Imperium - Christian Kracht - E-Book

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Christian Kracht

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Beschreibung

Eine deutsche Südseeballade In »Imperium« erzählt Christian Kracht eine Aussteigergeschichte in den deutschen Kolonien der Südsee, indem er virtuos und gut gelaunt mit den Formen des historischen Abenteuerromans eines Melville, Joseph Conrad, Robert Louis Stevenson oder Jack London spielt. Die Welt wollte er retten, eine neue Religion stiften, gar ein eigenes Reich gründen – eine Utopie verwirklichen, die nicht nur ihn selbst, sondern die Menschheit erlöst, fernab der zerstörerischen europäischen Zivilisation, die gerade aufbricht in die Moderne und in die Katastrophen des Ersten und Zweiten Weltkriegs. Doch in der Abgeschiedenheit der Südsee, in einer Kolonie des wilhelminischen Deutschland, gerät ein von einem vegetarischen Spleen besessener Sonnenanbeter in eine Spirale des Wahnsinns, die die Abgründe des 20. Jahrhunderts ahnungsvoll vorwegnimmt.In seinem vierten Roman zeichnet Christian Kracht die groteske, verlorene Welt von Deutsch-Neuguinea, eine Welt, die dem Untergang geweiht ist und in der sich doch unsere Gegenwart seltsam spiegelt. Zugleich aber ist Christian Krachts »Imperium« eine erstaunliche, immer wieder auch komische Studie über die Zerbrechlichkeit und Vermessenheit menschlichen Handelns.

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Christian Kracht

Imperium

Roman

Kurzübersicht

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Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Christian Kracht

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Motto

Erster Teil

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Zweiter Teil

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Dritter Teil

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Dank

Inhaltsverzeichnis

Für Hope

Inhaltsverzeichnis

Grave et religieux il reprend sa calme attitude: il demeure – symbole qui grandit – et, penché sur l’apparence du Monde, sent vaguement en lui, résorbées, les générations humaines qui passent.

André Gide

Naked people have little or no influence on society.

Mark Twain

Inhaltsverzeichnis

ERSTER TEIL

I

Unter den langen weißen Wolken, unter der prächtigen Sonne, unter dem hellen Firmament, da war erst ein langgedehntes Tuten zu hören, dann rief die Schiffsglocke eindringlich zum Mittag, und ein malayischer Boy schritt sanftfüßig und leise das Oberdeck ab, um jene Passagiere mit behutsamem Schulterdruck aufzuwecken, die gleich nach dem üppigen Frühstück wieder eingeschlafen waren. Der Norddeutsche Lloyd, Gott verfluche ihn, sorgte jeden Morgen, reiste man denn in der ersten Klasse, durch das Können langbezopfter chinesischer Köche für herrliche Alphonso-Mangos aus Ceylon, der Länge nach aufgeschnitten und kunstvoll arrangiert, für Spiegeleier mit Speck, dazu scharf eingelegte Hühnerbrust, Garnelen, aromatischen Reis und ein kräftiges englisches Porter Bier. Gerade der Genuß des letzteren sorgte unter den rückreisenden Pflanzern, die sich – in das weiße Flanell ihrer Zunft gekleidet – auf den Liegestühlen des Oberdecks der Prinz Waldemar eher hingeflezt als anständig schlafen gelegt hatten, für eine überaus flegelhafte, fast liederliche Erscheinung. Die Knöpfe ihrer am Latz offenen Hosen hingen an Fäden lose herab, Soßenflecken safrangelber Curries überzogen ihre Westen. Es war ganz und gar nicht auszuhalten. Bläßliche, borstige, vulgäre, ihrer Erscheinung nach an Erdferkel erinnernde Deutsche lagen dort und erwachten langsam aus ihrem Verdauungsschlaf, Deutsche auf dem Welt-Zenit ihres Einflusses.

So oder so ähnlich dachte der junge August Engelhardt, während er die dünnen Beine übereinanderschlug, einige imaginäre Krümel mit dem Handrücken von seinem Gewand wischte und grimmig über die Reling auf das ölige, glatte Meer hinaussah. Fregattvögel begleiteten links und rechts das Schiff, nie war es weiter weg von Land als hundert Seemeilen. Auf und ab tauchten sie, diese großen, schwalbenschwanzähnlichen Jäger, deren vollendetes Flugspiel und kuriose Beutemanöver jeder Südseefahrer liebte. Auch Engelhardt begeisterte sich für die Vögel des Pazifischen Ozeans, insbesondere für den Glockenhonigfresser anthornis melanura, früher, als Bub, hatte er sie und ihr herrliches, ausladendes, in der Glutsonne seiner kindlichen Imagination schimmerndes Gefieder stundenlang in den Folianten untersucht, mit den kleinen Fingern über ihre Schnäbel fahrend, über ihre bunten Federn. Nun aber, da Engelhardt tatsächlich unter ihrem Flügelschlag fuhr, hatte er keine Augen mehr für sie, nur für die dickleibigen Pflanzer, die – lange schon unbehandelte, tertiäre Syphilis in sich tragend – jetzt zurückkehrten auf ihre Plantagen und über den trocken und ermüdend geschriebenen Artikeln in Der Tropenpflanzer oder der Deutschen Kolonialzeitung eingeschlafen waren und nun schmatzend träumten von barbusigen dunkelbraunen Negermädchen.

