Torge und Jascha: Alien aufgetaucht - Simon Rhys Beck - E-Book

Torge und Jascha: Alien aufgetaucht E-Book

Simon Rhys Beck

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Beschreibung

Untertauchen in Ostfriesland. Ob das eine gute Idee ist? Jascha kommen schnell Zweifel, denn mit seiner Mutter hatte er lange keinen richtigen Kontakt und ausgerechnet sein Stiefbruder in spe lässt sein Herz schneller schlagen. Dabei hat er doch wirklich genug Probleme. Torge ist eigentlich nur zu Besuch. Er wohnt seit einiger Zeit in Hamburg, hilft jetzt aber seinem Vater aus, der Hufschmied ist. Könnte alles recht entspannt sein – wenn nicht auf einmal Jascha aufgetaucht wäre. Der kleine Emopunk, der so wunderschön depressiv auf seiner Gitarre klimpert. Ein Titel der Differences Reihe.

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Seitenzahl: 314

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Simon Rhys Beck

Torge und Jascha: Alien aufgetaucht

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2019

http://www.deadsoft.de

© the author

Cover: Irene Repp

http://www.daylinart.webnode.com

Bildrechte:

© Cvandyke – shutterstock.com

© AS Inc – shutterstock.com

© PKpix – shutterstock.com

1. Auflage

ISBN 978-3-96089-338-7

ISBN 978-3-96089-339-4

Inhalt:

Untertauchen in Ostfriesland. Ob das eine gute Idee ist? Jascha kommen schnell Zweifel, denn mit seiner Mutter hatte er lange keinen richtigen Kontakt und ausgerechnet sein Stiefbruder in spe lässt sein Herz schneller schlagen. Dabei hat er doch wirklich genug Probleme.

Wie wir glücklich sind

Weiß keiner, außer wir

1. Kapitel

Jascha

Ich lasse den Rucksack von meinen Schultern rutschen und stelle den Gitarrenbag neben mich. Es sind zu viele Menschen um mich herum. Beängstigend, besser, ich warte einen Moment. Hamburg. Das letzte Mal, dass ich hier am Flughafen gewartet habe, ist vor sechs Jahren gewesen. Danach hat meine Mum mich noch ein paar Mal in England besucht.

Wir sind uns fremd geworden, und am Ende wussten wir uns überhaupt nichts mehr zu erzählen. Es ist schrecklich und traurig, aber ich habe keine Ahnung, wie es dazu gekommen ist. Und jetzt bin ich wieder hier. Seltsames Magengrummeln zieht meine Eingeweide zusammen. Die Nervenbahnen in meinen Beinen vibrieren, ein Gefühl, als würden meine Knie zittern.

Aber meine Knie zittern nicht. Warum auch? Wahrscheinlich bin ich einfach nur erschöpft.

Evelyn, also meine Mum, will mich unbedingt abholen. Gut, soll sie. Ich habe nicht darum gebeten, hätte auch mit dem Zug fahren können. Ich will überhaupt nicht, dass sie so einen Aufstand machen. Es ist Quatsch, und es ändert auch nichts.

In diesem Moment frage ich mich, warum ich diese Idee gut fand, nach Deutschland zu fliehen.  Ich kann nicht vor mir selbst davonlaufen, nicht vor meinen Gefühlen, nicht vor dem, was passiert ist.

Auf einmal fühle ich mich schrecklich allein. Wie soll ich diese sechs Wochen bloß überstehen? Und wie soll ich die Zeit danach überstehen, wenn die Schule wieder anfängt? Wie soll es bloß weitergehen? Vielleicht wäre es besser, wenn ich einfach verschwinde. Mich in Luft auflöse … Wenn ich jetzt abhaue, würde Mum mich nicht finden. Wo könnte ich hin? Zurück nach England? Dann nur nach London, wo ich untertauchen kann. Oder nach Berlin?

Meine Knie werden weich wie Pudding, ich habe nicht das Gefühl, dass sie mich länger tragen können. Verdammt noch mal! ICH. MUSS. MICH. JETZT. ZUSAMMENREISSEN. Sechs Wochen Zeit, einen Plan zu schmieden. Das muss reichen.

„Jascha?“

Ich zucke regelrecht zusammen, als ich meinen Namen höre.

Als ich mich zur Seite drehe, sehe ich meine Mutter – es passiert irgendetwas in meiner Brust. Ein kurzer Schmerz und dann nichts mehr.

„Hallo Mum.“

Es folgt eine unbeholfene Umarmung.

„Wie war deine Reise?“

„Alles okay.“

Ich greife nach meinem Gitarrenbag und schnalle ihn auf meinen Rücken. Dann schnappe ich mir rasch mein übriges Gepäck, ehe meine Mutter auf den Gedanken kommt, mir beim Tragen zu helfen.

Wir verstauen die Sachen im Kofferraum eines silbergrauen Mercedes, älteres Modell.

Es regnet ununterbrochen, und als ich mich in den weichen Beifahrersitz sinken lasse, bin ich bis auf die Haut durchnässt. War ja klar, dass sie bei dem Wetter auf einem Außenparkplatz parkt. Das T-Shirt klebt auf meiner Haut und meine Hose fühlt sich klamm an. Unangenehm.

„Hast du Hunger?“

„Geht so.“

Ich schaue aus dem Fenster, beobachte den Verkehr, lasse mich vom Dauerregen einlullen und versuche an gar nichts zu denken. Vorsichtshalber schließe ich nach einiger Zeit die Augen, damit meine Mutter mir kein Gespräch aufdrängt. Dazu bin ich noch nicht bereit.

Wirklich schlafen kann ich natürlich nicht, ich bin viel zu aufgewühlt. Das Schweigen dehnt sich aus, füllt den ganzen Wagen. Wenn es sich noch weiter ausdehnt, werde ich aus dem Wagen gequetscht. Komischer Gedanke, der mich fast zum Lachen bringt. Ich blinzele kurz und sehe, dass meine Mutter die Autobahn verlässt. Sie hat nicht ein einziges Wort gesagt. Vielleicht sucht sie krampfhaft nach einem Thema? Das tue ich nicht, ich ertrage die Stille einfach.

