Immortale - Nachtfalke und Hexenmeister - Simon Rhys Beck - E-Book

Immortale - Nachtfalke und Hexenmeister E-Book

Simon Rhys Beck

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Beschreibung

Ein Auftrag. Eine unberechenbare Gefahr. Die große Liebe ...? Was als vermeintliche Strafaktion beginnt, wird für den Vampir Falcon Hunter und den Magier Timothy Storm zur Bewährungsprobe. Statt in die Mentorenrolle für den jungen Lord Blackwood zu schlüpfen, erliegt Timothy bald seiner Anziehungskraft. Und auch der unnahbare Falcon Hunter scheint sein Herz verloren zu haben - unglücklicherweise an die hübsche Schwester des Lords, die keinen Wert auf gesellschaftliche Konventionen legt. Lady Elisabeth kann keinem Geheimnis widerstehen und ist fasziniert von der düsteren Schönheit des Vampirs. Doch in der Dunkelheit lauert eine unberechenbare Gefahr. Können die beiden Männer die Geschwister Blackwood schützen? Gay and straight paranormal romance

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Seitenzahl: 369

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Immortale

Nachtfalke und Hexenmeister

Simon Rhys Beck &

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2011

http://www.deadsoft.de

Bildrechte:

© CURAphotography – fotolia.com

© Nejron Photo – fotolia.com

Cover: Irene Repp

http://www.daylinart.webnode/com

3. Auflage 2015

ISBN 978-3-934442-78-8

ISBN 978-3-943678-94-9 (epub)

Dieser Roman ist Fiktion. Orte und Personen sind frei erfunden.

Prolog

Und in diesem Jahr versammelten sich Bluttrinker und Hexenmeister auf Blackwood Manor, und sie begingen widernatürliche Rituale zur Weihung des neuen Herrn von Blackwood. Wie bereits sein Vater stimmte er zu. Ein gewaltiger Sturm zog auf, der Bäume entwurzelte, und das Meer in Aufruhr brachte. Es war, als zürnte Gott ob dieses unheiligen Paktes.

Kapitel 1

Timothy Storm stand am großen Fenster des prächtigen Landsitzes und starrte in den schwarzen, sternlosen Nachthimmel. Er fühlte sich unwohl, was zum einen sicher an seinem Auftrag lag, zum anderen daran, dass hier an diesem idyllischen Ort irgendetwas nicht stimmte. Ganz und gar nicht.

Er ließ seine Gedanken schweifen, gab ihnen so viel Raum, wie er gerade verkraften konnte, und stützte sich mit einer Hand am Fenster ab. Er war geübt darin, in anderer Leute Gedanken einzudringen, trotzdem überraschte es ihn, dass auch Falcon in seinem Kopf auftauchte. Oder er in Falcons Kopf, je nachdem, wie man es betrachtete.

Falcon Hunter, der erste Knight der Immortale, seit ungefähr siebzig Jahren sein Partner und eine Art Mentor. Ein Freund? Das wusste er manchmal selbst nicht. Es verband sie etwas sehr Starkes, seitdem Falcon ihn als kleinen Knaben aufgelesen hatte. Damals war er nicht mehr als ein kleiner trotziger Junge gewesen, der seine Magie wahllos und ohne jeden Plan einsetzte. Er hatte keine Ahnung, wer seine Eltern waren, aber die Menschen, bei denen er gewohnt hatte, hatten ihn versteckt. Aus Angst vielleicht, er war schließlich anders, ein kleiner Hexer mit feuerrotem Haar und dem feinen Gesicht eines Elben. Jetzt, siebzig Jahre später, sah er aus wie ein etwa zwanzigjähriger junger Mann – Magier alterten extrem langsam. Doch sie waren nicht unsterblich wie die Bluttrinker.

Und noch immer beherrschte er die Magie nicht vollständig, ein Umstand, den er oft als demütigend empfand, vor allem, wenn Falcon sich darüber lustig machte. Er seufzte lautlos. Falcon war verärgert, das spürte er. Viggo, der Herrscher der Immortale, und er waren heftig aneinander geraten, bevor Viggo ihm diesen Auftrag erteilt hatte. Und so empfand er Viggos Auftrag eher als persönliche Rache, eine Versetzung aufs Land. Timothy jedoch wusste, dass das nicht stimmte. Nichtsdestotrotz war Falcon wütend. Aber vielleicht stand es in Timothys Macht, ihn ein wenig milder zu stimmen?

Als er den Salon betrat, fand er Falcon ebenfalls am Fenster, er sah nach draußen. Offenbar hatte er dort etwas entdeckt, das seine Aufmerksamkeit erregte.

Falcon war ein beeindruckender Mann, groß, breitschultrig, mit schwarzen Haaren. Ein schwarzer Engel, teuflisch in seiner Schönheit. Timothy hatte sich immer zu ihm hingezogen gefühlt.

„Ein Reh“, sagte Falcon leise zu sich selbst, gerade in dem Moment, als Timothy den Salon betrat.

Timothy grinste. „Charmant, dass du mich als Reh bezeichnest.“

„Wenn ich dir Tiernamen geben würde, dann fielen mir zweifellos andere ein, mein Lieber“, erklärte Falcon mit einem unüberhörbar ätzenden Unterton.

„Bist du verärgert, weil Viggo dich auf diesen Fall angesetzt hat?“

Kapitel 2

Falcon drehte sich langsam um und betrachtete den schmalen Mann, der ein Stück entfernt stehen geblieben war. Timothy war ein hübscher Kerl mit kurzen, roten Haaren und katzengrünen Augen. Er hatte ein freches Mundwerk und keinerlei Respekt. So war er gewesen, als sie sich kennengelernt hatten und so war er geblieben. Timothy besaß großes Potenzial, war allerdings als Magier oft unkonzentriert und chaotisch. Keiner der alten Magier hatte sich bereit erklären wollen, ihn unter seine Fittiche zu nehmen. Ein Fehler, fand Falcon, denn Timothy verfügte über große Macht. Er musste nur lernen, sie irgendwie zu kontrollieren. Und es gab natürlich ein anderes kleines Problem, was Timothys Magie betraf: Timothy war kein weißer Magier, er nutzte ebenso die Energien der Schwarzen Magie. Damit hatte die Loge der Magier ihn ohnehin ausgeschlossen, aber nicht die Immortale, die unsterblichen Bluttrinker. Bei ihnen hatte er unterkommen können, auch wenn er keiner der ihren war.

„Tim, kannst du mir vielleicht sagen, was ich hier auf dem Land, auf dieser gottverdammten Insel soll?“

„Deinen Auftrag kennst du besser als ich“, behauptete Timothy.

„Du weißt genau, warum Viggo mich in diese Einöde geschickt hat!“ Falcon erinnerte sich gut an die Auseinandersetzung mit dem Herrscher der Immortale. Und der ganze Ärger nur wegen der kleinen Sterblichen, die Falcon nicht einmal ernsthaft interessiert hatte. Einmal am falschen Hals geknabbert und schon wurde man abgesetzt und als Wachhund für dieses Blackwood Ritual abgestellt. Jeder Knight der Immortale hätte hier den Aufpasser machen können! Das war Viggos Rache gewesen, denn der wusste natürlich, dass sein erster Knight das Leben in den Städten, in den Metropolen vorzog.

Falcons Augen blitzten kampflustig, und er freute sich, als Timothy einen kleinen Schritt zurückwich. Das war schon ein Erfolg bei diesem respektlosen Wicht!

