Im Namen Gottes - Jasmin Taylor - E-Book
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Im Namen Gottes E-Book

Jasmin Taylor

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Beschreibung

Der Tod der 22-jährigen Kurdin Jina Mahsa Amini, die wegen ihres locker sitzenden Kopftuchs von der iranischen Sittenpolizei verhaftet und misshandelt wurde und infolgedessen drei Tage später starb, war nicht der einzige Fall von Verbrechen an Frauen in Iran. Dieses Buch beleuchtet zutiefst erschütternde Einzelschicksale von acht Frauen, die stellvertretend für über 40 Millionen von Iranerinnen stehen. Jeder Leidensweg wird in Form eines Memoirs erzählt. Auch die Autorin Jasmin Taylor berichtet als eine der Protagonistinnen von ihren verstörenden Erfahrungen. Neu und schockierend ist, wie Jasmin Taylor auf Grundlagen des islamisch-iranischen Rechts Bezug nimmt und sachlich erläutert, dass Frauenhass und Gräueltaten durch gezielte Gesetzgebung legitimiert sind. Zudem wird ein Vergleich zwischen der iranischen Gesetzgebung und internationalem Recht gezogen, der sehr deutlich macht, wie überlebensnotwendig konkrete Änderungen des aktuell geltenden Frauenrechts in Iran sind. Dabei deckt die Autorin bittere Wahrheiten auf und erzählt schonungslos über eine staatlich verordnete halbe Wertigkeit der iranischen Frau gegenüber dem Mann; sie berichtet über Mädchen, die ab einem Alter von neun Jahren rechtmäßig verheiratet werden, und zeigt mit weiteren Fakten die brutale Realität eines Landes auf, das die gesamte Welt mit der höchsten Zahl an Hinrichtungen von Mädchen und Frauen schockiert. Frauen in Iran werden willkürlich inhaftiert, gefoltert, vergewaltigt und hingerichtet. Dennoch ist die Islamische Republik Iran nach wie vor Mitglied der UN-Konvention, begeht dabei aber fortlaufend und ungeahndet schwerwiegende Vertragsbrüche, wie die Berichte der Vereinten Nationen oder auch die Veröffentlichungen verschiedener NGOs im Bereich Menschenrechte beweisen. Ein unfassbares Zeugnis von frauenverachtender Unterdrückung – und die Welt schaut zu.

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JASMIN TAYLOR

IM NAMEN GOTTES

Die Unterdrückung der Frauen im Iran

WIDMUNG AN KAISERIN SCHAHBANU FARAH PAHLAVI

Eine Frau von unvergleichlicher Stärke und Anmut

Ihre Majestät,

mit aufrichtiger Bewunderung und tiefem Respekt möchte ich diese Widmung in meinem Buch an Sie richten. Sie verkörpern die wahre Essenz einer Kaiserin des Herzens, einer Frau, die keine Krone und keinen Thron braucht, um ihre königliche Würde zu zeigen.

Ihr edles Wesen, Ihr außergewöhnlicher Charme und Ihre Anmut haben die Herzen unzähliger Menschen – und insbesondere die der Frauen – weltweit erobert. Durch Ihr Lebenswerk sind Sie zu einem Symbol für Stärke, Integrität und zeitlose Schönheit geworden. Doch es ist nicht allein Ihre äußere Erscheinung, die uns fasziniert, sondern auch Ihre innere Strahlkraft, Ihre Hingabe und Ihr Wille, Gutes in der Welt zu bewirken.

Sie haben die Macht des Mitgefühls und der Menschlichkeit stets gelebt. Durch Ihr Engagement für Frauen- und Kinderrechte, Bildung, Kultur und Gesundheitswesen haben Sie unzähligen Menschen die Möglichkeit gegeben, ihr volles Potenzial zu entfalten. Sie haben gezeigt, dass wahre Größe im Herzen liegt und dass eine Frau mit unerschütterlichem Willen und Einfühlungsvermögen die Welt verändern kann.

Durch Ihre Krönung am 26. Oktober 1967 haben Sie jede iranische Frau stellvertretend zur Königin gemacht. Selbst das brutalste und gnadenloseste Regime der Welt – wie das der Mullahs – kann dieses Geschenk den Frauen Irans nie mehr wegnehmen. Ihr Vermächtnis wird uns immer daran erinnern, dass wahre Führung nicht durch äußere Symbole definiert wird, sondern durch die Art und Weise, wie wir uns für andere einsetzen. Während Ihrer Regentschaft haben Sie mutige Gesetzesänderungen in unterschiedlichen Bereichen – einschließlich Ehe-, Scheidungs- und Erbrecht – erwirkt, die iranische Frauen den Männern gleichstellten. Dies führte zu einer wahren Blütezeit für die Frauen im Land, die endlich ihre Rechte und Potenziale entfalten konnten. Eine Zeit der Hoffnung und des Stolzes, die von Ihrer kraftvollen Vision geprägt wurde.

Sie sind eine Inspiration für uns alle, die wir danach streben, unsere eigenen königlichen Qualitäten zu entdecken und der Welt mit Liebe und Güte zu begegnen. Mögen alle Frauen erkennen, dass sie mit ihrer Eleganz, Intelligenz und Kraft das Potenzial besitzen, ihre Welt zu verändern.

In tiefer Dankbarkeit und mit größter Hochachtung,

Ihre Jasmin Taylor

WICHTIGER HINWEIS:

Der Islam ist keine monolithische Religion. Er vereint eine Vielzahl von Traditionen und Strömungen. Die Idee, dass Gott nicht vor 1400 Jahren sein letztes Wort gesprochen hat, wird heute von fortschrittlichen muslimischen Gelehrten und Intellektuellen unterstützt. Sie sehen den Islam als eine lebendige Religion, die beides kann: sich den Zeiten anpassen und auf die Bedürfnisse der muslimischen Gemeinschaft reagieren. Solche Gelehrten fordern eine Reform der traditionellen Auslegungen, um den Islam mit modernen Werten wie Gleichberechtigung, Menschenrechten und sozialem Fortschritt in Einklang zu bringen.