Das Radio läuft, leise Musik, die Wischer verursachen ein leichtes Schaben auf der Frontscheibe.

Ich öffne die Augen wieder komplett und starre aus dem Fenster. Hamburg liegt bereits weit hinter uns. Hier bin ich noch nie gewesen.

Als wir noch eine Familie waren, haben wir in Frankfurt und in Birmingham gewohnt. Nach der Scheidung ist Mum zurück nach Deutschland. Und nun wohnt sie mit ihrem Neuen zusammen, irgendwo auf dem platten Land, dort, wo es mehr Kühe als Einwohner gibt. Wer will denn schon hierherziehen? Ins Niemandsland? Hier gibt es nichts, außer Wiesen, Kühe und schiefe Bäume. Warum die so schief sind, wird mir sofort klar, als ich aussteige. Der kräftige, kühle Wind gräbt sich unter meine klammen Klamotten und lässt mich erschaudern. Ich will ein heißes Bad! Oder zumindest heiß duschen! Alle meine Wärme ist weg, aber diesen Zustand kenne ich jetzt schon seit ein paar Tagen.

„Komm mit, dann kannst du Ole und Torge kennenlernen.“

Ich nicke knapp. Ole ist ihr neuer Mann, Torge sein Sohn. Das habe ich schon am Telefon erfahren.

Mum stoppt kurz vor der Haustür, und wir sehen uns zum ersten Mal richtig an. Sie ist älter geworden, trägt die Haare länger als früher. Jetzt lächelt sie vorsichtig.

„Ich freue mich, dass du hier bist, Jascha. Ich hoffe, wir beide kriegen dadurch auch eine zweite Chance.“ Kurz bleibt sie bei ihrer Musterung an meiner aufgeschlagenen Lippe hängen. Aber sie sagt nichts dazu.

Ich halte ihrem Blick stand und bemühe mich, zurückzulächeln, wenigstens ein bisschen. Ich habe kein Problem mit meiner Mutter. Sie ist mir einfach nur fremd.

„Hanken“ steht auf einem Tonschild an der Haustür. Mit winzigen Tonwürstchen ist eine Blume daneben geklebt. Scheiße, wie spießig.

Das Haus der Hankens ist ein typisches Bauernhaus, wie es sie hier zuhauf gibt. Roter Klinker, tief gezogenes Dach, aber eindeutig modernisiert. Zum Glück. Ich hatte mich schon auf Plumpsklo und Kerzenlicht eingestellt. Als ich hinter meiner Mutter das Haus betrete, atme ich auf. Hier drin ist es hell, nach hinten hin, Richtung Wohnzimmer, gibt es eine breite Fensterfront. Es sieht ganz gemütlich aus, aber nicht luxuriös. Offen, wenn auch nicht sehr groß. Auf jeden Fall vollkommen anders als die Wohnungen, in denen ich mich in den letzten Jahren bewegt habe. Der Unterschied ist so riesig, ich könnte genauso gut auf dem Mars gelandet sein.

Und dann sehe ich den Mann, mit dem meine Mutter jetzt zusammenlebt, zum ersten Mal. Boah, der Typ ist vielleicht ’ne Kante! Er muss sich fast bücken, als er aus einem Nebenraum kommt, um uns zu begrüßen.

Automatisch weiche ich ein Stück zurück. Ich bin nicht der Größte, und vor solchen Typen habe ich echt Respekt. Mir wird eine riesige Hand entgegengestreckt, und da ich nicht unhöflich sein will, ergebe ich mich dem Händedruck. Hoffentlich bricht er mir nicht die Hand.

„Na, du bist Jascha?“

„Mmh.“

„Ich bin Ole. Freut mich, dich kennenzulernen.“

„Yes, ja ...“ Ich ringe mir ein Lächeln ab, froh, dass meine Hand die Begrüßung überlebt hat.

„Komm, deine Mutter hat einen Kuchen gebacken. Und du weißt ja sicher, dass sie den besten Kirsch-Quark-Kuchen in ganz Friesland macht, he?“

Ich nicke einfach nur. Was für einen Kuchen? Keine Ahnung. Ich bin nicht mal sicher, ob sie jemals früher Kuchen gebacken hat. Aber ich bin ziemlich sicher, dass ich keinen Kuchen essen will. Ein Kaffee wäre allerdings nicht schlecht, und es ist auch angenehm warm in der Küche. Wenigstens trocknen so meine Klamotten allmählich.

Trotzdem hoffe ich, dass ich mich jetzt bald zurückziehen kann. Am liebsten würde ich mich irgendwo verbarrikadieren. Denn das, was mir fehlt, ist Ruhe zum Nachdenken. Das alles ist viel zu viel. Ich bin total erschöpft und gleichzeitig stehe ich unter Strom wie eine Hochspannungsleitung. Das plötzliche Krachen der Haustür lässt mich zusammenfahren. Ich höre Schritte und kurze Zeit später steht ein Typ im Türrahmen und reißt sich die Kapuze der nassen Jacke vom Kopf.

Blonde Strubbelhaare erscheinen.

„Hey, Besuch?“

Ein Lächeln, das mir sofort die Sicherungen durchschmoren lässt.

„Das ist Jascha, Evelyns Sohn“, erklärt Ole Hanken und gießt sich noch etwas Tee ein.

Der Typ wischt sich blonde Strähnen aus dem Gesicht. „Ah, hi, ich bin Torge.“

Das ist also Torge, mein neuer Stiefbruder. Fuck.

Ich presse ein „Hallo“ hervor. Warum ist das Leben so gemein? Torge sieht, selbst in den nassen und ziemlich dreckigen Klamotten, aus wie … Typen immer aussehen, von denen ich träume. Kantig-männliches Gesicht mit einem winzigen Grübchen am Kinn, gerade Nase und dunkle Augen. Dazu dieses verdammte Grinsen. Das kann nur schiefgehen. So eine gottverdammte und verfluchte Scheiße! Ich bin hier am Arsch der Welt, wahrscheinlich sogar auf einem anderen Planeten gelandet, nur um so einen Typen zu treffen.

