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Mehr als 200.000 Paare streiten sich alljährlich im Trennungsfall vor Gericht um das Sorgerecht für ihre Kinder. Der Staat hat den Auftrag, diese Kinder zu schützen und scheitert daran kläglich: Familiengerichte, Jugendämter und die Polizei treten Kinderrechte immer öfter mit Füßen, trennen selbst die Kleinsten regelmäßig von ihrer Hauptbezugsperson. Die Kinderschutz-Expertin Sonja Howard und die Journalistin Jessica Reitzig sind die ersten, die geballt über das Schicksal dieser Kinder berichten. Sie kritisieren das Justizsystem, das vor Fehlurteilen und Willkür nur so strotzt. In acht Erlebnisberichten von Eltern wird die Fallhöhe einer jeden Partnerschaft mit Kindern deutlich. Die Autorinnen liefern eine schockierende Bestandsaufnahme unseres "Rechtsstaats" und zeigen, wie die Politik dringende Reformen immer wieder vertagt – Hausaufgaben für die Verantwortlichen inklusive.
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Veröffentlichungsjahr: 2023
Im Zweifel gegen das Kind
Sonja Howard, geboren 1988, ist Expertin für Kinderschutz. Sie ist Mitglied im „Nationalen Rat“ der Bundesregierung gegen Kindesmissbrauch, arbeitet zum Thema Behörden- und Justizversagen und als Referentin und Sachverständige zu allen Themen rund um Gewalt in der Kindheit. Zudem co-hostet sie den Podcast der Kinderschutz-Stiftung Hänsel+Gretel. Sie leitet die NGO "In dubio pro infante" und lebt mit ihren vier Kindern in Bonn.
Jessica Reitzig, geboren 1984, ist Diplom-Journalistin und Absolventin der RTL-Journalistenschule. Sie ist Mitglied im Netzwerk-Recherche und hat sich mit ihren emotionalen Reportagen im TV einen Namen gemacht. Mit politischem Engagement setzt sie sich für die Kinderrechte ein, ist Ratsfrau im Stadtrat und Vorsitzende im Jugendhilfeausschuss. Sie lebt in einer Patchworkfamilie mit fünf Kindern bei Hannover.
In jeder dritten Familie leben Kinder, deren Eltern getrennt sind. Was passiert, wenn Eltern sich vor Gericht um den Nachwuchs streiten? Wenn die Situation so eskaliert, dass Vater oder Mutter die Herausgabe der Kinder per Gerichtsbeschluss zu erzwingen versuchen?
Sonja Howard und Jessica Reitzig zeigen anhand von acht realen, sehr bewegenden Fällen, vielen Fakten und der Expertise renommierter Fachleute, was an deutschen Familiengerichten tagtäglich schiefläuft. Jugendämter und Richter, Gutachter und Verfahrensbeistände ohne jegliche Ausbildung sowie involvierte Polizeibeamte sorgen für bleibende Traumata bei den Kindern. Da werden etablierte Betreuungsmodelle der vermeintlichen Elterngerechtigkeit geopfert, Kinder in den Umgang gezwungen, zwangsumplatziert oder gar in Obhut genommen. Gerade die schutzbedürftigsten Menschen brauchen eine Garantie, dass die vom Staat bestellten Helfer in ihrem Sinne handeln – und die Lage nicht noch verschlimmern.
Howard und Reitzig beleuchten einen Justizskandal und entwerfen einen Maßnahmenkatalog, der die Kinderrechte in unserem Land besser schützt.
Sonja Howard und Jessica Reitzig
Wie Gerichte, Jugendämter und Polizei die Kinderrechte mit Füßen treten
Ullstein
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© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2023Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.Alle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: total italic, Thierry WijnbergUmschlagmotive: © by rawpixel.com on Freepik (Mauer), Shutterstock/ R-studio (Papier)Autorinnenfotos: © Christine Fenzl (Sonja Howard), © Michel Eram (Jessica Reitzig)E-Book powered by pepyrusISBN: 978-3-8437-3021-1
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Die Autoren / Das Buch
Titelseite
Impressum
Im Zweifel gegen das Kind
Die Lügen-Mutter
Der Kämpfer-Vater
Das Kindeswohl: Was sagt Sonja?
Die Helikopter-Mutter
Der Helden-Vater
Der Kindeswille: Was sagt Sonja?
Das Heim-Kind
Die Wochenbett-Mutter
Das perfide Spiel
Der sexuelle Missbrauch: Was sagt Sonja?
Die Münchhausen-Mutter
Das System
Kein Ende
Die Hausaufgaben
Nachtrag
Anmerkungen
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Im Zweifel gegen das Kind
ODERWas im Namen des Staates wirklich passiert
In jeder dritten Familie leben heute Kinder, deren Eltern getrennt sind.1 Für die Erwachsenen bedeutet das häufig: Sorgen, Streit und Frust. Und die Kinder sitzen machtlos mittendrin im Gefühlschaos. Wann bin ich bei Papa? Wie oft sehe ich Mama? Was früher selbstverständlich war, macht plötzlich Bauchschmerzen, denn immerzu gibt es Stress. In mehr als 200.000 Fällen pro Jahr ziehen Eltern vor Gericht, weil sie sich ums Sorgerecht für ihre Kinder streiten. Mehr als 4000 Mal eskaliert die Situation derart, dass ein Elternteil die Herausgabe der Kinder per Gerichtsbeschluss zu erzwingen versucht. Zur Durchsetzung wird immer öfter sogar die Polizei auf den Plan gerufen.2 Das ist schon lange kein Einzelfall mehr in Deutschland.
Und die Kinder? Die kommen vor Gericht, wenn ihre Eltern sich nicht einigen können. Sie werden vom Richter befragt: Zu wem möchtest du, zu Mama oder Papa? Rund 90 Prozent der Familienrichter halten es für vertretbar, Kindern diese Frage zu stellen.3 Dabei spielt das Alter der Kinder laut Gesetz keine Rolle. Sogar die Meinung von Kleinkindern wird vor Gericht abgefragt.4 Und der totale Kontaktabbruch wird somit nicht selten gerichtlich zementiert: Etwa jedes fünfte Kind verliert den Kontakt zu einem Elternteil vollständig – nach einer Trennung.5
»Manchmal geht es den Eltern nur ums Haben, also darum, das Kind zu besitzen, und nicht ums Vater- oder Mutter-Sein«, sagt Verfahrensbeiständin Kathrin Renner-Grützmacher. Sie ist die Anwältin der Kinder. Vom Gericht wird sie berufen, um die Kinder anzuhören und ihnen im Verfahren eine Stimme zu geben. In den letzten zehn Jahren hat sie mehr als 250 Kinder in Gerichtsverfahren vertreten und weiß, was da so alles schieflaufen kann. »Zu Mama oder Papa? Diese Frage darf man so eigentlich gar nicht stellen. Die Kinder haben dann das Gefühl, dass sie etwas entscheiden müssen, was die Erwachsenen nicht hinbekommen. Die Last wird mit so einer Frage komplett auf die Kinder abgewälzt.« Kathrin Renner-Grützmacher kennt aber mehr als genug Fälle, in denen Verfahrensbeistände die Kinder genau so befragen – und die Kleinsten damit in einen unüberwindbaren Loyalitätskonflikt hineinziehen. Denn Kinder hören dann nur noch: Wen hast du mehr lieb? Wen verrätst du? Und auf wessen Seite stellst du dich?
Kinder, die mehr als dreißig Anhörungen über sich ergehen lassen müssen, ins Verhör genommen werden von Verfahrensbeteiligten ohne adäquate Ausbildung – das ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel.