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort von Masih Alinejad

Yasamin

— Strafmündigkeit —

Nasrin

— Eherecht —

Laleh

— Sorgerecht —

Nastaran

— Erbrecht —

Narges

— Vergeltungsrecht —

Mina

— Arbeitsrecht —

Niloofar

— Familienrecht —

Aufruf

Danksagung

VORWORT

»Für mich ist der Hidschāb1 nicht nur ein kleines Stück Stoff.Wenn wir anfangen, ihn abzulegen, dann wird es die Islamische Republik nicht mehr geben.«2

Stellen Sie sich vor, Sie wachen morgen früh auf, und die Welt ist eine andere. Plötzlich dürfen Frauen in ihrem Land nicht mehr ohne Kopftuch das Haus verlassen. Ihre Körper müssen mindestens bis zu den Ellenbogen und Knöcheln bedeckt sein. Es ist ihnen untersagt, in der Öffentlichkeit zu tanzen oder zu singen, und auch das Fahrradfahren ist verboten. Um das Land zu verlassen, benötigen sie die Erlaubnis ihres Ehemannes oder eines männlichen Vormunds. Sie haben weder das Recht, Entscheidungen bezüglich ihrer Kinder zu treffen, noch ihre Meinung öffentlich zu äußern, geschweige denn eine politische Karriere einzuschlagen, um für ihre Rechte zu kämpfen. Was machen sie in solch einer Situation? Es gibt zwei Möglichkeiten: sich wortlos dem Regime zu beugen und die plötzliche, systematische Unterdrückung zu akzeptieren oder sich gegen sie aufzulehnen.

In solch einer Welt sind Iranerinnen und Iraner am 1. April 19793 aufgewacht, als Ajatollah Ruhollah Khomeini als Führer der Islamischen Revolution nach monatelangen Kämpfen das alte monarchische Regime des Schah Mohammad Reza Pahlavi stürzte. Eine neue Staatsform – die Islamische Republik – wurde geboren, und mit ihr begann ein langer Leidensweg – insbesondere für iranische Frauen, der bis heute andauert. Seit nunmehr über vier Jahrzehnten sind vor allem Frauen den Grausamkeiten des islamisch-iranischen Regimes, das auf der Scharia basiert, gnadenlos ausgeliefert.

Selbst für kleinste Vergehen wie das Verrutschen eines Kopftuchs oder das Unterstützen friedlicher Proteste werden Frauen inhaftiert, gefoltert, vergewaltigt und getötet. Fälle, in denen Väter Ehrenmorde an ihren Töchtern für vermeintlich »unsittliches« Verhalten begehen, sind an der Tagesordnung. Die bittere Realität im Iran zerstört die Schicksale von Millionen von Frauen und nimmt ihnen ihre Würde, ihre Rechte und ihre Selbstbestimmung.

Im Jahr 2020 ging der Name Romina Ashrafi4 um die Welt. Die Vierzehnjährige, die mit ihrem gut zwanzig Jahre älteren Freund von zu Hause ausriss, wurde nur wenige Tage später von ihrem eigenen Vater mit einer Sichel enthauptet. Der Vater, der sich selbst der Polizei stellte und seine Tat als Ehrenmord rechtfertigte, wurde daraufhin zu acht Jahren Haft verurteilt. Dagegen erhielt 2019 die Aktivistin Saba Kord Afshari5 vierundzwanzig Jahre Gefängnisstrafe, weil sie im Zuge der #whitewednesdays-Proteste6 ihr Kopftuch abgelegt hatte.

Dies ist nur ein markantes Beispiel für die verheerende Ungerechtigkeit und Unterdrückung der weiblichen Bevölkerung Irans, das stellvertretend für Millionen tragische Frauengeschichten steht, die namentlich unerwähnt bleiben. Dabei tragen sie alle Namen, sind Töchter, Schwestern, Mütter und Ehefrauen. Sie haben Träume und ein Geburtsrecht auf ein selbstbestimmtes Leben. Manche von ihnen sind mutig genug, auf die Straße zu gehen und ihre Stimme zu erheben sowie ihr Haar als Symbol für Freiheit zu zeigen. Viele werden einen hohen Preis dafür zahlen. Wie auch die zweiundzwanzigjährige Jina Mahsa Amini, deren Tod im September 2022 unter dem Slogan Zan, Zendegi, Azadî (dt. Frau, Leben, Freiheit) die größte von Frauen angeführte Revolution Irans und anschließend weltweit auslöste.

Dieses Buch ist den zutiefst bewegenden Geschichten iranischer Frauen gewidmet, stellvertretend für über 40 Millionen Iranerinnen, deren Geschichten vielleicht nie erzählt werden. Die sachliche Erläuterung zeigt, wie Frauenfeindlichkeit und Gräueltaten unter dem Mullah-Regime durch gezielte Gesetzgebung legitimiert werden. Der Vergleich zwischen iranischem und internationalem Recht verdeutlicht dabei die Unmöglichkeit diplomatischer Beziehungen zu solch einem Staat. Das Buch demonstriert in seinen bewegenden Fallbeispielen die staatlich verordnete Abwertung der iranischen Frauen, die maximal halb so viel wie Männer gelten. Es schockiert mit Berichten von Mädchen, die schon ab einem Alter von neun Jahren legal verheiratet werden, und enthüllt anhand von Fakten die brutale Realität eines Landes, das die Menschheit mit der höchsten Anzahl an Hinrichtungen von Mädchen und Frauen weltweit erschüttert. Dabei bleibt die Frage: Wie viele sinnlose Todesopfer müssen wir noch bringen, bis die Welt endlich hinsieht und tätig wird? Wie viele Namen müssen noch ungesehen von dieser Welt verschwinden, bevor internationale Diplomaten aufhören, freundlich die blutbefleckten Hände von iranischen Regierungsvertretern zu schütteln?

Historisch gesehen sind Iranerinnen und Iraner für ihren bedeutenden Beitrag zu Musik, Kultur und Toleranz weltweit bekannt. Was mit der großen Kulturnation Persiens unter der »Geiselhaft« des Mullah-Regimes geschieht, gehört zu den verheerenden Tragödien der Weltgeschichte. Die Europäische Union (EU) sollte umgehend ihre diplomatischen Beziehungen zum Iran auf ein Mindestmaß reduzieren und iranische Diplomaten ausweisen. Der Druck auf Irans kaltblütige Regierung muss endlich von außen erhöht und ihr Einfluss eingeschränkt werden.