Ich muss weg und stehe daher auf. „Kann ich vielleicht duschen?“

„Nur wenn du mit mir zusammen duschen willst.“ Torge grinst breit.

Der Typ macht einen Scherz, ganz offensichtlich. Aber ich kann trotzdem nicht widerstehen. Scheiß große Klappe!

„Kein Problem.“

Torge starrt mich an, ich starre zurück.

Zum Glück drängt sich in diesem Moment ein zotteliger, ebenso nasser Schäferhundmischling durch die Tür, der mich allerdings mit völliger Missachtung straft.

„Dauert nicht lange bei mir“, sagt Torge schließlich.

Ich schlucke ein dämliches ‚bei mir dauert’s auch nie lange‘ hinunter. Kein Stress, nicht schon am ersten Tag.

„Ich zeige dir das Gästezimmer.“ Mum ist ebenfalls aufgestanden. „Du hast doch keine Angst vor Hunden, oder?“

„Hunde?“, wiederhole ich irritiert. Ach ja, der Hund … „Nein. Oder schläft der bei mir im Zimmer?“

„Nö, es sei denn, du bestehst darauf“, sagt Torge. „Das ist übrigens Kümmel.“

Ich starre ihn sprachlos an, die ticken doch nicht ganz sauber hier. Dann quetsche ich mich an Torge vorbei. Er ist größer als ich … beeindruckend breite Schultern. Beeindruckend breites Grinsen. Beeindruckend die Scheiße, in der ich stecke.

2. Kapitel

Torge

Ich reiße mir die nassen, dreckigen Klamotten vom Leib und springe unter die Dusche. Das kann doch nicht wahr sein! Mein neuer Stiefbruder – ein Emopunk? Hier auf dem Land? Ein zarter kleiner Bursche mit blauschwarzen Haaren – der passt so gut hierher wie ein karierter Elefant. Gut, dass der nur die Ferien über bleibt! Das gleiche gilt für mich. Hab meinem Päppen nur zugesagt, ihm jetzt in der Sommerzeit zu helfen, dann bin ich wieder weg. Im September fange ich hoffentlich meine neue Stelle an, plus Zusatzausbildung für Pferde mit Hufproblemen und Spezialbeschläge – ein Traumjob für mich. Große Klinik. Und in der Stadt verdient man deutlich mehr damit als hier auf dem Land. Ich wohne ja ohnehin schon in Hamburg. Das ist besser für mich. Und für den Frieden.

Das heiße Wasser tut gut, trotzdem werde ich das Bad schnell für Jascha räumen. Frisurenmäßig hat der ausgesehen wie eine nasse Katze. Wahrscheinlich hat er die ganze Zeit darauf gewartet, endlich unter die Dusche zu kommen. Dass er allerdings auf meinen Flachs eingestiegen ist, hat mich einigermaßen verwundert. Große Klappe hat der Kurze, und schon mal eins draufgekriegt, wie man unschwer an seiner Unterlippe erkennen kann. Die Verletzung sieht noch ziemlich frisch aus.

Ich trockne mich ab. Wo zum Teufel habe ich … Gibt es doch nicht, habe ich glatt vergessen, mir neue Sachen mit ins Bad zu nehmen. Also schlinge ich mir das Handtuch um die Hüften. Früher musste ich keine Rücksicht nehmen, aber das hat sich geändert, als Evelyn eingezogen ist. Im Grunde bin ich ja froh, dass Pa eine neue Frau gefunden hat. Aber davor sind wir auch gut zurechtgekommen. Auf jeden Fall ist’s passend, dass er jetzt nicht allein hier wohnt. Evelyn tut ihm gut, würde ich sagen. Und dass ich hier nicht bleiben konnte, stand auch schon eine ganze Zeit lang fest.

Das Einzige, was ich wirklich schmerzlich vermisse, ist mein Hund Kümmel. Den konnte ich nicht mitnehmen in die Stadt.

Auf dem Weg in mein Zimmer sehe ich, dass die Tür des Gästezimmers offensteht. Kann dem kleinen Emo eigentlich sagen, dass die Dusche frei ist. Bin ja ein netter Typ.

Jascha sitzt auf dem Bett und starrt mich wortlos an. Er hat riesige Kulleraugen, die mich an Mangafiguren erinnern. Die Mädels stehen sicher auf ihn.

„Bad ist frei. Handtücher sind im Schrank links vom Waschbecken.“

„Handtücher“, wiederholt Jascha und sein Blick rutscht eine Etage tiefer.

Glotzt der mir etwa … aufs Handtuch? Ich bin alles andere als prüde, aber diese offensichtliche Musterung ist mir etwas unheimlich. Zumindest von ihm!

„Hast du Röntgenaugen?“, frage ich daher vorsichtig.

„Hm?“ Jascha zuckt zusammen, realisiert dann offenbar, wohin er gestarrt hat.

Er springt mit einem Satz vom Bett und flieht – an mir vorbei Richtung Badezimmer.

Völlig durch den Wind, der Kleine.

Als ich meine Zimmertür öffne, höre ich mein Handy, das auf dem Schreibtisch liegt und vor sich hin vibriert. Ich will gerade drangehen, schaue aber vorsorglich auf das Display – oh nein, es ist Billie.

Langsam lege ich das Handy zurück auf den Schreibtisch. Mist, da habe ich mir was eingebrockt.

Ja, Billie ist süß, klug und man kann Spaß mit ihr haben. Und vielleicht hat es meinen Jagdinstinkt geweckt, dass sie mir früher immer ausgewichen ist. Aber letztendlich weiß jeder hier, dass ich nur auf Spaß aus bin. Das war schon immer so. Und ich achte darauf, dass auch meine Spielpartner auf ihre Kosten kommen, kann sich wirklich keiner beschweren.

Billie hat sich von mir verführen lassen, es war echt schön, aber jetzt wird es auf einmal kompliziert. Und eine meiner wichtigsten Regeln lautet: keine komplizierten Sachen! Kommt gleich nach: Dummheit zahlt sich nicht aus.

