlichen

7. USA

Gefährliche Reformen

Die lange Tradition des progressiven Islams

Der Islam und die Demokratie

Muslimischer Feminismus

Eine progressive muslimische Subkultur

8. MALAYSIA

Muslimische Matriarchate

Frauenherrschaft im Islam

Modernisierung und die islamistische Wende

Mit dem Koran für Frauenrechte kämpfen

9. INDONESIEN

Der Sultan und die Königin des Südmeeres

Ein Zimmer für die Göttin

Das Streben nach Harmonie

Java als religiöser Schmelztiegel

Konflikte und Weichenstellungen

10. CHINA

Unter den Augen der Kommunistischen Partei

Arabische Kaufleute im Reich der Mitte

Revolutionäre Religionspolitik

Ein Islam chinesischer Prägung?

Folklorisierung und Kontrolle

11. DEUTSCHLAND

Der barmherzige Gott und eine liberale Moschee

Der barmherzige Gott

An Mohammed scheiden sich die Geister

Progressive muslimische Vereinigungen

Eine liberale Moschee

Dank

Anmerkungen

1. Türkei

2. Balkan

3. Senegal

4. Sudan

5. Oman

6. Pakistan

7. USA

8. Malaysia

9. Indonesien

10. China

11. Deutschland

Literatur

Bildnachweis

«Diese irdische Welt ist eine Karawanserei auf dem Wege zu Gott, und alle Menschen finden sich in ihr als Reisegenossen zusammen. Da sie aber alle nach demselben Ziel wandern und gleichsam eine Karawane bilden, so müssen sie Frieden und Eintracht miteinander halten und einander helfen und ein jeder die Rechte des anderen achten.»

Al-Ghazali, Das Elixier der Glückseligkeit

Einleitung

Das öffentliche Bild des Islams ist gegenwärtig von fundamentalistischen Moscheen, intoleranter Orthodoxie und einer Instrumentalisierung der Religion durch illiberale Politiker geprägt. Hinzu kommt das Wüten terroristischer Eiferer von den Philippinen bis nach Mali. Die zweitgrößte Weltreligion mit ihrer großen Bandbreite an gelebter Spiritualität gerät in Gefahr, in der Außenwahrnehmung auf ihre wenig liebenswerten Spielarten reduziert zu werden, die unter dem Begriff des politischen Islams zusammengefasst werden können.

Dieses Buch zeigt andere Seiten des Islams, die nicht in Vergessenheit geraten sollten, wenn wir Aussagen über diese Weltreligion machen, die eine erstaunliche innere Vielfalt aufweist. Es befasst sich mit sufistischen Dichtern, die die Sehnsucht nach der Nähe Gottes in erotischen Metaphern besingen, mit Feministinnen, die mit dem Koran für Frauenrechte kämpfen, mit muslimischen Matriarchaten, mit Gläubigen, die das Fasten durch Arbeit ersetzen, und mit Philosophen, die Wissenschaft, Demokratie und den Islam zusammendenken, um ihre Vision von Gerechtigkeit zu untermauern. Teils erheben die vorgestellten Spielarten des Islams den Anspruch, die wahre Auslegung des Korans und der islamischen Überlieferung zu repräsentieren, mit der andere, vermeintlich falsche Deutungen korrigiert werden. Häufiger jedoch sind sie eine Folge der unterschiedlichen regionalen Kontexte, die den Islam bei seiner Ausbreitung geformt haben. Dabei ist es zu Verschmelzungen mit lokalen religiösen Traditionen gekommen, aber auch mit dem Christentum, dem Hinduismus, dem Buddhismus, mit chinesischen Philosophien sowie mit platonischen und gnostischen Ideen. Vorislamische Göttinnen wurden in islamische Rituale integriert, konfuzianische Tempel haben die Architektur von Moscheen geprägt, und manchmal war das Heilige ebenso im Schrein wie im Bordell präsent. All dies hat dazu geführt, dass der Mehrheitsislam in Ländern wie Senegal, Pakistan, Albanien und China jeweils ein ganz eigenes Profil gewonnen hat. Zu all den theologischen und kulturellen Faktoren, die das Gesicht dieser Religion prägen, kommen zudem die Gläubigen selbst, die sich oft weniger an den Buchstaben der heiligen Texte als an den eigenen Bedürfnissen orientieren und versuchen, die Vorgaben des Islams mit ihren Vorstellungen von einem guten Leben in Einklang zu bringen.