Der junge Magier zuckte mit den Schultern. „Ist doch ganz schön hier, du siehst das alles zu verbissen.“

„Verbissen?“, wiederholte Falcon. Sein Mund verzog sich zu einem wölfischen Grinsen. Ganz bewusst ließ er Timothy sein Raubtiergebiss sehen, und dieses Mal wich der junge Mann nicht zurück. Er kniff nur die katzengrünen Augen zusammen.

„Bist du hungrig?“

Einen Augenblick sahen sich die zwei unterschiedlichen Männer an, dann winkte Falcon ab.

„Ich frage mich manchmal, wer von uns beiden gieriger ist“, murmelte er, wissend, wie sehr der Magier es genoss, wenn Falcon sich an ihm nährte. Darin unterschied er sich nicht von anderen Sterblichen. Natürlich gab es Bluttrinker, die es liebten, wenn ihre Opfer Angst empfanden, doch Falcon war ein Meister seines Fachs, und er wusste, dass Timothys in diesen intimen Momenten eine Lust spürte, die ihm sonst versagt blieb.

Timothy presste die Lippen fest zusammen. Er konnte es nicht leiden, wenn man seine Angebote ablehnte.

„Womit habe ich das verdient?“, fragte Falcon und drehte sich wieder Richtung Fenster.

„Hör auf, mich so von oben herab zu behandeln.“

„Solange du dich aufführst, wie eine zurückgewiesene ...“

„Sprich es nicht aus!“, fauchte Timothy.

Manchmal ist er wie ein kleiner nerviger Bruder, dachte Falcon.

„Jetzt gib wenigstens zu, dass ich dir schon häufig aus der Klemme geholfen habe!“, zischte Timothy.

Ein oder zwei Mal ...

„Du willst behaupten, dass ich dir in den letzten 70 Jahren nur ein oder zwei Mal geholfen habe?“

Falcon setzte ein scheinheiliges Gesicht auf. „Oh, habe ich wieder laut gedacht?“

„Laut genug“, brummte Timothy und wandte sich ab, um zu gehen.

„Was wolltest du überhaupt bei mir?“, fragte Falcon, ohne den jungen Mann anzusehen.

„Nichts.“

Falcon beließ es dabei. Er kannte Timothy genug, um zu wissen, dass der nicht lange beleidigt sein konnte.

Erneut suchte er nach dem Reh – es, es war zwischen den dunklen Bäumen verschwunden.

Kapitel 3

„Lady Elisabeth, Euer Bruder ist soeben eingetroffen.“

Elisabeth sprang auf, sodass ihr Stuhl beinahe umfiel, was ihr einen strafenden Blick ihrer strengen Gesellschafterin Roseanne einbrachte, die die Nachricht überbracht hatte. Roseanne achtete peinlich genau darauf, dass Elisabeth sich möglichst damenhaft benahm. Leider entsprach das nicht Elisabeths Wesen. Und manchmal bereitete es ihr diebisches Vergnügen, Roseanne absichtlich zu verärgern.

Sie drehte sich um. „Clare, hast du das gehört?“ Elisabeths Gesicht strahlte, als sie ihre Zofe und beste Freundin ansah.

„Adrian ist da!“

Clare lächelte, in ihren Augen leuchtete es. „Ich habe es gehört.“

„Ich gehe ihn begrüßen.“ Elisabeth machte sofort Anstalten, das Zimmer zu verlassen und Roseanne zu folgen, doch Clare hielt sie zurück.

„Vielleicht solltet Ihr Euch erst wieder vollständig anziehen? Adrian ist zwar Euer Bruder, aber ...“ Sie bedachte Elisabeth mit einem skeptischen Blick.

Elisabeth sah an sich hinunter. Sie war erst eben von einem langen Ausritt zurückgekommen und hatte sofort ein Bad genommen. Das Unterkleid, das sie nun trug, offenbarte bei der richtigen Beleuchtung mehr als es verbarg.

Elisabeth lächelte verschmitzt. Nein, so wollte sie ihrem älteren Bruder wirklich nicht unter die Augen treten. Sie wurde ein wenig rot, lachte dann aber ausgelassen. Endlich hatte Adrian es geschafft, herzukommen! Sie freute sich so.

Natürlich, er hatte in London immer viel zu erledigen, und ihre Mutter bestand darauf, dass er  ihr Gesellschaft leistete, doch in diesem Jahr hatte Elisabeth sich zum ersten Mal wieder gewünscht, die Saison über in London zu sein. Auch wenn sie düstere Erinnerungen an ihren letzten Aufenthalt dort hatte.

Sie hatte Adrian schrecklich vermisst, seinen Charme, seinen Humor. Wenn er weg war, fehlte Blackwood Manor einfach der Esprit, fand Elisabeth.

Von den aufregenden und vielleicht beunruhigenden Neuigkeiten in der Nachbarschaft wollte sie ihrem Bruder dann in aller Ruhe berichten.

Rasch zog sie sich an und ließ sich von Clare die Haare hochstecken. Dabei war sie so unruhig, dass Clare mehrmals von vorn beginnen musste. Und schließlich hielt sie es nicht mehr aus. Sie sprang auf, nahm ihre Zofe bei der Hand und stürmte aus dem Zimmer.

„Wartet, nicht so schnell!“, rief Clare und versuchte Schritt zu halten, indem sie mit einer Hand ihre Röcke raffte.

Elisabeth eilte im Laufschritt durch die Gänge und dann die große, mit dunkelrotem Teppich ausgelegte Treppe hinunter. Clare hatte bei dieser Geschwindigkeit längst aufgegeben und folgte ihr in einigem Abstand.

Und dann geschah es: Auf der letzten Stufe verlor Elisabeth das Gleichgewicht. Just in dem Moment, als sich Adrian ganz zu ihr umdrehte. Mit einem großen Satz war er am Fuße der Treppe und fing seine Schwester geschickt auf.

„Das ist ja ein stürmischer Empfang, Schwesterherz“, lachte er.

Als Elisabeth sein warm klingendes Lachen hörte, schlang sie die Arme um ihn. Es war ihr egal, ob sich das nun gehörte oder nicht. Sie würde ohnehin immer das tun, was sie wollte!

„Schön, dass du da bist, Adrian“, sagte sie, als ihr Bruder sie wieder auf beide Füße stellte.

„Ich freue mich auch, dich zu sehen, Lizzy. Und ich freue mich, London mal für eine Zeit lang nicht zu sehen.“

Elisabeth schaute ihren Bruder überrascht an. Sie hatte gedacht, Adrian wäre gern in der Stadt. Sie betrachtete ihn eingehender. Adrian wirkte erschöpft, wenn nicht gar besorgt. Sie seufzte unhörbar. Hatte er Sorgen? Oder war er einfach nur müde von der langen Kutschfahrt? Elisabeth war nicht häufig in London gewesen, und sie hatte die Fahrten immer als sehr anstrengend empfunden. Und an ihre letzte Rückreise mochte sie sich gar nicht erinnern. Die Umstände, die zu ihrer überstürzten Abreise geführt hatten, waren mehr als unerquicklich gewesen. So hatte sie den ersten Teil der Reise im Schockzustand verbracht, den zweiten Teil wiederum fast ununterbrochen geweint.

Elisabeth verscheuchte diese Erinnerungen. Sie gehörten endgültig der Vergangenheit an, zumindest fast.