Mann, ich bin hier nur, um auszuhelfen – mein richtiges Leben findet in Hamburg statt. Ich will keine Beziehung, nicht hier und nicht mit Billie.

Mein Magen knurrt so laut, dass er alle anderen Gedanken übertönt. Rasch ziehe ich mich an. Wie lange ich Billies Anrufe wohl noch ignorieren muss, bis sie es kapiert? Wenn ich das gewusst hätte … na ja, nachher ist man immer schlauer.

In der Küche treffe ich erneut auf meinen Vater und Evelyn. Die beiden sehen ein wenig ratlos aus.

Ich hole mir das Brot aus dem Schrank, schneide mir ein paar Scheiben ab und setze mich, beladen mit Brot, Butter und Nutella an den Tisch.

„Und, was hältst du von ihm?“

„Hm?“ Ich sehe meinen Pa an, dann geht mir ein Licht auf. „Ach, du meinst Jascha … er ist schon speziell, oder?“

„Speziell?“, wiederholt Evelyn, und sie klingt irgendwie verzweifelt. „Er passt hier überhaupt nicht her. Er kommt aus einer Großstadt, er war noch nie so richtig auf dem Land.“ Sie lässt sich auf den Stuhl sinken, wirkt auf einmal grau und um zehn Jahre gealtert. „Er ist genauso wie sein Vater.“

Ah, daher weht der Wind.

„Wie wohnt er denn in England?“, frage ich mit vollem Mund und schmiere mir die zweite Scheibe.

„Wie wir früher auch gewohnt haben – große Wohnung, kein Garten, gehobene Ausstattung … Er geht auf ein Internat, zusammen mit den Söhnen und Töchtern von Rechtsanwälten, Ärzten und anderen Reichen.“

„Er wird sich bestimmt einleben“, meint mein Pa.

Ich stutze. Was heißt hier einleben? Ist mir irgendetwas entgangen? Will der Bursche sich hier etwa einquartieren?

Als ich am nächsten Morgen frühstücke, schläft Jascha offensichtlich noch. Mir ist das recht, ich habe noch eine Menge zu tun. Von wegen Wochenende ...

Nachdem ich die Pferde auf die Wiese gebracht habe, mache ich mich daran, die Ställe auszumisten, wie jeden Tag. Reine Routine. Über die Stallarbeit muss ich nicht nachdenken, das geht alles zügig und automatisch und ich will auch nicht den ganzen Vormittag im Stall verbringen. Wenn ich weg bin, muss mein Päppen sich wieder eine Aushilfe suchen. Der Einzige, der sich immer über diese Arbeit freut, ist Kümmel. Der rennt mir regelmäßig vor die Karre und schnappt sich herunterfallende Pferdeäpfel. Eine große Hilfe ist das allerdings nicht.

Als ich die erste Schubkarre fast voll habe, bemerke ich, dass mich jemand beobachtet. Und mir ist sofort klar, dass das nur eine Person sein kann. Seufzend schaue ich auf. Im Eingang des Stalles steht Jascha, lässig an die Wand gelehnt. Zu meiner großen Überraschung ist er geschminkt, die Augen dunkel umrandet, einen schwarzen Schal locker um den Hals geschwungen. Auch sonst ist er komplett in Schwarz gekleidet, die dünnen Beine stecken in ziemlich engen Hosen. Irgendwas an Jascha provoziert mich, noch bevor der etwas gesagt hat.

Als er dann den Mund öffnet, bestätigt sich meine Vorahnung.

„Wo sind denn eure Ziegen?“

„Bitte?“

„Ziegen“, sagt er gedehnt.

Ich schnaube leise. „Bin ich Heidi, oder was? Wir haben keine Ziegen! Die großen Tiere nennt man Pferde!“

„Echt, aber stinken tun sie genauso.“

„Wenn du Scheiße findest, die nach Rosen duftet, sag mir Bescheid.“ Ich steche die Mistgabel mit Schwung in das schmutzige Stroh und versuche, Jascha zu ignorieren. Leider ist das aus irgendeinem Grund nicht möglich.

„Willst du was von mir?“

Jascha zuckt mit den Schultern. Sein Blick wandert nach oben. „Uh, fuck, und alles voller Spinnweben!“

„Kannst die gern wegmachen“, biete ich ihm an. „Da hinten steht ein langer Besen.“

„Pfff, das fehlte mir noch.“

„Und ich dachte schon, du wärst hier, um mir zu helfen.“ Kopfschüttelnd arbeite ich weiter. Als die Karre voll ist, schiebe ich sie an Jascha vorbei Richtung Misthaufen. Es ärgert mich, dass ich immer wieder zu ihm hinschauen muss. Irgendetwas hat der Bursche an sich, was meine Blicke wie magisch auf sich zieht. Wahrscheinlich liegt es nur daran, weil er so überhaupt nicht herpasst. In seinen Klamotten hätte er auf einer Bühne stehen können – aber in einem Pferdestall?!

„Oh my god!!“

Ich werfe ihm einen genervten Blick zu. Was ist denn nun schon wieder?

„Der Köter frisst Scheiße! Ich …“ Er macht ein Geräusch, als müsse er sich übergeben, während Kümmel mit Genuss einen dicken Pferdeapfel verspeist.

„Meine Güte, ja, ist halt ein Hund“, sage ich schulterzuckend.

Jaschas angewiderter Blick entgeht mir nicht, und ich widerstehe dem Impuls, den Inhalt der Karre versehentlich auf seine Schuhe zu kippen.

Als ich wiederkomme, steht der Kerl noch immer an die Wand gelehnt. Gut, dass ich heute Morgen Gelassenheit gefrühstückt habe.

„Sag mal, hast du nichts zu tun?“

„Nope, irgendwie nicht.“

„Aber ich …“ Die Botschaft scheint an Jascha abzuprallen. Seufzend schiebe ich die Karre zum nächsten Stall.

„Wie viele Pferde habt ihr?“ Jascha folgt mir.