Das Buch führt die Leser durch unbekannte Welten des Islams in Asien, Afrika, Europa und den USA. Es zeigt Lebensrealitäten von Muslimen, die weniger durch Orthodoxie als durch Pragmatismus, Kreativität und Poesie geprägt sind. Es stellt Personen vor, die mit großem Engagement für eine bessere Welt kämpfen, sich für die Rechte von Frauen und anderen Benachteiligten einsetzen und dabei ihre Religion neu denken müssen. Es zeigt Menschen muslimischer Herkunft, die eine persönliche Beziehung zu ihrem Gott kultivieren, sich aber Einmischungen von anderen verbitten. Es informiert über muslimische Gruppen, deren Mitglieder mit Begeisterung Rituale durchführen, die andere für unislamisch halten. Es gibt Einblicke in Dimensionen islamischer Mystik, die manche als Häresie verurteilen. Einige der vorgestellten Strömungen des gegenwärtigen Islams können mit dem Adjektiv «tolerant» bezeichnet werden, andere sind dogmatisch und von einem ehernen Wahrheitsanspruch beseelt. Gemeinsam ist den hier vorgestellten Spielarten des Islams allerdings, dass sie von Fundamentalisten und Radikalen abgelehnt und ihre Anhänger häufig sogar als Apostaten verfolgt werden. Die Vielfalt des Islams ist all denen ein Dorn im Auge, die sich für die globale Homogenisierung dieser Weltreligion starkmachen und dabei vor Gewalt nicht zurückschrecken.

1. TÜRKEI

Drehende Derwische und der laizistische Staat

Südlich von Ankara liegt die Stadt Konya. Hier lebte im 13. Jahrhundert der Poet Rumi, dessen Liebeslyrik als Inbegriff des sufistischen Strebens nach einer Vereinigung mit Gott gilt. Diesem Ziel dient auch das schnelle rituelle Drehen um die eigene Achse, das einige der Anhänger Rumis praktizieren, um in einen ekstatischen Zustand zu gelangen. Spiritualität bedeutet aber keineswegs Weltentsagung. Viele sufistische Bruderschaften agierten in der Vergangenheit machtbewusst und übten großen Einfluss auf die Politik des Osmanischen Reiches aus. Nach dessen Zusammenbruch und der Gründung der modernen Türkei als laizistischem Staat wurden sie aufgelöst. In den verborgenen Nischen der Republik überlebten sie jedoch den säkularen Furor und kehrten schließlich in die Öffentlichkeit zurück.

Zwischen Spiritualität und Scharia

Der Sufismus gilt in westlichen Ländern als schöne Seite des Islams. Man denkt unvermittelt an den persischen Dichter Hafis, der die deutsche Orientwissenschaft des 19. Jahrhunderts begeisterte und Goethe inspirierte, oder an den Philosophen Ibn al-Arabi, der als Advokat interreligiöser Toleranz im spanischen al-Andalus wirkte. Fast immer wird der Sufismus mit Innerlichkeit und Frieden assoziiert. Sowohl wissenschaftliche als auch feuilletonistische Darstellungen sind nicht selten schwärmerisch. Die Islamwissenschaftlerin Annemarie Schimmel zitierte in ihren Abhandlungen Gedichte über blühende Gärten «mit duftenden Rosen und klagenden Nachtigallen», die «zu Symbolen für die göttliche Schönheit und die Sehnsucht der Seele» würden, und berichtet von Gipfeln «der höchsten theosophischen Weisheit».[1] Daher verwundert es nicht, dass sich manch einer von einer Stärkung dieser Spielart des Islams ein Allheilmittel gegen den Islamismus, besonders in dessen gewalttätiger Form, verspricht. So bezeichnete der Schriftsteller Ilija Trojanow den Sufismus nicht nur als undogmatische und antiautoritäre Variante des Islams, sondern auch als wichtige Kraft gegen Extremismus.[2] Ähnlich äußerte sich der pakistanische Kolumnist Syed Qamar Afzal Rizwi. Der Sufismus verkörpere Humanismus, Mitmenschlichkeit und Philanthropie und damit wichtige Grundwerte des Islams, schrieb er. Wenn sich Muslime darauf konzentrierten anstatt einer schariazentrierten Orthodoxie das Wort zu reden, schüfen sie ein Gegengewicht gegen den islamischen Extremismus und die wachsende Islamfeindlichkeit gleichermaßen.[3]

