Im Sommer treffen wir uns wieder - Sarah Morgan - E-Book

Im Sommer treffen wir uns wieder E-Book

Sarah Morgan

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Beschreibung

»Der perfekte Sommerroman — scharfsinnig, clever und voller Spaß!« Bestsellerautorin Viola Shipman

Die gefeierte Liebesromanautorin Catherine Swift führt seit Jahrzehnten die Bestsellerlisten an, dabei ist sie selbst in der Liebe alles andere als erfolgreich. Drei gescheiterte Ehen haben die Beziehung zu ihren Töchtern belastet, doch das soll sich nun ändern. Catherine ist verlobt und hofft, dass ihre Hochzeit auf Korfu sie alle endlich als Familie zusammenführt.

Adeline weiß nicht, was schlimmer ist – dass ihre Mutter ein viertes Mal heiratet oder dass sie das auch noch in Catherines Luxusvilla feiern soll. Die Trennung ihrer Eltern hat Spuren hinterlassen, die sie als Psychologin zwar erkennt, aber längst nicht verwunden hat. Ihre Halbschwester Cassie scheint wie immer das genaue Gegenteil von ihr zu sein: nichts als pure Begeisterung.

Als die Schwestern entdecken, wen ihre Mutter heiraten will, steht für beide alles kopf. Wird die Liebe im sommerlichen Griechenland trotzdem am Ende alles überstrahlen?

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Seitenzahl: 507

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Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem TitelThe Island Villa bei Canary Street Press, an imprint of HarperCollins Publishers, US.

© 2023 by Sarah Morgan

Deutsche Erstausgabe

© 2024 für die deutschsprachige Ausgabe

by HarperCollins in der

Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

Published by arrangement with

HarperCollins Publishers L.L.C., New York

Covergestaltung von Buxdesign I Ruth Botzenhardt unter Verwendung eines Motivs von Plainpicture

Coverabbildung von plainpicture/Ruth Botzenhardt

E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783749906765

www.harpercollins.de

Widmung

Für meine Familie als Dank für all die glücklichen Urlaubserinnerungen an Korfu und für die Einheimischen, die uns willkommen hießen.

Prolog

Zum ersten Mal im Leben hatte sie vor, jemanden umzubringen.

Niemals hätte sie von sich gedacht, zu so etwas fähig zu sein – schließlich war sie eine Autorin von Liebesromanen! Liebesroman-Autoren brachten keine Menschen um. Doch sie musste jetzt die beunruhigende Möglichkeit in Betracht ziehen, dass sie sich eventuell nicht so gut kannte wie bislang geglaubt. Vielleicht war sie doch nicht der Mensch mit freundlichem und liebenswürdigem Charakter, für den sie sich immer gehalten hatte, tippte sie hier doch gerade eine Reihe sehr unfreundlicher Fragen in ihre Suchmaschine – und interessierte sich brennend für die Antworten. Ihre Finger auf der Tastatur bebten.

Wie man jemanden umbringt, ohne eine Spur zu hinterlassen.

Der beste Weg, jemanden umzubringen.

Morde, die nie aufgeklärt wurden.

Es musste wie ein Unfall aussehen, hatte sie entschieden. Die Leute wären traurig und vermutlich schockiert, weil der Tod immer schockierend war – sogar, wenn er erwartet wurde. Nur argwöhnisch würde niemand sein, denn sie würde schlau vorgehen. Man würde von einem tragischen Unglücksfall ausgehen. Niemand würde die Wahrheit erfahren.

Doch war die Wahrheit so schlimm? War es tatsächlich falsch, wenn sie Gerechtigkeit übte?

Der Mann verdiente es nicht anders.

Obwohl, wenn man es recht bedachte, was er wirklich verdiente, würde ihre Suchanfrage anders lauten: Wie man jemanden auf die denkbar schmerzhafteste Weise umbringt.

Sie sah durch das Fenster auf die ruhige Wasserfläche des Mittelmeers, das in den verschiedensten Blautönen im Sonnenlicht glitzerte. Korfu war ihr Paradies, das hatte sie schon vor langer Zeit entschieden. Sonnendurchflutete Olivenhaine, weicher Sand, das Meer, geruhsame Tage, wunderbare Träume – die Zutaten für ein perfektes Leben. Ein Ort, an dem Probleme eine Auszeit nahmen, ein Ort des Glücks, der Entspannung, der ausschließlich guten Dinge des Lebens. Doch das war natürlich eine Fantasie. Das wusste sie jetzt, ebenso, dass Licht und Schatten nebeneinander existieren konnten. Das Dunkle war oft verborgen, lauerte unter der Oberfläche, bereit, die Leichtgläubigen und Vertrauensseligen zu verletzen, diejenigen, die an ein Happy End glaubten. Sie war so ein Mensch gewesen. Sie hatte so viel falsch gemacht.

Versunken in ihren Gedanken und der Aussicht, hörte sie ihn nicht eintreten. Sie bemerkte ihn erst, als er ihr die Hand auf die Schulter legte und sie ansprach.

»Catherine?«

Sie zuckte zusammen und klappte rasch den Laptop zu. Ihr Herz schlug in ihrer Brust wie eine Faust gegen einen Boxsack.

Wie viel hatte er gesehen? Warum hatte sie nur nicht daran gedacht, die Tür zu verschließen?

Unvorsichtig.

Sie musste besser werden, wenn sie das wirklich tun wollte. Sie musste wie ein Mörder denken. Unergründlich sein und sich nichts anmerken lassen.

Sie drehte sich lächelnd um (lächelten Mörder? Sie hatte keine Ahnung). »Ich wusste nicht, dass du schon auf bist. Es ist früh.«

»Ich wollte dich nicht erschrecken. Ich weiß, dass du nicht gern bei der Arbeit gestört wirst, aber ich wurde wach und habe dich vermisst. Was hältst du von einem starken Kaffee?« Er strich ihr über die Wange. »Du wirkst angespannt. Ist irgendwas?«

So viel zum Thema unergründlich.

Sie war nicht für ein kriminelles Leben gemacht, doch zum Glück dachte sie nicht an ein ganzes Leben, sondern nur an diesen winzigen kleinen Mord. Das war alles. Sie erwartete nicht, dass es ihr Spaß machen würde, und zur Gewohnheit würde es wohl auch nicht werden.

»Alles in Ordnung.« Sie konnte nicht mal lügen, ohne sich schuldig zu fühlen. Kein gutes Zeichen.

Sie teilten alles – nun, fast alles –, doch dies würde sie auf keinen Fall teilen. Noch nicht. Vielleicht eines Tages, wenn sie es in die Tat umsetzte. Wenn alles lief wie geplant, würde er es natürlich herausfinden, doch bis dahin musste sie schweigen. Das hier musste sie allein tun.

Was würde er sagen, wenn er wüsste, was ihr wirklich durch den Kopf ging?

Würde er versuchen, es ihr auszureden? Ihr sagen, dass ihr Plan dumm und gefährlich sei? Eine Predigt halten, dass sie es einfach akzeptieren und loslassen müsse? Dass dies nicht die richtige Antwort sei? Vermutlich würde er ihr raten, neu anzufangen.

Und genau das würde sie tun.

Dies war ihre Art, neu anzufangen. Und genau rechtzeitig.

Er beugte sich zu ihr hinunter, um sie zu küssen. »Ich liebe dich, Catherine Swift.«

Sie spürte seine Lippen und die aufwallende Wärme in ihrem Körper.

Es schien merkwürdig, sich so abrupt vom Tod der Liebe zuzuwenden, doch so war das Leben, oder? Brutal in seinen Extremen. Und Mörder waren auch Menschen. Sie durften ein Liebesleben haben.

Zum ersten Mal seit Wochen war sie optimistisch und voller Hoffnung. Lange hatte sie unter einer schwarzen Wolke von Trübsinn vor sich hin gebrütet, getrieben von bitterem Groll. Sie hatte sich als Versagerin gefühlt, weil sie es so weit hatte kommen lassen, und keinen Ausweg gesehen. Doch nun sah sie ihn.

Die Zukunft lag klar vor ihr. Sie brauchte nur Mut.

Es war Zeit für einen Neustart. Zeit, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und sich neu zu erfinden.

Es war nur schade, dass dafür jemand sterben musste.

Teil eins

1: Adeline

1

Adeline

Adeline Swift telefonierte gerade mit der Kulturredakteurin von Woman Now, als der Brief unter ihrer Wohnungstür durchgeschoben wurde.

»Die Sache ist die«, sagte Erin, »deine Ratgeberkolumne wird von allen Rubriken der Zeitschrift am meisten gelesen. Die Leute scheinen wirklich darauf zu reagieren. Auf dich. Unsere jüngste Marktbefragung ergab, dass siebzig Prozent der Leserinnen lieber dich um Rat fragen würden als ihre beste Freundin. Kannst du dir das vorstellen?«

Ja, das konnte sie sich vorstellen. Nur wenige Menschen landeten ohne emotionale Altlasten im Erwachsenenleben. Verletzung. Ablehnung. Scham. Enttäuschung. Trauer. Reue. Das Leben hinterließ Narben, und man musste einen Weg finden, mit diesen Narben zu leben. Manche Menschen wählten die Strategie der Verleugnung. Ignoriere es. Lass es in der Vergangenheit. Mach weiter. Andere nahmen diese Emotionen in Angriff und verbrachten Stunden in Therapie, um zu verstehen, wie die Vergangenheit die Gegenwart beeinflusste, und irgendwann einen Punkt der Akzeptanz zu erreichen. Die meisten schlugen sich einfach allein durch, gingen voran und stolperten gelegentlich, durchschritten die Höhen und Tiefen des Lebens, so gut sie eben konnten. Nach ein paar Drinks zu viel vertrauten sie sich vielleicht einem Freund an, doch meistens sagten sie nichts. Schließlich war es ein Risiko, diese tiefen Geheimnisse und Ängste, diese persönlichsten Teile seines Selbst zu offenbaren. Es bedeutete: Dies ist der Mensch, der ich wirklich bin, statt: Dies ist der Mensch, der ich vorgebe zu sein.