„Im Augenblick vier.“

„Und was macht ihr damit?“

„Mein Vater fährt Kutsche, ich bin früher viel geritten. Mach ich jetzt auch noch … wenn ich Zeit habe … wenn ich hier bin.“

„Aha.“ Es klingt nicht sonderlich interessiert.

Schweigend arbeite ich weiter, bis auch der zweite Stall fertig ausgemistet ist. Als ich die Karre erneut hinausfahre, bleibe ich vor Jascha stehen und deute auf den Cut an seiner Unterlippe.

„Wie ist das passiert? Schlägerei gehabt?“

Die Veränderung in Jaschas Gesicht ist erstaunlich. Es ist, als hätte er ein Rollo heruntergelassen, das jede Emotion verdeckt. Sein Gesicht versteinert regelrecht.

„Hatte Stress.“ Eine Warnung klingt in seiner Antwort mit: Frag nicht weiter.

Ich lasse Jascha einfach stehen. Wenn das so weitergeht, wird die nächste Zeit höllisch werden. Mit Nervensägen kann ich nicht allzu gut umgehen.

Leider hat Jascha offenbar genau das vor: mich zu nerven. Ob das nun Absicht ist oder ob er einfach nicht weiß, was er sonst tun soll – ich habe keine Ahnung. Jascha folgt mir jedenfalls den ganzen Vormittag, ohne irgendwelche sinnvollen Fragen zu stellen oder ein richtiges Gespräch anzufangen. Er folgt mir nur. Und ich habe keine Lust, den Entertainer zu machen.

„Sag mal, Jascha, was hast du denn so in England gemacht? Da konntest du ja keinem bei der Arbeit zugucken, oder?“ Ich greife nach der Mineralwasserflasche und trinke einen Schluck.

Jascha runzelt die Stirn, als müsse er scharf nachdenken. „Ist voll seltsam, dass mich hier alle Jascha nennen.“

Ich drehe langsam die Flasche zu und mustere meinen Stiefbruder in spe. „Wieso – heißt du nicht so?“

„Doch, aber in England hat jeder nur ‚Jay‘ gesagt.“

Still wiederhole ich den Namen. Jay. Mag sein, dass das zu Jascha passt, aber für mich kommt das nicht infrage. Ich finde es irgendwie nur affig gerade.

„Jascha können sie wahrscheinlich nicht aussprechen“, mutmaße ich, mir bewusst, dass das herablassend klingt. „Und, krieg ich noch eine Antwort?“

„Worauf?“

„Oh Mann.“ Wenn unsere Gespräche immer so anstrengend sind, muss ich mich bestimmt beim nächsten Volkshochschulkurs ‚Wie behalte ich unter widrigen Umständen meine Nerven‘ anmelden.

„Was hast du sonst so in deiner Freizeit gemacht? Oder bist du da auch Leuten hinterhergelaufen, um sie anzuschweigen?“

„Wusste nicht, dass du mit mir reden willst.“

Ich beiße die Zähne zusammen und zähle innerlich bis zehn, dann noch mal bis 52. Aber Jascha sieht mich weiterhin an wie jemand, der kein Wässerchen trüben kann und der auch keine Ahnung hat, um was es geht. Was als Gesichtsausdruck ohnehin ganz schlecht zu einem Typen passt, der sich schminkt wie Marilyn Manson oder ein Mitglied der Addams Family! Jaschas auffallend graue Augen sind mit einer breiten, tiefschwarzen Umrandung versehen, was ich jetzt aus der Nähe noch besser sehen kann. Nicht, dass es ihm nicht steht, aber der Anblick ist hier alles andere als alltäglich.

„Okay“, sage ich gedehnt, als ich mich fähig fühle, das Gespräch erneut aufzunehmen, „Was machst du, wenn du nicht zur Schule gehst und nicht schläfst?“ Vielleicht muss ich es einfacher formulieren?

Die Antwort kommt prompt. „Gitarre spielen und singen.“

Dass Jascha eine Gitarre mitgebracht hat, ist mir aufgefallen. Gut, zu einem singenden Gitarristen passen sowohl Outfit als auch das Make-up.

„In einer Band?“

Jaschas Gesichtsausdruck verändert sich wieder abrupt. Sein „Nein!“ ist so eisig, dass ich es automatisch in meinem Hinterkopf notiere. Bei passender Gelegenheit werde ich darauf zurückkommen, wenn ich Ärger mit ihm haben will. Jascha hat in einer Band gespielt – und das macht er nun nicht mehr, so sieht meine Notiz aus.

„Schon aufgetreten?“, hake ich weiter nach.

Jascha nickt zögerlich.

Weitere kleine Randnotiz: heikles Thema.

„Was spielst du denn so?“

„Alternative, Mix, eigene Sachen. Grandson – sowas die Richtung …“

Na, das ist doch mal eine erfreuliche Information. „Klingt gut“, sage ich einfach automatisch. Ich finde es immer gut, wenn Leute ihr eigenes Ding machen.

Jaschas Augen leuchten plötzlich. Es ist nur ein kurzer Moment, aber ich habe es gesehen. Und ich bin erstaunt, was dieses kurze Leuchten bei mir auslöst: Es schickt ein seltsam-warmes Gefühl durch meinen Körper.

3. Kapitel

Jascha

Ich lasse mich auf das Bett fallen. Ich hatte es nach dem Aufstehen gar nicht gemacht und bin froh, dass meine Mutter keine Ordnung in mein vorübergehendes Quartier gebracht hat. Der Gedanke, dass andere Leute meine Sachen anfassen, sich in mein Leben einmischen, ist mir im Augenblick zuwider. Trotzdem habe ich das Bedürfnis, immer in Torges Nähe herumzuhängen. Ich nerve ihn, das weiß ich. Und ich weiß auch gar nicht, was ich von ihm will. Der Typ stinkt ohnehin nach Arbeit und Pferdestall.