Die Islamische Republik beherrscht jedoch die derzeitige politische Situation, bedroht den Frieden in der Welt und schürt Feindseligkeiten durch den Export von Terrorismus. Angesichts dessen wird es höchste Zeit, dass die iranischen Revolutionsgarden endlich als terroristische Organisationen eingestuft werden. Diese stark besetzte Miliz mit rund 210 000 Mitgliedern ist für terroristische Aktivitäten sowohl im Iran als auch im Ausland verantwortlich und gilt als eine der mächtigsten Waffen der Mullah-Regierung. Obwohl bereits von den USA als Terrororganisation eingestuft, bleibt die EU untätig. Doch gerade ein solch starkes Bündnis wie die EU sollte nicht zögern, die Revolutionsgarden auf ihre Liste der terroristischen Organisationen zu setzen. Geschieht dies nicht, wird die EU den Export des radikalen Extremismus aus der Islamischen Republik in andere Länder weiterhin ungehindert zulassen. Daher muss auch die EU handeln und die notwendigen Schritte unternehmen, um den internationalen Einfluss und die Aktivitäten der Revolutionsgarden einzuschränken. Nur durch solch entschlossenes Vorgehen kann die EU ihre Verpflichtung zum Schutz des Friedens, zur Bewahrung ihrer eigenen Werte sowie zur Bekämpfung des Terrorismus erfüllen. Nur dann haben iranische Frauen eine echte Chance, den Kampf für ihre Freiheit für sich zu gewinnen.

Masih Alinejad,

iranisch-amerikanische, mehrfach preisgekrönte Journalistin, Aktivistin und Frauenrechtlerin

1Hidschāb, Hidschab oder Hijab – arabischer Begriff für Tuch, Schleier, Hülle.

2»Call to action« – Masih Alinejad, veröffentlicht am 11.07.2022, URL: www.mystealthyfreedom.org/topics/news/white-wednesdays/, Stand: 28.07.2023.

3Islamische Revolution: Wikipedia vom 09.03.2023, URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Islamische_Revolution, Stand: 17.05.2023.

4»Der Ehrenmord, der Rechtsgeschichte schreiben könnte« – Baumstieger, Moritz, 28.05.2020, URL: www.sueddeutsche.de/panorama/iran-ehrenmord-romina-ashrafi-1.4921134, Stand: 17.05.2023.

5»Nach Ablegen des Kopftuchs in der Öffentlichkeit zu 24 Jahren Gefängnis verurteilt« – Saba Kord Afshari, veröffentlicht im Juni 2022, URL: www.igfm.de/saba-kord-afshari, Stand: 28.07.2023.

6#whitewednesdays-Bewegung: Von Masih Alinejad im Jahr 2017 ins Leben gerufene, regelmäßige Protestbewegung, bei der Iranerinnen und Iraner dazu angehalten sind, als Zeichen gegen die Diskriminierung und Unterdrückung im Iran etwas Weißes zu tragen.

STRAFMÜNDIGKEIT

YASAMIN

Es war der alles verändernde 16. September 2022. An diesem wunderschönen warmen Spätsommernachmittag saß ich zusammen mit meiner Schwester im Gartenpavillon meines Hauses. Wie so oft genossen wir gemeinsam die tief stehende Sonne, die laue Luft und eines unserer liebsten persischen Sommergetränke: Sharbat-e Khakshir Nabat. Es war gegen 17 Uhr, als meine Schwester vorschlug, am Wochenende eine Ausstellung zu besuchen. Wir liebten es, uns an freien Tagen die Zeit mit Kulturveranstaltungen zu vertreiben. An jenem Freitag liefen im Hintergrund einige Stücke von Mozart und Beethoven. Klassische Musik hatte immer schon eine beruhigende Wirkung auf mein temperamentvolles Gemüt. Ich griff zum Telefon, um nach interessanten Veranstaltungen zu schauen. Doch zum Tippen kam es nicht mehr. Im Schlagzeilen-Widget des Smartphones fiel mir die Überschrift eines SPIEGEL-Artikels7auf, der soeben erschienen war: »Frau stirbt nach Festnahme durch Irans Sittenpolizei«. Es war die Geschichte der jungen Iranerin Jina Mahsa Amini, die nur wenige Tage später die weltweite, feministische Revolution unter dem politischen Slogan Frau, Leben, Freiheit gegen das iranische Regime und die Unterdrückung dort lebender Frauen auslösen sollte. Und auch meine Welt brachte sie von einer Sekunde auf die nächste ins Wanken. In meinem Kopf drehte sich alles, plötzlich nahm ich weder die Musik noch das Vogelgezwitscher oder die fröhlichen Plaudereien meiner Schwester wahr. Stattdessen hörte ich mich leise flüstern: »Es wiederholt sich. Alles wiederholt sich.«

Meine Schwester, die noch immer fröhlich von der Ausstellung erzählte, brach ihren Monolog mitten im Satz ab und schaute mich fragend an.

»Was sagst du da? Was wiederholt sich?«

Ich las die Zeilen des Artikels immer und immer wieder: »… von der Polizei in Gewahrsam genommen … fiel sie ins Koma … die strengen iranischen Hijab-Vorschriften … junge iranische Frau gestorben.« Meine Augen sprangen unruhig von einem Wortfetzen zum nächsten, mein Herz schlug bis zum Hals, und meine Handflächen wurden klitschnass. Tränen liefen über meine glühend heißen Wagen, und in diesem Augenblick wurde mir klar, dass ich nicht mehr schweigen würde. Beinahe exakt dieselbe Geschichte war auch mir passiert, vor rund vierzig Jahren im Iran. Mit dem Unterschied, dass ich noch lebe. Aber das Verheerende daran war, dass ich trotz meines eigenen sowie zahlreicher ähnlich tragischer Frauenschicksale aus meinem Heimatland nie außerhalb meines engsten Kreises darüber gesprochen habe. Bis zum 16. September 2022.

Von diesem Tag an war Wegschauen für mich keine Option mehr. Seit 1979 erleben iranische Frauen bis heute mit unveränderter, brutaler Härte und Ungerechtigkeit die Folgen der Islamischen Revolution.

