Imperium des Lichts - Torsten Fink - E-Book

Imperium des Lichts E-Book

Torsten Fink

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Beschreibung

Im Namen des Lichts: Tötet sie alle!

Das Imperium des Lichts steht auf dem Höhepunkt seiner Macht. Doch die Feinde sammeln sich, und Sebastos Valis – der Kaiser und Erste Hüter des Lichts – ist todkrank. Das einzig mögliche Heilmittel befindet sich im Besitz des ältesten Feindes des Reiches, der Herrin der Dunkelheit. Der junge Offizier Aureus Moris wird ausgewählt, eine Expedition ins Reich der Finsternis zu führen, um über die Herausgabe des Heilmittels zu verhandeln. Doch er erkennt bald, dass die Dunkelheit nicht so schrecklich ist, wie erwartet – und dass sogar das strahlende Licht dunkle Schatten wirft.

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Seitenzahl: 724

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Buch

Das Imperium des Lichts steht auf dem Höhepunkt seiner Macht. Doch Sebastos Valis – der Kaiser und Erste Hüter des Lichts – ist todkrank, und während sich die Feinde des Imperiums bereits sammeln, glaubt er nicht, dass sein Sohn und Erbe bereits für die Herrschaft bereit ist. Aber es gibt Hoffnung, denn eine Heilung scheint möglich. Allerdings befindet sich das einzig mögliche Heilmittel im Besitz des ältesten Feindes des Reiches, der Herrin der Dunkelheit.

Der junge Offizier Aureus Moris wird ausgewählt, eine Expedition ins Reich der Finsternis zu führen, um über die Herausgabe des Heilmittels zu verhandeln. Doch nicht alle am Hof des Kaisers sind mit dem eingeschlagenen Kurs einverstanden. Intrigen und Verrat behindern Moris bei der Ausführung seines Auftrags. Aber eine andere Sache belastet den jungen Kommandanten viel mehr. Denn er erkennt, dass die Dunkelheit nicht so schrecklich ist wie erwartet – und dass sogar das strahlende Licht dunkle Schatten wirft.

Autor

Torsten Fink, Jahrgang 1965, arbeitete lange als Texter, Journalist und literarischer Kabarettist. Er lebt und schreibt heute in Mainz.

Von Torsten Fink bei Blanvalet erschienen:

Die Tochter des Magiers bei Blanvalet:

1. Die Diebin

2. Die Gefährtin

3. Die Erwählte

Der Sohn des Sehers bei Blanvalet:

1. Nomade

2. Lichtträger

3. Renegat

Drachensturm

Der Prinz der Skorpione bei Blanvalet:

1. Der Prinz der Schatten

2. Der Prinz der Klingen

3. Der Prinz der Skorpione

Der Prinz der Rache

Tochter der Schwarzen Stadt

Der Erbe des Skorpions

Torsten Fink

Roman

Originalausgabe

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1. Auflage

Originalausgabe November 2015 bei Blanvalet,

einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Copyright © 2015 by Torsten Fink

Umschlaggestaltung und -illustration: © Isabelle Hirtz, Inkcraft

Karte: © Jürgen Speh

Lektorat: Simone Heller

HK · Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-11403-9

www.blanvalet.de

Aureus Moris stand bis zu den Knien im kalten Wasser und lauschte. Der dichte Nebel dämpfte den Lärm der Schlacht nicht, nein, er schien ihn zu vervielfältigen. Das verwirrende Echo, das die sandigen Hügel zurückwarfen, verstärkte diesen Eindruck noch. Und so hatte Aureus das Gefühl, dass überall um ihn herum gekämpft, getötet und gestorben wurde. Nur auf der Kuppe des Hügels, an dessen Fuß er mit seinen Männern kauerte, herrschte trügerische Ruhe.

Dann nahm er eine Bewegung wahr. Aus dem Moor huschten schemenhafte Gestalten heran.

»Ist das Freund oder Feind?«, fragte der Mann neben ihm. Aureus lauschte mit geschlossenen Augen, erkannte das Rasseln von Kettenhemden, erhob sich und stieß einen leisen Pfiff aus.