Beim Abendessen sind wir wieder alle zusammengekommen, Mum, Ole, Torge und ich. Es hat sich eigentlich gar nicht so schlecht angefühlt, auch wenn mich diese spießige Familienidylle ankotzt. Aber so konnte ich Torge beobachten, ohne, dass es allzu sehr auffällt. Er hat so ein umwerfendes, leicht schiefes Grinsen, bei dem sich nur ein Grübchen in seinem Gesicht bildet.

Mein Blick fällt auf meine Gitarre, aber da ist etwas in mir, das sich sträubt, sie jetzt auszupacken und was zu spielen.

Du musst wieder spielen. Die Musik hat nichts damit zu tun, mahnt eine Stimme in meinem Hinterkopf. Sie hat recht. Musik ist wie heilen und trösten. Bisher hat sie mir immer geholfen, mit allem fertigzuwerden. Aber vielleicht ist es mir auch vorher noch nie so schlecht gegangen wie gerade?

Ich ziehe mich nicht aus, ziehe die Decke hoch bis zum Kinn. Meine Augen brennen. Ich weiß gar nicht, warum, bis ich die ersten Tropfen fühle, die an meinen Wangen herunterlaufen. Ich lasse sie laufen. Es ist gleich. Es bringt keine Erleichterung.

Nur Erinnerungen …

Ich bin so überrascht, als mich der erste Schlag an der Schläfe trifft. Ich taumele, halte mich am Rand des Waschbeckens fest. Warum bin ich Colin gefolgt? – Weil ich ihm immer gehorcht habe, sagt die Stimme in meinem Hinterkopf.

Ich schüttele mich, sehe mich um. Da stehen sie, grinsen mich an. Seine Bandkollegen. Seine Freunde. Nicht meine.

„Was glotzt du so?“, fragt Ben.

Ich starre ihn an. Was haben sie vor?

„Runter.“

Ich habe keine Ahnung, was sie wollen. Was passiert hier bloß? Ich schaue zu Colin, sende ihm einen flehenden Blick. Aber der betrachtet mich nur distanziert. Spöttisch. Ich spüre Kälte, es ist, als würde mein Herz vereisen. Ich habe mich getäuscht – und jetzt werde ich dafür büßen. Ich bin zu weit gegangen, habe mich überschätzt.

„Los, runter! Jetzt zeig uns mal, was du draufhast!“

„Was wollt ihr?“

Ich drehe mich um, will die Toilette verlassen, aber Marty stellt sich mir in den Weg. Und dann trifft mich eine Faust im Gesicht.

„Nicht so heftig“, sagt Colin mit seiner sanften Stimme. „Ihr sollt ihm nicht die Zähne einschlagen.“

Er wendet sich an mich und für einen Moment denke ich, es würde alles gut werden. Bis Colin lächelt und sagt: „Jetzt runter auf die Knie. Und wenn du heulst oder schreist, kriegst du noch eins in die Fresse.“

Ich sinke widerstandslos zu Boden. Es ist ein seltsames Gefühl, Angst und Scham und etwas, das ich nicht akzeptiere, überschwemmen meinen Verstand.

„Siehst du, du kannst es“, sagt Colin. „Du hast es doch bei Fenton auch gekonnt, du kleiner Bastard.“

Ben gibt mir einen Stoß, sodass ich mit dem Kopf gegen eines der Waschbecken schlage.

Ich unterdrücke einen Schmerzenslaut.

„Dreht ihn um, ich kann sonst das Blut sehen“, sagt Marty jetzt.

Ich schmecke Blut, aber ich spüre nichts mehr.

„Dann mach mal ein schönes Filmchen.“ Colin streicht mit einer liebevollen Geste durch meine Haare. „Und streng dich an, ich weiß doch, wie gern du das tust.“

4. Kapitel

Torge

Ich strecke mich ein wenig und streiche mir die Haare aus dem Gesicht.

„Sei vorsichtig“, brummt mein Päppen. „Der Junge ballert schnell aus.“

Ich nicke, bin aber etwas abgelenkt. Verstehe ich gar nicht, irgendetwas ist anders als sonst. Vielleicht hab ich zu wenig geschlafen? Meinen Job mache ich nämlich gern. Mir war immer klar, dass ich Hufschmied werden will. Ich mag Pferde und mir liegt die Arbeit. Allerdings arbeite ich im Moment überwiegend als Aufhalter, da Marcel, der Angestellte meines Vaters, einen Bandscheibenvorfall hatte.

Ist aber auch okay, von meinem Päppen kann ich noch eine ganze Menge lernen.

Der große Schwarze hampelt ein wenig herum, als ich langsam an seinem Hinterbein nach unten streiche. Zahm gibt er den Huf und ich atme aus. Wieder driften meine Gedanken ab. Heute Morgen habe ich Jascha nicht gesehen. Kein Wunder, der Typ schläft sicher bis mittags und wir sind schon früh los. Und eigentlich ist es auch besser, wenn er mir nicht so häufig vor die Füße läuft. Ich weiß ohnehin nicht, warum ich ständig an ihn denke.

„Torge!“

„Hm?“

„Nächsten – und pass etwas auf.“

Beim letzten Huf erwischt es mich dann. Und zu Recht – denn schon wieder beschäftigt sich mein Hirn mit Jascha. Hero zieht mit einem kurzen Ruck das Hinterbein nach vorn, um dann mit Wucht nach mir zu treten. Meine Reflexe sind gut, ich drehe mich zur Seite, doch Hero hat besser gezielt. Der Huf des Friesenwallachs trifft meinen Oberschenkel mit einem satten Geräusch. Ich stolperte ein Stück, um dann einen heftigen Fluch … herunterzuschlucken. Der Schmerz explodiert nur Sekundenbruchteile später in meinem Bein.

Heros Besitzerin kommt angelaufen. „Oh mein Gott, ist dir was passiert?“

Ich denke einen Moment darüber nach, ihr den Hals umzudrehen. Erst ihr und dann dem Scheißgaul. Erst danach bin ich in der Lage, mein Bein vorsichtig zu bewegen. Die Stelle, an der Hero mich erwischt hat, tut höllisch weh und brennt wie Feuer.