„Wie geht es dir, Kleine?“, fragte Adrian, bevor sie sich erkundigen konnte.

„Es geht mir sehr gut“, sagte Elisabeth lächelnd. Und das entsprach der Wahrheit. „Clare“, sie drehte sich um und sah ihre Zofe lächelnd an, „passt auf mich auf.“

Clare errötete leicht und schaute verlegen zu Boden. Aber Adrian beachtete sie gar nicht. Ein Schatten huschte über sein Gesicht, und Elisabeth bereute ihre Wortwahl sofort. Sie wusste, was in Adrian vor sich ging. Einmal hatte er nicht auf sie aufgepasst, und die alten Schuldgefühle quälten ihn, das sah sie in seinem Gesicht.

Sie hob die Hand und berührte ihn kurz an der Wange. „Du brauchst dringend eine Rasur“, sagte sie tadelnd, um ihn abzulenken.

Adrian lächelte. „Da hast du recht, Schwesterchen.“

Während Adrian seine Sachen in sein Zimmer tragen ließ, gab Elisabeth der Köchin Anweisungen, ein reichhaltiges Abendessen vorzubereiten. Nach der langen Fahrt wollte ihr Bruder sicher ein warmes Bad und ein anständiges Essen. So war es immer gewesen.

Und es war überhaupt keine Schwierigkeit, selbst in der kurzen Zeit, ein schmackhaftes Abendmahl herzurichten. Es gab Suppe, Ei, Pastete und Fleisch, dazu getoastetes Brot. Elisabeth, die den ganzen Nachmittag an der frischen Luft gewesen war, hörte ihren eigenen Magen knurren, als sie den Geruch der leckeren Speisen wahrnahm.

Und so saßen sie zwei Stunden später im kleinen Speisesaal und aßen zusammen, nur sie und ihr Bruder. Clare war zwar Elisabeths Freundin, aber für Adrian würde sie immer eine Angestellte sein. Das tat Elisabeth leid, denn Clare schwärmte für Adrian. Elisabeth konnte das verstehen: Ihr Bruder war ein charmanter und sehr attraktiver Mann. Er war kultiviert, hatte ein fein geschnittenes Gesicht und seine sanften dunkelbraunen Augen besaßen eine irritierende Tiefe. Adrian war einfach ein Mann, dem die Frauen zu Füßen lagen.

Nach dem Bad hatte er sich frische Kleidung angezogen, und da er einen ausgesprochen guten Geschmack hatte, saß er nun mit seiner Schwester beim Abendessen und sah aus, als säße er in einem der vornehmen Herrenclubs, die er in London regelmäßig besuchte. Das graue, schmal geschnittene Jackett und die eng anliegende Hose saßen perfekt an seinem schlanken Körper.

Wenn sie allein waren, aßen die Geschwister grundsätzlich im kleinen Speisesaal, der gemütlich hergerichtet war. Elisabeth mochte die warmen Farben, Erd- und Rottöne an den Wänden, sie boten einen schönen Kontrast zum hellen Marmorboden. Nur wenn ihre Mutter zu Besuch auf Blackwood Manor war, was erfreulicherweise nicht allzu häufig vorkam, mussten sie im großen Speisesaal essen. Ihre Mutter wollte nicht auf den Prunk und Luxus verzichten, den dieser Raum bot, der für größere Gesellschaften konzipiert war.

Doch nach dem unglücklichen Tod von Lord Blackwood, Elisabeths und Adrians Vater, hatte ihre Mutter sich nicht mehr wohlgefühlt auf Blackwood Manor. Zu nahe war der Unglücksort, die Klippen, von denen Edward Kinney ins Meer gestürzt war. Das war vor fünf Jahren gewesen. Adrian und Elisabeth hatten sehr getrauert, ihr Vater war ihnen beiden immer näher gewesen als ihre Mutter. Aber von Adrian wurde Stärke erwartet, er hatte die Position seines Vaters einnehmen müssen. Er war nun für die Familie verantwortlich, und er hatte diese Verantwortung immer sehr ernst genommen.

Adrian schob sich ein Stück getoastetes Brot in den Mund und kaute genüsslich. Dann begann er von London zu erzählen, ohne dass Elisabeth ihn drängte. Er wusste natürlich, dass seine Schwester neugierig war.

Gespannt hörte sie zu, als Adrian ihr die neuesten Klatsch- und Tratschgeschichten berichtete. Sie ahnte, dass er immer darauf bedacht war, sie nicht an die schrecklichen Vorfälle von damals zu erinnern. Auch wenn sie ihm bereits mehrfach gesagt hatte, dass sie nicht aus Glas war und an diesem Vorfall nicht zerbrechen würde. Das Problem war nur: Adrian gab sich die Schuld. Er war nicht zur Stelle gewesen. Er hatte sie nicht beschützt.

„Und was macht Mutter?“, fragte Elisabeth ohne wirkliches Interesse. Ihre Mutter war ihr immer fremd gewesen. Eine kühle, strenge Frau, die niemals Gefühle zeigte. So hatte Elisabeth ihre Mutter immer gesehen. Und nach dem Tod des Vaters hatte sie sich ganz zurückgezogen, ihre Gefühle vor niemandem preisgegeben.

„Sie geht auf in der Planung von Gesellschaften und derlei Schnickschnack. Herrschsüchtig wie eh und je versucht sie ständig, mich in ihren Bannkreis zu ziehen. Aber bisher habe ich mich gut gehalten.“

„Es ist sicher schwierig, die Geschäfte unseres Vaters zu leiten und gleichzeitig mit Mutter um die Macht zu kämpfen.“

Adrian lachte. „Was die Geschäfte betrifft, hält sie sich weitestgehend heraus. Sie interessiert sich nicht für Finanzgeschäfte, Immobilien und dergleichen. Es geht eher um mein Privatleben, in das sie sich einmischt.“

„Bestimmt macht sie sich Sorgen, wegen eines Erbens“, sprach Elisabeth ihre Vermutung aus. Adrians Lachen verstummte abrupt.

„Ist das vielleicht der Grund, warum du London verlassen hast? Geht es um eine Lady?“ Sie sah ihn neugierig an.

Adrian seufzte. „Wenn es so einfach wäre.“

Elisabeth war versucht, ihn weiter mit Fragen zu löchern, doch sie wusste, dass das keinen Sinn hatte. Er würde sich nur zurückziehen, und das wollte sie nicht. Es würde sich eine andere Gelegenheit ergeben, weiter nachzuforschen. Sie ging fest davon aus, dass es Liebesdinge waren, die ihn so überraschend nach Blackwood Manor hatten zurückkehren lassen.

„Was ist denn hier in der Zwischenzeit passiert?“, wollte Adrian wissen und goss sich ein weiteres Glas Wein ein.

Elisabeth bat Glanwill, den Butler, um eine neue Tasse Tee. Jetzt konnte sie endlich mit ihren Neuigkeiten herausrücken. „Weißt du noch, wie wir damals immer zu diesem alten Landsitz gelaufen sind?“

Das Livingston Anwesen. Sie hatten es immer ‚das Spukschloss’ genannt, weil es aussah wie eine kleine Festung. Eine Zeit lang war es unbewohnt gewesen, und aus irgendeinem Grund hatten Lord und Lady Blackwood es für sinnvoll gehalten, ihren Kindern das Betreten des fremden Grundstücks nicht nur zu untersagen, sondern dieses auch mit drastischen Strafmaßnahmen zu unterstreichen.