Mevlevi-Derwisch in Konya, 1888

Dieses begeisterte Bild vom Sufismus entspricht jedoch nur bedingt der Realität. Der Sufismus ist keine einheitliche Strömung, sondern zerfällt in Bruderschaften, die sehr unterschiedlich verfasst sind, und es gibt sogar Sufis, die unabhängig von religiösen Organisationen ihren eigenen spirituellen Weg gehen. Der Begriff «Sufismus» leitet sich vermutlich von dem Wort suf für Wolle ab und soll auf die einfache Kleidung der ersten Anhänger dieser mystischen Tradition verweisen, denen die Beziehung zu Allah wichtiger war als irdische Güter.[4] Eine Abkehr von der materiellen Welt ist auch in dem persischen Terminus derwisch angelegt, der übersetzt «Bettler» bedeutet. Bereits in der Frühzeit des Islams gab es Asketen wie den irakischen Theologen Hasan al-Basri (642–​728), der dem Weltlichen entsagt und sich nur noch der Meditation und dem Koran gewidmet haben soll. Eine Reihe von muslimischen Gelehrten und Dichtern, die dem Sufismus zugerechnet werden, positionierte sich vollkommen außerhalb der Schulen islamischer Normenlehre, die die Orthodoxie begründeten. Das zeigt sich eindrucksvoll an einer Begebenheit aus dem Leben der Mystikerin Rabia al-Adawiyya (714–​801). Als sie mit einer Fackel in der einen und einem Eimer Wasser in der anderen Hand durch ihre Heimatstadt Basra eilte und gefragt wurde, wohin sie denn wolle, soll sie geantwortet haben, sie wolle in die Hölle und dort das Feuer löschen und danach in den Himmel, um ihn in Brand zu stecken.[5]

Viele Sufis lehnten die verbreitete Lehre ab, nach der Muslime den Nichtmuslimen überlegen sind und die zu einem zentralen Merkmal der Orthodoxie werden sollte. Dafür steht etwa der Philosoph Ibn al-Arabi (1165–​1240), der seine spirituellen Erfahrungen nicht in das enge Korsett einer religiösen Zugehörigkeit pressen wollte. Wie andere islamische Mystiker verband er neuplatonische, gnostische und islamische Elemente miteinander. Das schloss Engstirnigkeit und fundamentalistische Überheblichkeiten per se aus. «Mein Herz ist fähig, alle Formen anzunehmen», schrieb er in einem Gedicht. Es sei «eine Weide für Gazellen, ein Kloster für den Mönch, ein Tempel für die Götzen und eine Kaaba für den, der sie umkreist. Ich bekenne die Religion der Liebe, wohin auch immer ihre Karawane zieht. Die Liebe ist mein Glaube und meine Religion.»[6] Das gefiel schon zu seinen Lebzeiten nicht jedem, genauso wenig wie die zahlreichen erotischen Metaphern, die er verwendete. Man beschuldigte ihn schließlich der Blasphemie und zwang ihn, sich im Jahr 1210 vor einem juristischen Tribunal zu rechtfertigen. Ähnlich wie Ibn al-Arabi negierte auch der Mystiker Yunus Emre, der für das Osmanische Reich und die Türkei bedeutsam werden sollte, die Grenzen zwischen den Religionen. In einem Gedicht, in dem er die Berge, Steine und Nachtigallen als Beistand anruft, heißt es: «Mit Jesus hoch im Himmelsland, mit Moses an des Bergesrand, mit diesem Stab in meiner Hand, will ich dich rufen, Herr, o Herr.»[7]