Mein Name ist Yasamin. Ich wurde 1966 in Teheran, in der Nähe des Amjadiyeh-Stadions, geboren. In meiner Jugend – Mitte der Achtzigerjahre – bin ich während des Ersten Golfkriegs nach Deutschland geflüchtet. Bis zur Revolution 1979, unter der Führung von Ajatollah Khomeini, verbrachte ich eine glückliche Kindheit im Iran. Meinen Vater sah ich allerdings nur selten, denn er arbeitete in seinem Atelier und war über die Stadtgrenzen Teherans hinaus für seine exquisiten, maßgeschneiderten Anzüge bekannt. Er entwarf die schönsten Stoffe und Schnitte und konnte mit bloßem Auge die Maße eines Mannes nehmen. Seine Kunden kamen aus gehobenen Gesellschaftskreisen und bewunderten sein Talent. Heute würde man sagen, seine Kreationen waren ein Must-have. In unserem Haus war es meine Mutter, die alle Fäden in der Hand hielt und zusammenführte. Sie heißt Khorshid, was so viel bedeutet wie Sonnenschein. Und so war sie auch. Ihr ganzes Wesen strahlte Kraft und Liebe aus. Durch nichts war sie aus der Fassung zu bringen und organisierte mit Gelassenheit unseren Alltag. Zu diesem gehörten neben meinem Vater und mir auch meine Geschwister und meine Großeltern. Es ging bei uns also immer lebhaft, geschäftig und fröhlich zu.

Am meisten vermisse ich die gemeinsamen Nachmittage, die wir in unserem kleinen Garten verbrachten. Den süßen, zarten Duft weißer Jasminblüten. Die prächtigen Rosen, die zu jeder Tageszeit anders rochen, und unseren Weinstock samt den großen, grünen Trauben. Jede der Jahreszeiten hatte ihre eigenen Farben. Die Gartenkultur hat in Persien eine lange Tradition und reicht bis zur Dynastie der Achämeniden zurück. Für mich war unser Garten etwas ganz Besonderes. Um seinen kleinen Brunnen herum standen Bänke mit persischen Teppichen, Decken und Kissen. Hier saßen wir an warmen Frühlings- und Sommernachmittagen stundenlang zusammen, aßen süßeste Wassermelonen, alberten herum und erzählten uns Geschichten. Wir liebten diese Art von Geselligkeit. Meine Mutter bereitete für uns oft Sharbat-e Khakshir Nabat zu, ein persisches Erfrischungsgetränk mit Minze, Sophienkrautsamen, frischem Zitronensaft, Rosenwasser und Eiswürfeln. Die leichten, gelben Sophienkrautsamen sammelten sich dabei unten im Glas, und wenn man umrührte, wirbelten sie herum und tänzelten goldschimmernd anmutig nach oben. Wenn ich daran zurückdenke, schmecke ich immer noch die Honigsüße auf den Lippen und fühle die prickelnde Frische des Getränks meinen Körper durchfließen.

Eines Nachmittags – daran erinnere ich mich noch sehr gut – saßen wir im Garten, und meine Mutter trug ein Gedicht von Fariduddin Attar vor. Gebannt hingen meine Schwestern an ihren Lippen. Wir liebten die Poesie dieses persischen Dichters und Mystikers. In dem Gedicht ging es um einen König, der in der größten Freude zugleich an all das Leid in seinem Königreich erinnert werden wollte und in Zeiten des schlimmsten Kummers an das erlösende Glück. Seine weisen Berater ließen ihm daraufhin einen Ring schmieden, auf dem stand: »Auch dies wird vorübergehen!«

In unserer geselligen Runde brach große Aufregung aus. Azita und Azadeh, meine beiden jüngeren Schwestern, tauschten sich eifrig darüber aus, was wohl auf ihrem Ring stehen könnte, und versuchten sich mit ihren Antworten zu übertrumpfen. Sie neckten sich gegenseitig und brachten damit die ganze Runde zum Lachen. Doch ich war still. An diesem Tag konnte ich die Euphorie meiner Schwestern nicht teilen. Ich nutzte die Zeit im Garten oft, um an meinen Aufsätzen für die Schule zu schreiben. Der Blick meiner Mutter ruhte lächelnd auf mir:

»Yasamin, du bist so still. Wo sind deine Gedanken? Noch bei deinem Aufsatz? Magst du uns darüber erzählen?«

»Ich bin gerade damit fertig geworden, und das Thema lässt mich nicht los.« Alle schauten mich erwartungsvoll an. »Unsere Lehrerin hat uns gebeten, darüber zu schreiben, was besser sei, Reichtum oder Bildung.«

Azita war immer noch aufgeregt, wippte fröhlich auf der Bank und rief aus: »Natürlich hast du dich für Bildung entschieden!«

Ich musste schmunzeln, fast alle in meiner Klasse hatten sich vorgenommen, über Bildung zu schreiben. »Klar, was du lernst, behältst du für immer. Wissen ist dein wichtigstes Kapital, du trägst es mit dir, und niemand kann es dir nehmen. Aber Reichtum gehört nicht dir allein, sondern ist immer auch von anderen Faktoren abhängig. In der Wirtschaft können viele Dinge passieren. Reichtum ist fremdgesteuert, und du läufst stets Gefahr, alles zu verlieren. Bildung gehört ausschließlich dir. Du kannst sie für alles einsetzen, teilen – was du willst. ›Seinen Geist frei zu entfalten, ist ein wahres Glück‹! Das ist ein ganz anderes Gefühl von Dasein.«

Damit hatte ich ein angeregtes Gespräch angestoßen. Azita fand noch viele Gründe, warum Bildung wichtig war, und Azadeh, meine jüngere Schwester, überschlug sich fast beim Aufzählen aller Dinge, die sie noch lernen wollte. So saßen wir noch einige Zeit da, bis die tief stehende Sonne unseren Garten in ein warmes, dunkelorangenes Licht tauchte, und leise die Dämmerung hereinbrach.

Am nächsten Tag in der Schule konnte ich im Unterricht noch einige sehr gelungene Aufsätze von meinen Mitschülern hören. Besonders schön fand ich den Aufsatz von Omid mit der Überschrift: »Durch starkes Denken kann man ein Kamel zu Fall bringen«. Das sorgte für allgemeine Erheiterung. Omid war der Sohn unseres Hausmeisters und mein guter Freund. Mit seiner Familie wohnte er in einer kleinen Hausmeisterwohnung in der Schule. Nach dem Unterricht half er noch seinem Vater, alle Klassenzimmer sauber zu machen. Dabei war er immer bescheiden und hat nie darüber gesprochen. Ich habe es nur zufällig mitbekommen. Trotzdem war er gut in der Schule und fleißig. Das bewunderte ich. Ab und zu nahm Omid mich mit zu sich nach Hause. Seine Familie war ausgesprochen gastfreundlich. Immer wenn ich die Wohnung betrat, duftete es köstlich. Seine Mutter konnte ausgezeichnet kochen, und ich durfte jedes Mal mitessen.