»So etwas kann traumatisieren«, warnt einer, der sich auskennt. Dr. Wolfgang Hammer ist Autor einer Studie, die die Fachwelt gerade ordentlich durchrüttelt.6 Der Soziologe legt den Finger in die Wunde: »Die Situation der betroffenen Kinder ist dramatisch. Langjährige parallele Verfahren, damit einhergehende Verhaltensauffälligkeiten sowie das Auflösen erfolgreich gelebter Betreuungsmodelle hin zu ›Wechselmodellen‹, bis hin zu Umplatzierungen von Kindern. Diese Fälle häufen sich, und das geschieht nicht nur gegen den Willen eines Elternteils, sondern auch gegen den Willen der Kinder.« Gemeinsam mit mehr als einem halben Dutzend Experten fordert er, dass schonungslos mit den unsäglichen Zuständen an deutschen Familiengerichten und Jugendämtern aufgeräumt wird. »Kinder werden einem Elternteil weggenommen, zum Teil mit Polizeieinsatz. Kinder im Grundschulalter, die sich gut entwickelt haben, werden einfach mitten aus dem laufenden Unterricht in irgendeine Einrichtung geschafft. Und das sogar ohne die Möglichkeit, sich wenigstens von Mama, Papa oder Freunden verabschieden zu können«, weiß Hammer.
Er schlägt in die gleiche Kerbe wie so mancher Anwalt, der die mit Händen zu greifenden Missstände vor Familiengerichten nicht länger ertragen kann. Denn selbst die Kinder, die sich gegen die Beschlüsse zu wehren imstande sind und Umgänge mit einem Elternteil verweigern, finden viel zu oft kein Gehör. Der staatliche Stempel eines Familiengerichts besiegelt den Willensbruch immer häufiger, weiß Rechtsanwalt Pajam Rokni-Yazdi: »Gesunde Kinder verlieren ihr Zuhause, weil die Umgangslösung nicht klappt – das ist inzwischen mein beruflicher Alltag. Permanent wird der Kindeswille gebrochen. Da haben Kinder Umgang, einen Wechsel oder eine Fremdunterbringung zu akzeptieren.« Als unerträglich empfindet auch Claudia Chodzinski diese institutionalisierte Gewalt. Die Dozentin für Traumapädagogik begleitet betroffene Kinder und deren Mütter oder Väter seit vielen Jahren durch Gerichtsverfahren: »Den einen werden zu Unrecht ihre Kinder entzogen, die anderen dürfen sie behalten, obwohl Fachkräfte schon diverse Kindeswohlgefährdungen angezeigt haben. Manch ein Familiengericht rühmt sich mit hohen Fallzahlen, in denen Eltern sich angeblich einigen. Dass diese Einigungen häufig erpresst worden sind, kommt nicht zur Sprache. Das läuft dann so: ›Entweder Sie einigen sich, oder das Kind kommt weg.‹«
Aber was läuft eigentlich falsch in diesem System, in dem die größte Last viel zu häufig auf den schwächsten Schultern abgelegt wird? »Wir haben in Deutschland das Problem, dass einfach jeder Verfahrensbeistand werden kann. Es gibt keine einheitliche Ausbildung, keine bestimmte verpflichtende Schulung«, meint die Juristin Katrin Renner-Grützmacher und kommt damit auf einen Knackpunkt im System Familiengericht zu sprechen. Verfahrensbeistand ist, wer vom Richter dazu berufen wird. Qualifikation? Fehlanzeige. Zwar sieht der Gesetzgeber seit Kurzem vor, dass der Anwalt der Kinder über »Kenntnisse der Entwicklungspsychologie des Kindes und über kindgerechte Gesprächstechniken verfügt«7 – ein einheitlicher Standard zur Überprüfung dieser Qualifikation existiert allerdings nicht. Mal ganz abgesehen davon, dass keine Nachweise zur Erfahrung von praktischer Arbeit mit Kindern eingefordert werden. Wir überlassen die Unterstützung der Kleinsten also denen, die sich gerade für diesen Job finden. Auch wenn sie keine Ahnung von Psychologie haben. Auch wenn sie noch nie zuvor mit Kindern gearbeitet haben. Und das passiert in einem Land, in dem es sogar eine Verordnung gibt, die den Gebrauch von Föhnen in einem Friseursalon regelt! Ein Skandal, der seinesgleichen sucht.
Noch krasser wird es, wenn es um mutmaßlichen Kindesmissbrauch geht. Regelmäßig tauchen schier erschlagende Mengen an sogenanntem kinderpornografischen Material auf. Lehrpersonal muss sich mit der Polizei in der Mittagspause Fotos von betroffenen Kindern ansehen in der Hoffnung, dass ein weiteres Opfer identifiziert werden kann. Doch kaum jemand scheint zu realisieren, dass diese unfassbare Menge an Bild- und Videomaterial noch immer den kleinsten Teil der tatsächlichen Taten widerspiegelt, da Missbrauch in der Regel eben nicht aufgezeichnet wird. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht davon aus, dass bis zu eine Million Kinder und Jugendliche in Deutschland bereits sexuelle Gewalt durch Erwachsene erfahren mussten oder erfahren. Das sind rund ein bis zwei Kinder in jeder Schulklasse.8 Und ebenfalls kaum jemand scheint die logische Schlussfolgerung zu ziehen, dass etliche dieser Fälle, die aus Mangel an Beweisen nie vor einem Strafgericht landen, im Rahmen von Trennungskonflikten aber früher oder später vor einem Familiengericht ausgetragen werden. Denn häufig genug führt ein entdeckter Missbrauch zu einer Trennung. Und dann? Werden die Vorwürfe von Familienrichtern oft pauschal als »Schmutzkampagne« gegen den anderen Elternteil abgetan. 95 Prozent aller Missbrauchsvorwürfe an einem Familiengericht würden zu Unrecht behauptet laut der Aussage einer Richterin in einem Beitrag des Deutschlandfunks.9 Eine Fehleinschätzung, die viel zu viele Richter teilen und die sich dramatisch auf Prozessverläufe und auf die betroffenen Kinder auswirkt.
Und die Qualifikation von Familienrichtern? Auch hier sieht es nicht gut aus. Auf den Richterstuhl gesetzt wird, wer sein zweites Staatsexamen abgeschlossen hat. Auch, wenn er oder sie noch nicht eine Vorlesung zum Thema Familienrecht besucht hat. Ebenfalls keine Rolle spielt es, ob ein Jura-Absolvent Erfahrung in der Arbeit mit Kindern hat. Zwar sind auch Familienrichter seit Kurzem dazu verpflichtet, diese Kenntnisse »alsbald« zu erwerben.10 Allerdings ist auch dieses neue Gesetz nicht zu Ende gedacht: Wie sollen sich die vielen Tausend Familienrichter in Deutschland gleichzeitig fortbilden? Wer bietet diese Fortbildung an und wie sieht die Zertifizierung aus? Was sind die Inhalte?
Richterin Mari Weiß kennt den Alltag an Familiengerichten und das Problem der mangelhaften Qualifikation. Sie kreidet dem eigenen System an, dass der Kinder- und Opferschutz häufig viel zu kurz kommt: »Wir müssen den Schutz der Kinder immer mitdenken. Ein erzwungener Kontakt kann Bindungen und den Selbstwert des Kindes zerstören.« Doch viele Richter sind nicht nur schlecht ausgebildet, sie stehen zudem auch unter erheblichem Druck. Pro Verfahren stehen nur 237 Minuten zur Verfügung. Zu wenig, um Kinderschutz sicherzustellen. Die Arbeitsbelastung an deutschen Familiengerichten ist enorm, das belegen auch die aktuellen Zahlen zur Kindeswohlgefährdung: In 197.759 Fällen wurde im Jahr 2021 ein Verfahren eröffnet, weil das körperliche, seelische oder geistige Wohl eines Kindes gefährdet war.11 Es geht um den Verdacht von Vernachlässigung, Misshandlung und Gewalt. Und die Zahl dieser Verfahren steigt von Jahr zu Jahr.