In vielen sufistischen Strömungen sind christliche, jüdische, buddhistische und hinduistische Einflüsse nachweisbar, die auf umherziehende Wanderprediger zurückgehen.[8] Der Sufismus entspricht damit wohl am ehesten dem Ideal eines Johann Wolfgang von Goethe, der in seinem West-östlichen Divan davon träumte, das jeweils Beste aus Orient und Okzident miteinander zu verbinden.[9] Zwangsläufig geraten Sufis deshalb in Konflikte mit Vertretern der Orthodoxie und gegenwärtig besonders mit dem Salafismus. Auch die Beziehung zwischen einem Meister und seinen Schülern, die heute im Sufismus von essentieller Bedeutung ist, gilt vielen fundamentalistischen Muslimen schlicht als Ketzerei. Sufistische Meister werden im Arabischen als Scheich und im Persischen als pir bezeichnet. Sie sollen den Schülern durch ihr Vorbild den Weg zu Allah eröffnen. Gewöhnlich behaupten sie von sich, ihre Genealogie weise sie als Nachfahren Mohammeds aus, und bringen den Propheten damit in die Position eines Ahnherrn einer Bruderschaft.[10] Die konstruierte Abstammungslinie wird Kette (silsila) oder «goldene Kette» genannt. Mit der Herkunftslinie begründen die Scheichs ihre Autorität und ihren besonderen Status.[11] Ihre Anhänger sind davon überzeugt, dass sie im Besitz besonderer spiritueller Kräfte (baraka) sind, die sie durch Berührung weitergeben können. Verstorbene Meister werden oft als Heilige verehrt. Ihre Gräber sind Orte der mystischen Kontemplation. Nicht selten werden sie spirituelle Zentren. Dieser Personenkult gilt Salafisten und Wahhabiten jedoch als shirk, als polytheistische Irrlehre, da die Verehrung nur Gott selbst gelten dürfe. Immer wieder zerstören Islamisten deshalb sufistische Schreine und Bibliotheken, verüben Anschläge auf Heiligtümer oder verfolgen Gläubige.

Aus diesem Umstand lässt sich aber nicht ableiten, Sufis seien per se undogmatisch, moderat oder gar progressiv. Die Mehrheit der sufistischen Orden vertritt einen nach strengen Regeln geordneten Islam mit absoluter Autorität des Scheichs, mit männlicher Dominanz, einer rigorosen Geschlechtertrennung sowie einer strengen Bekleidungsordnung, insbesondere für Frauen. Viele Sufi-Meister folgen zudem der konservativen Normenlehre, wenn es um den Koran oder die islamische Jurisprudenz geht.[12] In einem Gespräch, das ich vor einigen Jahren führte, definierte ein Sufi die getreue Befolgung orthodox-muslimischer Pflichten als Grundlage seines Glaubens. Nur derjenige, der fünf Mal am Tag bete, dreißig Tage im Jahr faste, der die vorgeschriebenen Almosen gebe und, wenn es finanziell möglich sei, auf eine Pilgerreise nach Mekka gehe, erklärte er, sei überhaupt ein Muslim. Ein anderer Gesprächspartner vertrat die Ansicht, dass man Gott am meisten durch ein pünktliches Gebet zufriedenstellen könne.[13] Der Ethnologe Jürgen Wasim Frembgen, der sich seit vielen Jahrzehnten mit dem praktizierten Sufismus befasst, unterscheidet aus diesem Grund orthodoxe von freieren Bruderschaften.[14]

Obwohl in der Geschichte des Sufismus die Existenz von Asketen verbürgt ist, die allem Irdischen und damit der weltlichen Macht entsagt haben, sind nicht alle Sufi-Gemeinschaften so politikfern, wie oft behauptet wird. Sufistische Orden waren häufig politische Schwergewichte und beteiligten sich mit Waffengewalt an der Ausbreitung des Islams, dabei unter anderem an der Expansion des Osmanischen Reiches nach Südosteuropa.[15] In antikolonialen Aufständen und Guerillabewegungen in Asien, Afrika und im Kaukasus waren sie ebenfalls aktiv.[16]

Das Ohr des Herzens

Eine der bekanntesten sufistischen Bruderschaften ist der Mevlevi-Orden. Er geht auf Jalal ad-Din Mohammad Rumi (1207–​1273) zurück, der in der ehemals persischen Stadt Balkh geboren wurde. Die Familie floh vor den Mongolen, die Balkh im Jahr 1221 zerstörten, nach Westen und gelangte über Aufenthalte in Bagdad und Damaskus schließlich nach Konya, der Hauptstadt der Rum-Seldschuken. Rumis Vater war ein der Mystik zugetaner Prediger, der in Konya auf einen Lehrstuhl für Theologie berufen wurde. Nach seinem Tod folgte ihm sein Sohn Jalal ad-Din Rumi.