Das Wort Pflanzer traf es nicht richtig, denn dieser Begriff setzte Würde voraus, eine kundige Beschäftigung mit der Natur und dem hehren Wunder des Wachstums, nein, man mußte im eigentlichen Sinne von Verwaltern sprechen, denn exakt das waren sie, Verwalter des vermeintlichen Fortschritts, diese Philister mit ihren gestutzten, in der Berliner oder Münchener Mode von vor drei Jahren gehaltenen Schnurrbärten unter rotgeäderten Nasenflügeln, die ihrerseits bei jedem Ausatmen heftig zitterten, und mit den darunter gelegenen, flatternden, schwammigen Lippen, an denen Speichelbläschen hingen, als würden diese, könnten sie sich nur von ihrem labialen Klebezustand befreien, sich von selbst in die Lüfte begeben, wie die schwebenden Seifenblasen eines Kinderspieles.

Die Pflanzer wiederum lugten unter den Augenlidern hervor und sahen dort, etwas abseits, ein zitterndes, kaum fünfundzwanzig Jahre altes Nervenbündel mit den melancholischen Augen eines Salamanders sitzen, dünn, schmächtig, langhaarig, ein eierschalenfarbenes, formloses Gewand tragend, mit langem Bart, dessen Ende unruhig über den kragenlosen Kittel strich, und man fragte sich wohl kurz, was es mit diesem Manne auf sich hatte, der bei jedem zweiten Frühstück, ja selbst bei jedem Lunch in einer Ecke des Salons der zweiten Klasse saß, alleine an einem Tisch vor einem Glas Saft, eine halbe Tropenfrucht sorgsam zerteilend, dann zum Dessert eine kartonierte Verpackung öffnete und daraus in ein Wasserglas etwas braunen, pudrigen Staub löffelte, der allem Anschein nach aus pulverisierter Erde bestand. Und diesen Erdpudding auch noch aß! Wie exaltiert! Ein Prediger höchstwahrscheinlich, anämisch offensichtlich, lebensuntauglich. Aber doch im Grunde uninteressant. Und vor allem müßig, weiter darüber nachzudenken. Man gab ihm im Geiste ein Jahr im Pazifik, schüttelte den Kopf, schloß die spaltbreit geöffneten Augenlider und schlief, Unverständliches murmelnd, wieder ein.

Das laut vernehmliche, knarrende Schnarchen begleitete das deutsche Schiff an den amerikanischen Philippinen vorbei, durch die Straße von Luzon (man fuhr Manila nicht an, denn es herrschte Unsicherheit, ob der Krieg, der die Kolonie erfaßt hatte, sich noch zum Guten wenden würde), durch die Gewässer des unendlich groß erscheinenden Territoriums Niederländisch-Indiens und schließlich ins Schutzgebiet selbst.

Nein, wie er sie verabscheute. Nein, nein und nochmals nein. Engelhardt schlug Schlickeysens Standardwerk Obst und Brot auf und zu und wieder auf, versuchte vergebens, einige Absätze zu lesen, und machte sich am Rande einer Seite mittels eines Bleistiftstummels, den er stets in der Gewandtasche bei sich führte, einige Notizen, die er selbst, kaum hatte er sie geschrieben, schon nicht mehr entziffern konnte.