Elisabeth lachte leise. „Kannst du dich daran erinnern, wie wir dort herumgeschlichen sind?“

Adrian zog eine Grimasse. „Ich erinnere mich ganz dunkel an den alten Earl of Livingston und an die merkwürdigen Gerüchte im Zusammenhang mit seinem Tod. Aber am besten kann ich mich an die Tracht Prügel erinnern, die ich einstecken musste, als herauskam, dass wir uns dort aufgehalten hatten. – Wie kommst du ausgerechnet jetzt auf Livingston Manor?“

„Hast du es nicht gehört? Offenbar gibt es jetzt einen neuen Lord Livingston. Die Burg ist wieder bewohnt.“

Adrian war sichtlich überrascht. „Das ist tatsächlich eine Neuigkeit. Hast du den neuen Earl bereits kennengelernt?“

Elisabeth schüttelte den Kopf. Leider nicht. „Vielleicht solltest du morgen hinreiten, um herauszufinden, wer unser neuer Nachbar ist. Mich würde das zumindest interessieren.“

Adrian lächelte seine Schwester an. „Das glaube ich sofort, und wahrscheinlich hast du recht. Wenn es das Wetter zulässt, werde ich mich morgen auf den Weg machen, um den neuen Lord Livingston willkommen zu heißen.“

Und damit war das Thema für Adrian erledigt.

Aber für Elisabeth nicht, die Gedanken klangen noch lange nach in ihr. Seit Tagen hatte sie immer wieder an den Lord gedacht, ihren neuen Nachbarn. Aus irgendeinem Grund ließ sie das Thema nicht los. Dazu kamen natürlich die Gerüchte, die sich um Lord Livingston rankten.

„Wie er wohl ist, der neue Lord“, sagte sie zu Clare, als sie an diesem Abend vor dem Spiegel saß und Clare ihre langen Haare ausbürstete.

„Ihr solltet Euch nicht allzu sehr mit ihm beschäftigen“, murmelte Clare und sah Elisabeth im Spiegel an.

„Du weißt etwas, nicht wahr?“ Elisabeth drehte sich um. „Etwas Neues? Etwas Geheimnisvolles?“

„Ich habe etwas gehört, und zwar nichts Gutes. Die Leute im Dorf sagen, Livingston sei ein unheimlicher Kerl, der oft im Dunklen unterwegs ist. Und dabei soll er schön sein wie ein gefallener Engel. Wisst Ihr, das bringt die alten Geschichten und Gerüchte um Blackwood wieder zum Brodeln. Livingstons Cousin scheint übrigens ebenfalls dort zu wohnen. Auch so ein komischer Vogel, hab ich gehört.“ Sie seufzte und zuckte dann mit den Schultern. „Euer Bruder sah müde aus, nicht wahr?“

Elisabeth nickte ein wenig abwesend. Ihre Gedanken kreisten um Lord Livingston. „Die Fahrt ist immer anstrengend, und ich weiß nicht, ob Adrian das Leben in der Stadt bekommt. Vielleicht ist er vor einer aufdringlichen Lady davongelaufen.“

Clare unterdrückte ein Kichern. „Warum sollte er davonlaufen?“

„Ich weiß, du würdest sicher nicht davonlaufen! Und schon gar nicht vor Adrian ...“ Sie lächelte, als sie sah, dass ihre Freundin rot wurde.

„Vielleicht ist er nur knapp einem wütenden Ehemann entkommen?“

„Glaubt Ihr, Euer Bruder wäre vor einem Duell geflohen?“ Mit hochgezogenen Augenbrauen fuhr Clare fort, ihre Haare zu bürsten.

„Nein, leider nicht. Er würde niemals davonlaufen.“ Elisabeth seufzte. Adrian war ein hervorragender Fechter und ein guter Schütze. Er selbst hatte sie das Schießen und den Umgang mit verschiedenen Feuerwaffen gelehrt, da er die Meinung vertrat, dass Frauen in der Lage sein mussten, sich selbst zu verteidigen.

Und dann waren ihre Gedanken wieder bei dem neuen, mysteriösen Lord Livingston, den keiner kannte und der so plötzlich, wie aus dem Nichts, aufgetaucht war. Ein echtes Geheimnis. Und Geheimnisse hatten sie von jeher fasziniert.

Kapitel 4

„Lord Blackwood wünscht Euch zu sprechen, Sir“, sagte Longfield, als er nach einem kurzen Klopfen eingetreten war. Falcon drehte sich langsam um und musterte den alten Butler, während er sich fragte, ob dieser wusste, wem er diente.

Longfields Ankündigung war allerdings überflüssig. Falcon hatte schon vorher gespürt, dass ein Fremder auf einem Pferd gekommen war. Er hatte beide Herzen vorher schlagen hören. Nun lernte er also Lord Blackwood kennen. Schön, dass der junge Lord sich auf den Weg zu ihm gemacht hatte, denn immerhin war es seine, Falcons, Aufgabe ihn zu schützen.

„Führt ihn herein“, wies er Longfield an, nachdem er in Gedanken kurz überprüft hatte, ob er angemessen gekleidet war.

Mit forschem Schritt betrat Lord Blackwood Falcons Bibliothek. Er war ganz ruhig, sein Herz schlug nicht schneller, als er Falcon erblickte. Ein gutes Zeichen, fand Falcon und musterte den Neuankömmling interessiert.

„Lord Blackwood.“

„Lord Livingston, nehme ich an. Mein Name ist Adrian Kinney.“

„Falcon Hunter.“ Die beiden Männer grüßten sich lediglich mit einem höflichen Nicken.

Blackwood hatte eine angenehm kultivierte, sanfte Stimme. Aber Falcon vermutete einen eisernen Willen hinter dieser zur Schau gestellten Sanftheit. Und irgendetwas anderes war da, was er bemerkte. Er konnte es nur noch nicht greifen. In diesem Moment hätte er gern über die Fähigkeit des Gedankenlesens verfügt, die jedoch nur wenige Immortale besaßen – er gehörte leider nicht dazu.

„Ich hörte, dass Ihr das Erbe Eures ...“ Blackwood sah ihn fragend an.

„Großonkels“, half Falcon nonchalant aus.

„... Großonkels angetreten habt. Ich hatte vermutet, dass es gar keinen Erben gibt, so lange, wie das Anwesen leer stand.“

„Ich war lange in Übersee und dann auf dem Festland“, erklärte Falcon ausweichend und versuchte sich an einem beruhigenden Lächeln. Aber er sah an Blackwoods Augen, dass es eher ein Zähnefletschen geworden war. Der hatte sich allerdings gut im Griff, er wich keinen Schritt zurück.

Es gab Menschen, die reagierten mit panischer Flucht auf ihn. Blackwood hatte erstaunlich starke Nerven.

„Einen Drink?“

„Gern.“ Blackwood nahm das Angebot an. Er sah sich offen um, und das gab Falcon Gelegenheit, ihn genauer in Augenschein zu nehmen.

Lord Blackwood war wohl das, was man einen Dandy nannte, zumindest was sein Äußeres betraf. Er hatte gepflegte kurze Haare, war von schlanker, durchtrainierter Statur und modisch gekleidet.

„Ihr kommt gerade aus London?“, fragte Falcon, als er Blackwood seinen Brandy reichte.