Können Eltern nicht für ihr Kind sorgen oder schaden sie seinem Wohl sogar aktiv, ist der Staat in der Pflicht, das Kind zu schützen. So regelt es unser Grundgesetz in Artikel 6 – eine Herausforderung, an der Richter viel zu oft scheitern: »Wir sprechen von hochkomplexen Verfahren, hochemotionalen Anhörungen und auch mit der Notwendigkeit der Anhörung traumatisierter Kinder. Aus meiner Sicht ist es im höchsten Maße bedenklich, dass es möglich ist, ohne jegliche Vorbildung in diesem Bereich tätig zu sein.« So schätzt Prof. Dr. Stefan Heilmann die Lage ein. Er ist Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht in Frankfurt am Main, dort ist er zuständig für den 1. Senat für Familiensachen. Und Heilmann geht noch weiter: »Ministerien, Landesjustizverwaltungen und Gerichtspräsidenten sehen hierin häufig kein Problem. Dem Gebiet des Familienrechts wird insgesamt von innen und außen häufig mit, das muss man so deutlich sagen, Arroganz und Selbstüberschätzung begegnet«,12 berichtete er 2019 dem Ausschuss für Recht des Deutschen Bundestags. Aus seinen Ausführungen wird deutlich: Familienrichter, das ist wahrlich kein Job, um den sich Jura-Absolventen reißen werden. Denn wer möchte schon nach mindestens zehn Semestern Studium in einem System arbeiten, das chronisch überlastet ist?
Was hat sich seit dieser Anhörung vor dem Ausschuss vor vier Jahren in Berlin in Sachen Kinderrechte verbessert? Nichts! Welche umfassende Reform wurde auf den Weg gebracht? Keine! Im Koalitionsvertrag hatte sich die GroKo 2017 noch viel vorgenommen, vollmundig eine Reform des Kindschaftsrechts angekündigt.13 Eine Arbeitsgruppe formulierte dann ein Thesenpapier.14 Der Gesetzesentwurf liegt seitdem in der Schublade und wird diese in absehbarer Zeit wohl auch nicht wieder verlassen. Heute ist aus Berlin zu hören, die aktuelle Ampel-Regierung sei sich ebenfalls nicht einig. Und dabei hatten SPD, Grüne und FDP 2021 noch im Koalitionsvertrag festgehalten, dass das Wechselmodell zum Standard im Trennungsfall werden soll.15 Allerdings hatten die Koalitionäre wohl nicht mit der Entrüstung der Experten gerechnet, die danach über sie hereinbrach. Die Einbringung der Reform? Bis auf Weiteres vertagt!
Und das, obwohl viele Verantwortliche in hohen und höchsten Positionen schon lange wissen, was in ihren Gerichten schiefläuft. Einige wenige sind mutig genug und sprechen klare Worte, benennen Fehlurteile, klagen ihr eigenes System an: »Es ist dringend geboten, die Risiken fehlerhafter Verfahrensführung und falscher gerichtlicher Entscheidungen auf dem Gebiet des Kindschaftsrechts – und damit meine ich nicht nur den Kinderschutz, sondern alle Bereiche des Sorge- und Umgangsrechts – zu minimieren. Aus meiner Sicht ist die Gesellschaft dies Kindern und Eltern schuldig.«16 Das sagt Prof. Dr. Stefan Heilmann, der Vorsitzende Richter am Oberlandesgericht in Frankfurt am Main. Er ist einer der wenigen Mutigen.
In diesem Buch schildern Eltern ihre Erfahrungen hinter den Gerichtsmauern, berichten von Überforderung und Willkür – und von ihren verzweifelten Kindern. Ganz bewusst kommen Mütter UND Väter zu Wort. Sie fordern, dass sich etwas ändern muss an deutschen Familiengerichten. Davon sind auch wir nach unseren Recherchen inzwischen überzeugt. Denn hinter jedem hier beschriebenen Fall stehen unzählige weitere Betroffene, die Ähnliches erleben mussten. Und obwohl wir uns nun schon seit Jahren auf den verschiedensten Ebenen mit den Themen Kinderschutz, Gewalt und Missbrauch beschäftigen, hätten wir das, worum es hier geht, in diesem Ausmaß nicht für möglich gehalten.
Persönlich bringen wir einige Erfahrungen zum Thema Trennung, dem Leben als Alleinerziehende und zu den Herausforderungen einer Patchworkfamilie mit. Teil der Biografie von Sonja Howard ist zudem eine Kindheit, die geprägt war von Gewalt und Missbrauch. Auch hat sie das Versagen sämtlicher Behörden und Außenstehender erlebt und weiß, wie es sich anfühlt, wenn der Staat ein hilfesuchendes Kind nicht schützen kann. Beide haben wir in unserem privaten, gesellschaftlichen und politischen Umfeld auch immer wieder die Erfahrung machen müssen, wie schwierig es ist, den Interessen von Kindern Gehör zu verschaffen. Viel zu oft geht es um die Frage, wer »Recht« hat – Mutter oder Vater? Viel zu selten geht es darum, die Kleinsten in den Mittelpunkt zu stellen und eine gute Entscheidung FÜR das Kind zu treffen. Denn Kinder werden häufig nicht als das wahrgenommen, was sie nach dem Gesetz sind – eigenständige Menschen mit eigenen Rechten.
Alle in diesem Buch beschriebenen Fälle entsprechen den Tatsachen. Wir haben die Betroffenen persönlich zu Interviews getroffen, Gerichtsakten und Polizeiberichte studiert. Alle Namen haben wir anonymisiert und auch die Ortsmarken der jeweiligen Fälle verändert, um die Identität der betroffenen Kinder bestmöglich zu schützen.
ODERWas, wenn dir niemand glaubt?
Daniela Hamer steht in ihrer Küche und drückt den Knopf ihres Kaffeeautomaten. Über uns poltert es laut, sie entschuldigt sich. Die Nachbarn, die Wohnungen über uns, leider alles etwas hellhörig hier, meint sie. Das Zuhause von Daniela Hamer liegt mitten in einer westdeutschen Großstadt. Die hohen Altbauwände in der Küche sind liebevoll dekoriert: Hier sitzt ein bunter Schmetterling an der Tapete, dort ruht eine silberne Libelle auf der Stuckleiste. Die Möbel zeugen von einem zusammengewürfelten Haushalt. Einiges habe sie von den Vormietern übernommen oder gebraucht erstanden, erklärt Daniela Hamer, als wolle sie sich dafür entschuldigen. Wahrscheinlich hat sich diese Frau mit ihren 45 Jahren schon viel zu oft für Dinge entschuldigt, für die sie eigentlich nichts kann, vermute ich. In den Regalen hinter ihr ist alles penibel sortiert und gestapelt, sogar die Einkaufstaschen aus Jute sind gefaltet abgelegt. Es sieht aus, als wolle hier eine Frau Ordnung schaffen, die sich sonst regelmäßig mit dem Chaos des Lebens konfrontiert sieht.
Im Flur turnt ein aufgeweckter Zehnjähriger umher. Sein roter Kapuzenpulli sitzt locker auf den Schultern, Hannes sieht ein bisschen mager aus unter dem dicken Pullover. Auf der Kommode steht ein Foto von ihm und seinem drei Jahre älteren Bruder Lukas. Der hat eine schicke schwarze Hornbrille auf der Nase, lächelt frech in die Kamera und legt dem Kleinen dabei den Arm um die Schultern. Typische Beschützergeste, denke ich, während Mama Daniela noch schnell einen Apfelschnitz macht, den Jungen damit ins Wohnzimmer schiebt und ihm noch einen Kuss auf die Wange drückt. Natürlich nicht, ohne ihm vorher eine Hörgeschichte anzustellen und ihm die Kopfhörer aufzusetzen. Dieses Kind hat in seinem kurzen Leben definitiv schon viel zu viele Erwachsenenprobleme mitgehört, schlussfolgere ich. Da braucht er nicht auch noch mitzuhören, was mir, Jessica, seine Mutter gleich in der Küche berichten wird.