Das Schiff schlingerte ruhig unter wolkenlosem Himmel dahin. Einmal sah Engelhardt in der Ferne ein Rudel Delphine, doch kaum hatte er sich vom Schiffsmeister ein Fernglas geliehen, waren sie schon wieder abgetaucht in die unergründlichen Tiefen der See. Bald war das schmucke Eiland von Palau erreicht, die Postsäcke übergeben und wieder verlassen. Beim nächsten kurzen Halt, in Yap, näherten sich zögerlich einige Auslegerkanus dem großen Schiff, es wurden Schweinehälften und Yamswurzeln zum Kauf angeboten, aber weder die Passagiere noch die Besatzung zeigten auch nur das geringste Interesse an den feilgebotenen Waren, beim Abdrehen indes wurde ein Kanu vom Strudel der Schrauben erfaßt und gegen die Bordwand gedrückt. Der Insulaner rettete sich durch einen Sprung ins Meer, das Kanu aber zerbarst in zwei Teile, und die Eßwaren, eben noch von braunen Händen zum Himmel emporgehalten, schlingerten nun im schäumenden Wasser, und Engelhardt, der, Schlickeysens Buch mit einer Hand umklammernd, sich weit hinaus über die Brüstung lehnte und hinuntersah, erschauerte ob des Anblicks einer Schweinehälfte, die, zuerst schwimmend, an der Seite noch mit blutigen Sehnen behangen, dann langsam hinab in die indigoblaue Tiefe des Ozeans sank.

Die Prinz Waldemar war ein rüstiger, moderner Dampfer von dreitausend Tonnen, der, alle zwölf Wochen von Hong Kong kommend, den Stillen Ozean Richtung Sydney durchquerte und dabei das Deutsche Schutzgebiet, namentlich Neupommern, anfuhr, dort die Gazellen-Halbinsel, die neue, in der Blanchebucht gelegene Hauptstadt Herbertshöhe (und daselbst einen seiner beiden Anlegekais), deren gut befahrbares Becken aus einer optimistischen Laune heraus als Hafen bezeichnet wurde.

Herbertshöhe war nicht Singapore, es bestand im wesentlichen aus jenen zwei Holzanlegern, ein paar sich kreuzenden, breiten Alleen, an denen, je nach Betrachtungsweise als imposant oder weniger anzusehen, die Faktoreien von Forsayth, von Hernsheim&Co und Burns Philp errichtet worden waren. Dann gab es noch ein größeres Gebäude, jenes der in Yap und auf Palau mit Guano handelnden Jaluit-Gesellschaft, eine Polizeistation, eine Kirche mitsamt ihrem überaus pittoresken Friedhof, das Hotel Fürst Bismarck, das konkurrierende Hotel Deutscher Hof, eine Hafenmeisterei, zwei oder drei Tavernen, ein nicht der Rede wertes Chinatown, einen Deutschen Klub, eine kleine Klinik unter der fürsorglichen Aufsicht der Doktoren Wind und Hagen und den Gouverneurssitz, leicht erhöht über der Stadt auf einem mit am Nachmittage unwirklich leuchtendem, grünem Gras bewachsenen Hügel gelegen. Aber es war eine aufstrebende, deutsche, ordentliche Stadt, und sagte man dazu Nest, so nur im Spott, oder wenn es derart Bindfäden regnete, daß dreißig Fuß vor der Nase schon nichts mehr zu erkennen war.

Nach den Regengüssen zu Mittag erschien stets die Sonne, pünktlich um drei, und herrlich farbenfrohe Vögel stolzierten im Chiaroscuro des langen Grases umher und putzten sich das tropfende Gefieder. Dann tummelten sich in den Pfützen der Alleen, unter den hoch aufragenden Kokospalmen die Kanakenkinder, barfuß, nackend, manch eines in kurzen, zerrissenen Hosen (die mehr aus Loch bestanden als aus Stoff), auf den Häuptern wolliges, aus einer lustigen Laune der Natur heraus blondes Haar. Sie nannten Herbertshöhe Kokopo, was durchaus besser klang und sich vor allem schöner sagte.

Die Deutschen Schutzgebiete im Stillen Ozean, hierin stimmten die Experten überein, waren, im Gegensatz zu den afrikanischen Besitzungen seiner Majestät Kaiser Wilhelms des Zweiten, allesamt vollkommen überflüssig. Der Ertrag der Kopra, des Guanos und des Perlmutts reichte bei weitem nicht aus, ein derart großes, in der Unendlichkeit des Stillen Ozeans versprenkeltes Reich zu unterhalten. Im fernen Berlin aber sprach man von den Inseln wie von kostbaren, leuchtenden Perlen, zu einer Kette aufgereiht. Fürsprecher und Gegner der pazifischen Kolonien fanden sich zuhauf, meist waren es jedoch die noch jungen Sozialdemokraten, welche die Frage nach der Relevanz der Südseebesitzungen am lautesten stellten.