Das Leben Rumis verlief in den gesetzten Bahnen eines religiösen Gelehrten seiner Zeit, bis er im Jahr 1244 dem Mystiker Schamsuddin Tabrizi begegnete. Beide fühlten sich stark zueinander hingezogen, und es entstand eine Beziehung, die im intellektuellen Sinne als sokratisch bezeichnet werden kann. Die gegenseitige Anziehung war aber auch emotionaler Natur bis hin zur vollkommenen Abhängigkeit Rumis, und wahrscheinlich hatte sie auch eine erotische Komponente.[17] Rumi verfiel dem verehrten Freund vollkommen und begann, seine Lehrtätigkeit, seine Familie und andere soziale Kontakte zu vernachlässigen. Es kam zu Konflikten mit seiner Anhängerschaft. Schließlich verließ Tabrizi die Stadt. Rumi soll außer sich gewesen sein und habe sich verzweifelt auf die Suche nach dem Verschwundenen gemacht, ohne ihn zu finden. Nach fünfzehn Monaten kehrte Tabrizi zurück, was die Spannungen in Konya erneut befeuerte. Aufgrund anhaltender Proteste habe er, so heißt es, der Stadt dann endgültig den Rücken gekehrt. Den Verlust verarbeitete Rumi in einer Liebeslyrik, für die er bis auf den heutigen Tag berühmt ist. Die Verse, die um die Sehnsucht nach Vereinigung mit dem Geliebten kreisen, werden allerdings ausschließlich in spirituell-religiöser Weise gedeutet. Sie passen zum sufistischen Motiv der Hingabe, die als erkenntnisleitend und teilweise als Gegensatz zu formalem Wissen verstanden wird. Rumi selbst soll Wissen einmal als Schleier bezeichnet haben, der den Weg zu Allah verdeckt.[18] Nach dreijähriger Trauer, in der ihn nur die Musik getröstet haben soll, kehrte Rumi in die Gemeinschaft zurück und setzte seine Lehrtätigkeit fort. Er hinterließ ein umfangreiches Werk, das aus Gedichten, den Versen seines Hauptwerkes Mathnawi sowie Briefen und aufgezeichneten Gesprächen besteht.

Nach seinem Tod wurde Rumi in Konya in einem Mausoleum beigesetzt, und die Begräbnisstelle entwickelte sich schnell zu einem Andachtsort. Seine Anhänger, darunter einer seiner Söhne, entwickelten eine Ordensstruktur, um die Ideen des Verehrten lebendig zu halten. Sie benannten ihre Vereinigung nach der Ehrenbezeichnung «Mevlana» (Meister), mit der Rumi angesprochen wurde. Durch ein starkes Wachstum und unterschiedliche Orientierungen ihrer Geistlichen bildeten sich zwei Richtungen heraus, von denen eine in vielem mit der Orthodoxie übereinstimmte, während die andere davon abwich.[19] In der Frühzeit der Bruderschaft, so der Historiker Bruce McGowan, hatte der Orden vermutlich eine entspannte Haltung zu Alkohol und zu halluzinogenen Drogen. Auch seien Hierarchien noch nicht ausgeprägt und verfestigt gewesen, was Frauen eine Teilnahme erleichtert habe.[20] Später wurden sie ausgeschlossen, und innerhalb des Ordens etablierten sich hierarchische Strukturen mit verschiedenen Rängen: die Sympathisanten (muhip), die Derwische, die Ältesten (dede), die Scheichs, die Ordenshäuser (tekke) leiteten, und die höchsten Führer (çelebi), die als Nachfahren Rumis galten.[21] Die Rangunterschiede wurden durch die Kleidung sichtbar gemacht. Mit Ausnahme der Position des çelebi, die in väterlicher Erblinie vergeben wurde, waren Aufstiege für die Mitglieder möglich, wenn sie sich als geeignet erwiesen. Die geordnete Verfasstheit war ein großer Vorteil, als es darum ging, die Rolle der Bruderschaft in Staat und Gesellschaft auszubauen. Während des Osmanischen Reiches wurden die Mevlevis nämlich zu einem gleichermaßen urbanen wie politischen Phänomen. Sie erbauten ihre Ordenshäuser in den Städten, pflegten Kontakt zu den gebildeten Schichten, wurden von Würdenträgern unterstützt und von Steuerzahlungen befreit.[22] Von der Bevölkerung wurden die Derwische nicht nur wegen ihrer Nähe zu Allah verehrt, sondern auch aufgesucht, um Segenssprüche zu erhalten, von denen man die Genesung von Krankheiten erhoffte.[23]