Auch mit meiner Freundin Soraya verbrachte ich viel Zeit. Sie war ein fröhliches Mädchen und immer toll angezogen. Ich sehe sie noch vor mir, in ihrem kurzen, violetten Rock, passender Bluse und einer kleinen, schicken Handtasche. Wir waren oft bei ihr, und wenn ihre Eltern arbeiteten, haben wir die Musik immer ganz laut aufgedreht. Meistens hörten wir Googoosh. Die iranische Interpretin war sehr bekannt für ihre schwungvollen und lebensfrohen Popsongs. Sie war auch die Lieblingssängerin meines Vaters, weshalb ihre Musik auch oft bei uns zu Hause lief. Ich konnte jedes Wort ihrer Lieder mitsingen und wenn ich bei meiner Freundin war, tanzten wir ausgelassen dazu.

Sorayas Mutter war eine attraktive Frau. Sie sah aus, als wäre sie gerade dem Frauenmagazin Zan-e Rooz entsprungen. Aber am faszinierendsten waren ihre wunderschönen Kleider und High Heels. Wir probierten sie oft an, träumten davon, so auszusehen wie sie, und hatten die beste Zeit unseres Lebens.

Diese Bilder eines unbeschwerten Lebens in Teheran gibt es nur noch in meinem Kopf. Die Rückkehr von Ajatollah Khomeini in den Iran änderte alles; mein gesamtes Leben, das meiner Familie und das von Millionen anderer Iranerinnen und Iraner. Teherans Straßen waren plötzlich voller Menschen. Linke Gruppierungen, insbesondere die Mojahedin-e-Khalq, die schon in den Sechzigerjahren Widerstand gegen den Schah geleistet hatten und militärisch gut ausgebildet waren, zogen triumphierend und euphorisch durch die Stadt, mit dem Ziel, gemeinsam mit dem schiitischen Klerus eine neue Regierung zu bilden. Einige sahen sogar hoffnungsvoll einer marxistischen Regierung entgegen. Doch alle lagen falsch.

Schnell bildete Khomeini mithilfe des demokratisch orientierten, islamischen Ingenieurs Mehdī Bāzārgān eine Revolutionsregierung. Am 1. April 1979 wurde dann die Islamische Republik ausgerufen, und wenig später trat die iranisch-islamische Verfassung auf Grundlage der Zwölfer-Schia und der Welāyat-e Faqih (die Statthalterschaft des Rechtsgelehrten) in Kraft. Dass es sich hierbei um eine Theokratie handelte, belegten die Artikel 12 und 56 der Verfassung der Islamischen Republik. So heißt es dort, dass der Islam nach der dschafaritischen, d. h. der zwölfer-schiitischen Richtung, als niemals veränderbare Religion des iranischen Staats festgeschrieben ist. Außerdem geht die Souveränität nicht vom iranischen Volk aus, sondern von Gott und seinen Stellvertretern auf der Erde. Um die neue Verfassung zu schützen, formierte Khomeini die Sepāh-e Pāsdārān-e Enghelāb-e Eslāmi, die Iranische Revolutionsgarde, eine paramilitärische Einheit, die innerhalb kürzester Zeit zum wichtigsten militärischen, politischen und wirtschaftlichen Akteur im Iran aufstieg und jeglichen Widerstand brutal niederschlug. Die Stimmung war bedrohlich aufgeladen, explosiv, gleich einer Lunte, die am Pulverfass lag und brannte.

Ich erlebte die Revolutionszeit wie ein Feuer, das außer Kontrolle geriet. Jeden Tag, wenn mein Vater die Zeitung aufschlug, sah er die Bilder all der ermordeten Menschen – Oppositionelle, Systemkritiker, Menschen, die nicht dem islamischen Erscheinungsbild entsprachen. Fast täglich erkannte er auf den Fotos einen seiner Freunde, Kunden oder Bekannten wieder. Und mit jedem Tag wurden es mehr. Es waren Menschen wie der Arzt Bahram Moradi, der seine Anzüge bei meinem Vater schneidern ließ und sich bisweilen bei den Anproben mit ihm in angeregte Gespräche über seine medizinische Forschung vertieft hatte, oder der Jurist Arash Hanifnejad, ein enger Freund meines Vaters, ein Lebemann, einer, der immer ein heiteres Wort auf den Lippen hatte. Es zog meinem Vater den Boden unter den Füßen weg. Ich konnte zusehen, wie er sich immer mehr isolierte. In hilfloser Verzweiflung blätterte er die Zeitungen durch, wartete beinahe zwanghaft auf die Nachrichten, um zu hören, wer diesmal hingerichtet worden war. Das Leben meines Vaters ist mit der Revolution zu Ende gegangen. Er verkaufte sein Atelier, schloss sich in seinem Zimmer ein und hörte den ganzen Tag traurige Musik, wie dieses eine Lied von Marzieh, Taghatam Deh. Die Stimme der Sängerin und die Geigen durchdrangen unser Haus wie ein lautes Wehklagen. Dabei schnürte mir der Text die Kehle zu: »Ich wiege mich auf der Welle der Traurigkeit, in der Fata Morgana des Scheiterns – Gott der Armseligen, gib mir Geduld, gib mir Geduld!«

Es war, als legte sich ein schwarzer, alles erstickender Schleier nicht nur über unser Haus, sondern über die ganze Stadt. Wenn wir nach draußen wollten, mussten wir uns vermummen. Ich hasste es, diese schweren, dunklen Mäntel und langen Hosen zu tragen. Obendrein verdeckte der Hijab jeden Hinweis auf meine gerade erblühende Weiblichkeit. Nun war es Pflicht, diese Uniform außerhalb des Hauses und in der Schule zu tragen. Manche verhüllten sich zusätzlich sogar noch mit einem schwarzen Schleier. Und wehe dir, dein Tschador, Hijab, deine ganze Schuluniform saß nicht perfekt! Jeden Morgen stand ich in der Eiseskälte penibel genau eingereiht mit allen Kindern zusammen auf dem Schulhof. Die schwarz gekleideten, boshaften Vetteln, die uns im Unterricht unerbittlich den Koran lesen ließen und den Islam lehrten, kontrollierten die Kleidung jeder Einzelnen von uns. Zusätzlich mussten wir unsere Hände zeigen. War auch nur ein Haar unter dem Hijab zu sehen oder ein Hinweis auf Kosmetik, nahmen sie dich mit und bestraften dich. Abscheulich, erniedrigend.