Es waren diese Menschen, die allein mit ihren Ängsten blieben, die Adeline oft schrieben.

Liebe Dr. Swift …

Sie breiteten ihre Probleme aus in der Hoffnung, dass Adeline in ein paar wohlgesetzten Worten ihre Krise löste oder ihnen zumindest zu einem besseren Gefühl verhalf.

Adeline lieferte eine besonnene Analyse, Mitgefühl und ein paar aufmunternde Worte. Wenn sie an ihren Antworten feilte, ließ sie eine Mischung aus Empathie, Lebenserfahrung und Direktheit einfließen. Sie übernahm die Rolle einer mitfühlenden Fremden, die zuhörte, ohne zu bewerten, und die die Anonymität respektierte. Doch diese Rolle bedeutete, dass sie in einer Welt von Problemen lebte. An jedem Arbeitstag war sie von den Herausforderungen des Lebens umgeben, ertrank im Schmerz anderer Menschen und musste sich von Untreue bis Arbeitslosigkeit mit jedem Kummer auseinandersetzen. Wenn Menschen sie fragten, wie sie damit fertigwurde, wies sie darauf hin, dass es leicht war, mit einem Drama fertigzuwerden, das nicht das eigene Drama war.

Wenn es um ihr eigenes Drama ging? Das war etwas anderes.

Sie starrte auf den Umschlag

Er lag unschuldig auf dem Boden, das strahlende Weiß hob sich von den breiten Eichendielen ab. Auch ohne ihn aufzuheben, bemerkte sie das hochwertige geprägte Papier. Name und Adresse waren in einer geschwungenen Schrift verfasst, die sie sofort erkannte.

Ihr Herz schlug etwas schneller. Emotionen wallten in ihr auf und drohten sie wie eine Windbö umzuwerfen. Sie legte die Hand aufs Zwerchfell und zwang sich, langsam zu atmen. Sie war eine Erwachsene mit eigenem Leben, einem guten Leben, und dennoch raubte ihr dieses kleine leblose Objekt die Ruhe des Tages.

Dabei hatte sie den Umschlag noch nicht einmal aufgemacht.

Zuerst hatte sie ihn ungeöffnet zerreißen wollen, doch das wäre kindisch, und sie bemühte sich sehr, nicht kindisch zu sein und sich unter Kontrolle zu haben.

Sie versuchte, der Mensch zu sein, als den sie sich in ihrer Ratgeberkolumne darstellte.

»Adeline?« Erins Stimme brachte sie in die Gegenwart zurück. »Bist du noch dran?«

»Ja. Ich bin noch dran. Ich höre.« Doch ihre Aufmerksamkeit galt nicht Erin.

Sie sollte den Umschlag sofort öffnen. Oder ihn direkt ins Altpapier geben. Sie stellte sich vor, was »Dr. Swift« dazu sagen würde.

Vermeidung.

Seufzend hob sie den Umschlag auf. Sie konnte ihn zur Seite legen und später öffnen, doch dann würde sie den ganzen Nachmittag darüber nachdenken. Wenn sie jemanden in dieser Situation beraten müsste, würde sie sagen, dass es nie von Nutzen war, das Unausweichliche aufzuschieben, und dass die Befürchtungen oft schlimmer waren als die Realität. Egal was in dem Brief stehen sollte, sie hatte das Werkzeug und die mentale Stärke, damit umzugehen.

Hatte sie die wirklich?

Mit dem Umschlag in der Hand ging sie durch ihr Apartment zur Balkontür und trat auf den kleinen Balkon hinaus. Die Anspannung in ihrem Nacken und den Schultern löste sich. Sie sog den intensiven Duft der Heckenkirsche ein, die Süße des Jasmins. Bienen summten um dünne Stängel violetten Lavendels herum. Der Platz war begrenzt, doch sie hatte die Pflanzen sorgfältig ausgesucht. Das Endergebnis war ein Meer von Blüten und Farben, das eine Oase der Ruhe darstellte inmitten der geschäftigen, lauten Stadt, die sie zu ihrer Heimat gemacht hatte. Sie liebte London, doch sie genoss es, sich von dem Getöse der Autohupen, den vielen Menschen und der Hektik zurückziehen zu können. Manchmal hatte sie den Eindruck, als ob alle ihr Leben im Schnelldurchlauf absolvierten.

Mit der Anlage des Balkongartens war sie einem Rat gefolgt, den sie einer Leserin gegeben hatte, die vom Land in die Stadt gezogen war und in der Folge Angststörungen entwickelt hatte.

Adeline hatte einen Gärtner befragt und ihre Antwort entsprechend seinen Angaben formuliert.

Liebe Sad in the City, auch wenn Sie vielleicht nicht auf dem Land leben, können Sie sich die Natur in Ihr Leben holen. Ein paar gut ausgesuchte Zimmerpflanzen verleihen noch dem kleinsten Raum eine Atmosphäre der Ruhe, und ein Topf duftender Kräuter auf einem sonnigen Fenstersims bringt einen Hauch Mittelmeer in Ihr Zuhause und in Ihre Küche.

Danach hatte sie sich selbst ebenfalls Pflanzen gekauft. Außerdem hatte sie für andere Magazine zwei Artikel zu dem Thema verfasst. So verdiente sie ihren Lebensunterhalt.

Sie hatte als klinische Psychologin gearbeitet und war sechs Monate im Job gewesen, als ein zufälliges Treffen mit einer Journalistin zu einer Interviewanfrage führte. Es ging darum, im Frühstücksfernsehen zu erklären, wie man mit Stress am Arbeitsplatz fertigwurde. Das Interview hatte weitere Anfragen nach sich gezogen, und diese wiederum hatten zu ihrer Tätigkeit als Journalistin geführt, die ihr besser gefiel als die Arbeit als Psychologin. Das Schreiben erlaubte ihr das Aufrechterhalten einer Distanz, die sie im persönlichen Gespräch mit Klienten vermisst hatte.

Adeline zog es vor, auf Distanz zu bleiben.

Sie legte den Umschlag auf den kleinen Tisch und zwang sich, sich auf das Gespräch zu konzentrieren.

»Das freut mich, dass die Ratgeberkolumne gut läuft, Erin.«

Sie freute sich tatsächlich, und nicht nur, weil die Kolumne ihren Namen bekannt machte und zu mehr Aufträgen führte, als sie bewältigen konnte. Ihr gefiel die Popularität der Kolumne. Dass Menschen ihre Ratschläge hilfreich fanden, hatte etwas Erfüllendes.

Sie wusste, wie es sich anfühlte, verloren und verwirrt zu sein. Sie wusste, wie es sich anfühlte, mit Emotionen zu kämpfen, die zu unangenehm und düster waren, um sie zu zeigen. Sie wusste, wie es sich anfühlte, allein zu sein, kurz vorm Ertrinken und ohne Rettungsboot in Sicht, wie es war, zu fallen ohne ein Kissen, das die Landung abmilderte.

Wenn sie die Methoden, die sie zur Selbsthilfe gelernt hatte, einsetzen konnte, um anderen Menschen zu helfen, verschaffte ihr das ein Gefühl der Befriedigung. Beim Schreiben ihrer Kolumne sah sie sich nicht als Psychologin, sondern als vertraute beste Freundin. Als jemand, die einem die Wahrheit sagte.

Dass es Verletzungen gab, die keine Therapie der Welt heilen konnte, gehörte zu den Wahrheiten, die sie verschwieg. Dieses Wissen behielt sie für sich. Die Menschen gingen davon aus, dass sie ihr Leben im Griff hatte, und sie hegte nicht die Absicht, dieses Bild zu zerstören. Es wäre wenig vertrauenerweckend, wenn ihr Publikum wüsste, dass sie sich mit eigenen Problemen herumschlug.

»Gut? Viel besser als gut.« Erin war euphorisch und stolz, denn ursprünglich hatte sie die Idee zu der »Dr. Swift says«-Kolumne gehabt. »Du bist ein Hit, Adeline. Die Chefredaktion will dir mehr Platz geben.«

Adeline zupfte eine welke Geranienblüte ab und entfernte ein paar tote Blätter. »Mehr Platz?«

»Ja. Statt eine Frage in ganzer Tiefe zu beantworten, dachten wir an vier.«

Adeline runzelte die Stirn. »Eine ausführliche Antwort ist wichtig. Wenn Menschen verzweifelt sind, brauchen sie Empathie und eine ausführliche Antwort. Sie dürfen nicht mit ein paar Zeilen voller Plattitüden abgespeist werden.«

»Du könntest gar keine Antwort verfassen, die nicht voller Empathie wäre. Das ist deine Gabe. Du schreibst so schön – ich schätze, in der Beziehung ähnelst du deiner Mutter.«

Adeline zerdrückte die Blätter in der Faust. »Ich bin kein bisschen wie meine Mutter.«

»Nein, natürlich nicht. Was du schreibst, ist völlig anders. Aber Adeline, das ist ein Riesending. Ich muss dir nicht sagen, wie es freien Journalisten im Moment geht. Alle greifen nach einem Stück von dem kleiner werdenden Kuchen, und du bekommst hier ein großes Stück für dich allein serviert. Und natürlich steigt das Honorar.«

Sie war kein bisschen wie ihre Mutter. Kein bisschen. Das Leben ihrer Mutter war eine einzige romantische Fantasie, wohingegen ihr Leben fest in der Realität verwurzelt war.

Und mehr Arbeit gehörte eindeutig zur Realität.