Wenig später sitzen wir am Küchentisch, trinken frischen Kaffee, und in die blauen Augen von Daniela Hamer treten Tränen. Eben noch hatte sie mir von der Verliebtheit erzählt, die die ersten gemeinsamen Jahre mit dem Vater ihrer beiden Jungs prägte. 2005 kennengelernt, 2006 geheiratet, 2007 erblickt Lukas das Licht dieser Welt. Er Arzt, sie Krankenschwester. Ihre Welt war rosa getüncht in dieser Zeit, ihre Erinnerungen reihen sich aneinander wie die Bilder einer Foto-Love-Story aus einer Teenager-Zeitschrift. Jetzt hat sie die ersten schwierigen Situationen angerissen, es ist 2011, der zweite Sohn, Hannes, ist inzwischen wenige Monate alt. Da passiert es zum ersten Mal: Im Oktober liegt Stefan nach dem Besuch einer Hochzeitsfeier neben ihr auf dem Hotelbett, die Kinder sind in ihre Decken eingekuschelt. Sie liegen in eigenen Bettchen zu den Füßen ihrer Eltern in dem engen Hotelzimmer. Stefan hat getrunken an diesem Abend. Er ist gereizt, mal wieder, so wie schon in den vergangenen Tagen und Wochen. Daniela beginnt zu reden, will die wenige Zeit, die die beiden mit ihren ruhig schlafenden Kindern haben, für ein Gespräch nutzen. Kurz zuvor hatte sie entdeckt, dass ihr Mann ein Verhältnis mit einer seiner Angestellten hat, die Möglichkeit einer Trennung bisher nur im Stillen erwogen. Sie will es noch mal versuchen, schauen, ob sie nicht doch an ihn rankommt. Aber es gelingt ihr nicht. An diesem Abend erlischt nicht nur der letzte Funke Hoffnung, ihre Ehe doch noch zu retten. Auch das letzte bisschen Vertrauen in den Vater ihrer Kinder zerrinnt. Übrig bleibt von diesem Abend, neben der verdunkelten Erinnerung an die Szenen, die sich im Ehebett abspielen, von Daniela nur noch ein ganz kleiner Rest Mensch.
Am nächsten Morgen traut sich Daniela erst nicht an den gemeinsamen Frühstückstisch mit der verbliebenen Hochzeitsgesellschaft. Zu groß ist ihre Scham, zu auffällig sind ihre Verletzungen. Die blauen Handabdrücke an ihren Oberarmen verbirgt sie zwar unter dem Pullover, aber die Verletzungen im Gesicht sind zu auffällig, um sie mit Schminke zu überdecken. Dann geht sie doch runter zum Frühstück, schließlich braucht ihr dreijähriger Sohn etwas im Magen. Es dauert nicht lange, bis ein Freund der Familie sie beiseitenimmt. Eindringlich überzeugt er sie davon, am nächsten Morgen zum Arzt zu gehen und ihre Verletzungen dokumentieren zu lassen.
Als Daniela mit ihrer Schilderung zu Ende ist, laufen Tränen ihr Gesicht hinab. Das alles ist mehr als zehn Jahre her, und doch konnte sie noch keinen Abstand gewinnen. Seitdem begleitet die Sorge um ihre Kinder sie wie ein täglicher Schatten. Wann ist der nächste Umgang mit dem Vater? Werden die Nachbarn schon wieder die Polizei rufen, weil ihr Ex Stress macht? Kommen die Jungs heil vom Vater zurück? Was, wenn nicht? Müssen Lukas und Hannes dann schon wieder zum Jugendamt, um eine Aussage zu machen? Werden die Kinder auch verständlich zusammenfassen, was wirklich passiert ist? Und: Warum glaubt ihr niemand, wenn sie von der Gewalt gegen sich und die Kinder berichtet? Warum hilft den Jungs niemand?
»Das war der schlimmste Tag meines Lebens«, sagt Daniela Hamer wenig später, während sie auf ihrem Küchenstuhl hin und her rutscht. Damit meint sie nicht den Tag, an dem ihr Mann sich an ihr verging. Damit fasst sie einen Tag im Oktober 2014, vier Jahre nach dem brutalen Vorfall, zusammen. Damals ist Daniela 37, seit vier Jahren getrennt und alleinerziehend. Sie hat zu diesem Zeitpunkt bereits zwölf Gerichtsverfahren mit ihrem Ex hinter sich. Drei Mal hat sie über eine Beratungsstelle versucht, gemeinsam mit dem Vater ihrer Kinder zu einer Lösung zu kommen. Drei Mal scheiterten die Gespräche. Die Jungen wurden immer wieder aufs Neue befragt, angehört, verhört. Von Jugendamt, Verfahrensbeiständen, Gutachtern und Polizei. Daniela weiß heute nicht mehr, wie oft genau. An diesem Tag im Oktober 2014 sitzt sie im Gerichtssaal des Oberlandesgerichts. Vor ihr auf der Richterbank sitzen drei Männer. Alle gucken gelangweilt zu ihr hinunter. Einer schnippt immer wieder ein Gummiband zwischen den Fingern hindurch. Daniela wartet auf die Verkündung von Urteil Nummer 13 zum Streit ums Sorgerecht. Zuvor hatte das Amtsgericht ihr das alleinige Sorgerecht für ihre Söhne übertragen. Kein großer Erfolg, sondern die Konsequenz nach vier Jahren Krieg um die Kinder. Die Verfahrensbeiständin, die gerichtlich zugewiesene Anwältin der Kinder, und die Mitarbeiterin des Jugendamts machen ihr Hoffnung, dass das OLG die Entscheidung des Amtsgerichts bestätigen wird. Doch der Termin läuft ganz anders als gedacht. Die Richter halten Daniela für überspannt. Sie sagen ihr, es sei normal, dass es unterschiedliche Erziehungsansichten zwischen Mutter und Vater gebe. Daniela wird emotional, wehrt sich argumentativ. So lange, bis der Vorsitzende Richter sie unterbricht. Er macht ihr klar, dass es ihre Aufgabe als Mutter sei, sich mit dem Vater zu einigen, denn sie hätten nun einmal gemeinsames Sorgerecht. Und er droht ihr: Wenn ihr das nicht gelingen würde, könnte er ihr auch das Sorgerecht entziehen – und es komplett an den Vater übertragen.
Einige Wochen später bekommt Daniela das Urteil zugeschickt. Sie liest nach, wie die Richter argumentieren. Versucht nachzuvollziehen, wie es so weit kommen konnte. Es überrascht sie beim Lesen der Unterlagen, dass das Oberlandesgericht den krassen Konflikt zwischen Mutter und Vater sogar erkannt hat:
»Daneben zeigen die zahlreichen Auseinandersetzungen um die Besuchskontakte des Vaters mit den Söhnen, dass die elterliche Beziehung zueinander derart zerrüttet ist, dass sie bei anstehenden Entscheidungen das Wohl der Kinder aus dem Blick verloren haben. Auch die Eskalationen bei der Wahrnehmung des Umgangsrechts, etwa durch Polizeieinsätze, haben dazu geführt, dass die Beziehungsebene unter den Eltern weitreichend gestört ist und von einem ausgeprägten Misstrauen gegenüber dem anderen Elternteil beherrscht wird. Eine konstruktive gemeinsame Entscheidungsfindung der Eltern ist nach der Überzeugung des Senats auf dieser Basis ausgeschlossen.«17
Die Richter erkennen, dass sich die Eltern nicht einigen werden. Sie beharren dennoch auf dem gemeinsamen Sorgerecht. Die Eltern müssen teilen. Auch wenn die Richter selbst sehen, dass Mutter und Vater das nicht können. Als kleinen Vorgeschmack auf seine Macht entscheidet der Vorsitzende übereinstimmend mit seinen beiden Kollegen, dass der Vater seine Rechte in weiten Teilen zurückerhält. Das Gericht beschließt:
»Auf Beschwerde des Kindesvaters wird der Beschluss des Amtsgerichts wie folgt neu gefasst: Die Gesundheitssorge für die Kinder wird auf die Mutter übertragen. Im Übrigen bleibt es bei der gemeinsamen elterlichen Sorge für die Kinder. Die Kindesmutter vermochte nicht aufzuzeigen, inwiefern tatsächlich Handlungsbedarf in anderen Bereichen der elterlichen Sorge besteht, in welchen eine gemeinsame Entscheidungsfindung mit dem Vater notwendig ist, aber voraussichtlich nicht möglich sein wird.«18
Hätte Daniela den Richtern erklären müssen, mit welchen rechtlichen Fallstricken Alleinerziehende in Deutschland konfrontiert sind? Wer sein Kind alleine erzieht, ist dazu gezwungen, sich über jede wesentliche Entscheidung mit dem Ex-Partner oder der Ex-Partnerin zu einigen, solange es gemeinsames Sorgerecht gibt. Andernfalls entsteht eine Handlungsunfähigkeit bei allen Themen rund um die Kinder. Daniela kann keinen Betreuungsplatz im Kindergarten mehr anschieben, auch keine Anmeldung an der Schule abgeben und kein Bankkonto für Lukas und Hannes eröffnen. Ganz zu schweigen davon, dass sie keinen Job annehmen kann, bei dem sie länger als bis 13 Uhr arbeiten muss, wenn ihr Ex-Mann nicht den Antrag für den Hortplatz signiert. Der zweite Sorgeberechtigte muss immer mitunterschreiben, das ist in Deutschland Recht und Gesetz. Daniela ist ihrem Ex somit in vielen Belangen, die die Gestaltung ihres Alltags, ihre Jobwahl und ihre finanzielle Sicherheit betreffen, auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.