»Yasamin, was hast du da auf deinen Fingernägeln?«

Es lief mir eiskalt den Rücken hinunter. Meine Cousine war gestern zu Besuch gewesen, und wir hatten weltvergessen diesen wunderschönen rosa Nagellack ausprobiert.

»Ich habe dich etwas gefragt! Was hast du kleine Schlampe da auf deinen Fingernägeln?«

Wie erstarrt stand ich vor der verschleierten Frau. Alles zog sich in mir zusammen. All diese furchtbaren Ausdrücke. Ich verstand nicht, warum ich keine schönen Sachen mehr tragen durfte. Mir war unbegreiflich, was daran so schlimm war. Die Vettel zog mich aus der Reihe meiner Mitschülerinnen und ließ mich meine Arme nach vorn ausstrecken. Vor lauter Scham konnte ich niemanden ansehen und starrte auf meine Füße. Sie zog einen Stock hervor. Ich zuckte zusammen. Dann schlug sie auf meine Hände. Der Schmerz durchfuhr mich bis ins Knochenmark. Sie schlug erbarmungslos zu, immer wieder und mit jedem Mal stärker.

»Dein Nagellack wird schon noch abgehen!«

Ich weiß nicht, wie viele Schläge es waren, die auf meine Finger niederprasselten. Das Blut floss in Strömen. Bis heute sehe ich die Narben auf meinen Händen.

So fühlte es sich also an, wenn du in der Islamischen Republik unterrichtet wurdest. Die Vetteln und ihre Stellvertreter kannten bei Verstößen gegen ihre religiöse Weltanschauung keine Gnade. Kritisches Denken war verboten. Nach und nach verlor ich jegliche Freude am Schulunterricht. Es ging nur darum, die arabische Sprache zu lernen und jahrtausendealten Erzählungen über Heilige zu lauschen und den Koran auswendig zu lernen. Ich gab mir keine Mühe mehr mit Aufsätzen und hörte auf, Fragen zu stellen. Stattdessen lernte ich fortan, züchtig vermummt meinen Mund zu halten und während des endlosen Lesens der Texte meine Gedanken heimlich schweifen zu lassen.

Meine Freundin Soraya ließ sich nicht brechen, sie konnte ihren Geist nicht vor der Ungerechtigkeit dieser neuen Welt verschließen. Sie verteilte regelmäßig Flyer, führte politische Diskussionen und versuchte mich zu überreden, sie dabei zu unterstützen. Man musste doch irgendetwas tun! Ich bewunderte ihren Heldenmut und ihre Begeisterung für politische Aktionen, die sie zusammen mit anderen Mitschülerinnen und Studentinnen organisierte. Der möglichen furchtbaren Konsequenzen war ich mir sehr bewusst. Khomeini ging gegen jegliches Engagement gegen das islamische Regime mit brutaler Gewalt vor. Ob politische Reden, bloßes Flyerverteilen oder das Lesen verbotener Bücher, das Regime handelte erbarmungslos und bestrafte mit Verhaftung, Folter, Vergewaltigung und sogar Hinrichtung. Meine Mutter war stets in großer Sorge und bestand eindringlich darauf, dass ich mich von politischem Engagement und all den Dingen, die sich gegen das Regime richteten, fernhielt. Wenn ich mich auch nur um zehn Minuten verspätete, stand sie schon auf der Straße und wartete auf mich.

An diesem einen Nachmittag saß ich vor dem Schulgebäude auf einer Treppe, machte meine Hausaufgaben und wartete auf Soraya. Sie war noch in der Schule und unterhielt sich mit einer Mitschülerin über ihre anstehende Prüfung. Ich war gerade fertig mit meinen Hausaufgaben, als sie endlich herauskam. Sie lockerte ihren Hijab und sah mich fröhlich an. Ich tat es ihr nach:

»Komm, lass uns aufbrechen!«

Wir gingen immer einen Großteil unseres Schulwegs zusammen. Vertieft ins Gespräch überquerten wir die Straße vor der Schule, als plötzlich ein Auto direkt vor uns abrupt bremste. Die Türen sprangen auf, und mehrere schwarz verschleierte Frauen stiegen aus. Schnellen Schrittes eilten sie auf uns zu, packten Soraya und mich und zerrten uns ins Auto. Sie hielten uns an den Armen fest, pressten uns auf die Rücksitze des Fahrzeugs und fragten, warum wir wie Nutten aussahen und den Hijab nicht anständig trugen. Soraya sah mich erschrocken an und tastete am Bund ihres Hijab. Die vermummten Frauen beschimpften uns wüst: Wir kleinen Schlampen hätten absichtlich unser Haar gezeigt. Wir hätten auf diese Weise versucht, Männer zu verführen. Ich wusste weder, was verwerflich daran war, wie ich meinen Hijab trug, noch, was eine Schlampe überhaupt war. Auch hatte ich keine Ahnung, wen wir hätten verführen sollen. Sie sagten, wir seien schlecht erzogen und verkommen. Dafür sollten wir bestraft werden. Sie durchwühlten unsere Schultaschen, jedes einzelne Heft, und suchten krampfhaft nach irgendetwas. Plötzlich rief eine der Frauen mit Sorayas Tasche in der Hand:

»Da haben wir es ja! Was ist das?«

Soraya schrie auf, versuchte sich aus dem festen Griff zu befreien. Fassungslos starrte ich auf die vielen kleinen Zettel, die die Frau in der Hand hielt. »Freiheit und Demokratie!« stand in Sorayas säuberlicher Schrift darauf.