Wollte sie das? Geld war bis zu einem gewissen Grad wichtig, die Work-Life-Balance aber ebenfalls. Obwohl sie meist von zu Hause arbeitete, setzte sie klare Grenzen. Die erste Hälfte der Woche konzentrierte sie sich auf ihre Ratgeberkolumne. Die Donnerstage waren für ihre freie Arbeit reserviert. Freitagvormittags kümmerte sie sich um die liegen gebliebene Büroarbeit, bis sie um Punkt zwei Uhr den Laptop ausschaltete und schwimmen ging. Sie schwamm genau hundert Bahnen, um ihre Muskeln zu lockern und die Anspannung der Woche abzustreifen. Danach ging sie zum örtlichen Markt und kaufte frische Früchte und Gemüse für das Wochenende.

Samstag und Sonntag gehörten nur ihr. Das sollte auch so bleiben.

Vielleicht verlief ihr Leben nicht unbedingt aufregend, doch es war beständig und vorhersehbar, und genau so gefiel es ihr.

Hatte sie die Zeit, die Kolumne zu erweitern? Ja. Wollte sie die Kolumne erweitern? Vielleicht.

»Ich möchte die redaktionelle Kontrolle haben.« Sie beugte sich vor und fühlte, wie feucht die Erde in einem der Pflanztöpfe noch war. »Ich möchte nicht, dass meine Antworten redigiert werden.«

»Solange du den Platz auf der Seite einhältst, ist das kein Problem.«

»Ich wähle die Briefe aus, die ich beantworte.«

»Das versteht sich von selbst.«

»Ich denke darüber nach. Danke. Ich wünsche dir ein schönes Wochenende, Erin.«

Sie beendete das Gespräch und wendete sich endlich dem einzigen Brief zu, der im Moment von Bedeutung war.

Sie nahm den Umschlag und öffnete ihn vorsichtig. In einer Zeit der E-Mails und Messengerdienste schickte nur ihre Mutter ihr noch Briefe. Adeline sah sie vor sich, wie sie in der Villa an ihrem Schreibtisch mit der Glasoberfläche saß und nach ihrem Lieblingsfüller griff. Die Tinte musste immer genau den richtigen Blauton haben.

Sie zog die Blätter heraus und strich sie glatt.

Liebste Adeline –

Sie verzog das Gesicht. Alles an ihrer Mutter war übertrieben, schwülstig, bombastisch. Die liebevolle Anrede hatte so viel Bedeutung wie diese lächerlichen Luftküsse, die sich die Leute gaben.

Ich schreibe dir, weil ich dir aufregende Neuigkeiten mitteilen möchte. Ich werde wieder heiraten.

Adeline las die Worte und las sie gleich noch einmal. Heiraten? Heiraten? Ihre Mutter würde zum vierten Mal heiraten?

Warum? Warum sollte man etwas wiederholen, mit dem man mehrfach gescheitert war? Ihre Mutter schien die Ehe als Gameshow oder Lotterie zu begreifen. Sie glaubte offenbar, wenn sie sie nur oft genug wiederholte, würde es irgendwann mal funktionieren. So sollten Beziehungen nicht sein.

Adeline hätte am liebsten laut geschrien – ein Bedürfnis, das sie nur im Zusammenhang mit ihrer Mutter kannte. Zum Glück für ihre Nachbarn hatte sie aber gelernt, ihre Frustration für sich zu behalten.

Sie legte den Kopf zurück, schloss die Augen und atmete langsam durch. Ein, aus. Ein, aus.

Wie konnte jemand auf die Idee kommen, dass sie ihrer Mutter auch nur ansatzweise ähnelte?

Die Öffentlichkeit würde es natürlich romantisch finden. Catherine Swift, Autorin von Bestseller-Liebesromanen, wagte noch einmal die Liebe.

Verschon mich damit.

Wen heiratete sie dieses Mal?

Adeline öffnete die Augen und las weiter. Ihre Mutter wollte, dass Adeline im Juli für zwei Wochen zu ihr nach Korfu kam (völlige Panik! Adeline konnte sich nichts Schlimmeres vorstellen). Die ganze Reise würde für sie arrangiert werden, ohne Rücksicht auf Kosten (klar, ihrer Mutter mangelte es an vielem, aber nicht an Geld).

Sie schrieb dann noch vom Garten und wie schön die Villa zurzeit sei und dass es Adeline guttun würde, eine Zeit auszuspannen, weil sie so hart arbeitete. Sie erwähnte, dass es Maria, der Haushälterin der Villa, gut ging. Marias Küche sei so herausragend wie immer und sie hätte schon ein köstliches Hochzeitsmenü geplant. Ihr Sohn Stefanos sei wieder auf der Insel und betreibe den Bootsverleih der Familie. Vielleicht würde Adeline ihn gern wiedertreffen, da sie doch damals so gute Freunde gewesen wären.

Ernsthaft?

Die Bemerkung war typisch für ihre Mutter, die es schaffte, noch an den unmöglichsten Orten romantische Szenarien zu entwerfen.

Adeline erinnerte sich genau, wann sie Stefanos das letzte Mal gesehen hatte. Sie war zehn gewesen, er einige Jahre älter. Eine Zeit lang war er ihr bester Freund gewesen und sie seine beste Freundin.

Das war zwanzig Jahre her. Über was genau sollten sie miteinander sprechen? Über ihr ganzes Leben?

Die Information, die Adeline wirklich interessierte – nämlich wen ihre Mutter heiratete –, schien zu fehlen.

In dem Brief wurde kein Mann erwähnt. Adeline las ihn noch einmal und dann noch einmal. Blätterte durch die Seiten. Nichts. Kein Hinweis.

Sie hatte tatsächlich vergessen, den Namen des Mannes zu erwähnen, den sie heiratete. Unglaublich.

Adeline lachte hysterisch auf. Hatte ihre Mutter wenigstens daran gedacht, ihn zur Hochzeit einzuladen?

Vielleicht gab es keinen Bräutigam. Vielleicht heiratete ihre Mutter sich selbst. Schließlich war sie selbst ihre größte Unterstützerin.

Meine Bücher sind meine Babys, hatte sie mal bei einem Interview zur Hauptsendezeit in die Kamera geschnurrt. Ich liebe sie, wie ich meine Kinder liebe.

Vermutlich mehr, dachte Adeline bitter, als sie den Brief auf den Tisch legte. Sogar eindeutig mehr. Diese schmerzhafte Wahrheit hatte sie mit zehn Jahren erfahren.

Du wirst bei deinem Vater wohnen, Adeline.

Der Schmerz in ihrer Brust wurde stärker. Alte Narben rissen auf. Doch hier ging es nicht nur um sie. Nicht nur sie hatte Wunden davongetragen.

Was würde diese Nachricht für ihren Vater bedeuten?

Wusste er es schon? Hatte ihre Mutter es ihm gesagt?

Mit bebenden Händen und einem Klumpen im Magen griff sie nach dem Handy und wählte seine Nummer. Auf Cape Cod war es erst kurz nach sechs Uhr morgens, doch ihr Vater würde schon auf den Beinen sein. Er stand früh auf und ging oft im Morgengrauen zum Strand, um dort zu fotografieren und zu zeichnen und das Beste aus dem Licht und der Einsamkeit zu machen. Sobald andere Leute auftauchten, kehrte er in sein kleines schindelbedecktes Strandhaus hinter den Dünen zurück, kochte sich einen unvorstellbar starken Kaffee und ging in sein Studio, um zu malen.

Nach der Scheidung hatte ihr Vater sein Leben umgekrempelt. Er hatte seinen Job in der Stadt aufgegeben und sich auf Adeline und auf sein Hobby konzentriert, das Malen. Aus einem der Schlafzimmer machte er ein Studio, und während sie in der Schule war, spritzte er den ganzen Tag Farbe auf Leinwände. Adeline verstand nicht viel von Kunst, doch diese Bilder wirkten wütend auf sie. Ein Teil von ihr beneidete ihn darum, dass er ein Ventil für sein Elend gefunden hatte. Es war eine schreckliche Zeit gewesen.

Ursprünglich kam ihr Vater aus Boston, war aber während Adelines Kindheit in London geblieben. Doch sobald sie fürs College wegzog, verkaufte er das Haus und erwarb von dem Erlös ein kleines Apartment in London sowie ein Strandhaus auf Cape Cod. Das hatte er zu seinem Zuhause gemacht.

Ihre Kindheit war unstet und nicht wie die der meisten anderen Kinder verlaufen, doch an der Liebe ihres Vaters hatte sie niemals gezweifelt. Er half ihr bei den Hausaufgaben, feuerte sie am Schulsporttag an und nähte ihr an Halloween ein Kostüm. Ihr Vater stellte die einzige Konstante in ihrem Leben dar, und auch wenn sie nicht mehr im gleichen Haus und nicht mal mehr im gleichen Land wohnten, fühlte sie sich ihm immer nah.

Anders als ihre Mutter hatte er nie wieder geheiratet, was sie traurig machte. Sie wollte unbedingt, dass er jemand Besonderen fand, jemanden, die ihn verdiente. Doch er war überzeugter Single geblieben, was sie ihm nicht vorwerfen konnte.

Mit Catherine Swift verheiratet gewesen zu sein, reichte sicher, um einem Mann die Ehe für den Rest des Lebens zu verleiden. Dennoch hasste sie den Gedanken, dass er die Beziehung mit ihrer Mutter nie verwunden hatte.

Das war auch der Grund, weshalb sie dieses Gespräch eigentlich nicht führen wollte. Egal wie sie es formulierte, die Neuigkeit würde ihn aus der Fassung bringen. Sie würde einen Riss in sein Leben reißen, das er so mühselig wieder zusammengeflickt hatte.