Die Richter haben Daniela aber zumindest die Gesundheitssorge überlassen. Sie kann noch selbst einen Arzt wählen und dafür sorgen, dass Lukas und Hannes eine Zahnspange bekommen, wenn sie eine brauchen. Immerhin. Daniela Hamer teilt damit in allen anderen Bereichen aber das Schicksal der Alleinerziehenden, denen der zweite Sorgeberechtigte keine Unterschrift gibt. »Ich habe mich verraten und verkauft gefühlt«, sagt sie, während sie sich noch einmal die Tränen aus ihrem Gesicht wischt.
Auf der einen Seite stellen die Richter also die totale Zerrüttung zwischen den Eltern fest, auf der anderen Seite zwingen sie Mutter und Vater zu gemeinsamen Entscheidungen. Wie passt das zusammen? Gar nicht! Und hat eigentlich irgendjemand daran gedacht, was das alles mit den Kindern macht? Wohl nicht. Danielas Weg durch die Gerichte ist einer von vielen, die in einem klaren Fehlurteil münden.
Daniela Hamer steht in ihrer Küche und drückt noch einmal auf den Knopf ihres Kaffeeautomaten. Die Bohnen rasseln durch das Mahlwerk. Was war in den drei Jahren vor diesem Fehlurteil passiert? Daniela Hamer setzt sich mit ihrem vollen Kaffeebecher an den Küchentisch und beginnt zu erzählen.
Der Anfang vom Ende ihrer Beziehung war jene Nacht im ehelichen Hotelbett im Oktober 2011. Kurz darauf wird Daniela zum zweiten Mal Opfer ihres Mannes. Dieses Mal bringt es ihn auf die Palme, dass sie beim Bügeln den Fernseher laufen lässt. Mit den Worten »Ich kann auch keinen Spaß bei der Arbeit haben« schaltet Stefan erst den Fernseher ab. Ihr Lukas ist damals vier, der kleine Hannes noch ein Baby. Beide Kinder müssen mit ansehen, was danach geschieht. Stefan nimmt Daniela das Bügelbrett ab, klappt es zusammen und schlägt damit zu. So lange, bis der Vierjährige dazwischengeht. Stefan schnappt sich kurzerhand seinen Sohn und verlässt Hals über Kopf mit dem Kind die Wohnung. Und kommt erst mal nicht zurück. Daniela ruft die Polizei, zeigt Stefan an. Einige Stunden später steht er wieder vor der Tür. Und tut so, als sei nichts gewesen.
Es folgen zermürbende vier Wochen, in denen Daniela versucht, ihren Auszug zu organisieren. Doch mit Stefan zusammen in einem Haus gelingt ihr das zunächst nicht. Er nimmt ihr die Geldbörse, ihre Papiere und ihren Autoschlüssel ab. Sie hat keine Rücklagen, weiß nicht wohin, ist verzweifelt. Dann gibt es den ersten Gerichtstermin. Im Gewaltschutzverfahren wird Stefan dazu verurteilt, sich aus dem gemeinsamen Haus für sechs Wochen zurückzuziehen und Abstand zu seiner Frau zu halten. Außerdem wird ihm auferlegt, ihr Unterhalt zu zahlen, und er muss ihre Sachen wieder herausgeben. Im Januar 2012 zieht Daniela zusammen mit den zwei gemeinsamen Söhnen in einer Hauruckaktion aus, kurz bevor Stefan das Haus wieder betreten darf. Endlich kehrt ein wenig Ruhe ein, hofft sie damals noch.
Aber Fehlanzeige. Obwohl die Umgänge zwischen Vater und Söhnen von Anfang an gerichtlich geklärt sind, gibt es Unruhe. Erst klagt Stefan vor dem Amtsgericht, um die Kinder an ihren Geburtstagen bei sich zu haben. Dann will er eine andere Urlaubsregelung und klagt. In einem dritten Verfahren gibt er an, die Mutter würde ihm die Pässe der Kinder vorenthalten, die er dringend für eine gemeinsame Reise bräuchte. Hinterher stellt sich heraus: Für den Urlaub an der deutschen Ostsee hätte er natürlich gar keine Pässe gebraucht. Die Schikane vor Gericht geht schnell ins Geld, denn Daniela braucht anwaltliche Unterstützung. Sie kann sich das nicht leisten, beantragt Verfahrenskostenhilfe. Alle Klagen von Stefan in diesem Jahr werden vom Amtsgericht abgewiesen. Danielas Kosten muss er mit übernehmen, entscheiden die Richter. So weit, so nachvollziehbar, was die Rechtsprechung angeht.
Drei Mediationen beginnt Daniela mit dem Vater ihrer Kinder, drei Mal torpediert er den Versuch, gemeinsam zu Lösungen zu kommen. Ein Beratungsinstitut, das mit Hochkonfliktfamilien Erfahrung hat, erklärt den Vater als beratungsresistent und sagt die Mediation ab. Es gäbe keine Aussicht auf Frieden mit diesem Mann, urteilt der Psychologe. Das Jugendamt stellt eine Kindeswohlgefährdung durch die anhaltenden Elternkonflikte fest. Die Kinder bekommen eine eigene Anwältin, ihre Verfahrensbeiständin. Sie soll vor Gericht die Stimme der Kinder vertreten, die zu diesem Zeitpunkt gerade erst zwei und fünf Jahre alt sind. Obwohl sich die Beiständin dafür einsetzt, dass endlich Ruhe einkehrt, eskaliert die Situation weiter. Der Vater klagt erneut, um seine Umgänge auszuweiten. Aber: Anstatt Stefan durch eine deutliche Rechtsprechung Einhalt zu gebieten, machen die Richter jede Eskapade mit und weiten seine Umgänge auch noch aus. Die Begründung: Die Kinder seien jetzt alt genug und könnten mehr Zeit beim Vater verbringen.
»Es waren die kleinen Schikanen, die mich viel Kraft gekostet haben.« So fasst Daniela Hamer das Geschehen der kommenden Monate zusammen. Mal gibt ihr Ex die Kinder an einem Sonntagabend im Winter ohne Jacken bei ihr ab. Sie muss Montagmorgen los und neue kaufen, hat das weder organisatorisch noch finanziell eingeplant. Mal verweigert Stefan sein Einverständnis für die Logopädie des Jüngsten. Der ist inzwischen drei Jahre alt und spricht immer noch kein einziges Wort. Daniela bemüht sich, Stefans fehlende Unterschrift durch einen Beschluss des Familiengerichts ersetzen zu lassen. Ein monatelanges Ringen beginnt, ein Gutachter muss sich das Kind im Auftrag des Gerichtes ansehen. Denn Stefan behauptet, das Kind sei sprachlich topfit. Es würde nur seine Mutter nicht mögen und deshalb nicht mit ihr sprechen wollen. Eine Farce, dass für solch eine Behauptung tatsächlich ein gerichtliches Gutachten hermuss, um die Aussage des Vaters zu widerlegen. Aber am Ende bekommt der Kleine seine Logopädie. Und bei Daniela? Schwinden die Kräfte.