Paps wirft mir von Weitem einen Blick zu. „Geht’s?“

„Weiß ich noch nicht“, antworte ich auf beide an mich gerichteten Fragen und humpele vorsichtig zum Sprinter.

„Ich bin ohnehin fertig“, brummt mein Vater leicht ironisch.

„Scheiße“, fluche ich leise.

Und „Scheißgaul“, als ich mich auf den Beifahrersitz ziehe.

„Hab ich’s gesagt oder hab ich’s gesagt?“ Mein Vater steckt das Bargeld in sein großes Portemonnaie und reicht mir zehn Euro. „Hier, von Iris, als Schmerzensgeld für dich … und weil du ihr Pferd nicht beschimpft hast.“

Schweigend nehme ich den Schein und stecke ihn in die Hosentasche. Jede Bewegung meines Beines schmerzt heftig. „Gut, dass das der Letzte war.“

Mein Vater dreht sich zu mir und gibt mir einen überraschend harten Klaps auf den Hinterkopf.

„Aua, wofür war das denn jetzt?“

„Dafür, dass du deine Schürze heute vergessen hast, du Dödel! Der Schwarze hätte dich doch gar nicht so heftig erwischt, wenn du vernünftig angezogen gewesen wärst.“

Wo er recht hat …

Als wir auf unserem Hof ankommen, zwinge ich mich, meinem Vater bei den letzten Erledigungen zu helfen. Ich spüre, wie er mich dabei beobachtet.

„Kriegst frei morgen“, bestimmt er plötzlich, als ich dabei bin, den Wasserschlauch einzurollen.

„Ich habe gesagt, dass ich dir helfe und dann mach ich das auch“, erkläre ich angriffslustig. Wir haben einen Familienbetrieb, da packt man eben mit an, wenn es eng wird.

„Für morgen krieg ich einen anderen Aufhalter“, beharrt mein Vater. Der Blick, den er mir zuwirft, lässt keinen Widerspruch zu. „Du bist mir so ohnehin keine Hilfe mit der Humpelei … und Flausen im Kopf“, fügt er leiser hinzu. Ich höre es trotzdem.

„Was meinst du damit?“

Er hält in seiner Bewegung inne und starrt mich an. „Wenn du mit mir unterwegs bist, achtest du gefälligst auf die Sicherheitsvorschriften. Und hast deine Gedanken bei der Arbeit und nicht bei irgendwelchen Röcken!“

„Was soll das denn heißen?“ Röcke – gleich lach ich mich aber kaputt, trotz des verärgerten Ausdrucks in Paps Gesicht.

„Was hast du mit der kleinen Reekers gemacht?“

Ah, daher weht der Wind. Billie. „Nichts, was sie nicht wollte“, erwidere ich unwirsch. Ich mag es nicht, wenn er sich in meine Privatangelegenheiten einmischt.

„Offenbar schon – wenn sie sogar bei mir anruft!“

„Was wollte sie denn?“

„Wissen, wo du bist, ob es dir gutgeht. Sie kann dich nämlich seit Tagen nicht erreichen. Komisch, oder? Wo du das Ding doch immer dabei hast.“ Er schlägt mit dem Handrücken gegen meine Hosentasche, gefährlich nahe an meiner Verletzung.

„He, spinnst du?“, entfährt es mir.

„Nee, ich glaub manchmal, du spinnst! Musst du denn mit jedem Wicht ins Bett steigen? Als ich so alt war wie du, da war ich schon mit deiner Mutter verlobt.“

Gefährliches Thema, daher schweige ich lieber.

„Sieh zu, dass du das mit der kleinen Reekers klärst. Ich habe keine Lust auf das Gerede der Leute. Irgendwann schwängerst du noch ein Mädchen. Dann kannst du dein Lotterleben in der Großstadt gleich aufgeben …“

Wir liefern uns noch ein zweiminütiges Blickduell, bis ich aufgebe. Bringt nichts, wenn zwei Sturköpfe aufeinanderprallen.

Gut, dass wir normalerweise getrennte Wege gehen, sonst würde es sicher öfter krachen zwischen uns. Ich weiß ja, dass mein Päppen gekränkt ist, weil ich weggezogen bin. Er hatte einfach andere Pläne. Da müsste es ihm eigentlich sogar entgegenkommen, wenn ich ein Mädel aus dem Dorf schwängere. Aber solche Sprüche behalte ich lieber für mich.

Mühsam ziehe ich mich die Treppe hinauf. Mit einer Sache hat mein Vater recht: Wahrscheinlich bin ich ihm in den nächsten Tagen keine große Hilfe. Mein Bein tut höllisch weh.

‚Blöder Gaul!‘, denke ich mindestens zum 501. Mal. Ich humpele ins Bad und schiebe vorsichtig die Jeans über die Hüften. An der Seite meines Oberschenkels prangt ein blau-roter Hufabdruck. Mit den Fingerspitzen fahre ich über die angeschwollenen Ränder und halte die Luft an. Davon habe ich länger etwas.

Wütend ziehe ich mich komplett aus und steige in die Dusche. Das heiße Wasser, das auf meinen Kopf und meine Schultern prasselt, tut gut. Wahrscheinlich habe ich ein paar Zerrungen davongetragen, als Hero mich über den Hof geschossen hat.

Ich schließe mit einem lauten Seufzen die Augen.

Jascha

Ich wache erst gegen Mittag auf und stelle fest, dass ich allein im Haus bin. Das ist mir recht, so nervt mich wenigstens keiner. Ich muss endlich überlegen, wie es weitergehen soll. Zurück nach England? Im Augenblick kaum vorstellbar. Zurück zu Colin und seinen Freunden? Never! Allein der Gedanke ist so beängstigend, dass ich einen hartnäckigen Schluckauf bekomme.