Mit angehaltenem Atem wartete sie und war fast erleichtert, als er sich nicht meldete, hatte sie doch keine Ahnung, was sie sagen sollte.

Wie sollte sie ihm eröffnen, dass ihre Mutter wieder heiraten würde?

Wie konnte sie ihm die Neuigkeit auf eine schonende Art beibringen?

Er und Catherine waren seit über zwanzig Jahren geschieden, doch Adeline wusste, dass er den Schmerz noch deutlich fühlte. Er sprach noch immer oft von ihrer Mutter. Jedes Mal, wenn er in der Buchhandlung eines ihrer Bücher sah, blieb er stehen, nahm es und las die Rückseite.

»Man kann die Liebe nicht ein- und ausschalten, Addy«, hatte er einmal gesagt, als sie ihn fragte, wie er denn immer noch Gefühle für eine Frau haben konnte, die ihn so schlecht behandelt hatte.

Adeline verkniff sich den Hinweis, dass Catherine keine Probleme zu haben schien mit dem Ausschalten.

Und dies war ein weiterer Beweis. Eine weitere Hochzeit. Ein weiteres Opfer.

Sie hinterließ keine Nachricht auf der Mailbox. Spontan griff sie nach dem Brief auf dem Tisch und stopfte ihn in den Müll – auf einen Haufen Kartoffelschalen und einen leeren Joghurtbecher.

Einer der Vorteile des Erwachsenseins bestand darin, dass man seine eigenen Entscheidungen traf. Und sie hatte ihre getroffen.

Sie würde nicht zu der Hochzeit gehen.

Auf keinen Fall, auf gar keinen Fall, würde sie zwei kostbare Sommerwochen dabei zusehen, wie ihre Mutter einen weiteren Riesenfehler machte. Es wäre zu schwierig. Es würde alles aufwühlen, was sie tief in sich verschlossen hatte. Und wenn sie irgendetwas in ihrem Leben nicht brauchte, dann war es ein neuer Stiefvater.

Sie würde einen bedauernden Brief schreiben und gute Wünsche für Braut und Bräutigam aussprechen, auch wenn sie nicht mal den Namen des Bräutigams kannte.

Seine Identität spielte keine Rolle.

Wen auch immer Catherine Swift dieses Mal heiratete – der Mann tat ihr leid.

2: Cassie

2

Cassie

»Zwei Cappuccino, einen Americano und eine heiße Schokolade.« Cassie servierte die Bestellung für die lärmende Gruppe, die den Tisch am Fenster belagerte.

Sie konnte nicht aufhören zu grinsen, was an dem Brief lag, der in der Gesäßtasche ihrer Jeans steckte. Ihre Mutter würde wieder heiraten, wie aufregend war das denn? Sie war wirklich eine Inspiration. Cassie hatte den Brief immer wieder hervorgeholt, um ihn erneut zu lesen.

Liebste Cassie, ich schreibe dir, weil ich dir aufregende Neuigkeiten mitteilen möchte. Ich werde wieder heiraten.

Dass ihre Mutter nicht erwähnte, wen sie heiraten würde, machte die Sache noch romantischer und geheimnisvoller. Warum hatte sie nichts gesagt? Sie redeten doch sonst über alles. Warum also hatte ihre Mutter ihr nicht erzählt, dass sie sich mit jemandem traf? Vielleicht war es eine sehr stürmische Romanze gewesen. Wie auch immer, Cassie freute sich für sie und konnte es kaum erwarten, die Einzelheiten zu erfahren.

Los, Mum, dachte sie, während sie einen Reiseführer zur Seite schob, um einen der Cappuccinos zu servieren.

Als sie hereingekommen waren, hatte sie gedacht: Touristen. Und danach zu urteilen, wie sie auf ihren Handys den Stadtplan studierten, lag sie damit nicht falsch. Am Tisch neben ihnen saß ein Guide, der eine Stadtführung anbot, wie man in vierundzwanzig Stunden das Beste aus Oxford herausholte.

Das ist nicht möglich, hätte Cassie gesagt, wenn man sie in dieser Angelegenheit um Rat gefragt hätte. Doch das tat man nicht, deshalb servierte sie der Gruppe einfach nur ihre Drinks und die zwei Stücke Zitronenkuchen (mit vier Gabeln, was bedeutete, dass sie entweder Kalorien oder Geld sparen wollten). Dann kehrte sie zum Tresen zurück, wo ihre Barista-Kollegin Felicia sich damit vergnügte, einen Cappuccino mit dem perfekten Milchschaumherz zu krönen. Felicia kam aus Rom und studierte seit zwei Jahren in Oxford. Sie und Cassie hatten sich im letzten Sommer bei der Arbeit im Café kennengelernt und angefreundet.

»Du wirst echt gut darin.« Cassie verstaute das Tablett und brachte einer wartenden Kundin einen Schokoladen-Brownie.

Das »Tasty Bite«-Café lag mitten in Oxford, versteckt in einer Kopfsteinpflastergasse, nicht weit von der Bodleian Library. Seine Kundschaft bestand aus einer interessanten Mischung von Einheimischen, Touristen und Studenten. Die Touristen waren am beliebtesten, weil sie von dem pittoresken englischen Charme angezogen wurden und dazu neigten, besonders viel zu bestellen. Studenten waren am unbeliebtesten, weil sie einen Kaffee kauften und den ganzen Tag daran nippten.

Cassie hatte Mitgefühl. Schließlich war sie auch Studentin gewesen. Sie hatte ihren Abschluss in Altphilologie gemacht und vier Jahre mit dem Lesen, Übersetzen und Analysieren von Texten verbracht. Wenn sie nicht in Seminaren saß oder in der Bücherei lernte, hatte sie Stunden an genau jenem Tisch am Fenster gesessen, den jetzt die Touristen besetzt hielten. Sie hatte in ihr Notizbuch gekritzelt und dem Geschehen zugesehen. So viel Zeit hatte sie in dem Café verbracht, dass Rhonda, die Besitzerin, ihr einen Job anbot, den Cassie dankbar annahm. Ihr kam nicht nur das Geld gelegen, sondern auch die Möglichkeit, ständig Menschen zu beobachten. Und es gab nichts, was Cassie mehr genoss, als Menschen zu beobachten.

Zum Beispiel das Paar, das Seite an Seite in der Nische an der Treppe saß. Unter dem Tisch hatten sie ihre Beine verschränkt, und ihre Schultern berührten sich, als sie sich über einen Flyer beugten, der für eine Freilicht-Vorführung von Shakespeares Ein Sommernachtstraum in einem der College-Gärten warb. Cassie hatte bereits Karten gekauft.

»Was glaubst du? Verheiratet?« Felicia blickte zu dem Paar, als sie zwei heiße Schokoladen mit Schlagsahne zu dem Korb mit ofenfrischen Croissants auf das Tablett stellte.

Cassie warf einen verstohlenen Blick auf die beiden. »Ja«, sagte sie, »aber nicht miteinander.« Sich ganze Geschichten zu Menschen auszudenken war ein Spiel, das sie oft spielten.

Cassie wartete, bis Felicia serviert hatte und mit dem leeren Tablett zurückkehrte.

»Sie haben mich nicht einmal bemerkt.«

»Sie ist seit zehn Jahren mit dem gleichen Kerl verheiratet und hat so etwas noch nie zuvor gemacht. Gestern haben sie die erste Nacht miteinander verbracht.«

Felicia sah sie fragend an. »Und dein Beweis dafür ist …?«

»Sie können die Hände nicht voneinander lassen und haben jede Menge Kohlehydrate bestellt. Sie brauchen Kalorien. Sie sind beide ausgehungert, weil sie die ganze Nacht Sex hatten.«

Felicia schnaubte vor Lachen. »Deine Fantasie ist eine tödliche Waffe. Übrigens, kannst du am Samstag für mich einspringen? Matteo hat eine Überraschung zu unserem Halbjahrestag geplant.«

»Wie romantisch!« Cassie verspürte einen Stich Neid. Wenn es ein perfektes Paar gab, dann waren es Felicia und Matteo. »Ja, klar springe ich Samstag ein. Das Wetter soll großartig werden.«

»Hast du nichts geplant?«

»Nichts Besonderes.« Sie hatte vorgehabt, sich am Flussufer ins weiche Gras zu legen und ihr zerschlissenes Exemplar der Odyssee zum x-ten Mal zu lesen.

»Danke. Ich dachte, du schreibst vielleicht Bewerbungen. Hast du schon entschieden, was du machen möchtest?«

»Machen?«

»Mit deinem Leben. Deiner Zukunft. Du hast deinen Abschluss gemacht. Was jetzt?«

»Ich bin noch nicht sicher.« Das war ihre meistgehasste Frage, denn eine ehrliche Antwort würde bedeuten, dass sie ihr größtes Geheimnis offenbarte, und dazu war sie noch nicht bereit. Sie war eine Einserstudentin gewesen, und ihr Umfeld nahm an, dass sie in Oxford bleiben und eine akademische Karriere verfolgen würde, dass sie klassische Texte analysieren und junge Studenten dafür begeistern würde. Doch das war es nicht, was Cassie wollte.

Wie würde Felicia reagieren, wenn sie ihr die Wahrheit sagte?

Ich möchte Schriftstellerin werden.

Und zwar nicht einfach Schriftstellerin, sondern eine publizierte Schriftstellerin.

Das war, wie sie wusste, der schwere Teil. Der unmögliche Traum, noch dazu einer, den sie mit so vielen teilte. Alle, mit denen sie sprach, wollten eines Tages ein Buch schreiben. Cassie behielt für sich, dass sie bereits eines fertig und ein zweites angefangen hatte.