Im Zentrum der gemeinschaftlichen religiösen Praxis der Mevlevis stand und steht noch immer die ritualgeleitete Spiritualität, die im dhikr und im sema verkörpert werden. Das dhikr, das Gedenken Allahs, wird in allen türkischen Bruderschaften durchgeführt. Dabei geht es um das Memorieren der neunundneunzig Namen Allahs, die im Koran überliefert sind. Diese Namen beschreiben Eigenschaften Gottes. Er heißt «der Gnädige», «der Barmherzige» oder «der Allwissende». Das dhikr ist eine kollektive Meditation, die vom Scheich angeleitet wird. Im Orden der Mevlevis spricht oder singt man die Namen Gottes laut und bewegt sich dabei rhythmisch. Auf diese Weise wird ein Zustand der Entrücktheit bei den Teilnehmenden erzeugt. Das zweite, weitaus wichtigere Ritual wird sema genannt. Es beginnt mit Lobpreisungen des Propheten Mohammed und musikalischen Sequenzen, in denen eine ney genannte Rohrflöte zum Einsatz kommt, die in der klassischen osmanischen Musik eine wichtige Rolle spielte. Ihr Klang symbolisiert gleichermaßen den göttlichen Atem der Schöpfung und die Klage des Gläubigen über ihre Trennung von Gott. Nach Auffassung der Mevlevi soll die Musik dabei «mit dem Ohr des Herzens» gehört werden.[24] Das sema verbindet Musik und Anrufungen mit rituellen Drehbewegungen, bei denen die Derwische mit leicht nach rechts abgeknicktem Kopf und erhobenen Armen um die eigene Achse rotieren. Eine Handfläche ist nach oben geöffnet, um die göttliche Energie zu empfangen, die andere zeigt nach unten, um die Energie wieder abzugeben. Im Drehen soll die Bewegung verkörpert werden, die dem bewegten Universum innewohnt. Die Derwische sollen ihr eigenes Selbst im Ritual aufgeben, mit der göttlichen Liebe verschmelzen und sich selbst im göttlichen Geliebten auslöschen. Sie tragen dabei hohe Filzhüte (sikke), die einen Grabstein symbolisieren, und weiße Gewänder, die aus einer Hose, einem engen langärmligen Oberteil und einem bodenlangen glockenförmigen Rock bestehen. Die Gewänder werden mit Leichentüchern assoziiert. Dahinter steht die Auffassung, dass man das Irdische bereits während des Lebens im Gedenken Gottes überwinden solle. Der Sufismus-Experte Jürgen Frembgen sieht eine Verbindung zu magisch-asketischen Traditionen des alten Iran.[25] Beendet wird das sema mit Rezitationen von Koranversen und Gebeten.