»Wem gehören die? Von wem habt ihr die?«

Eine der Frauen schüttelte mich. Soraya presste die Lippen aufeinander und sah mich verzweifelt an. Da schlug ihr eine andere ins Gesicht und bespuckte sie. Ich spürte nur grenzenlose Angst und Panik. Sie werden uns ins Gefängnis bringen, ganz bestimmt. Das war’s! Was werden nur meine Eltern sagen? Was sollten sie von mir denken, dass ich nun, wie eine Kriminelle, auf dem Weg ins Gefängnis war? Langsam wurde mir klar, wo ich hineingeraten war. Ich fing an, fürchterlich zu weinen, und konnte mich nicht mehr beruhigen. Meine Mutter brauchte meine Hilfe. Wie sollte sie sich allein um meine kleinen Geschwister, Großeltern und meinen kranken Vater kümmern? Verzweifelt griff ich nach der Hand einer der Frauen:

»Bitte, bitte, bringen Sie uns nicht ins Gefängnis! Bitte nicht! Wir haben nichts getan! Wir waren doch nur aus der Schule auf dem Weg nach Hause!«

Ich spürte einen Schlag ins Gesicht, dann in die Seite. Stechender Schmerz durchfuhr mich. Zusammengekrümmt bettelte ich weiter. Vergeblich. Das Auto hielt. Die Frauen zerrten so lange an uns, bis wir ausstiegen. Bewaffnete Männer in Uniform kamen auf uns zu und führten uns ins Innere des Gefängnisses. Erst nahm man unsere Personalien auf, dann wurden wir voneinander getrennt. An diesem Tag sah ich Soraya zum letzten Mal.

Stundenlang verhörten sie mich, unterstellten mir unglaubliche Dinge, drohten mir und versuchten, etwas herauszufinden, was ich nicht getan hatte. Wie sollte ich hier nur wieder herauskommen?

»Wir bringen dich jetzt in eine Zelle. Du musst warten, bis du wieder dran bist.«

Die uniformierten Männer musterten mich. Ihre Blicke waren unangenehm, sie schienen jeden Zentimeter meines Körpers abzutasten. Einer von ihnen schnalzte mit der Zunge, stieß mich unsanft in die Seite und sagte:

»Beweg dich, du kleine Hure!«

Sie führten mich durch einen langen, dunklen Korridor mit schmutzigen, weißen Kacheln an der Wand. Das Flackern der Neonröhren blendete mich und beschleunigte meinen Herzschlag. Oder war es die Angst, die meinen ganzen Körper durchströmte? Ich nahm verstörende Geräusche und Schreie wahr, die immer lauter wurden, während wir den Korridor entlangliefen. Waren das etwa alles unschuldige Menschen, die sie hier festhielten, so wie Soraya und ich? Oder waren es Kriminelle, Mörder, und sie steckten mich zu ihnen, lieferten mich aus? Ich fühlte mich wie eine Schwerverbrecherin. In Gedanken sah ich das verzweifelte Gesicht meiner Mutter, wenn sie erfahren würde, wo ich war. Und Soraya? Was war ihr nur zugestoßen? Warum hatte man sie von mir weggebracht? Wo war sie jetzt? Wie hart würde sie für ihre Flyer bestraft werden?

Ich begann zu zittern. Die Griffe der uniformierten Männer, die mich durch den schmalen Gang führten, wurden fester. Schauer liefen mir über den Rücken. Und dann kamen wir vor der Gefängniszelle an. Ich wandte mich hilfesuchend an einen der Wärter:

»Können Sie nicht meine Mutter anrufen? Ganz bestimmt habe ich nichts Böses vorgehabt! Es wird sich alles aufklären!«

Er befahl mir barsch, meinen Mund zu halten, zog klirrend einen Schlüsselbund aus seiner Uniformtasche, entriegelte erst die Tür und schloss sie dann auf. Ich blickte in einen kleinen Raum und sah unzählige Mädchen und Frauen dicht an dicht gedrängt. Der Wärter stieß mich in die Zelle. Die Tür fiel ins Schloss und wurde von außen wieder verriegelt.

Der Raum hatte keine Fenster, und in der Dunkelheit konnte ich zunächst nichts erkennen. Ich fühlte mich wie in einem großen schwarzen Grab. Sollte mein junges Leben so enden? Nur ein kleiner Lichtstrahl bahnte sich von irgendwoher den Weg durch die Dunkelheit. Es war heiß und stickig und es roch nach Schweiß, der sich mit einem beißenden anderen Geruch vermischte. So eng war es in der Zelle, dass ich die Körper der anderen an meinem spüren konnte. Die meisten saßen dicht gedrängt auf dem Boden. Weiter hinten konnte ich wenige Betten erkennen, die gerade einmal für eine Handvoll Menschen reichten. Eine Frau neben mir redete mit sich selbst. Eine andere weiter hinten schrie fürchterlich. Ich weiß nicht, ob aus Verzweiflung oder vor Schmerz. Ich ließ mich auf den Boden gleiten und verbrachte die erste Nacht schlaflos zusammengekauert.

Eine ganze Woche musste ich in der Zelle zusammen mit all den fremden Menschen verbringen. Wieder und wieder holte man mich zu endlosen Verhören, wo man versuchte, mir ein Geständnis darüber abzuringen, dass ich in die Sache mit den Flyern verwickelt war, die Soraya in ihrer Tasche hatte. Dabei wendeten sie die entsetzlichsten Foltermethoden an.

Niemals werde ich diese eine vergessen: Ich wurde in einen kahlen Raum geführt mit nur einem Stuhl, an den ich gefesselt wurde. Mein Blick fiel auf das unscheinbare Regal an der Wand. Zugeschnürte Plastikbeutel lagen darin. Irgendetwas Dunkles bewegte sich sehr schnell darin. Bei genauerem Hinsehen konnte ich viele kleine schwarze Insekten erkennen. Ekel stieg in mir auf. Zwei vermummte Frauen kamen mit vier Beuteln auf mich zu. Jetzt wurde mir klar, sie waren voller riesiger Kakerlaken! Die Frauen packten mich an Armen und Beinen, öffneten die Beutel, zwängten meine Hände und Füße hinein und schnürten sie mit Klebeband fest zu. Das Kribbeln zog sich von meinen Finger- und Zehenspitzen durch den ganzen Körper und ließ das Blut in meinen Adern gefrieren. Es fühlte sich an, als wären die Tiere überall. Ich schüttelte mich, musste würgen. Irgendwann, nach einer halben Ewigkeit, ließen sie von mir ab.