Sie befürchtete, das Schicksal herauszufordern, wenn sie es erzählte, und dass dies das Ende ihres Traums bedeutete. Die Leute würden vermutlich lachen oder, noch schlimmer, ihre Ambitionen für ein Hirngespinst halten. Sie würden eine Liste von Gründen aufzählen, weshalb das nicht klappen konnte, und damit nicht nur ihren Traum, sondern auch gleich ihr Selbstwertgefühl zerstören. Sie würden ihr empfehlen, sich einen richtigen Job zu suchen, wie auch immer der aussehen mochte. Cassie brauchte etwas, das nicht zu viel Zeit oder emotionale Energie verbrauchte. Etwas Verlässliches, ohne Stress, das ihr die Zeit ließ, sich auf ihre wahre Leidenschaft zu konzentrieren. Aus diesem Grund schob sie, zumindest im Moment, Extraschichten im »The Tasty Bite«.

Jeden Tag fuhr sie mit dem Fahrrad von dem kleinen viktorianischen Häuschen los, das sie sich mit ihrem Mitbewohner Oliver teilte. Die Fahrt dauerte acht Minuten und führte sie am »The Lamb and Flag« vorbei, wo man dem Literaturvölkchen seit vierhundertfünfzig Jahren Ale servierte, durch enge Straßen und an honigfarbenen Steinbauten vorbei. Der ganze Ort war so sonnenbeschienen und schön und so geschichtsträchtig, dass sie jetzt dachte: Vielleicht bleibe ich doch für immer hier.

Wäre das wirklich so schlecht?

Sie liebte Oxford mit seinem gewundenen Fluss und den berühmten Colleges. Sie liebte die Arbeit im Café, die ihr endlose Inspiration schenkte, aber nichts von ihrer privaten Zeit forderte. Sie musste keine Arbeit mit nach Hause nehmen. Ihr Hirn war nicht mit Dingen vollgestopft, die sie morgen erledigen musste. Sie konnte nachdenken. Sie konnte träumen, und es kümmerte niemanden.

»Erde an Cassie.« Rhonda kam aus der kleinen Küche hinten im Café und schnippte mit den Fingern. »Hör auf zu träumen. Ted könnte da hinten ein bisschen Hilfe gebrauchen.«

Sie lächelte schuldbewusst. Vielleicht kümmerte es die Menschen gelegentlich doch, wenn sie ins Leere starrte oder in ihr Notizbuch kritzelte. Aber insgesamt passte der Job perfekt zu ihren Umständen. Und er erlaubte ihr, Gespräche mit anzuhören und menschliches Verhalten zu studieren, was sie immer wieder faszinierte.

Cassie ging in die Küche, wo Ted Salate zubereitete.

Ted war ein Archäologiestudent, der ursprünglich aus San Francisco kam. Er hatte den Job im Café erst kürzlich angetreten, um im August eine Ausgrabung zu finanzieren, an der er teilnahm.

Cassie wusch sich die Hände. »Was soll ich tun?«

»Es wird wieder ein heißer Tag. Insofern wette ich, dass Salate viel besser gehen werden als die getoasteten Paninis. Und Suppe kannst du vergessen.« Er fuhr sich mit dem Arm über die Stirn. »Es ist heiß hier drin. Oder vielleicht habe ich zu viel Zeit in einer klimatisierten Bibliothek zugebracht.«

»Erwarte von Cassie kein Mitgefühl.« Rhonda kam in die Küche mit einem Korb voller Salatzutaten, die sie auf dem Markt gekauft hatte. »Sie liebt die Hitze. Sie hat den größten Teil ihrer Kindheit in Griechenland verbracht.«

Ted sah interessiert auf. »Tatsächlich?«

»Meine Mutter hat ein Haus auf Korfu.« Cassie griff nach einer Tomate und schnupperte daran. Der Duft sagte ihr, dass sie frisch gepflückt und voller Aroma war. »Das ist mein liebster Ort auf dieser Welt.« Sie sammelte die Tomaten ein und wusch sie ab.

»Warte. Heißt du deshalb Cassie? Von Kassandra, oder? Die trojanische Prinzessin.«

»Meine Mutter liebt griechische Sagen.«

Er grinste. »Also bist du dazu verdammt, dass dir niemand glaubt. Ich glaube, sie hätte dich Helen nennen sollen – das Gesicht, das tausend Schiffe in Bewegung setzte.«

Cassie war zufrieden mit ihrem Aussehen, doch sie bezweifelte, dass ihr Gesicht einen Schlepper oder auch nur ein Kajak in Bewegung setzen würde, geschweige denn tausend Schiffe. »Ich hatte Glück.«

»Warum bist du hier, statt den Sommer in Griechenland zu verbringen? Wenn ich die Möglichkeit hätte, wäre ich lieber dort.« Ted begann, die Gurken in Stücke zu schneiden.

»Ich fahre nächsten Monat hin. Meine Mutter heiratet.« Lächelnd holte Cassie den Fetakäse aus dem Kühlschrank. »Ich fahre zu ihrer Hochzeit. Soll ich griechischen Salat machen? Horiatiki. Das ist meine Spezialität.«

»Sicher. Das wäre großartig. Die Hochzeit deiner Mutter? Kein Witz?« Ted schob ein Blech mit Lachsfilets in den Ofen. »Ist das nicht komisch? Was sagt dein Dad dazu?«

»Mein Dad ist tot.« Cassie bemerkte, dass er errötete. Er tat ihr leid, und sie ärgerte sich, dass sie so damit herausgeplatzt war. »Mach dir keine Gedanken. Ich war drei. Ich habe keine echten Erinnerungen an ihn.« Nur die, die sie im Kopf fortgesponnen hatte aus den vielen Geschichten ihrer Mutter. Lass mich von dem Abend erzählen, als ich deinen Vater kennenlernte …

Sie hatte sich jede Einzelheit gemerkt, bis sie die Szene so klar vor sich sah, dass sie real wurde. Wie ihr Vater die Bar betreten und ihre Mutter zum ersten Mal gesehen hatte. Ich ging in die Bar, um etwas zu trinken, und verließ sie mit der Liebe meines Lebens.

Ihre Mutter hatte ihr so oft davon erzählt, doch Cassie wurde dessen nie überdrüssig. Sie selbst erzählte die Geschichte, wenn Menschen zu ihr sagten, dass es so etwas wie Liebe nicht gebe. Dass Romantik ein Hirngespinst sei.

Cassie wusste, dass sie kein Hirngespinst war. Allein ihre eigene Existenz war der beste Beweis dafür.

Eines Tages, so versprach sie sich, würde sie eine so große und leidenschaftliche Liebe erleben wie die ihrer Eltern. Es war tragisch, dass ihr Vater so jung gestorben war, doch zumindest hatten er und ihre Mutter wahre Liebe erlebt, wenn auch nur für eine kurze Zeit. So gesehen hatten sie Glück gehabt. Cassie würde sich auf nichts weniger einlassen. Bei jedem Date fragte sie sich: Würde ich diesem Mann bis ans Ende der Welt folgen? Die Antwort lautete immer Nein. Meistens wollte sie ihm nicht einmal zur Bodleian Library folgen, was deprimierend war, da diese ganz in der Nähe lag.

Der einzige Mann, der in ihrem Leben eine Konstante bildete, war Oliver, doch das zählte nicht. Oliver war ihr bester Freund, und wenn sie ihm überallhin folgte, würden sie sich garantiert verirren, da Oliver einen furchtbaren Orientierungssinn hatte. Wenn sie zusammen ausgingen, übernahm deshalb immer sie die Führung. Sie hatten sich am ersten Studientag beim obligatorischen College-Foto kennengelernt. Es hatte viel Gedrängel gegeben, und man platzierte Cassie, die eher klein war, in die erste Reihe. Oliver stand hinter ihr und flüsterte ihr einen Witz ins Ohr, als der Fotograf auslöste. Er hatte sie zum Lachen gebracht, und vier Jahre später brachte er sie immer noch zum Lachen.

Vermutlich sollte sie mehr daten, als sie es tat. Doch Dating bedeutete harte Arbeit und Stress, und es war leichter und amüsanter, einfach mit Oliver abzuhängen.

Plötzlich fiel ihr ein, dass er gestern Abend ein zweites Date mit Suzy gehabt und sie seitdem noch nichts von ihm gehört hatte.

Unruhe stieg in ihr auf. Würde es die Situation verändern, wenn Oliver sich verliebte? Das musste es notgedrungen. Selbst wenn das Mädchen seiner Träume erwachsen genug war, um eine beste Freundin zu akzeptieren, würde er nicht mehr so viel Zeit mir ihr verbringen können. Kein gemeinsames Herumlungern in Museen mehr. Keine Picknicks am Ufer, kein Büchertauschen und keine langen Brunch-Sitzungen mehr. Keine Gespräche mehr, die anfingen mit: Du errätst nie, was mir gestern passiert ist.

Ted schnitt Salat. »Mann, das ist schlimm mit deinem Dad.«

»Für meine Mutter schlimmer.« Cassie löste sich von der Vorstellung, wie ihr Leben aussah, wenn Oliver sich verliebte. »Sie hatten eine echte Liebesgeschichte. Die Romanze aller Romanzen.«

Als Cassie nach dem Olivenöl griff, sah Ted zu ihr hinüber. »Ist sie die ganze Zeit allein geblieben?«

»Nein, sie hat wieder geheiratet, aber sie und Gordon …« Sie dachte nicht daran, Gordon Pelling als Stiefvater zu bezeichnen. »Sie haben sich vor zwei Jahren scheiden lassen. Es hat nicht funktioniert.«

Aber zumindest hatte sie es versucht und würde es wieder versuchen. Der Mut ihrer Mutter in Herzensangelegenheiten war inspirierend, und Cassie freute sich für sie. Sie konnte es kaum erwarten, gemeinsam zu feiern.