Musik war bei den Mevlevis ein zentrales Element, um Gott näher zu kommen, und der künstlerische Standard der Ordensmusiker war außerordentlich hoch. Viele Mitglieder der Bruderschaft waren international als Musiker bekannt, etliche wurden am Hofe des Sultans angestellt. Der Mevlevi-Orden hatte daher einen großen Einfluss auf die gesamte Musikentwicklung im Osmanischen Reich. Durch das Musizieren in den Ordenshäusern erhielt auch die Bevölkerung, die dort einen Teil ihrer Bildung erlangte, einen Zugang zur Musik. Vom 17. Jahrhundert an unterrichteten die Derwische armenische, jüdische und griechische Musiker und sorgten für deren künstlerische Integration und für die Entwicklung neuer Musikstile.[26] Dass die Grenzen zwischen spiritueller und profaner Musik verschwammen, blieb dabei nicht aus. Ähnliches lässt sich auch für die Architektur der Mevlevis sagen, besonders für die Ordensgebäude. Wie christliche Klöster umfassten sie eine Reihe von Häusern, die entweder weltlichen oder religiösen Zwecken dienten, darunter Bibliotheken, Grabstätten, Küchen und Wohnungen sowie die Räume, in denen gemeinschaftliche Rituale durchgeführt wurden.

Die sufistische Orthodoxie der Naqschbandis

Ein anderer Orden, der den türkischen Islam nachhaltig geprägt hat, ist die Bruderschaft der Naqschbandis. Sie geht auf Baha al-Din Naqschband zurück, der im 14. Jahrhundert im usbekischen Buchara wirkte, und ist heute in Zentralasien, in Indien, in der Türkei und in Europa präsent.[27] Anders als die Mevlevis sind die Naqschbandis strenger an der Scharia ausgerichtet. Ihre Scheichs haben in der Vergangenheit immer wieder betont, dass die mystischen Lehren mit diesem Teil der Orthodoxie konform sein müssten.[28] Der Gelehrte Scheich Hisham Kabbani fasst es folgendermaßen zusammen: Ein Anhänger der Naqschbandis müsse regelmäßig beten, die Lehren des Korans beherzigen und dem Vorbild des Propheten folgen. Er solle aber auch die Präsenz und Liebe Gottes durch persönliche Erfahrungen und die Verbindung zu Gott lebendig im Herzen bewahren.[29] Die Bedeutung der Scheichs, die bereits zu Lebzeiten als Heilige verehrt werden, ist bei den Naqschbandis stark ausgeprägt.[30] Sie sind aufgrund ihrer genealogischen Verbindung zu Mohammed absolute Autoritäten bezüglich aller Fragen der Theologie und der alltäglichen Lebensführung. Im Hinblick auf die «goldene Kette» der fiktiven Abstammung weisen Naqschbandis eine Besonderheit auf. Sie stellen die Verbindung zu Mohammed nicht wie andere sufistische Orden über den vierten Kalifen Ali, sondern über den ersten Kalifen Abu Bakr her.[31] Ali wird im schiitischen Islam als wichtigste heilige Person verehrt, was viele Orden stets in einen gewissen theologischen Gegensatz zum orthodox-sunnitischen Islam gebracht hat. Abu Bakr dagegen ist eine Identifikationsfigur der sunnitischen Orthodoxie bis hin zu seinen radikalen Strömungen, dem Wahhabismus, Salafismus und der Muslimbruderschaft. Die Naqschbandis haben in ihrer Geschichte niemals einen Hehl aus ihrer Schiitenfeindlichkeit gemacht und präsentieren sich durch die Besonderheit der Heiligengenealogie als fest im sunnitischen Islam verwurzelt.

Wie andere sufistische Orden befolgen die Naqschbandis einen spirituellen Weg, der den Einzelnen einerseits zu einem besseren Menschen formen und ihm andererseits eine besondere Gotteserfahrung ermöglichen soll. Naqschbandiyya bedeutet, das naqsch gut zu binden. Das naqsch aber, so die offizielle Lehrmeinung, sei die Gravur des Namens Gottes im Herzen des Gläubigen.[32] Das Herz steht auch im geistigen Mittelpunkt des dhikr, wobei die Naqschbandis zwischen einem «dhikr des Herzens» und einem «dhikr der Zunge» unterscheiden. Das dhikr der Mevlevis ist in dieser Definition eines der Zunge, da sie die Namen Allahs laut aufsagen, das dhikr der Naqschbandis ist eines des Herzens. Es handelt sich um ein lautloses Gedenken Gottes, das einer stillen Kontemplation gleicht.[33] Das dhikr poliere das Herz, damit es die Liebe Gottes wie ein Spiegel wiedergibt, schreibt Kabbani. Für den Gläubigen sei es in einer solchen Situation möglich, das göttliche Licht wahrzunehmen.[34] Außer spirituell erbaulichen Aspekten glaubt man auch, dass das dhikr heilende Wirkungen entfalten oder dem Gläubigen schlicht mehr Energie verleihen könne.[35] Hier ist die Naqschbandiyya zweifellos an moderne esoterische Praktiken anschlussfähig.