Am letzten Tag meiner Gefangenschaft verkündeten sie dann die Strafe für mein Fehlverhalten: siebzig Peitschenhiebe. Man brachte mich in einen Raum im Keller des Gefängnisses. Ich musste noch einige Zeit vor dem Verlies warten, bis ich an der Reihe war. Markerschütternde Schreie drangen heraus, Weinen und Flehen und dann nur noch laute, dumpfe Schläge. Grauen packte mich. Ich weiß nicht, wie lange ich vor dem Raum saß und wartete. Dann ging die Tür auf. Zwei Wärter schleiften einen Körper heraus, leblos und voller offener Wunden. Ich schloss die Augen, versuchte das Gesehene mit aller Gewalt aus meinem Kopf zu bekommen und presste meinen Rücken an die Wand, als könnte ich darin verschwinden. Aber es gab kein Entkommen.

Zwei verschleierte Frauen griffen nach meinen Armen und zerrten mich in den Folterraum. Am Boden sah ich frische Blutflecken. Ich dachte: »Das werde ich nicht überleben! Sie bringen mich um.« In der Mitte lag ein Stück Pappe, ebenfalls voller Blut. Ich wurde aufgefordert, mich darauf zu legen. Mit einem Kabel in der Hand kam eine der Frauen langsam auf mich zu und rollte es aus. Ich wehrte mich nicht mehr, sondern wusste, ich war diesen Ungeheuern hilflos ausgeliefert. Die Zeile des Lieds Taghatam Deh, das mein Vater immer gehört hatte, waberte durch meinen Kopf: »Gott der Armseligen, gib mir Geduld, gib mir Geduld!« Der erste Peitschenhieb ging auf mich nieder. Ich biss mir auf die Zunge und versuchte den Schmerz hinunterzuschlucken. Ein zweiter Hieb. Ich schrie. Mit voller Wucht ein dritter. »Gott der Armseligen, gib mir Geduld, gib mir Geduld!« Und weiter und weiter. Sie schlugen mir die Haut vom Leib. Ich krümmte mich vor Schmerzen. Als es endlich vorbei war, öffneten sie die Tür, und ich schleppte mich hinaus.

In einem kleinen Büro im Ausgangsbereich des Gefängnisses saß meine Mutter und wartete auf mich. Ich traute meinen Augen kaum, als ich sie erblickte. Hatte ich doch in der ganzen vergangenen Woche nicht mehr daran geglaubt, dass mein Martyrium je ein Ende finden würde. Ich ließ mich in ihre Arme sinken und konnte nicht aufhören zu weinen. Unterdessen machte ein Strafvollzugsbeamter meine Papiere fertig und verlangte von meiner Mutter und von einem Mann, den ich nicht kannte, sie zu unterschreiben. Es handelte sich um eine Bürgschaft darüber, dass ich von nun an meinen Hijab immer ordnungsgemäß tragen und mir niemals wieder etwas zuschulden kommen lassen würde. Der Beamte betonte außerdem, man würde mich beim kleinsten Verstoß gegen die Grundsätze des islamischen Regimes wieder inhaftieren. Meine Mutter und der Unbekannte mussten außerdem zahlreiche Belehrungen, einschüchternde Drohungen und rabiate Beschimpfungen wegen meines Verhaltens über sich ergehen lassen. Meiner Mutter stand das Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Erst auf dem Heimweg erfuhr ich, wer der Begleiter war. Es handelte sich um einen Freund meines Vaters. Er hatte sich unermüdlich dafür eingesetzt, meine Unschuld zu beweisen. Wäre er nicht gewesen, nur Gott weiß, wie es ausgegangen wäre. Ich betete für Soraya und für ein Wunder, das sie aus der Gefangenschaft erlösen würde. Meine Mutter und der Freund meines Vaters konnten nichts für sie tun.

In den nächsten Wochen versuchte ich alles zu verdrängen und mich in eine Normalität zu flüchten, die es jedoch seit Beginn des Ersten Golfkriegs nicht mehr gab. Am 22. September 1980 hatte der irakische Diktator Saddam Hussein fünf iranische Städte und Flughäfen, darunter Teheran, bombardieren lassen. 100 000 irakische Soldaten mit 1500 Panzern hatten zur gleichen Zeit die Grenze zum Iran überquert und waren in die Provinz Chuzestan eingefallen. Was als Blitzkrieg geplant war, endete in einem acht Jahre andauernden Gemetzel, das auf beiden Seiten über 1 Million Menschen das Leben kostete. Die Bombeneinschläge in Teheran waren überall zu hören. Ganz in der Nähe unseres Hauses lag eine Militärbasis, die permanent bombardiert wurde. Wir hatten alle Fenster- und Türrahmen mit Klebeband fixiert, damit das Glas von den Druckwellen nicht zersplitterte. Wenn die Sirenen losgingen, eilten wir die Stufen zu unserem Keller hinab. Er war mit Regalen vollgestellt, feucht und voller Spinnen. Bei ohrenbetäubendem Lärm saßen wir dann dicht aneinandergekauert. Meine Schwester Azita fing immer an, fürchterlich zu zittern, verkrampfte sich und fiel vor Angst in Ohnmacht. Jeden Abend war das so. Jeden Abend. Wie konnten wir das nur ertragen?

Der Keller, in dem wir die Nächte verbrachten, bot keinen richtigen Schutz, es war kein Bunker. Sollte eine Bombe hier einschlagen, würden wir alle unter den Trümmern begraben werden. Das Dröhnen in meinen Ohren hörte nicht auf, und die Tränen wollten nicht versiegen. Flehend sah ich meine Mutter an:

»Bitte, Mama, wenn ich einschlafe, wecke mich nicht mehr auf! Dieses Leben ist nicht mehr lebenswert.«

Der Tod war immer nur einen Augenblick entfernt. Ich weiß nicht, wie viele Freunde und Verwandte wir schon verloren hatten. Zu viele. Und es wurde schlimmer und schlimmer. Die Islamische Republik fand immer abscheulichere Mittel, den Krieg für sich zu entscheiden. Seit sich der zwölfjährige Mohammad Hossein Fahmideh am 10. November 1980 nahe der Stadt Chorramschahr mit einem Handgranatengurt unter einen irakischen Panzer geworfen hatte, verherrlichte die islamisch-iranische Regierung den Märtyrertod, und sie begannen, auf unterschiedlichste Weise Kindersoldaten einzusetzen. Ein iranisches Gesetz erlaubte es, Kinder ab zwölf Jahren in den Krieg einzuziehen, auch gegen den Willen der Eltern. Eines Tages erfuhr ich, dass sie auch Omid, den Hausmeistersohn, mitgenommen hatten. Ich war am Boden zerstört, weinte tagelang bitterlich. Mein Omid, mein lieber Schulfreund