Adrians Hand umklammerte das Glas ein wenig zu fest, wie Falcon innerlich lächelnd feststellte.

„Ja, ich war länger in der Stadt, aber von Zeit zu Zeit muss ich hier auch nach dem Rechten sehen.“

Falcon hob leicht sein Glas und nippte dann an seinem Drink. Alkohol schmeckte ihm nicht. „Dann kommt Ihr ja genau passend. Es soll Fälle von Wilderei gegeben haben auf Eurem Besitz.“

Erstaunt zog Blackwood die Augenbrauen nach oben. „Tatsächlich? Ich bin erst gestern angekommen. Davon wurde mir noch nicht berichtet.“

„Oh, Ihr werdet mit Sicherheit bald davon hören. Ich werde ein Auge auf die Sache haben. Schließlich möchte ich vermeiden, dass ich bald auch Besuch auf meinem Besitz bekomme.“

Kinney nickte und nahm einen großen Schluck des edlen Brandys. Falcon sah, wie sich sein Kehlkopf bewegte beim Schlucken und riss sich von dem faszinierenden Anblick los.

„Wie lange bewohnt Ihr Livingston Manor schon?“

„Erst seit kurzer Zeit ... mein Großonkel hat verfügt, dass sein Anwesen immer in Schuss gehalten wird. So konnte ich ohne große Umstände hier einziehen.“ Mühelos spulte Falcon die Lügen ab, die Viggo ihm mit auf den Weg gegeben hatte. Denn er war natürlich nicht mit Livingston verwandt gewesen. Und es war ihm klar, dass Menschen misstrauisch darauf reagierten, wenn leer stehende Häuser so gut gepflegt wurden, dass sie fast bewohnt wirkten. Allerdings hatte er nicht vor, Lord Blackwood darüber aufzuklären, dass der Livingston Landsitz mittlerweile in den Besitz der Immortale übergegangen war.

„Werdet Ihr lange auf dem Land sein?“

„Den Winter über zumindest“, antwortete Falcon, obwohl er sich dessen nicht sicher war. Wenn sein Auftrag beendet war, würde er wieder verschwinden. Hier hielt ihn bestimmt nichts. „Dann werden meine Geschäfte sicher wieder meine Anwesenheit in Übersee erfordern.“

Blackwood nickte und stellte das leere Glas ab. „Ich möchte Eure Gastfreundschaft nicht über Gebühr beanspruchen. Besucht uns mal auf Blackwood Manor, wenn Ihr Zeit findet.“

Falcon hörte, dass Blackwood dieses Angebot nur aus reiner Höflichkeit machte, und lachte innerlich. Sicher würde er Zeit dazu finden, und wenn es nur war, um Blackwood zu ärgern.

„Danke für die Einladung“, erwiderte er freundlich. „Vielleicht können wir mal zusammen ausreiten, dann könnt Ihr mir die Gegend zeigen. Ich habe längst nicht alles gesehen.“

„Ja, gern“, erwiderte Blackwood, es klang ein wenig gequält, was Falcon noch mehr amüsierte. Adrian Kinney reagierte instinktiv mit Abwehr, irgendetwas in ihm spürte den Jäger unter Falcons zivilisierter Maske.

Er verabschiedete sich eilig, sichtlich bemüht, den Anstand zu wahren und nicht zu zeigen, dass er floh.

Grinsend sah Falcon ihm nach, als Blackwood sein Pferd zu einem flotten Trab animierte und den langen Weg entlangpreschte, der nach Livingston Manor oder in diesem Fall: davon weg führte. Er spürte, dass Kinney am liebsten in wildem Galopp abgehauen wäre. Lachend wandte er sich vom Fenster ab.

Falcon grinste noch immer, als Timothy die Bibliothek betrat. Der junge Magier fluchte unhörbar.

„Was wollte Lord Blackwood hier?“, fragte er Falcon angespannt. Hatte dessen gute Laune etwa mit Blackwoods fluchtartigem Aufbruch zu tun?

„Herausfinden, wer ich bin. Was sonst?“ Falcon streckte sich und legte die Füße, die wie gewöhnlich in schwarzen Reitstiefeln steckten, auf den Tisch. „Vielleicht weiß er, dass der alte Livingston keinen richtigen Erben hatte? Vielleicht weiß er auch noch etwas anderes?“ Er sah Timothy neugierig an. „Mich würde interessieren, woher du weißt, dass unser Besucher Lord Blackwood war.“

„Habe ich zufällig gehört“, wich Timothy aus. „Ich glaube, Longfield hat es erwähnt.“

„Schwach, Timothy. Deine Lügen waren auch schon mal besser.“

„Was hattest du für einen Eindruck?“

„Von Longfield? Nun, er ist ein guter Butler, sonst hätte ich ...“

„Von Blackwood natürlich.“ Timothy blitzte ihn an. Dieser selbstgefällige Vampir machte ihn schon wieder wütend. „Meine Güte, ich weiß, wer er ist! Und ich habe ihn gesehen.“

„Gut, unser Lord Blackwood: Adrian Kinney heißt er, was du natürlich schon weißt. Er sieht gut aus, braunes kurzes Haar und rehbraune Augen, schmale Hüfte, lange Beine, modisch gekleidet ...“

„Du sollst ihn nicht anpreisen!“, unterbrach Timothy ihn erneut, seine Stimme zitterte leicht. Natürlich hatte er Kinneys körperliche Vorzüge auf den ersten Blick gesehen. So etwas sah er immer sofort. Und der erste Blick auf Blackwood war ihm bereits in London vergönnt gewesen. Denn Viggo hatte ihn schon dort beauftragt, herauszufinden, ob der junge Lord wusste, was seine Aufgabe war. Bedauerlicherweise hatte Adrian Kinney keine Ahnung. Und dieser Umstand hatte Viggo auf die Idee gebracht, Timothy als Mentor für Kinney aufs Land zu schicken. Und was noch bedauerlicher war: Er hatte andere Dinge über Adrian Kinney herausgefunden, die seine Aufgabe nicht erleichtern würden.

Falcon lachte. „Dir kann man es auch nicht recht machen.“

„Also?“

„Leider scheint er nichts von dem zu wissen, was ihn hier erwartet. Er ist gestern erst aus London gekommen.“

„Mmh.“

„War es das, was du wissen wolltest?“

„Warum glaubst du, dass ich etwas Bestimmtes wissen wollte?“, fragte Timothy scheinheilig.

„Timothy Storm, ich kenne dich einfach. Viel besser, als ich eigentlich sollte“, erklärte Falcon gelangweilt. „Und daher gehe ich nicht davon aus, dass Blackwoods attraktives Äußeres der einzige Grund für dein Interesse ist. Ich glaube allerdings, er wird in Zukunft einen großen Bogen um Livingston Manor machen, wenn es ihm möglich ist.“

Der junge Magier zog eine Grimasse. „Hast du ihn vergrault?“

Falcon warf ihm einen vielsagenden Blick zu. „Sein Instinkt hat ihm geraten, sich schnellstens aus dem Staub zu machen.“

„So ein Mist“, brummte Timothy.

Falcon grinste. „Brau ihm einen Liebestrunk, wenn du ihn gefügig machen willst.“

Timothy funkelte ihn wütend an. „Behalt deine Tipps für dich!“ Er rauschte aus der Bibliothek, und Falcon lachte schallend.