Doch der Streit geht weiter: Um jeden Arzttermin muss Daniela Hamer mit dem Vater ihrer Kinder ringen. Er, selbst Mediziner, spricht ihr jedes Urteilsvermögen über den Gesundheitszustand der Kinder ab. Unterstellt ihr in E-Mails, sie leide am Münchhausen-Syndrom und würde die Kinder absichtlich krank machen. Dass die Jungs ganz einfach stark gestresst sind und unter den andauernden Konflikten ihrer Eltern leiden, sieht er nicht. Im April 2014 eskaliert der Streit wieder einmal, als Daniela für den Großen vom Kinderarzt eine Überweisung zum Urologen bekommt, damit die verengte Vorhaut beschnitten wird. Für Stefan kommt nicht infrage, dass ein anderer Arzt als er selbst seinen Sohn anfasst, also beschneidet er ihn während eines Wochenendumgangs kurzerhand selbst. Auf dem Sofa. Ohne Betäubung. Als die Kinder am Sonntagabend zu ihrer Mutter zurückkehren, ist die Wunde bereits entzündet und eitrig.
Daniela Hamer stellt Strafanzeige gegen ihren Ex wegen Körperverletzung. Im Eilverfahren bekommt sie vom Familiengericht die alleinige Sorge übertragen. Endlich. Die Richterin schreibt:
»Die hinzugezogene Sachverständige hat nach Einsichtnahme in die Akte einschließlich der Vorverfahren Hinweise auf eine mit einer latenten Gefährdung des Kindeswohls einhergehende Konfliktdynamik gefunden, die sowohl aus der Kontinuität der heftigen Konflikte zwischen den Eltern als auch aus den Konfliktthemen resultiert, die konkret in den Alltag der Kinder eingreifen … Das Gericht ist darüber hinaus mit den Vertretern des Jugendamtes, dem Verfahrensbeistand sowie aufgrund der nachvollziehbaren und eindrücklichen Feststellungen der Sachverständigen davon überzeugt, dass der fortbestehende Elternkonflikt das Wohl der Kinder inzwischen nachhaltig beeinträchtigt und die klare Regelung in Form der Alleinsorge jedenfalls zu einer Entlastung der Kinder führen wird.«19
Diese Entscheidung, das alleinige Sorgerecht an die Mutter zu übertragen, ist mit dem gerichtlichen Auftrag an sie verbunden, den regelmäßigen Umgang zwischen Vater und Söhnen weiterhin zu unterstützen. Was so logisch klingt, gestaltet sich im alltäglichen Leben allerdings mehr als schwierig. Denn: Bei den Jungs sitzt die Aktion mit der Beschneidung tief. Sie wollen nicht mehr zu ihrem Vater, auch nicht übers Wochenende. Schon seit einiger Zeit findet die Übergabe zwischen den Eltern im Kindergarten statt. Das soll, so die amtsrichterliche Überzeugung, bei Lukas und Hannes den Stress der Übergaben reduzieren. Immerhin begegnen sich Vater und Mutter dann nicht mehr persönlich und den Kindern bleibt es so erspart, den direkten Streit mitansehen zu müssen. Doch auch das ist reine amtsrichterliche Theorie. In der Praxis laufen die Kinder einfach davon, sobald ihr Vater im Kindergarten auf der Bildfläche erscheint, um sie abzuholen. Die Kindergartenleiterin schreibt im Juli 2014 in ihren Bericht:
»Herr Hamer ging aus dem Raum auf das Außengelände, wo die Kinder spielten. Beide Kinder standen auf einem großen Spielgerät mit Rutsche. Der Vater ging zu ihnen, umfasste ein Kind rechts, ein Kind links, und wollte sie wegtragen. Die Jungs hielten sich am Spielgerät fest, weinten und riefen laut nach ihrer Mutter. Neben Frau K. und mir kam noch eine weitere Kollegin hinzu. Frau Hamer kam hinzu und hatte den Vater gebeten, die Kinder nicht mitzunehmen und wollte ihm die Kinder aus dem Arm nehmen. Frau K. ging in die Kita, um die Polizei zu rufen. Frau A. versuchte, beruhigend auf den Vater einzureden, damit er die Kinder losließ. Nach einer kurzen Diskussion zwischen Mutter, Vater, Frau A. und mir ließ er die Kinder dann runter … Kurz darauf traf die Polizei ein und hörte den Vater und die Mutter an. Die Polizei hat sich von mir die Sorgerechtsunterlagen der Mutter kopieren lassen und entschieden, dass die Kinder das Wochenende bei der Mutter bleiben … Die Polizei hat die Kinder gefragt, ob sie ihrem Vater noch ›Tschüs‹ sagen wollten. Das eine Kind wollte nicht. Das andere Kind ist zu seinem Vater gegangen und hat ihn in den Arm genommen. Er hat seinem Vater etwas ins Ohr geflüstert und ist dann zu seiner Mutter gegangen. Frau K. hatte nachgefragt, was der Junge gesagt hätte, und Herr D. antwortete, dass das Kind sich bedankt habe, dass es bei seiner Mutter bleiben dürfe.«20
Was hier mit den Jungs von Daniela Hamer passiert, ist bei Weitem kein Einzelfall: Bis zu zehn Prozent der Scheidungsfamilien gelten nach Angaben des Deutschen Jugendinstituts als »Hochkonfliktfamilie«. Die Sozialwissenschaftler verstehen darunter getrennt lebende Eltern, deren Streitigkeiten chronisch werden. Hochkonfliktfamilien leben sozusagen in einer Dauerkrise, finden selbst keinen Weg heraus und sind regelmäßig auf Hilfen von Jugendamt, Gericht oder auch von der Polizei angewiesen, um Konflikte zu beenden. Forscher schätzen, dass in jedem Jahr bis zu 15.000 neue Trennungskinder von chronischen Streitigkeiten ihrer getrennt lebenden Eltern betroffen sind. Insgesamt gehen die Sozialwissenschaftler von rund 50.000 Kindern aus, die davon stark belastet sind. Denn solche massiven Konflikte dauern meist über viele Jahre an. Und häufig spielen hier, wie im Fall von Daniela Hamer und ihren Jungs, Gewalterfahrungen innerhalb der Familie eine große Rolle. Mehr als 60 Prozent der Frauen werfen den Männern aus solchen Trennungsfamilien Gewalt vor, das ergibt eine sozialwissenschaftliche Studie. In vielen Fällen dauert die Gewalt auch noch Jahre nach der Trennung an.21
Genauso müssen das auch Lukas und Hannes erleben. Denn ihr Vater hat noch lange nicht genug Streit gehabt. Zwei Wochen später verfasst die Kindergartenleiterin einen weiteren Bericht. Diesmal schreibt sie:
»Am Freitag hat mir die Erzieherin mitgeteilt, dass Lukas auf gar keinen Fall zu seinem Vater will. Ich habe das Gespräch mit ihm gesucht und ihn gefragt, warum er nicht möchte. Seine Antwort lautete: Papa hat uns nicht mehr lieb, und ich will da nicht schlafen … Dann habe ich Herrn Hamer angerufen, um ihn zu bitten, davon abzusehen, die Kinder abzuholen. Er sagte mir, er habe Umgangsrecht, es sei sein Wochenende, und er würde auf jeden Fall kommen, um die Kinder abzuholen … Im Hinblick auf den Vorfall vor zwei Wochen habe ich die Mutter angerufen und gebeten, in die Kita zu kommen. Frau Hamer wartete dann in meinem Büro. Wir hielten es beide für besser, dass die Kinder ihre Mutter nicht sehen, weil wir davon ausgingen, die Kinder würden dann auf keinen Fall mit ihrem Vater mitgehen wollen … Um 16 Uhr kam Herr Hamer, ich begrüßte ihn in der Halle, und wir gingen auf das Außengelände. Das Kind fing sofort an zu schreien mit den Worten: ›Geh weg, ich geh da nicht mit.‹ Der Vater umklammerte das Kind. Obwohl es keine Chance hatte, sich aus der Umklammerung zu lösen, schrie es und versuchte es mit all seiner Kraft. Ich bat den Vater, das Kind loszulassen. Er sagte mir, das werde er nicht tun, und er würde ihn mitnehmen. Ich sagte ihm, dann müsste ich wieder die Polizei anrufen. Er sagte, das wäre ihm egal. Wenige Minuten später waren die Beamten da. Herr Hamer hatte das immer noch schreiende Kind auf dem Arm. Einer der Beamten sagte dem Vater, er solle das schreiende Kind runterlassen. Der Vater verneinte. Der Beamte forderte ihn nochmals auf … Nach der dritten Aufforderung ließ Herr Hamer das Kind dann los.«22
Diese Vorfälle sind den drei Richtern am Oberlandesgericht bekannt, als sie nur drei Monate später, im Oktober 2014, den Einspruch von Stefan Hamer verhandeln – und Daniela Hamer das alleinige Sorgerecht wieder abnehmen. Haben die Staatsdiener ihren Auftrag erfüllt und das Wohl der Kinder bei ihrer Entscheidung nach vorne gestellt? Wohl kaum!