Die Gestalten hielten inne. »Wer da?«, fragte eine nervöse Stimme.

»Freund!«, rief Aureus gedämpft.

Der Veteran an seiner Seite schüttelte den Kopf und sprach aus, was Aureus dachte. »Wären wir der Feind, hätten wir sie ganz anders begrüßt.«

»Aureus Moris, seid Ihr das?«

Notgedrungen erhob er sich. »Ich bin es, Tribun. Hier herüber! Aber seid leise, um des Lichts willen!«

Oben auf dem Hügel rief jemand in einer fremden Sprache und bekam in der gleichen Sprache Antwort.

»Das sind ihre Wachen«, meldete sich Phremos Stax zu Wort, der Mann, der neben Aureus kauerte, und übersetzte weiter: »Nein, Hekator, sie haben uns nicht bemerkt. Ganz im Gegenteil, sie bedauern, nicht in der Schlacht kämpfen zu dürfen.«

Eine gedrungene Gestalt kam keuchend näher und warf sich gegen die Böschung des Wasserlaufes, an der sie Deckung gesucht hatten.

»Wo ist der Rest der Tagma, Tribun?«, fragte Aureus leise. »Und wo sind die Auxiliaren mit den Sturmleitern?«

Der Tribun deutete vage in den Nebel. »Wir wurden angegriffen. Aus einem dieser verfluchten Gräben heraus. Ich habe befohlen, die Stellung zu halten, bis Verstärkung kommt oder der Befehl zum Rückzug.«

»Rückzug?«

»Wisst Ihr nicht, wie schlecht es um uns steht, Moris? Diese verdammten Iscerer sind überall. Seht Ihr das unheilvolle Glühen dort drüben? Es kommt von unserem Lager, das der Feind in Brand gesetzt hat. Die Nachhut, die es halten sollte, ist wahrscheinlich vernichtet, und ich hörte, dass die linke Flanke im Moor feststeckt und von allen Seiten angegriffen wird. General Pollo brüllt die ganze Zeit nach Verstärkung, aber wenn dieser verfluchte Sumpf die Toten nicht ausspuckt und für uns kämpfen lässt, werden wir keine bekommen. Stattdessen scheint der Nebel ständig neue Horden des Feindes zu gebären. Der General hat uns hier in eine schöne Falle geführt. Wenn Ihr es nicht begreift, sage ich Euch, wie die Lage ist – sie ist hoffnungslos!« Tribun Cauris drehte sein Schwert in den Händen. Als er innehielt, sah Aureus seine Finger zittern. Er war offensichtlich mit den Nerven am Ende.

Der Lärm der Schlacht brandete gegen den Hang. Er schien näher zu kommen. Moris hörte das Klirren der Schwerter, die Flüche, das Gebrüll und gelegentlich das tiefe Surren, wenn die Skorpione ihre Geschosse in die Reihen des Feindes sandten.

»Und die rechte Flanke? Was ist mit dem Hauptangriff?«, fragte Aureus mit unterdrückter Wut. Er hätte den Tribun gerne angebrüllt, damit er sich gefälligst zusammenriss.

Wieder gingen oben auf dem Hügel laute Rufe hin und her. Stax gab seinem Hekator jedoch ein beruhigendes Zeichen. Die dort oben schienen immer noch nichts zu ahnen.

Der Tribun steckte sein Schwert mit nach wie vor zitternden Händen zurück in die Scheide. »Irgendwo im Nebel verlorengegangen. Oder vielleicht sind auch schon alle tot.«

Berius Cauris war jung, unerfahren, überheblich und gerade lange genug bei der Sechzehnten Legion, um sich ernsthaft unbeliebt zu machen. Er war Aureus nie als tüchtiger Offizier aufgefallen, aber jetzt schien er vollends nutzlos geworden zu sein.