Das dhikr der Naqschbandis ist eine in einer Gruppe durchgeführte meditative Praxis unter Anleitung eines Scheichs mit sehr genauen Vorgaben, die das Atmen oder besser das Lenken des Atems betreffen.[36] Der angestrebte Zustand des Entrücktseins geht mit dem temporären Verlust des Egos einher. Im dhikr möchte man niemand sein, betonen die Mitglieder des Ordens, alle Ambitionen verblassen, man werde bescheiden und dadurch offen für die Gegenwart Gottes. Die Bekämpfung des Egos, dabei besonders der menschlichen Leidenschaften, ist allerdings nicht nur ein Thema während des Gottesgedenkens. Idealerweise soll die gesamte Lebensführung darauf ausgerichtet sein. Dies geschieht in der Naqschbandiyya durch eine konsequente Beachtung der Scharia. Dabei nehmen Naqschbandis nicht nur den Einzelnen, sondern die gesamte Gesellschaft in den Blick. Der Religionswissenschaftler Reza Aslan bezeichnet sie aus diesem Grund als «politisch aktive Pietisten».[37]

Im Osmanischen Reich waren die Naqschbandis ein nicht zu unterschätzender Machtfaktor. Sie beteiligten sich an den militärischen Expansionen in Europa sowie am Kampf der osmanischen Sultane gegen heterodoxe Glaubenspraxen und gegen Schiiten in Anatolien.[38] Am Hofe des Sultans hatten sie beträchtlichen Einfluss und genossen Sonderrechte. Im 19. Jahrhundert, das als das Jahrhundert der Naqschbandis bezeichnet wird,[39] versuchten sie, nicht nur ihre Mitglieder auf eine Nachahmung der Handlungsweisen des Propheten Mohammed zu verpflichten und Privilegien für die Bruderschaft zu erwirken, sondern die herrschende Elite entsprechend ihres Islamverständnisses zu erziehen, damit die Scharia vollumfänglich umgesetzt werden könne.[40] Wie die Mevlevis waren sie vor allem im städtischen Milieu präsent und hatten eine starke Basis bei Händlern, Gebildeten und Notabeln. Ihre Gegner sahen sie besonders in Akteuren, die einen ökonomischen und politischen Wandel auf den Weg brachten. Das Osmanische Reich war zur damaligen Zeit gegenüber dem aufstrebenden christlichen Europa zunehmend ins Hintertreffen geraten und ein Teil seiner Führung verstand, dass Wirtschaft, Politik und Gesellschaft erneuert werden mussten.

Während der Periode der Neuordnungen (tanzimat) wurden zwischen 1839 und 1876 Reformen eingeleitet, die die Macht der Bruderschaften empfindlich einschränkten. Sonderrechte von Religionsgemeinschaften wurden zugunsten einer Gleichstellung aller Bürger abgeschafft und die Privilegien der Orden aufgehoben.[41] Diese Politik setzte sich in den folgenden Regierungen weiter fort. Die Orden wurden einer staatlichen Kontrolle unterworfen und zu diesem Zweck in einem Sufi-Rat zusammengefasst. Einige Bruderschaften wurden gänzlich aufgelöst und ihr Eigentum eingezogen. Ihr Bildungsmonopol ging durch die Gründung staatlicher Schulen verloren, in denen nach einem säkularen Curriculum unterrichtet wurde.[42] Zusätzlich häuften sich Angriffe auf die öffentliche Reputation der Sufis, die in der osmanischen Presse als faul, unhygienisch und abergläubisch dargestellt wurden.

Islamische Orden im laizistischen Staat