»Das Gefühl, dass dir niemand glaubt, das ist eigentlich das Schlimmste.« Daniela Hamer sitzt an ihrem Küchentisch und rührt im Rest ihres kalten Kaffees. »Im Grunde genommen gehen diese Richter doch davon aus, dass ich mir das alles nur ausgedacht habe. Die denken, ich würde lügen. Die denken, die Kinder würden nur so tun, als hätten sie Angst. Ansonsten könnten die doch gar nicht so entscheiden.« Im Herbst 2014 stellt sie sich die Frage, was noch alles passieren muss, bis ein Gericht ihrem Ex Einhalt gebieten wird. Ist nicht schon längst mehr als genug passiert? Lukas und Hannes sollen wirklich erst grün und blau geschlagen vom Umgangswochenende nach Hause kommen? Müssen ihre Kinder den vollständigen psychischen Kollaps erleiden, bevor ihnen ein Gericht die dringend nötige Ruhe gönnt? Die beiden sind zu diesem Zeitpunkt schon länger in therapeutischer Behandlung. Lukas und Hannes äußern beide klar und deutlich, dass sie nicht mehr bei ihrem Vater übernachten wollen. Das ist aktenkundig. Die angezeigte Körperverletzung, die Daniela 2011 erlitten und vor Gericht gebracht hat, ist ebenfalls aktenkundig. Die Körperverletzung des Großen, der von seinem Vater ohne Betäubung auf dem heimischen Sofa beschnitten wurde, ist genauso in der Akte nachzulesen. Und die Richter? Setzen weiter auf die Pflicht der Eltern, sich zu einigen.
Das ist nicht Deutschland, das ist Absurdistan.
Dabei ist besonders unglaublich, dass die Richter mit Urteilen solcher Art unbestreitbar geltendes Recht brechen: Seit dem Jahr 2017 gilt in der Bundesrepublik Deutschland die Istanbul-Konvention. Diese legt eindeutig fest, dass ein Familiengericht die Opfer von Gewalt zu schützen hat. In Artikel 31 der Konvention heißt es:
»Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass in den Geltungsbereich dieses Übereinkommens fallende gewalttätige Vorfälle bei Entscheidungen über das Besuchs- und Sorgerecht betreffend Kinder berücksichtigt werden. Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Ausübung des Besuchs- oder Sorgerechts nicht die Rechte und die Sicherheit des Opfers oder der Kinder gefährdet.«23
Und das Gericht? Interessiert das alles nicht!
Das Problem: Die deutsche Rechtsprechung bewertet das Umgangs- und Sorgerecht des Vaters fast immer höher als den Gewaltschutz von Mutter und Kind. Hilfsorganisationen und Verbände weisen schon lange darauf hin, dass das ein Missstand ist, den es dringend abzuschaffen gilt. Sie fordern, dass gewalttätige Väter kein Recht auf Umgang und Sorge mehr haben dürfen: »Dass gemeinsame Sorge regelmäßigen Kontakt erfordert, wird in der Rechtsanwendung häufig ausgeblendet. So drohen bei Übergabe oder während des Umgangs für Mutter und Kind enorme psychische Belastung und die Gefährdung ihrer Sicherheit.«24 Experten verlangen seit vielen Jahren vehement die Umsetzung der Istanbul-Konvention. Auch die Ampel-Koalition in Berlin hat bereits einen ganzen Stapel Protestschreiben von verschiedensten Verbänden erhalten:
»Es ist gemäß Istanbul-Konvention gesetzlich sicherzustellen, dass bei Umgangsregelungen die Schutzrechte der gewaltbetroffenen Mutter sowie des Kindes nicht durch die Wahrnehmung des Umgangsrechts gefährdet werden. Ebenso ist sicherzustellen, dass Umgang keine Retraumatisierung oder anderweitige Beeinträchtigung eines Genesungsprozesses für Gewaltopfer darstellt. Gewalt ist stets eine Kindeswohlgefährdung, auch wenn Kinder diese ›nur‹ miterleben. Daher ist eine gesetzliche Regelung notwendig, die den Umgang mit einem gewalttätigen Elternteil bei Partnerschafts-, Trennungs- und Nachtrennungsgewalt – ggf. zeitlich befristet – ausschließt bzw. nur begleitet ermöglicht, da dies sonst nicht dem Kindeswohl dient.«25
Auch dass häusliche Gewalt keine absolute Ausnahme darstellt, sondern, entgegen vielen Vorurteilen, öfter vorkommt und nichts mit Herkunft, Bildung oder Einkommen der Betroffenen zu tun hat, ist lange bekannt.26 Hilfsorganisationen machen sich deutschlandweit stark dafür, dass die Rechte der Kinder – auch vor einem Familiengericht – endlich gewahrt werden. Bisher leider ohne Ergebnis.
Und so schlagen sich Daniela Hamer und ihre Söhne weiter durch. Sie sind hoch belastet und stark gefährdet und schaffen es trotzdem, irgendwie ihren Alltag zu bewältigen. Das geht einige Jahre lang so. Kleine Schikanen gehören dazu: So erlaubt der Vater dem Großen kein Taschengeldkonto und hebt den angesparten Betrag einfach ab. Ohne Unterschrift vom Papa gibt es für das Kind auch kein neues Konto. So geht es einige Mal mit Streitigkeiten hin und her, bis zu den Osterferien 2019. Daniela sitzt gerade mit einer Freundin in einem Restaurant, da klingelt ihr Handy. Lukas und Hannes sind dran, melden sich aus dem Ferienumgang. Der Große weint und berichtet, Papa hätte ihn geschlagen. Sagt, er wolle da weg. Plötzlich reißt die Verbindung ab. Daniela ist machtlos.
Bis die Kinder von der Reise mit Stefan zurückkehren. Dann redet Daniela mit ihren Jungs. Erklärt ihnen, dass niemand ihr glauben wird, wenn sie das Wort ergreift. Sie macht den beiden klar, dass die Kinder für sich selbst sprechen müssen. Und fährt am nächsten Morgen mit ihnen zum Jugendamt. Dort beschreibt Lukas der Sozialarbeiterin, was passiert ist. Es gelingt ihm mit seinen zwölf Jahren, verständliche Worte für das Geschehene zu wählen: Papa habe die Geduld mit ihm verloren, als er sich auf dem Weg bei einem Spaziergang die Schuhe binden wollte. Da habe Papa ihm wehgetan, ihn auf eine Bank gedrückt und seinen Hals zugehalten. Daniela wendet sich mit der Unterstützung des Jugendamts und der Verfahrensbeiständin der Kinder erneut an das Familiengericht. Die Umgänge des Vaters werden für sechs Monate ausgesetzt. Nach Ablauf dieser Zeit bemüht sich das Jugendamt im Winter 2019, einen Kontakt zwischen Vater und Kindern herzustellen. Doch außer einer Karte von Stefan zu Weihnachten passiert nichts.
Seitdem sind rund vier Jahre vergangen. Daniela sitzt, gebeugt über ihre Kaffeetasse, in ihrer Küche. Nach wie vor teilt sie sich mit dem Vater der Jungs das Sorgerecht. Nach wie vor hat er ein Recht auf Umgänge. Aber offensichtlich scheint er gerade das Interesse an weiterem Terror verloren zu haben. Eine Sicherheit, dass nicht Morgen wieder die Türglocke schellt und ihr Vater vor der Tür steht, haben die Kinder bis heute nicht. Daniela fasst die Lage so zusammen: »Es fühlt sich an wie die Ruhe vor dem Sturm. Ich habe immer Angst davor, dass das alles wieder von vorne losgeht.«
ODERWas, wenn du ein Kind zurücklassen musst?