»Wow. Dann ist das ihre …« Ted hielt inne und rechnete nach. »Ihre dritte Ehe?«

»Tatsächlich ist es ihre vierte. Sie war verheiratet, als sie meinen Dad kennenlernte.« Cassie dachte an ihre Halbschwester Adeline und verspürte sofort ein schlechtes Gewissen, wie immer.

In diesem Moment kam Felicia mit einem Tablett voller schmutzigem Geschirr herein. Sie hatte die letzten Sätze mitbekommen. »Du weißt offenbar nicht, wer Cassies Mutter ist.«

Ted blickte von ihr zu Cassie. »Warum sollte ich Cassies Mutter kennen? Hab ich was verpasst?«

Felicia lud die Teller und Tassen in den Geschirrspüler. Ihre Haut war ebenmäßig gebräunt, ihr Haar kurz geschnitten. »Ich nehme an, du hast den Namen Catherine Swift schon mal gehört?«

»Nein.« Ted runzelte die Stirn. »Warte – du meinst die Schnulzen-Schreiberin? Die, die am laufenden Band diese kitschigen Strandromane produziert? Das ist deine Mutter?«

Cassie dachte an die Stunden, die ihre Mutter am Schreibtisch verbrachte, das Haar zu einem unordentlichen Knoten zusammengefasst und völlig fokussiert auf ihr Handwerk. Sie schrieb und überarbeitete sich bis zur Erschöpfung. Die Andeutung, dass sie ständig irgendwelchen Müll produzierte, um das arme Publikum zu schröpfen, weckte in ihr den Wunsch, etwas zu zerschlagen.

Ted schien wahrzunehmen, dass er zu weit gegangen war, denn er hob entschuldigend die Hände.

»Nichts für ungut, Cassie.«

»Nichts für ungut zu sagen macht die Sache nicht gut, Ted«, fuhr Felicia ihn an, bevor Cassie den Mund öffnen konnte. »Und diese kitschigen Strandromane verkaufen sich aus gutem Grund in Millionenhöhe. Sie behandeln Themen, die wichtig sind für Frauen. Wegen ihr habe ich meinen letzten Freund sitzen gelassen. Er schikanierte mich ständig, und eines Morgens wachte ich auf und dachte: Eine Heldin bei Catherine Swift würde es nicht dulden, so behandelt zu werden. Und das war’s. Dann war er Geschichte.«

Ted schluckte und trat einen Schritt zurück. »Wow. Das ist … ein bisschen verstörend, ehrlich gesagt. Ich meine, ich lese doch nicht einen Krimi und bringe danach jemanden um. Aber jedem das Seine.«

»Stimmt. Aber hast du je ein Buch von Catherine Swift gelesen?«

»Nein.« Der Schweiß auf Teds Brauen war nicht nur der Hitze in der Küche geschuldet. »Nicht mein Ding.«

»Aber wenn du noch keins gelesen hast«, sagte Felicia freundlich, »wie kannst du dann wissen, dass es nicht dein Ding ist? Du bist Akademiker. Du solltest nach Beweisen für deine Meinung suchen, oder?«

»Ja, du hast recht.« Er fuhr sich mit der Hand über den Nacken und warf Cassie einen beschämten Blick zu. »Es tut mir leid, Cassie. Das war grob und unsensibel.«

»Ja, das war es«, sagte Cassie, doch tatsächlich war sie daran gewöhnt. Sie hatte sich antrainiert, dass es ihr nichts ausmachte. Und meistens tat es das auch nicht. Allerdings störte es sie um ihrer Mutter willen, die klug war und unglaublich hart arbeitete und sich aus dem Nichts ein Leben aufgebaut hatte. Cassie fand, dass sie Respekt verdiente. Sie war maßlos stolz auf ihre Mutter.

Die Idee, Schriftstellerin zu werden, hätte sie nicht einmal in Erwägung gezogen, wäre sie nicht bei einer Mutter aufgewachsen, die genau das war. Catherine Swifts Arbeit bestand darin, sich an einen Laptop zu setzen oder manchmal auch an ein Notizbuch und sich Geschichten auszudenken. Wie cool war das denn!

Cassie wollte das Gleiche, wusste aber, dass das Ziel vermutlich unrealistisch war. Die Wahrscheinlichkeit, vom Schreiben leben zu können, war minimal. Ein Erfolg wie der ihrer Mutter blieb die Ausnahme.

Cassie fand ihren Erfolg inspirierend, aber auch einschüchternd und verunsichernd, weshalb sie niemandem außer Oliver erzählt hatte, dass sie wie ihre Mutter Schriftstellerin werden wollte. Na ja, nicht genau wie sie. Cassie erwartete nicht den Bruchteil des Erfolgs, den ihre Mutter hatte. Im Moment wünschte sie sich nur jemanden, der ihre Arbeit gut genug für eine Veröffentlichung hielt. Das würde ihr schon reichen. Das wäre traumhaft.

Obwohl sie miteinander über alles redeten, hatte sie ihrer Mutter diesen Traum bislang verheimlicht. Cassie konnte einfach nicht darüber sprechen. Was, wenn ihre Mutter etwas von Cassie lesen wollte? Was, wenn es ihr nicht gefiel? Das wäre so peinlich. Und in dem unwahrscheinlichen Fall, dass es ihrer Mutter doch gefiel, würde sie womöglich vorschlagen, es ihrer Agentin Daphne zu zeigen, und etwas noch Peinlicheres konnte Cassie sich kaum vorstellen. Die Leute würden denken, dass sie den Ruhm ihrer Mutter ausnutzte, um veröffentlicht zu werden. Aus diesem Grund hatte Cassie das Manuskript an eine andere Agentin geschickt und ihrer Mutter nichts davon erzählt.

Wenn sie diese Sache nicht zu ihren eigenen Bedingungen tat, würde sie nie an sich glauben können.

Allerdings war es zwei Monate her, dass sie das Manuskript weggeschickt hatte, und bislang hatte sie noch nichts gehört, was kein gutes Zeichen war.

Am Anfang hatte sie alle zehn Minuten mit klopfendem Herzen in ihre Mails geschaut und sich märchenhafte Szenarien ausgemalt, in denen sie eine E-Mail, vielleicht sogar einen Anruf erhielt und man ihr mitteilte, dass ihr Manuskript genau das Buch war, auf das sie gewartet hatten.

Als nichts passierte, zwang sie sich, ihre Mails zumindest einmal pro Stunde zu checken. Inzwischen hatte sie aufgegeben. Auf der Website der Agentin stand, dass sie Einsendungen normalerweise innerhalb von acht Wochen beantwortete, und diese Zeit war verstrichen, was vermutlich bedeutete, dass ihr Manuskript ihr nicht gefiel. Es war so schlecht, dass sie sich nicht einmal die Mühe machte, eine Ablehnung zu schreiben.

Aber Cassie würde natürlich weitermachen, auch wenn ihr Selbstvertrauen welkte wie eine Pflanze in der Hitze des Sommers.

Ted lächelte verlegen. »Ja, tja, noch mal sorry. Ich muss jetzt wirklich mit Rhonda über die Pläne fürs Wochenende sprechen.« Er wusch sich die Hände und verließ die Küche so überstürzt, dass er gegen den Tresen stieß.

Felicia sah ihm nach und schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was ich von ihm halten soll.«

»Er hat nichts gesagt, was nicht schon gesagt wurde«, sagte Cassie. »Man gewöhnt sich dran.«

»Ignorier ihn. Deine Mutter ist eine Legende.« Felicia schnappte sich ein Stück Feta. »Sie hat mir alles beigebracht, was ich über Liebe und gesunde Beziehungen weiß. Und auch über Resilienz. Ihre Charaktere finden immer ihren Weg, egal wie schwer das Leben ist.«

Cassie wurde warm ums Herz. »Danke, Felicia.«

»Hey, das ist alles wahr. Wenn du mir ein signiertes Exemplar ihres letzten Buchs besorgen willst, sage ich nicht Nein. Italienisch oder Englisch – ich bin nicht wählerisch.« Felicia warf den Käsewürfel in ihren Mund und lächelte. »Es muss cool sein, eine berühmte Mutter zu haben.«

»Meistens rede ich nicht darüber. Dir habe ich es nur erzählt, weil ich dich in dem ersten Sommer, in dem wir hier arbeiteten, ein Buch von ihr lesen sah.«

Felicia lehnte sich gegen den Kühlschrank. »Also eine weitere Hochzeit. Wird deine Halbschwester dabei sein?«

Cassie drehte sich der Magen um. »Ich … weiß es nicht.« Sie hatte sich verboten, über diesen Aspekt nachzudenken. Er war die eine dunkle Wolke am ansonsten strahlend blauen Sommerhimmel. »Ich hoffe nicht, wenn ich ehrlich bin. Bin ich deshalb ein schrecklicher Mensch?«

»Warum solltest du?« Felicia zuckte die Achseln. »Ihr zwei steht euch ja nicht gerade nah.«

Nah? Cassie unterdrückte ein hysterisches Lachen. Die Zeiten, in denen sie heimlich davon geträumt hatte, ihrer »großen Schwester« nah zu sein, waren lange vorbei. Denn diese Nähe, dachte sie, war ein noch größeres Hirngespinst, als eine publizierte Schriftstellerin zu werden. Eher würde sie auf der Bestsellerliste der Sunday Times stehen, als dass sie ein Lächeln oder ein paar warme Worte von Adeline bekommen würde. Und sie ging nicht davon aus, dass sie jemals auf der Bestsellerliste der Sunday Times stehen würde. Trübsinn überkam sie und eine gewisse Beklemmung, ähnlich dem Gefühl vor einem Zahnarztbesuch. Die Anwesenheit ihrer Schwester würde die Hochzeit nicht unbedingt ruinieren, Cassies Freude und Feierstimmung aber empfindlich beeinträchtigen. Und schlimmer noch, sie würde ihre Mutter aufregen, und wenn es einen Tag gab, an dem man einen Menschen nicht aufregen sollte, dann war es am Tag von dessen Hochzeit.