Nun, in diese Zeit fällt diese Chronik, und will man sie erzählen, so muß auch die Zukunft im Auge behalten werden, denn dieser Bericht spielt ganz am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, welches ja bis zur knappen Hälfte seiner Laufzeit so aussah, als würde es das Jahrhundert der Deutschen werden, das Jahrhundert, in dem Deutschland seinen rechtmäßigen Ehren- und Vorsitzplatz an der Weltentischrunde einnehmen würde, und es wiederum aus der Warte des nur wenige Menschenjahre alten, neuen Jahrhunderts durchaus auch so erschien. So wird nun stellvertretend die Geschichte nur eines Deutschen erzählt werden, eines Romantikers, der wie so viele dieser Spezies verhinderter Künstler war, und wenn dabei manchmal Parallelen zu einem späteren deutschen Romantiker und Vegetarier ins Bewußtsein dringen, der vielleicht lieber bei seiner Staffelei geblieben wäre, so ist dies durchaus beabsichtigt und sinnigerweise, Verzeihung, in nuce auch kohärent. Nur ist letzterer im Augenblick noch ein pickliger, verschrobener Bub, der sich zahllose väterliche Watschen einfängt. Aber wartet nur: er wächst, er wächst.

An Bord der Prinz Waldemar befand sich also der junge August Engelhardt aus Nürnberg, Bartträger, Vegetarier, Nudist. Er hatte vor einiger Zeit in Deutschland ein Buch mit dem schwärmerischen Titel Eine sorgenfreie Zukunft veröffentlicht, nun reiste er nach Neupommern, um Land zu kaufen für eine Kokosplantage, wieviel genau, und wo, das wußte er noch nicht. Er würde Pflanzer werden, doch nicht aus Profitgier, sondern aus zutiefst empfundenem Glauben, er könne kraft seiner großen Idee die Welt, die ihm feindlich, dumm und grausam dünkte, für immer verändern.

Engelhardt war, nachdem er durch einen Eliminierungsprozeß alle anderen Nahrungsmittel für unrein befunden hatte, unvermittelt auf die Frucht der Kokospalme gestoßen. Es gab gar keine andere Möglichkeit; cocos nucifera war, so hatte Engelhardt für sich erkannt, die sprichwörtliche Krone der Schöpfung, sie war die Frucht des Weltenbaumes Yggdrasil. Sie wuchs an höchster Stelle der Palme, der Sonne und dem lichten Herrgott zugewandt; sie schenkte uns Wasser, Milch, Kokosfett und nahrhaftes Fruchtfleisch; sie lieferte, einzigartig in der Natur, dem Menschen das Element Selen; aus ihren Fasern wob man Matten, Dächer und Seile, aus ihrem Stamm baute man Möbel und ganze Häuser; aus ihrem Kern produzierte man Öl, um die Dunkelheit zu vertreiben und die Haut zu salben; selbst die ausgehöhlte, leere Nußschale lieferte noch ein ausgezeichnetes Gefäß, aus dem man Schalen, Löffel, Krüge, ja sogar Knöpfe herstellen konnte; die Verbrennung der leeren Schale schließlich war nicht nur jener herkömmlichen Brennholzes bei weitem überlegen, sondern auch ein ausgezeichnetes Mittel, um kraft ihres Rauches Mücken und Fliegen fernzuhalten, kurz, die Kokosnuß war vollkommen. Wer sich ausschließlich von ihr ernährte, würde gottgleich, würde unsterblich werden. August Engelhardts sehnlichster Wunsch, ja seine Bestimmung war es, eine Kolonie der Kokovoren zu erschaffen, als Prophet sah er sich und als Missionar zugleich. Aus diesem Grunde fuhr er in die Südsee, die schon unendlich viele Träumer gelockt hatte mit dem Sirenenruf des Paradieses.

Die Prinz Waldemar hielt unter qualmendem Schornstein schnurgerade ihren Kurs auf Herbertshöhe. Und während zweimal täglich große Kübel mit Essensresten vom Achterdeck in die See gekippt wurden, zog weit im Süden die dunkle Küste Kaiser-Wilhelmslands vorbei, das Finisterre-Gebirge, wie es raunend auf Engelhardts Karte hieß, und die unerforschten, gefahrenvollen Länder, die dahinter lagen, noch nie von deutschem Fuß betreten. Dort wuchsen einhunderttausend Millionen Kokospalmen. Engelhardt war auf die fast schmerzhafte Schönheit dieser Südmeere gar nicht vorbereitet gewesen; Sonnenstrahlen stießen in leuchtenden Säulen durch die Wolken, des Abends senkte sich friedliche Milde über die Küsten und ihre hintereinander gestaffelten, sich im zuckrigvioletten Licht der Dämmerung ins Unendliche fortsetzenden Bergketten.