Du gehörst mir, wusstest du das nicht? Colins Worte rotieren durch mein Hirn, trudeln von einer Seite auf die andere. Ich spüre dem Gefühl nach, das diese Worte verursacht hatten. Es hatte sich gut angefühlt, damals. Wenn ich gewusst hätte … Wenn … Colin war mein Traumtyp! Der Sänger in unserer Band. So eine geile Stimme … So ein verdammtes Arschloch! Wenn ich gewusst hätte, wie das endet … Wenn ich gewusst hätte, dass er so eifersüchtig … nein, das hatte mit Eifersucht gar nichts zu tun. Colin hatte behauptet, dass ich ihm gehöre, dass ich sein Besitz bin. Aber ich habe es nicht kapiert. Und wenn …? Diese Gedanken erzeugen immer ganz zwiespältige Gefühle. Ich habe mich damit noch nicht genauer befasst. Fakt ist, dass ich niemandem gehören will, der so mit mir umgeht. Ich habe gedacht, die Typen seien meine Freunde, meine Band! Wir sind zusammen aufgetreten – und dann filmen sie mich beim ...? Ich halte die Luft an, um den nervigen Schluckauf loszuwerden.

Ich musste abhauen. Keine Chance mehr im Internat. Und wie sollte ich Dad erklären, was passiert ist? Die Antwort ist einfach: gar nicht.

Geht ja nicht nur um mich und um meinen perversen Scheiß! Auch um Fenton Price. Ein Kollege von meinem Vater. Klar, war dumm von mir, aber ich hab auch erst nicht kapiert, dass Fentons Interesse an mir über die Musik hinausging. Holy fucking shit.

Mir wird schlecht. Mein Leben ist völlig im Arsch. Alles war so einfach, ich hatte Kumpels, unsere Band war richtig gut. Hätte ich alles in den Griff gekriegt? Ich habe keine Ahnung. Und mein Magen tanzt Freestyle, wenn ich nur daran denke, was ich vielleicht in Kauf nehmen muss, um alles geradezubiegen. Zurückgehen, mich Colin unterwerfen, ihm gehören … Nein! Nicht so! Das ist alles zerstört. Explodiert und überall klebt der Siff an den Wänden. Das kriegt keiner mehr weggewischt.

Essen hat sich gerade erledigt. Aber ein Kaffee wäre nicht schlecht. Kommen die eigentlich alle zum Mittagessen wieder zurück?

Ich stehe vor der Kaffeemaschine und überlege, wie das Gerät funktionieren könnte. Zuhause haben wir einen Kaffeeautomaten. Dieses altertümliche Ding ist mir nicht geläufig. Wo ist denn das Mahlwerk für die Bohnen?

Ich durchstöbere die Schränke, finde schließlich Kaffeefilter und Kaffeepulver – und gebe auf, da ich nicht weiß, wie die richtige Dosierung sein könnte. So ein Frust!

Ich höre Geräusche an der Tür und überlege, ob ich in mein Zimmer verschwinden soll. Aber ich kann mich auch nicht ständig verstecken. Also warte ich ab.

Es ist meine Mum.

„Hallo Jascha“, begrüßt sie mich. Es ist wie gestern, sie weiß nicht, wie sie mit mir umgehen soll. Und ich weiß es auch nicht. Sie schlingt die Arme um sich, und ich schiebe die Hände in die Hosentaschen.

„Hast du schon gefrühstückt?“

Ich schüttele den Kopf. „Bin an der Kaffeemaschine gescheitert“, gebe ich zu.

Meine Mum lächelt. „Eddy hat bestimmt den neuesten Kaffeeautomaten, oder?“

Ich nicke stumm und schaue zu, wie sie mit dem alten Gerät einen Kaffee zusammenbraut. Hab ja nicht Lust, immer jemanden zu fragen.

„Sag mal, Jascha“, beginnt sie, und mir sträuben sich schon die Nackenhaare, „warum hast du dich entschlossen, in den Sommerferien herzukommen? Gab es … Streit?“

„Mit Dad? Nein.“

„Hast du Probleme an der Schule?“

Nichts, was ich dir erzählen würde.

„Nein.“

Mum gibt auf. Ihr Glück, mein Glück. Ich stehe nämlich ziemlich unter Strom, wie ich gerade merke.

Ich habe gar nicht mitgekriegt, dass Torge nach Hause gekommen ist. Umso überraschter bin ich, als ich gedankenversunken das Badezimmer betrete und Torge unter der Dusche stehen sehe.

Er bemerkt mich nicht gleich, und ich habe nicht den Anstand, mich bemerkbar zu machen oder das Bad einfach wieder zu verlassen. Dafür bin ich viel zu fasziniert. Ich starre Torge an, diesen perfekten, muskulösen Körper, den ich durch die leicht beschlagene Scheibe gut erkennen kann. Der Typ ist ein Gott! Ich wäre so gern nähergekommen, hätte die breiten Schultern berührt, die muskulöse Brust. Die Muskeln an den Oberarmen sind der Hammer. Nur in Gedanken lasse ich meine Finger weiter nach unten wandern, bis zu Torges schmalen Hüften. Und dann sehe ich den riesigen – Bluterguss an Torges Oberschenkel.

Erschrocken schnappe ich nach Luft, und bemerke im gleichen Augenblick Torges Blick, der seltsam intensiv auf mir ruht.

Scheiße! Das darf doch wohl nicht wahr sein!

„Was machst du hier drin?“

Nachvollziehbare Frage.

„Ich … ich wollte …“ Ich stottere sinnlos herum. Mein Kopf ist mit einem Mal furchtbar heiß, ich kann gar nicht mehr klar denken.

„Du hast … du bist verletzt!“, presse ich schließlich hervor.

„Danke für den Hinweis.“ Torge grinst und stellt das Wasser ab. Er scheint sich nicht daran zu stören, dass ich ihn noch immer angaffe. Aber ich kann nicht anders, ich bin wie gefesselt von Torges Anblick. Leider. Auch wenn mir natürlich bewusst ist, wie peinlich ich mich gerade verhalte.

Ungezwungen öffnet Torge die Tür der Duschkabine. „Gib mir mal das Handtuch.“

Ich fühle mich, als säße ich bis zum Hals in irgendeinem fetten Glibber fest: Ich kann mich nur wie in Zeitlupe bewegen, als ich mich umdrehe und nach dem großen Handtuch greife.

„Danke.“