In der Tür blieb Timothy noch einmal stehen, um einen gezielten Lichtblitz auf Falcons Stiefel zu feuern, in der Absicht, ihm ein Loch in dieselben zu brennen. Stattdessen traf er versehentlich die Brandyflasche auf dem kleinen Beistelltisch, der neben dem Sofa stand. Die Flasche explodierte klirrend, was Falcons Lachen verstärkte.

„Übung macht den Meister“, brüllte er lachend hinter Timothy her.

Zitternd vor Zorn machte der, dass er wegkam.

Es dauerte eine ganze Zeit lang, bis Timothy sich wieder beruhigt hatte. Es war nicht ungefährlich, wenn er sich aufregte. Das wusste Falcon natürlich, aber dieser ignorante Vampir hatte sich nie darum gekümmert. Er war einer der Wenigen, die niemals Angst vor Timothys Kräften gehabt hatte.

Und der junge Magier kannte das Gefühl, die Gesichter der Menschen, die ihm erschreckt aus dem Weg gegangen waren. Immerhin hatte es Menschen gegeben, die ihn aufgenommen hatten. Ihn, den Sohn einer Hexe, die offiziell zum Tode verurteilt worden war. Und er hatte sich nicht immer bemüht, seine zerstörerischen Energien unter Kontrolle zu halten.

Warum regte er sich überhaupt über Falcon auf? Timothy wusste, dass der Vampir ihn aufzog, weil er ihn auf eine sehr besitzergreifende Art mochte. Das stimmte Timothy milder. Und natürlich hatte Falcon recht: Adrian Kinney, Lord Blackwood, interessierte ihn. Seit dem Tag, an dem er ihn in London das erste Mal gesehen hatte. Und er erinnerte sich auch gut an das Gespräch mit Viggo ...

„Warum sollte ich diese Aufgabe übernehmen? Ich habe keine Ahnung von so etwas!“

Viggo, der momentane Herrscher der Immortale, ein großer Mann mit langem, blonden Haar und gemeißelten Gesichtszügen, sah ihn ein wenig gelangweilt an.

„Normalerweise werden die Wächter der Blackwood-Höhlen von ihren Vorfahren eingeweiht. Der Vater gibt das Wissen an seinen Sohn weiter. Und wenn der Nachfolger sein 25. Lebensjahr vollendet hat, wird das Wächteramt in einem Ritual übergeben.“

„Ja, aber ...“

Viggos Handbewegung brachte ihn sofort zum Schweigen. „Kinneys Vater, der vorige Lord Blackwood, starb bereits vor fünf Jahren. Wahrscheinlich wurde er ermordet. Es gab Hinweise darauf, dass bestehende Verhältnisse infrage gestellt wurden. Seit fünf Jahren gibt es nun keinen Wächter, und wir konnten die Höhlen nicht nutzen. Jetzt ist die Zeit des neuen Wächters gekommen – nur ... ärgerlicherweise weiß der vielleicht gar nichts davon.“

Timothy hatte noch immer keine Ahnung, was nun seine Aufgabe sein sollte. „Warum fragt Ihr nicht jemanden aus der Magierloge? Ihr ... ähm, arbeitet doch sonst auch zusammen.“

Viggo sah mit einem Mal recht finster aus. „Die Magier gehören zu unserem Rechtssystem. Nicht mehr und nicht weniger. Keiner dieser Magier weiß von den Höhlen. Ich hoffe, du verstehst, was ich damit sagen will?“

Timothy nickte eilig. Keine Beteiligung eines weißen Magiers – das hieß, dass die Immortale an dieser Stelle mit Schwarzmagiern kooperierten. Und offenbar war es in der Vergangenheit zu Störungen gekommen ...

„Du wirst Adrian Kinney beobachten, herausfinden, was er weiß und ihn dann unterrichten, damit er ein würdiger Nachfolger seines Vaters werden kann. Du bist der Einzige, dem ich in diesem Fall vertrauen kann.“

Ihn unterrichten. Als wenn das so einfach wäre ...

Die Blackwoods waren Mentalisten, Geisterseher, Menschen mit Visionen und Träumen ... Er selbst war Magier, der Sohn einer Hexe! Wie sollte er da ein vernünftiger Lehrmeister, ein Mentor für einen Wächter sein?

Und dann gab es hier diese seltsame Atmosphäre. Irgendetwas stimmte nicht. An diesem Ort existierten Energien, die dunkel waren, wabernd, irgendwie verrückt. Und seine Magie ... nun, die funktionierte hier leider überhaupt nicht gut. So etwas hatte er noch nie erlebt.

Einige Stunden später, Timothys Selbstbewusstsein war fast wieder hergestellt, hörte er ein Geräusch, dass seine Aufmerksamkeit fesselte. Wollte Falcon das Haus verlassen?

Fensterläden wurden geöffnet.

Eine Gänsehaut überzog Timothys Arme. Irgendetwas war passiert. Vorsichtig, um niemanden auf sich aufmerksam zu machen, weitete Timothy seine Sinne. Und das, was er spürte, war so schwarz, so undurchdringlich wie die dunkelste Nacht.

Eine Seele? Ein Dämon?

Falcon jedenfalls hatte seine Gedanken fest verschlossen. Er war auf der Jagd.

Mit einem Ruck stand Timothy ebenfalls auf und schüttelte den Rest der Erstarrung ab. Dann öffnete er die Fenster in seinen Gemächern und wandelte sich mit einem leisen Seufzer in eine kleine Fledermaus.

Rasch folgte er Falcon in die Nacht.

Er brauchte einen Moment, um den Vampir zu orten. Mit den speziellen Fledermaussinnen war dies einfacher, denn Falcon war kaum mehr als ein Nebelschwaden, der zwischen den schwarzen Baumstämmen hing.

Und es gab eine weitere besondere Verbindung zwischen ihnen. Eine, die Timothy nutzen konnte, wenn er auf den tierischen Instinkt reduziert war. Bisher hatte Falcon nie erwähnt, ob er diese Verbindung ebenfalls spüren konnte. Sie war ein emotionales Band, eine Besonderheit, die er wahrgenommen hatte, als sich Falcons Zähne das erste Mal durch seine Haut gebohrt hatten.

Plötzlich versetzte eine fremde, freigesetzte Energie Timothy einen Schlag und ließ ihn kurzfristig trudeln. Er fiel einige Meter, bis er sich wieder fing. Was in Dreiteufelsnamen ...!

Wieder fand er Falcon ein Stück weit unter sich, jetzt konnte er ihn sogar sehen. Der Vampir trug dunkle Kleidung und bewegte sich vollkommen lautlos, aber nicht eilig. Was auch immer ihn in die Nacht gerufen hatte, es verlangte nicht nach Eile. Und dann witterte Timothy es selbst: Dort unten lag ein großes totes Tier, das auch Falcon mittlerweile erreicht hatte.

Neugierig berührte es Falcon mit der Spitze seines Stiefels.

Timothy umkreiste die Szenerie hoch oben über den Baumwipfeln. Was hatte das zu bedeuten? Und was war hier passiert, das ihm selbst in Tiergestalt diese unangenehme Übelkeit einbrachte?