Vielleicht würde Adeline nicht auftauchen. Bei der letzten Hochzeit ihrer Mutter hatte sich Adeline strikt geweigert, Brautjungfer zu sein, sodass Cassie die Rolle allein hatte ausfüllen müssen. Sie hatte ein großes Aufhebens um ihre Mutter gemacht und Blumen geworfen und versucht, doppelt so breit zu lächeln wie sonst, um Adelines versteinertes Gesicht zu kompensieren. Es war mehr als offensichtlich gewesen, dass Adeline jede einzelne Minute gehasst hatte. Mit etwas Glück wollte sie sich dem nicht noch einmal aussetzen.

Ihre Schwester war nicht gerade eine Romantikerin. Tatsächlich hatte Cassie bei ihr noch keine einzige Gefühlsregung gesehen. Adeline war so cool und gefasst, dass es einem Angst machte. Sie war das genaue Gegenteil von Cassie, die ihre Gefühle offen zeigte. Tatsächlich fand sie ihre Schwester einschüchternd und etwas unterkühlt. Ab wann gab man es auf, sich zu bemühen?

In ihrer Teenagerzeit war Cassie immer freundlich zu ihr gewesen, wenn Adeline diese quälenden Sommerwochen auf Korfu verbrachte. Teilweise weil es ihre Natur war, aber auch, weil sie ihrer Schwester unbedingt nah sein wollte. Alle Bücher, die sie verschlang, behaupteten, eine Schwester sei ein Geschenk. Ein klarer Vorteil im Leben. Eine ältere Schwester war ein noch größerer Vorteil, weil sie Zugang zu reiferem Wissen und ein gewisses Maß an Schutz bot. Dazu die Garantie lebenslanger Freundschaft, die nicht von jenen Beben erschüttert wurde, an denen andere Beziehungen oft zerbrachen.

Cassie, die diese spezielle Beziehung aufbauen und nutzen wollte, hatte sich sehr um Adeline bemüht. Sie krümmte sich innerlich bei der Erinnerung, wie sehr sie um die Gunst ihrer Schwester gebuhlt hatte – ohne jede Chance. Wie ein Comedian, der verzweifelt versuchte, ein stoisches Publikum zum Lachen zu bringen. Ein Welpe, der um die Zuneigung von jemandem bettelte, der Hunde nicht leiden konnte. Ihre Bemühungen, Adeline näherzukommen, hatten sie eher voneinander entfernt. Mit jedem Schritt, den sie auf Adeline zu machte, war diese einen zurückgewichen. Verletzt und gekränkt hatte Cassie sich schließlich ebenfalls zurückgezogen und akzeptiert, dass sie niemals eine Beziehung zu ihrer Schwester haben würde. Sie würde sie niemals anrufen, wenn sie aufgeregt war wegen eines Jungen oder wegen ihrer Prüfungen, würde ihre Sorgen und Ängste niemals mit ihrer Schwester teilen können, weil Adeline nicht interessiert war. In Anbetracht dessen, dass Adeline ihr Leben der Aufgabe gewidmet hatte, anderen Menschen bei der Bewältigung unangenehmer Gefühle zu helfen, war das besonders schmerzhaft. Sie half gern anderen Menschen, aber nicht Cassie. Sie ließ Fremde an ihrer Weisheit teilhaben, aber nicht ihre eigene Schwester.

Ihre Gleichgültigkeit war etwas Persönliches. Als könnte Adeline ihre Nähe nicht ertragen, was Cassie wirklich bestürzte, da sie ihre Halbschwester eigentlich ziemlich cool fand.

Adeline war eine echte Erwachsene, wohingegen Cassie sich als klägliche Versagerin fühlte bei ihrem Versuch, erwachsen zu sein. Sie war eine Träumerin, während ihre Schwester unglaublich fokussiert und tüchtig war. Adeline war eine klinische Psychologin, und erwachsener konnte man ja wohl nicht sein. Dr. Swift. Sie verteilte Ratschläge und Mitgefühl an Menschen wie Cassie, die mit ihrem Leben nicht immer zurechtkamen.

Adeline war in allen Situationen selbstsicher und würdevoll, außerdem selbstständig und unabhängig. Cassie brauchte Menschen in ihrem Leben. Sie wusste nicht, wo sie ohne ihre Mutter und ihre Freunde wäre. Adeline schien niemanden zu brauchen.

Adeline war sich selbst und ihrer Entscheidungen sicher, Cassie hingegen war sich überhaupt keiner Sache sicher. Was ihre Zukunft anging, war sie definitiv nicht sicher. Wie viele Zurückweisungen ihres Manuskripts konnte sie ertragen, bevor sie akzeptierte, dass sie vom Schreiben nicht leben konnte? Wann würde sie aufgeben und sich einen »richtigen Job« suchen?

Sie fragte sich einen Moment, was Adeline sagen würde, wenn sie von Cassies schriftstellerischen Ambitionen wüsste. Sie würde ihren Traum vermutlich für unvernünftig halten, milde ausgedrückt.

»Früher habe ich mir gewünscht, dass wir uns näher wären, aber das habe ich aufgegeben«, erzählte sie Felicia. »Adeline ist acht Jahre älter als ich, insofern gibt es einen großen Altersunterschied. Nach der Scheidung entschied sie sich, bei ihrem Dad zu leben. Ich glaube, das hat meine Mutter fast umgebracht. Deshalb waren wir in unserer Kindheit und Jugend nicht viel zusammen.« Sie sah keinen Sinn darin, die Wahrheit zu beschönigen, und war nicht gut darin, Geheimnisse für sich zu behalten. Cassies Meinung nach waren Geheimnisse in Romanen großartig, sogar notwendig, doch im echten Leben machten sie die Dinge kompliziert.

Vielleicht würde Adeline die Einladung ihrer Mutter ablehnen.

Bitte, bitte, lass sie sie ablehnen!

Immerhin handelte es sich um eine Hochzeit, und nach den Ratschlägen in ihrer Kolumne zu urteilen, hatte Adeline nicht einen Funken Romantik im Blut. Natürlich nicht. Um romantisch zu sein, musste man etwas empfinden, und Cassie fragte sich, ob ihre Schwester überhaupt etwas fühlte.

Adeline schien die romantische Liebe als etwas Flüchtiges abzutun und als zu unzuverlässig, um als Basis einer längeren Beziehung zu dienen.

Cassie hatte sich bemüht, empathisch zu sein und die Situation aus Adelines Perspektive zu betrachten. Ihre Mutter hatte sich in Cassies Vater verliebt. Sie hatten eine Affäre gehabt, aus der Cassie hervorgegangen war. Adeline war acht gewesen, als ihre Eltern sich scheiden ließen, und das musste sehr schwer gewesen sein. Ihre Familie war zerstört, und Adeline hatte ihrer Mutter die Schuld dafür gegeben.

Aus ihrer eigenen Perspektive konnte Cassie die Dinge ein bisschen objektiver sehen. Wäre es zu der Affäre gekommen, wenn Catherine glücklich gewesen wäre in ihrer ersten Ehe? Nein. Manche Beziehungen funktionierten und andere nicht. Manche waren eine Zeit lang glücklich und gingen dann zu Ende. Das war bedauerlich, aber so war das Leben. Menschen veränderten sich. Beziehungen veränderten sich. Cassie bedauerte das Leid, das ihre Mutter Adeline und ihrem ersten Mann zugefügt hatte, doch ihrer Meinung nach war sie ihren aufrichtigen Gefühlen gefolgt und hatte eine mutige Entscheidung getroffen. Catherine hatte Adelines Vater nicht mehr geliebt. Es war vorbei. Was sollte sie tun? Sich den Rest ihres Lebens elend fühlen? Wem sollte das etwas nützen? Wenn etwas nicht funktionierte, funktionierte es eben nicht. So war das nun mal.

Cassie fand, dass Catherine ihrer Leidenschaft zu Recht gefolgt war (wenn sie es nicht getan hätte, gäbe es Cassie nicht, weshalb sie zugegebenermaßen voreingenommen war), doch Adeline sah das eindeutig anders.

Um ihre Schwester zu verstehen, hatte Cassie viel Zeit damit verbracht, Adelines Kolumne zu studieren.

Sie sinnierte über jedes Wort, analysierte jedes Detail und hatte das Gefühl, jede Antwort gäbe ihr Einblick in Adelines Seele. Gelegentlich hatte sie daran gedacht, ihr selbst einen Brief zu schreiben.

Meine Halbschwester hasst mich, und auch wenn manche Menschen glauben könnten, dass sie Grund dazu hat, war es wirklich nicht meine Schuld. Wie kann ich ihr helfen, ihren Zorn und ihre Bitterkeit zu überwinden, sodass wir die Chance haben, eine Beziehung aufzubauen?

Felicia gab ihr das Glas mit Oregano. »Beunruhigt es dich nicht, dass deine Mutter wieder heiratet?«

Dankbar für die Ablenkung von ihrer Grübelei, lächelte Cassie. »Überhaupt nicht.«

Warum sollte es? Sie würde ihrer Mutter ihr Glück niemals missgönnen. Und sie vertraute dem Urteil ihrer Mutter. Sie hatte mehr als sechzig Liebesromane geschrieben und sie millionenfach verkauft. Mehr Beweise brauchte es nicht, dass Catherine Swift alles über die Liebe wusste, was man wissen konnte.

Man heiratete kein viertes Mal, weil man versagt hatte. Man tat es, weil man voller Optimismus war. Nicht weil man die Vergangenheit bereute, sondern weil man Hoffnung für die Zukunft hatte.