Ein Herr mit Zwicker im weißen Tropenanzug näherte sich ihm, einer, der, obgleich leibesvoll, nicht ganz so stumpf zu sein schien wie seine Kollegen, und Engelhardt war augenblicklich von jener fast krankhaften Schüchternheit ergriffen, die stets von ihm Besitz nahm, wenn er auf Menschen traf, die von sich und der Richtigkeit ihres Tuns und Seins vollkommen überzeugt waren. Ob er denn wisse, wie der Lehnstuhl genannt werde, auf dem Engelhardt und die anderen Passagiere die Nachmittage an Deck wegdämmerten? Engelhardt verneinte stumm und senkte den Kopf, um auszudrücken, er wolle sich wieder in den Schlickeysen vertiefen, aber der Pflanzer, der sich jetzt mit einer minuskülen Verbeugung als Herr Hartmut Otto vorstellte, trat nun noch einen Schritt näher, als habe er ein äußerst wichtiges Geheimnis mitzuteilen. Der Deckstuhl werde, Engelhardt solle sich bitte festhalten, aufgrund seiner nach vorne ausschwenkbaren, hölzernen Beinlehnen als bombay fornicator bezeichnet.

Engelhardt verstand nicht ganz, auch waren ihm Kalauer geschlechtlicher Natur suspekt, hielt er doch den Sexualakt für etwas völlig Natürliches, ganz und gar Gottgegebenes und nicht für einen Teil einer verklemmten, falsch verstandenen Manneszucht. Er unterließ es aber, dies zu sagen, sondern sah den Pflanzer etwas ratlos und prüfend an. Nun war es an Herrn Otto, sozusagen zurückzurudern und mit einer raschen Abfolge von wischenden Handbewegungen seine Geschäfte im Deutschen Schutzgebiet zu deklinieren. Vergessen wir es, sagte er und setzte sich mit Aplomb auf den unteren Teil des Lehnstuhles, dabei seinen von der Luftfeuchtigkeit und der Transpiration etwas naß gewordenen Hemdkragen lockernd. Er sei, berichtete er, während er mit den Fingern die Enden des Schnauzbartes kunstvoll himmelwärts zwirbelte, auf der Jagd nach Paradisaeidae, Paradiesvögeln, für deren Federn in den Salons der Neuen Welt, von New York bis Buenos Aires, derzeit, müsse er wissen, a-s-t-r-o-nomische Preise erzielt würden. Ob die Vögel denn dafür ihr Leben lassen müßten, wollte Engelhardt jetzt wissen, denn er sah, da Otto es sich bequem gemacht hatte, keine Möglichkeiten mehr, Ausweichmanöver in Richtung seines Buches zu unternehmen. Im Idealfalle, notabene, würden die Federn dem Tiere bei lebendigem Leibe entrupft – sicher, es gebe auch Händler, die den Zierschmuck, der den ausgewachsenen Paradiesvögeln vom Hinterteil auf den Dschungelboden gefallen war, lediglich auflesen lassen würden, aber er, Otto, halte nichts von solchen Methoden. Die Federn müßten vielmehr am unteren Ende ihres Kiels, als Qualitätssiegel sozusagen, Blutspuren aufweisen, sonst kaufe er sie erst gar nicht. Engelhardt verzog das Gesicht, ihm wurde leicht mulmig, da läutete auch schon die Mittagsglocke, und Otto faßte ihn sanft und nachdrücklich am Arm, er müsse ihm nun doch bitte die Ehre erweisen, mit ihm zu speisen.

Hartmut Otto war im eigentlichen Sinne ein moralischer Mensch, auch wenn sein Anstand dem gerade vergangenen Jahrhundert erwachsen war und er wenig Verständnis aufbringen konnte für die nun anbrechende neue Zeit, deren Protagonist August Engelhardt war. Gewiß, der Paradiesvogeljäger hatte fortschrittliche Naturwissenschaftler gelesen, Alfred Russel Wallace etwa, Lamarck, Darwin, und diese durchaus mit einer gewissen Akribie, gerade in Hinsicht auf ihre taxonomischen Arbeiten, aber es fehlte ihm nicht nur am Glauben an die Modernität als kumulativer Prozeß, sondern er vermochte auch nicht, einen radikalen Geist (wie Wallace und Darwin es beispielsweise gewesen waren), sollte er ihm denn persönlich begegnen, zufällig, wie jetzt, auf einer Schiffsreise, zu erkennen und zu akzeptieren, schon Engelhardts Vegetarismus war Otto Anathema genug.