Kapitel 5

Adrian hatte sich offenbar nach seiner Rückkehr zurückgezogen. Als er zum Abendessen nicht auftauchte, ging Elisabeth auf die Suche. Es war nicht allzu ungewöhnlich für ihren Bruder, dass er sich zurückzog, um allein zu sein. Bereits einen Tag nach seiner Rückkehr damit zu beginnen, fand Elisabeth allerdings nicht nur unhöflich, sondern auch merkwürdig. Dieses Verhalten bestätigte ihre Vermutungen: Adrian hatte Sorgen. Er verheimlichte irgendetwas. Der Gedanke machte sie traurig, denn sie hatten bisher immer ein gutes, ein ehrliches Verhältnis gehabt. Warum verschloss Adrian sich nun so vor ihr?

Sie fand ihren Bruder in seinem kleinen Arbeitszimmer. Er saß an seinem Schreibtisch, eine Karaffe mit Brandy vor sich und ein Glas, und dachte ganz offensichtlich über etwas nach. Als sie eintrat, verschloss sich sein Gesicht sofort. Nur einen winzigen Moment hatte sie die Sorge in seinen Augen erkannt.

Elisabeth tat, als hätte sie nichts gesehen und lächelte ihren Bruder an. „Adrian, was machst du hier? Ich habe auf dich gewartet! Wolltest du nicht mit mir zu Abend essen? Ich musste wieder einmal mit Roseanne speisen, und du kannst mir glauben, das ist oft sehr anstrengend“, plauderte sie fröhlich drauf los, obwohl sie sich nicht gut dabei fühlte. Viel lieber hätte sie ihn direkt auf ihre Vermutungen angesprochen. Aber sie kannte Adrian lange genug, um zu wissen, dass sie damit nur seinen Widerwillen heraufbeschwor.

„Ich bin ein wenig erschöpft“, erklärte Adrian. „Erst die Reise und heute ...“, er stockte kurz. „Ich habe Blankett, unseren Verwalter, aufgesucht und bin mit ihm die Zahlen durchgegangen. Bis man sich wieder eingearbeitet hat, das dauert seine Zeit.“

„Blankett macht doch gute Arbeit, oder?“ Elisabeth ging auf sein Spiel ein.

„Ja, sicher.“ Adrian rieb sich die Augen. „Auf dem Rückweg bin ich übrigens durch das Dorf geritten und habe bei Nelly vorbeigeschaut.“

Elisabeth nickte. Davon war sie ausgegangen. Wenn er nach Blackwood kam, dann sah er immer bei Nelly vorbei – und bei Daniel. „Es geht beiden gut, nehme ich an“, sagte sie neutral.

Adrian bestätigte dies. Sein aufmerksamer Blick ruhte auf ihr, und das mochte sie nicht. Sie war nicht bereit, diese schwierige Angelegenheit in zwei Sätzen abzuhandeln.

„Und, warst du bei unserem neuen Nachbarn?“, brachte sie ihn vom Thema ab.

Sofort versteifte sich Adrian, und zwar so offensichtlich, dass Elisabeth es sehen konnte. Ah, daher wehte der Wind also. Er wollte sie und sie ihn ablenken – eine interessante Situation.

„Ja, ich habe Lord Livingston kennengelernt“, sagte Adrian kühl. „Er behauptet, der alte Livingston sei sein Großonkel gewesen.“

„Er behauptet?“, fragte Elisabeth nach.

„Es wird wohl so sein“, wich Adrian aus. „Sonst hätte er sicher das Anwesen nicht geerbt.“

„Und – was ist er für ein Mann?“ Langsam wurde es Elisabeth zu bunt. Warum musste sie ihrem Bruder alles aus der Nase ziehen? Was war nur los mit ihm?

„Ist er nett? Sieht er gut aus? Ist er verheiratet?“ Sie wusste, dass sie ihn mit diesen Fragen provozierte, aber irgendwie musste sie ihn ja aus der Reserve locken.

Adrian stand so ruckartig auf, dass der Stuhl beinahe umgefallen wäre. Er kam einen raschen Schritt auf sie zu und blitzte sie an. „Ich verbiete dir, mit Lord Livingston Kontakt aufzunehmen! Hörst du, Elisabeth? Ich meine es ernst. Dieser Mann ist nichts für dich.“

Elisabeth riss überrascht die Augen auf. Adrian wollte ihr etwas verbieten? Hatte sie sich vielleicht verhört?

„Kennst du ihn etwa aus London?“

„Nein, ich kenne ihn nicht, und ich möchte ihn auch nicht näher kennenlernen. Lizzy, Männern wie diesem Livingston sollte man besser aus dem Weg gehen.“

Es konnte nicht sein, dass Adrian ihr die einzige Abwechselung verbieten wollte, die es hier auf dem Lande gab! Sie zog einen Schmollmund, was Adrian schon so oft erweicht hatte, aber dieses Mal blieb er hart. Er fasste sie an den Oberarmen und schüttelte sie leicht. „Ich hoffe, wir haben uns verstanden. Halt dich fern von Livingston.“

Ihren Ärger sorgsam verbergend nickte sie. „Wenn du Hunger bekommst, musst du in die Küche gehen. Der Tisch ist bereits abgeräumt.“

Adrian ließ sie los.

„Gute Nacht, Lizzy.“

„Gute Nacht.“ Sie konnte nicht vermeiden, dass ihre Stimme ein wenig spitz klang. Sie drehte sich um und verließ das Arbeitszimmer. Was war nur mit Adrian los? Und was war mit diesem Lord Livingston? Diese Fragen gingen ihr nicht mehr aus dem Kopf. Und was sie derart beschäftigte, machte sie neugierig. Adrian hätte alles tun können, sie war schon Feuer und Flamme mehr herauszufinden. Geheimnissen hatte sie noch nie widerstehen können.

Das war schon damals so gewesen, als sie als Kinder die Gegend erforscht hatten. Blackwood war immer ein geheimnisvoller Ort gewesen. Geschichten und Legenden hatten von jeher die Fantasie der Menschen hier beflügelt, und der Dorfklatsch hatte sie seit ihrer Kindheit begleitet. Auch wenn sie nicht viel darauf gegeben hatte. All die Schauermärchen waren für Elisabeth immer genau das gewesen: Märchen. Und auch heute noch liebte Elisabeth Romane, in denen es um geheimnisvolle Dinge ging. Doch wie viel besser war ein Geheimnis, das man selbst ergründen konnte!

Sie zog sich auf ihr Zimmer zurück und ließ sich von Glanwill eine heiße Milch mit Honig bringen. Roseanne hatte sich direkt nach dem Abendessen zurückgezogen und so leistete Clare ihr Gesellschaft. Das war auch gut so: Elisabeth fand ihre ältere Gesellschafterin äußerst langweilig. Sie hatten keinerlei Gemeinsamkeiten, Elisabeth interessierte sich nicht für Stickereien und Roseanne weder für Bücher noch für Heilpflanzen und Medizin. Meist bemühte sie sich, es nicht allzu deutlich zu zeigen, aber sie war jedes Mal froh, wenn Roseanne sich zeitig zurückzog und sie nicht mit einem weitschweifigen Vortrag über Handarbeiten ermüdete. Außerdem hatte sie immer das vage Gefühl, dass ihre Gesellschafterin etwas vor ihr verbarg, und wenn das nur ihr wahres Gesicht war.

Sie saßen gemeinsam vor dem kleinen Kamin, der sich im Nebenraum von Elisabeths Schlafzimmer befand. Auch Clare trank eine heiße Milch.

Beide Frauen hatten es sich zur Gewohnheit gemacht, abends zusammenzusitzen und sich zu unterhalten. Elisabeth war froh, in Clare so eine gute Freundin zu haben. Sie hatte ihr immer beigestanden, und ohne sie wäre ihr Leben wohl recht trostlos gewesen.