Cassie wusste nicht, wen ihre Mutter heiratete, und musste es auch nicht wissen. Sie fand die Idee eines Geheimnisses aufregend. Wenn sie zur Feier auf der Insel ankam, würde sie es schon noch erfahren.

Ihre Mutter wollte offenbar eine große Überraschung vorbereiten, und romantischer konnte man nicht sein.

Cassie seufzte, während sie griechischen Salat auf Teller füllte und diese in den Kühlschrank schob.

Mit Glück würde Adeline sich entscheiden, nicht zur Hochzeit zu gehen.

Bitte, bitte, lass sie sich entscheiden, nicht hinzugehen.

3: Catherine

3

Catherine

Catherine Swift war mit einer Gabe auf die Welt gekommen.

Es gab nicht den einen speziellen Moment, in dem sie sie entdeckt hätte. Sie gehörte einfach zu ihr wie ihr widerspenstiges blondes Haar und ihre mangelnde Geschicklichkeit. Die Gabe war mit ihr gewachsen, bis sie ein eigenes Leben angenommen hatte. Catherine konnte sich an keine Zeit erinnern, in der nicht irgendwelche Geschichten und Charaktere in ihrem Kopf herumgewirbelt wären. Doch sie erinnerte sich genau, wann sie das erste Mal eine dieser Geschichten niedergeschrieben hatte.

Sie zwar zwölf gewesen, und ihre Mutter hatte sie gerade im Clifton House abgeliefert, einem Internat in der tiefsten englischen Einöde. Ihre Eltern steckten in einem erbitterten Scheidungskrieg, und ihre Mutter hatte entschieden, dass es für Catherine weniger traumatisierend wäre, ihr Zuhause zu verlieren und mit Fremden zu leben, als den hässlichen Niedergang einer Ehe zu begleiten. Das war jedenfalls die offizielle Begründung. Inoffiziell hatte ihre Mutter ihr nach einer Flasche Sauvignon blanc, die sie angeblich aus medizinischen Gründen trank, gestanden, dass sie einen neuen Ehemann finden musste, um ihren Lebensstil aufrechtzuerhalten. Und das könne sie nicht mit einer Tochter, es würde die Dinge komplizieren. Einen Mann zu finden war ähnlich mühsam, wie sich für einen Job zu bewerben. Man musste sich auf die Aufgabe fokussieren und sich voll reinhängen.

Es wird dir hier gefallen, hatte sie gesagt, als sie Catherines Koffer durch menschenleere Flure zog. Du wirst viele Freunde finden. Es wird wie ein Zuhause sein.

Es hatte Catherine nicht gefallen. Sie hatte keine Freunde gefunden und es war kein Zuhause gewesen. Nicht dass ihr Zuhause ein Ort der Fürsorge gewesen wäre. Weit davon entfernt. Das Internat hätte nicht viel bieten müssen, um die bessere Option zu sein. Dass es das nicht wurde, sagte viel über die Qualität der Einrichtung aus, die ihre Mutter gewählt hatte.

So wie Catherine es sah, hatte sie einfach ein Trauma gegen ein anderes eingetauscht.

Das Internat war ein großes braunes Ziegelgebäude mit Fenstern überall, nur nicht dort, wo sich die Mobberinnen versammelten. Wenn drei Mädchen entschieden, ihren Kopf in die Toilette zu drücken, gab es keine Zeugen dafür. Und niemand schritt ein, wenn sie entdeckten, dass ihr langes Haar ein tolles Seil abgab, an dem man sie den Flur entlangschleifen konnte.

Allerdings gab es Regeln. Mehr Regeln, als Catherine zählen konnte, und sie ergaben keinen Sinn. Warum musste sie auf der linken Seite des Flurs gehen? War es ein solches Verbrechen, wenn sie rechts ging? Warum mussten die Lichter um Punkt neun Uhr gelöscht werden, obwohl man das Kapitel des Buches, in dem man las, noch nicht beendet hatte? Warum durfte sie ihr Haar nicht abschneiden, wenn kurzes Haar doch die sicherere Variante war?

Ihr »Zuhause« war ein hartes, schmales Bett in einem Raum mit zehn anderen Mädchen, von denen sich keines über die Ankunft einer Außenseiterin freute. Catherine war nicht cool, sie war ungelenk und für kein Sportteam eine Bereicherung. Für die anderen Mädchen, die einander gnadenlos bewerteten, wurde sie zur Zielscheibe. Leider war das keine neue Erfahrung. Ihr Vater, ein begeisterter Sportler, war an ihr verzweifelt. Wie sehr sie sich auch angestrengt hatte, immer schrie er sie an. Bescheinigte ihr, sie sei ein hoffnungsloser Fall. Da ihm so viele zuzustimmen schienen, hatte sie keinen Grund, an seinen Worten zu zweifeln.

Zum Glück besaß das Internat eine Bibliothek. Wann immer sie die Möglichkeit hatte, suchte Catherine dort Zuflucht. Versteckt zwischen hohen Regalen und verstaubten Büchern stellte sie sich vor, sie wäre Jane Eyre – allein, zurückgewiesen, ungerecht behandelt. Sie tauchte in die Romane ab, doch niemandes Worte boten ihr die gleiche Zuflucht wie ihre eigenen.

Zu Hause hatte sie überlebt, indem sie sich innerlich distanzierte, indem sie im Kopf lebte und nicht in der Realität. Da es in ihrem echten Leben keine Happy Ends gab, hatte sie sie erfunden. Ihre Vorstellungskraft ersann Geschichten von Beziehungen, die nicht so endeten wie die ihrer Eltern, erdachte Gespräche, die nicht mit zerschmettertem Geschirr und gebrochenen Herzen endeten. Sie freute sich, in jede andere Welt abzutauchen, Hauptsache, es war nicht die eigene.

Im Internat tat sie das Gleiche. Es frustrierte sie, dass ausgerechnet sie, die Worte so liebte, niemals die richtigen Worte fand, wenn sie vor einer Mobberin stand. Vermutlich lag das daran, dass sie ihnen insgeheim zustimmte. Sie war all das, was sie ihr an den Kopf warfen, wie konnte sie sich da verteidigen?

Dennoch spielte sie abends stundenlang die Szenen im Kopf durch und ersann ein perfektes Ende mit ihr als Siegerin.

In ihrem Kopf lebten Charaktere, die sie während der Schulstunden ablenkten. Wenn sie allein und auf sich gestellt war und das Mobbing fast unerträglich wurde, leisteten sie ihr Gesellschaft. Das einzige Fach, das ihr wirklich Spaß machte, war Englisch. Als die Klasse zum ersten Mal eine Kurzgeschichte schreiben sollte, war dies der glücklichste Tag in Catherines Leben. Endlich konnte sie diese Figuren zum Leben erwecken. Endlich konnte sie in einer Sache hervorragend sein.

Sie schrieb schnell und schwungvoll, die Worte flossen ihr aus dem Kopf in den Stift und auf das Papier.

Als sie fertig war, schrieb sie ihren Namen in großen Buchstaben oben auf die Seite und gab die Arbeit stolz und mit unverhohlener Freude ab. Sie konnte kaum schlafen in jener Nacht und stellte sich den Moment vor, wenn die Lehrerin die Arbeit zurückgab. Miss Barrett war groß, hatte dünne Lippen, eine schmale Nase und einen ebenso schmalen Sinn für Humor. Sie war schwer zufriedenzustellen und wand beträchtliche Mühe auf, Englisch zum unbeliebtesten Fach im Internat zu machen. Sie lasen Anna Karenina und Sturmhöhe, Madame Bovary und Romeo und Julia, und Catherine fragte sich unwillkürlich, ob es dabei eine verborgene Botschaft gab, ob Miss Barrett sie in Literatur unterrichtete und gleichzeitig vor den Gefahren unkontrollierter Leidenschaft warnte. Sie lasen eine Tragödie nach der anderen, Liebesgeschichten voller Unglück. Wir werden alle als Single sterben, dachte Catherine, wobei ihr das ein glücklicheres Ende schien, als für die Liebe zu sterben.

Warum musste Liebe tragisch enden?

Doch das Problem hatte sie behoben. Für die Aufgabe hatte sie eine Geschichte voller unkontrollierter Leidenschaft, aber ohne Tragödie geschrieben.

Sie konnte es kaum erwarten, dass Miss Barrett sie las, und stellte sich schon die Reaktion vor.

Catherine, ich wusste nicht, dass du so viel Talent hast.

Sie stellte sich vor, wie die anderen Mädchen sie anstarrten, wie ihre Mienen Neid statt Verachtung zeigten und sie sich wünschten, ihre Gabe zu besitzen. Vielleicht hatte sie kein Ballgefühl und war etwas linkisch, doch sie konnte schreiben. Sie würde, wenn schon nicht beliebt, dann zumindest toleriert sein. Vielleicht würden die anderen sie um Hilfe bei den Hausaufgaben bitten. Catherine, du bist so brillant in Englisch …

Wie so oft im Leben liefen die Dinge nicht so, wie sie sich das ausgemalt hatte.

Miss Barrett gab allen Mädchen die Blätter kommentarlos zurück, als hätte Lob ernsthafte gesundheitliche Konsequenzen.

Catherine wartete, dass sie an die Reihe kam. Sie konnte die in Rot geschriebene Note vorn auf den Blättern des neben ihr sitzenden Mädchens sehen. B+. Gut!

Sie war die Letzte. Hatte das etwas zu bedeuten?

»Catherine.« Miss Barrett ging zu ihrem Schreibtisch zurück, als es für die Pause klingelte. »Du bleibst hier.«

Alle Köpfe drehten sich zu ihr. Jeder sah sie neugierig an, spürte den drohenden Ärger.