Engelhardt ließ sich widerwillig in den Salon der ersten Klasse zu Tische führen. Dort wurde ihm – man saß auf schweren, neugotischen Stühlen, deren Rückenlehnen mit Roßhaar gefüllt waren, und ließ dabei die Blicke auf goldgerahmten Reproduktionen niederländischer Meister ruhen – auf einen Wink Ottos in Richtung des malayischen Stewards, ganz entgegen Engelhardts sonstigen täglichen Eßgewohnheiten, ein Teller dampfender Nudeln und ein Schweinekotelett samt üppiger brauner Bratensoße serviert. Engelhardt sah mit unverhohlenem Ekel auf das Stück Fleisch, das dort vor ihm im Nudelbett lag und an den Rändern blau irisierte.

Otto, der im Grunde ein gutmütiger Mensch war, dachte, sein Gegenüber sei wohl eingeschüchtert, da er, als Passagier der zweiten Klasse, nicht wisse, wie er die für ihn doch extravagante Mittagsmahlzeit bezahlen solle, und er forderte ihn auf, sich von dem Schweinskotelett zu nehmen, doch, doch, bitte sehr, auf seine Einladung, worauf Engelhardt höflich, aber mit der Bestimmtheit seines (und Schopenhauers und Emersons) Gewissens antwortete, nein, danke, er sei bekennender Vegetarier im allgemeinen und Fruktivore im besonderen, und ob er vielleicht um einen grünen Salat bitten dürfe, nicht angemacht, ohne Pfeffer und Salz.

Der Vogelhändler hielt inne, legte Besteck, welches er schon über seinen Teller gehalten, wieder links und rechts davon ab, gluckste, betupfte sich mit der Serviette Oberlippe und Schnauzbart und brach dann in ein bellendes, meckerndes, ja prustendes Gelächter aus. Tränen quollen ihm aus den Augen, erst segelte die Serviette zu Boden, dann zerbarst ein Teller, und derweil Otto die Worte Salat und Fruktivore immer und immer wiederholte, lief er lilarot an, als drohe er zu ersticken. Während man vom Nebentische aufsprang, um ihn mittels ausholender Schläge auf den Rücken von dem vermeintlich in seiner Trachea logierenden Knochenstückchen zu befreien, saß August Engelhardt ihm gegenüber, zu Boden schauend, manisch geschwind mit der über den linken Knöchel verschränkten Sandale wippend. Ein chinesischer Koch eilte aus der Kombüse herbei, den tropfenden Rührbesen noch in der Hand.

Es bildeten sich zwei Parteien, die aufs Heftigste zu streiten begannen, einige Sätze vernahm Engelhardt deutlich aus dem Tumult, es ging um sein, Engelhardts, Recht darauf, den Verzehr von Fleisch abzulehnen, ferner sprach man von den Wilden, wenn man sie denn, so einer der Plantagenbesitzer, überhaupt noch als das bezeichnen dürfe. Oder sei es jetzt schon so weit gekommen, daß ein Deutscher im Schutzgebiet nicht mehr einen Kanaken von einem Rheinländer unterscheiden dürfe? Aber man solle doch froh sein, so die Gegenpartei, pflanzliche Produkte auf dem Speiseplan stehen zu haben, wo man doch in großen Teilen unseres fröhlichen Inselreichs längst wieder zur Anthropophagie übergegangen sei, nachdem man es den Wilden durch drakonische Strafen mühsam aberzogen habe. Ach, Unsinn! Alter Hut! kam der Gegenruf. Doch, doch, gerade vor vier Monaten habe man einen Pater aufgegessen, drüben, bei den Steyler Missionsschwestern in Tumleo. Diejenigen Körperteile des Gottesmannes, welche nicht sofort verzehrt wurden, habe man gepökelt, die Küste hinaufgeschifft und in Niederländisch-Ostindien verkauft.

Engelhardts Schamgefühl drohte ihn zu übermannen, er wurde bleich, dann rot und machte Anstalten aufzustehen, um diesen despektierlichen Salon zu verlassen. Er glättete die Serviette vor sich auf dem Tisch und bedankte sich bei Hartmut Otto leise, fast unhörbar, ohne eine Spur von Ironie. Von einem Plantagenbesitzer, der ihn am Gehen hindern wollte, grob am dünnen Oberarm gefaßt, entwand er sich diesem aber doch mit einer schroffen Bewegung seiner Schultern, durchmaß mit wenigen Schritten den Raum und öffnete die Tür des Salons, die geradewegs an Deck führte. Dort hielt er inne, erregt, und fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirne. Und während er die feuchte Tropenluft ein- und wieder ausatmete, darüber nachdenkend, ob er sich nicht vielleicht doch an der Wand des Promenadendecks festhalten solle, dann aber diesen Gedanken sofort als verweichlicht verwerfend, bemächtigte sich seiner endlich eine tiefe, tiefe Einsamkeit, weit unergründlicher, als er sie jemals im heimischen Frankenland verspürt hatte. Er war hier unter schrecklichen Menschen gelandet, unter lieblosen, rohen Barbaren.