„Wollen wir morgen gemeinsam ausreiten?“, schlug Elisabeth vor.

„Gern, wenn Ihr nicht etwas Zeit mit Eurem Bruder verbringen wollt. Wer weiß, wie lange er bleibt.“

„Ich weiß es nicht, er hat noch nichts verlauten lassen. Er benimmt sich ohnehin äußerst seltsam!“ Verärgert rührte Elisabeth in ihrer Tasse.

„Inwiefern?“

„Adrian verbirgt irgendetwas“, sagte Elisabeth und sah zu Clare. „Das spüre ich. Er war bei diesem neuen Lord Livingston und hat mir prompt verboten, mich diesem Mann auch nur zu nähern! Das muss man sich mal vorstellen, jetzt darf ich nicht einmal unsere Nachbarn besuchen. Adrian behauptet, er kennt diesen neuen Lord nicht, aber das glaube ich nicht. Da muss etwas anderes dahinterstecken.“

„Ach, glaubt Ihr, er kennt ihn bereits von früher? Oder gar aus der Stadt?“

Elisabeth nickte. „Vermutlich. Er hat sich wirklich merkwürdig aufgeführt. Wann hat er mir das letzte Mal etwas verboten?“

Clare zuckte mit den Schultern. Offenbar konnte sie sich an keine Situation erinnern. „Und was habt Ihr nun vor?“, fragte sie neugierig.

„Ich werde herausfinden, was es ist. Ich werde das Geheimnis um Lord Livingston lüften.“ Elisabeth grinste ihre Freundin verschwörerisch an.

„Davon gehe ich aus“, meinte Clare trocken. „Aber wenn Ihr nicht bald aufhört zu rühren, werdet Ihr ein Loch in die Tasse hineingerührt haben.“

Am nächsten Morgen war Adrian wieder fast der Alte. Er lächelte Elisabeth offen an, als diese den Frühstücksraum betrat.

„Guten Morgen, Schwesterherz. Hast du gut geschlafen?“

Elisabeth ließ sich nicht anmerken, dass sie verblüfft war. Je weniger er glaubte, dass sie bereits Verdacht geschöpft hatte, umso besser konnte sie ihre Nachforschungen anstellen.

„Danke, sehr gut. Ich hoffe, du auch?“

„Hm ja.“

Wieder wusste Elisabeth sofort, dass Adrian sie anlog. Er hatte vermutlich gar nicht geschlafen. Zumindest, wenn sie seine Augenringe als Anhaltspunkt nahm. Adrian konnte ihr nichts vormachen, aber sie war bereit, sein Spielchen vorerst mitzuspielen.

Sie ließ sich von Glanwill frischen Kaffee eingießen und griff nach einem Stück frischgebackenem Brot, das sie mit Butter und Marmelade bestrich. Im Sommer und im Herbst wurden immer neue Marmeladen hergestellt und Obst eingekocht, denn auf dem Anwesen der Blackwoods gab es viele Obstbäume und eine kleine Obstplantage, die ordentliche Erträge einbrachte. Und ihre Köchin Pauline konnte nicht nur außergewöhnlich gut kochen, sondern war auch eine Meisterin im Erfinden neuer Marmeladen und Brotaufstriche.

Adrian begann von allein mit dem Thema, über das sie sich gestern fast gestritten hatten. „Lizzy, ich weiß, du bist es nicht gewöhnt, dir Vorschriften machen zu lassen ...“

Elisabeth presste die Lippen aufeinander, um nichts Falsches zu sagen.

„Aber ich muss dabei bleiben: Ich verbiete dir, mit Lord Livingston Kontakt aufzunehmen. Der Mann ist gefährlich, und ich bin für dich verantwortlich.“

Elisabeth sah ihren Bruder durchdringend an. „Ich weiß das, Adrian. Was mich allerdings interessieren würde, ist, warum du das sagst. Kennst du ihn vielleicht doch aus London?“

„Nein! Glaub mir, Lizzy, wenn ich ihn schon einmal vorher getroffen hätte, ich hätte mich an ihn erinnert. Fakt ist, er ist gefährlich. Wenn du ihn gesehen hättest, dann wüsstest du, warum ich zu dieser Einschätzung komme.“

„Ich komme ja nun leider nicht dazu, mir eine eigene Meinung zu bilden“, erwiderte Elisabeth scharf.

„Und das ist auch besser so“, beharrte Adrian stur. „Außerdem glaube ich nach wie vor nicht, dass er wirklich Livingstons Großneffe ist.“

„Du glaubst, er ist ein Schwindler?“

„Vielleicht ...“

„Was will er hier?“

Adrian starrte seine Schwester an. „Hier leben? Keine Ahnung!“ Nun klang er wieder fast so abweisend wie am letzten Abend. „Auf jeden Fall passt er in diese dunkle Burg.“

Elisabeth biss sich auf die Zunge. Sie wollte nicht mit Adrian streiten, dafür freute sie sich viel zu sehr darüber, dass er da war. Sie würde schon noch herausfinden, was los war. Und wenn er glaubte, sie würde sich Lord Livingston nicht wenigstens anschauen, hatte er sich getäuscht. Ein Mann, der auf ein Spukschloss passte – wann konnte man so etwas schon sehen?

Sie hatte lange genug vergeblich darauf gewartet hatte, dass sich der neue Nachbar selbst bei ihr vorstellte, jetzt würde sie die Initiative ergreifen. Sie war versucht, Adrian nach Livingstons Aussehen zu fragen, konnte sich aber im letzten Augenblick davon abhalten.

Stattdessen schob sie ihrem Bruder die Marmelade rüber. „Hast du schon probiert? Paulines neueste Kreation aus diesem Sommer.“ Sie lächelte ihn gewinnend an, in der Hoffnung, ihn gründlich abzulenken.

In diesem Moment trat Glanwill nach einem kurzen Klopfen erneut ein.

„Mylord, Josephine Miliband ist hier.“

Elisabeth lächelte. „Sie will bestimmt zu mir“, sagte sie sofort.

Adrian zog die Augenbrauen fragend nach oben.

„Ich war in der letzten Zeit häufig mit ihr zusammen“, erklärte Elisabeth. „Sie hat mir gezeigt, wie man einen Heilkräutergarten anlegt, und ich habe mit ihr zusammen Krankenbesuche gemacht.“

Glanwill räusperte sich vernehmlich. „Sie wünscht Euch zu sprechen, Mylord.“

Elisabeth runzelte die Stirn und warf Glanwill einen irritierten Blick zu. Was wollte Josephine von Adrian? Hatte er die alte Heilerin zu sich bestellt? Ein Schreck durchfuhr Elisabeth – war Adrian vielleicht ernsthaft erkrankt? Dann wäre er lieber in London geblieben! Die medizinische Versorgung war dort sicher besser als hier auf dem Land.

„Sie soll reinkommen“, sagte Adrian.

Elisabeth versuchte, sich möglichst unsichtbar zu machen, damit Adrian sie nicht hinausschickte. Daher bewegte sie sich nicht und atmete nur flach. Ein Witz, denn natürlich ging sie nicht davon aus, dass Adrian sie auf einmal nicht mehr sah. Sie wollte ihn nur nicht aufmerksam machen. Denn sie wollte unbedingt wissen, was Josephine wollte.