»So ein Familiengericht funktioniert wie ein Strudel, in der Mitte wird es immer gefährlicher und schneller. Du kämpfst um Leben und Tod, und ab einem bestimmten Punkt kannst du keine eigenen Entscheidungen mehr darüber treffen, in welche Richtung es gehen wird. Ich bin zwar lebendig rausgekommen, habe aber eines meiner beiden Kinder zurücklassen müssen. Zur Schadensbegrenzung, bevor wir alle dabei draufgegangen wären.« Es ist ein sonniger Nachmittag im Juni, als ich zum ersten Mal die Stimme von Till Breuer in einer Sprachnachricht höre. Ich spüre geradezu, wie die Welt um ihn herum sich rasant dreht. Wie der 35-Jährige durch eine Kleinstadt in Süddeutschland kurvt, seinen Familienalltag wie üblich und trotz aller Belastungen organisiert. Ich rufe die nächste Sprachnachricht ab, in der er mir erklärt: »Ich hatte immer den Glauben, Sonja, dass bei Gericht die Wahrheit und das Recht siegen. Heute würde ich diese Einstellung als reichlich naiv bezeichnen.«
Ich habe Till Breuer erst vor wenigen Stunden kontaktiert. Über die sozialen Netzwerke kennen wir uns aber schon eine Weile, und ich weiß, dass auch er Opfer von Behörden- und Justizversagen wurde bei dem Versuch, seine Kinder zu schützen. Jetzt bitte ich ihn darum, mir seine Geschichte zu erzählen, denn ich möchte in diesem Buch darüber berichten. Noch am gleichen Abend, oder besser gesagt mitten in der Nacht, erreichen mich mehrere Mails von ihm, in denen er mir seine Unterlagen zur Verfügung stellt. Ich lese mich durch den Inhalt von 19 Aktenordnern, addiere Prozesskosten in Höhe von insgesamt rund 100.000 Euro auf und erfahre, dass seine Kinder von insgesamt 17 verschiedenen Personen des Helfersystems mehrfach und parallel befragt wurden – und sehe das Leid von Till, seiner Tochter Sophia und seinem Sohn Anton eindeutig vor mir. In diesem Fall wenden sich die beiden betroffenen Kinder mehrfach an unabhängige Dritte und bitten um Hilfe. Doch es passiert: nichts.
All das kann ich bereits allein aus den offiziellen Akten entnehmen, die allen Verfahrensbeteiligten zu jedem Zeitpunkt vorlagen. Von unzähligen anderen, ähnlich gelagerten Fällen weiß ich, dass auch diese offiziellen Akten nur einen Teil der Wahrheit – wenn überhaupt – wiedergeben. Vieles wird gar nicht erst protokolliert, das meiste ist bloß eine subjektive Meinung der Verfahrensbeteiligten, Beweismittel gehen auf dem Weg von A nach B »verloren«, wie der Koffer mit Beweismaterial im Fall Lügde. Ich kenne auch Fälle, in denen sogar in amtlichen Schreiben und vor Gericht knallhart gelogen wird. Wieder einmal schockiert es mich, wie offensichtlich auch hier das staatliche Helfersystem überfordert ist. Und ich frage mich: Wie kann es sein, dass keiner der Beteiligten diese offensichtlichen Fehler erkennt? Es ist mir ein Rätsel, warum weder Jugendamt noch Familiengericht in der Lage zu sein scheinen, diesen Kindern zu helfen. »Das System Familiengericht beutet dich als Elternteil emotional und finanziell aus, einfach nur weil du versuchst, deine Kinder zu schützen«, so fasst Till Breuer seinen seit fünf Jahren andauernden Kampf gegen die Institutionen zusammen.
Seine Geschichte beginnt im Jahr 2010, als er Mirja auf dem Schützenfest im Ort kennenlernt. Er ist gerade Mitte 20 und hat einen frischen Abschluss als Verwaltungsfachwirt in der Tasche, sie arbeitet als Augenoptikerin in der Innenstadt. Das Paar verbringt gemeinsam ein entspanntes Jahr, macht Urlaub im Süden, genießt ein überwiegend sorgenfreies Leben. Im Jahr 2011 ist ihre erste Tochter Sophia unterwegs, dreieinhalb Jahre später erblickt Anton gesund und munter das Licht der Welt. Familie Breuer lebt als vierköpfige Familie mit mittlerem Einkommen in einem kleinen Reihenmittelhaus. Sie haben ein Familienleben, wie es durchschnittlicher wohl kaum sein könnte.
Und auch die Trennungsgeschichte beginnt erst einmal mehr oder weniger mit den üblichen Problemen. Till und Mirja haben viel zu tun mit ihren zwei kleinen Kindern, dem Job, dem Haus und allen anderen Verpflichtungen. Es kommt häufiger zum Streit darüber, wer wann welches Kind wo abholt und wer noch länger arbeiten muss. Die Aufteilung der Care-Arbeit ergibt sich nicht von selbst, und das Ehepaar ist zunehmend frustriert, als ihre Liebe im Alltag unwiderruflich abhandenkommt. Im Februar 2017 packt Till seine Sachen und zieht aus. Rückblickend fasst er diese Zeit so zusammen: »Ich denke, es war eine ganz normale Trennung. Gewundert habe ich mich allerdings darüber, wie klar es war, dass die Kinder bei der Mutter leben und man seine Kinder als Vater nur alle zwei Wochen am Wochenende sehen ›darf‹. Zumindest war es bei mir so, und das hat mich verwirrt.« Aber Till lässt sich nicht abspeisen, er möchte mehr Zeit mit seinen Kindern verbringen und vereinbart mit Mirja, die Betreuung alle zwei Wochen von donnerstags bis montags zu übernehmen. Diese Regelung leben Mutter und Vater nun einige Monate lang, und langsam scheinen auch die Kinder sich an die neue Situation zu gewöhnen. Die Lage beruhigt sich, zumindest ein wenig.
Doch im Januar 2018 ist plötzlich alles anders. Als »Nacht und Nebel«-Aktion beschreibt Till Breuer das, was damals passierte. »Rückwirkend ist es eine echte Bagatelle, verglichen mit dem, was danach noch alles kam.« Er erfährt, dass seine Kinder mit ihrer Mutter umgezogen sind, in die Wohnung ihres neuen Freundes, und jetzt 40 Kilometer von ihrem gewohnten Umfeld entfernt leben. Insgesamt wird Mirja in den kommenden drei Jahren viermal umziehen, jedes Mal ausgelöst von einer neuen Partnerschaft, die sie eingeht. »Was rechtlich eigentlich gar nicht erlaubt ist und alleine, wenn es um die Anmeldung an einer Schule oder in einer Kita geht, auch gar nicht möglich sein sollte, ist hier trotzdem mit meinen Kindern passiert. Sie waren umgezogen und umgemeldet, einfach so, ohne mein Einverständnis und ohne dass ich überhaupt etwas davon wusste«, sagt Till Breuer heute. Er lässt sich rechtlich beraten und bemüht sich um eine Aufklärung der Situation. Er möchte, dass beide Kinder bei ihm leben und ihre Mutter an den Wochenenden und in den Ferien besuchen können. Doch das Gericht kommt Monate später zu dem Schluss, dass ein Wechsel der Kinder zurück in ihr altes Umfeld eine Doppelbelastung darstellen würde. Aus »Kontinuitätsgründen« sollen die Kinder daher bei der Mutter am neuen Wohnort bleiben. Till Breuer berichtet, wie im Gerichtssaal Druck auf die Eltern ausgeübt wird. Sie sollen sich einigen, einen Vergleich schließen, um keine härtere Entscheidung des Richters zu »riskieren«. Ihm wird deutlich zu verstehen gegeben: Gibt er keine Ruhe und akzeptiert er den Lebensmittelpunkt der Kinder bei der Mutter nicht, dann kann das Gericht auch »anders«.