Er schlief schlecht in dieser Nacht. In weiter Ferne zog ein Gewitter an der Prinz Waldemar vorbei, und das erratisch zuckende, einem ungeordneten Rhythmus folgende Wetterleuchten tauchte den Dampfer immer wieder in ein gespenstisches, fahles Schneeweiß. Während er sich in den klammen Laken hin und her warf, in halbwachen Schrecksekunden über sich an der Decke von fernen Blitzen absonderlicherweise die Umrisse von England hingeworfen sah, träumte ihm, als er endlich – das Unwetter war nur noch als allerfernstes, dunkles Grollen zu vernehmen – tiefer einschlief, von einem kultischen Tempel, unter matt leuchtender Abendsonne am Strand einer windstillen Ostsee errichtet, durch im Sande steckende Wikingerfackeln beleuchtet. Eine Bestattung wurde dort begangen, eherne Nordmänner standen wachend am Tempel. Kinder, deren blonde Haare zu Kränzen auf ihren Häuptern verflochten waren, spielten leise zu ihren Füßen auf beinernen Flöten. Das Floß, auf dem der Tote aufgebahrt, ward im letzten Abendlicht ins Meer hinausgestoßen, ein Hüne entzündete noch, bis zur Hüfte im Wasser stehend, den Scheit, dann trieb es, allmählich Feuer fangend, langsam und schwermütig nordwärts, nach Hyperborea hin.

Früh am nächsten Morgen fuhr der Dampfer unter gleißendem Sonnenlicht, fröhlicher Kapellmusik und lautem Tuten der Sirene in die Blanchebucht ein, und Engelhardt stand leicht derangiert an der Reling, jenen wundersamen, unheimlichen Traum der letzten Nacht noch in seinen Knochen spürend, dessen Inhalt immer nebliger wurde, je näher er das Land kommen sah. Wohl ahnte er, daß beide Schiffe, der moderne Dampfer und das heidnische Begräbnisfloß, in Sinn und Bedeutung miteinander verwoben waren, doch sah er sich heute morgen partout nicht in der Laune, aus jenem Traum Rückschlüsse auf seine eigene Abfahrt aus der Heimat zu ziehen, die sich zwar nicht hastig, aber durchaus genant, unter dem vulgären Siegel der prügelnden preußischen Polizeigewalt vollzogen hatte. Nun, dachte er, sterben werde er hier schon nicht, an diesen grünen Gestaden.

In sich eine fast katzenhafte Sprungbereitschaft empfindend, betrachtete er erregt das sich nähernde Festland. Dies nun war es also, sein Zion. Hier in dieser terra incognita würde er siedeln, von diesem Fleck des Erdballs aus würde sich seine Gegenwart projizieren. Erregt lief er auf und ab, drehte, beim Achterdeck angekommen, schroff wieder um, dort hatten ihm einige Herren, die erneut zum Frühstück betrunken waren – der schreckliche Vogelhändler Otto war nicht unter ihnen –, zugeprostet und munter zugerufen, er möge es doch gut sein lassen, man wolle wieder Freund sein, schließlich müsse man unter Deutschen im Schutzgebiet zusammenhalten, etcetera. Die Flegel ignorierend, vermaß er die sich behäbig dahinstreckende Küste mit seinem Blick, Ausschau haltend nach Einbuchtungen, Unregelmäßigkeiten, Erhöhungen.

Haushohe Palmen staken aus dem dampfenden Busch Neupommerns. Blauer Rauch stieg von den bewaldeten Hängen auf, hier und da waren Lichtungen und in denselben einzelne Grashütten auszumachen. Ein Makake schrie elendig. Eine heraufziehende graue Wolkenfront bedeckte kurz die Sonne und gab sie dann wieder frei. Engelhardts Finger trommelten ein, zwei ungeduldige Märsche, wieder ertönte das Tuten der Schiffssirene. Der nur bis zur Hälfte bewaldete Kegel eines Vulkans schob sich in Sicht. Mit einem Mal platzten rote Tröpfchen auf der weißgestrichenen Reling, und er erschrak. Es troff Blut aus seiner Nase, und er mußte unter Deck eilen, sich vorsichtig die Treppe in das Dämmerlicht der stählernen Korridore hinabtastend, sich rücklings in die Koje seiner Kabine legen und mit geschlossenen, pochenden Augenlidern ein sich langsam rot färbendes Bettlaken vor das Gesicht pressen. Aus einem mit einem Tuch bedeckten Krug schenkte er sich etwas Fruchtsaft ins Glas und trank ihn in gierigen Schlucken.

Ganz Herbertshöhe hatte sich derweil eingefunden, es war die erste Septemberwoche. Man stand auf den hölzernen Stegen, frisch gestriegelt, rasiert und mit neuem Kragen versehen, in Erwartung der nicht mehr allerneuesten Zeitungen aus Berlin, des nur eine kurze Weile noch eisgekühlten Bieres, welches gleich, kaum waren die ersten Kisten ausgeladen, entkront und flaschenweise umhergereicht wurde, der Dutzenden von Briefen aus der Heimat und natürlich der Neuankömmlinge, der Glücksritter und Abenteurer, der heimkehrenden Pflanzer, der vereinzelten Forscher, der Ornithologen und Mineralogen, der bettelarmen, von ihren gepfändeten Ländereien verjagten Adligen, der Wirrköpfe, des Strand- und Treibgutes des Deutschen Kaiserreiches.

Engelhardt stand in seiner Kabine, genauer, am Bullauge des sich leerenden Dampfers, und sah durch das doppelte Glas hinaus auf Herbertshöhe. Das Nasenbluten hatte so plötzlich aufgehört, wie es begonnen hatte. Er stand nicht sicher, er lehnte etwas gebeugt an der Kabinenwand, seine Wange streifte sanft das Gazetuch der Gardine, in der Tasche seines Gewandes umschloß er mit den Fingern der rechten Hand seinen Bleistiftstummel, die Sonne schien mit fürchterlicher Kraft durchs Bullauge. Als das feine Tuch der Gardine ihn erneut berührte, begann er zu weinen, es durchzuckte ihn, seine Knie zitterten, ihm war, als habe man ihm mittels einer Apparatur sämtliche Courage aus seinen Knochen herausgesaugt, und nun bräche das Gerüst zusammen, welches vormals nur durch den Kitt des Mutes zusammengehalten war.

II

In Port Said, vor einer halben Ewigkeit (die in Wirklichkeit nur wenige Wochen gedauert hatte), als man fälschlicherweise seine elf Überseekisten mit den eintausendzweihundert Büchern ausgeladen hatte und er sie auf Nimmerwiedersehen verschwunden wähnte, hatte er das letzte Mal geweint, ein, zwei fast salzlose Tränen, aus Verzweiflung und aus dem dumpfen Empfinden, ihn verlasse nun zum ersten Male wirklich der Mut. Nachdem er, vergeblich den Hafenmeister suchend, die Zeit genutzt hatte, um einen noch im Mittelmeer geschriebenen, an einen guten Frankfurter Freund gerichteten Brief auf die Post zu geben, den er, um ihn vor Feuchtigkeit zu schützen, in ein Baumwolltuch gewickelt hatte, trank er bei Simon Arzt auf der Terrasse anderthalb Stunden lang ungesüßten Pfefferminztee, während ein stummer Nubier mit einer weißen Serviette Gläser abtrocknete, in denen sich der Kanal im blendenden Wüstenlicht schimmernd brach.

Der ganze Thoreau, Tolstoi, Stirner, Lamarck, Hobbes, auch Swedenborg, die Blavatsky und die Theosophen, alles weg, alles fort. Ach, vielleicht war es besser so, das ganze unnütze Denken futsch, anderswohin verschifft. Aber er hing so daran! Mißmutig machte er sich erneut auf den Weg zur Mole und seinem Schiff nach Ceylon. Es kam ihm der Einfall, man müsse unter den Hafenarbeitern einige Piaster verteilen, also grub Engelhardt in seinen Kitteltaschen und sprach einen Seemann an, dessen Herkunft (Grieche? Portugiese? Mexikaner? Armenier?) aufgrund einer bedauerlichen, halbseitigen Gesichtslähmung durch Taxierung seiner Physiognomie allein nicht zu entschlüsseln war. Er gab ihm das Geld, hörte den Mann schmatzend die Scheine zusammenfalten. Aber, aber, bitte sehr, Effendi, da waren doch seine Bücher! Man entschuldigte sich bei ihm und lud die Kisten ohne große Umstände wieder an Bord, es sei ein Mißverständnis, man habe einen dummen Fehler begangen und Herbertshöhe anderswo vermutet, an der Küste Deutsch-Ostafrikas. Engelhardts Brief an den Freund aber, in dem von Europavergiftung und dem Garten Eden die Rede war, fand sich, nicht ausreichend frankiert, in der Amtsstube der französischen Post von Port Said wieder und kam dort auch zu liegen und schließlich ganz zu ruhen. In einem Rezeptakel für solcherlei Kuverts unter einem Tisch verstaubte er und wurde von