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass die rechte Flanke vernichtet ist, Tribun«, erklärte Aureus gereizt. »Legat Nerex ist ein fähiger Mann, und General Pollo weiß, was zu tun ist. Noch ist die Schlacht nicht verloren. Wenn wir unseren Auftrag erfüllen, dann …«

Der Tribun unterbrach ihn: »Unseren Auftrag? Seid Ihr toll? Uns steht das Wasser bis zum Hals, und Ihr wollt die feindliche Festung angreifen?« Seine Stimme überschlug sich.

Oben wurde wieder gerufen, und diesmal sah Stax besorgt aus. Er zischte den Tribun an, und Cauris zuckte schuldbewusst zusammen und machte sich noch kleiner.

Aureus packte ihn an der Schulter, um ihn aufzurütteln. »Das ist kein uneinnehmbares Kastell, Tribun, nur ein Erdwall mit ein paar Baumstämmen als Palisade. Aber er birgt das Herzstück der feindlichen Macht. Wenn wir diesen Wall nehmen …«

Cauris lachte bitter auf und schüttelte heftig den Kopf. »Ich weiß ja, dass Ihr ein tapferer Mann seid, Moris, aber jetzt sollten wir lieber darüber nachdenken, wie wir mit heiler Haut hier herauskommen! Ich glaube, dass wir das Moor am Fuße dieses Hügels umgehen können. Dann könnten wir uns zu Maxos’ Grab zurückziehen. Dort hat dieser Wahnsinn begonnen, dorthin werden sich all die begeben, die dieses Massaker überleben.«

»Unser Befehl lautet, die Festung auf dem Hügel einzunehmen, Tribun«, erwiderte Aureus eisig.

Der Tribun schüttelte den Kopf. »Pollo sagte, wir sollen es nur wagen, wenn es möglich ist, aber es ist nicht möglich. Also müssen wir die Flanke für einen geordneten Rückzug sichern. Aber die Flanke ist nicht zu sichern. Also müssen wir retten, was zu retten ist!« Er kauerte bis zur Hüfte im kalten Wasser, offenbar ohne sich daran zu stören.

Die Legionäre, die an der Böschung gelagert hatten, bekamen ohne Zweifel mit, was hier gesagt wurde. Aureus konnte nur die Gesichter der nächsten – vielleicht zwanzig – Männer erkennen, dann kamen ein paar verschwommene Gestalten und dann nur noch Nebel. Ob da überhaupt noch mehr sind?, dachte er plötzlich. Wenn sie klug sind und ihnen etwas an ihrem Leben liegt, haben sie sich heimlich, still und leise davongemacht… Nein, er durfte sich nicht von der Angst des Tribunen anstecken lassen. »Wie viele Männer habt Ihr mitgebracht?«, fragte er.

Er selbst war vor Beginn der Kämpfe mit nur hundert Mann in die Hügel geschlichen, um den feindlichen Wall auszukundschaften und den Angriff vorzubereiten. Die ganze Schlacht, die da in Sumpf und Nebel mit aller Erbitterung geführt wurde, war eigentlich nur ein großes Ablenkungsmanöver für diesen einen Angriff, denn hinter dem Wall wartete das Dunkle Heiligtum der Iscerer. Wenn sie das zerstörten, war die Schlacht – vielleicht – gewonnen. Zwei Tagmen und die Auxiliaren aus Marukien hätten sich inzwischen hier sammeln sollen. Aber der Vormarsch der Sechzehnten Legion war im Nebel durcheinandergeraten, der Feind griff von allen Seiten an, und der Tribun hatte die Tagmen irgendwo zurückgelassen. Und jetzt wollte er nur noch seine eigene Haut retten. Aureus wiederholte die Frage.

»Es sind mir nicht mehr als zweihundert gefolgt, Hekator. Die anderen ließ ich zurück, um uns den Rücken frei zu halten. Wir sollten ihnen Boten schicken, damit sie mit uns nach Südwesten durchbrechen. Da scheint es ruhig zu sein. Wenn dort kein Feind ist, könnten wir uns in Sicherheit bringen … uns sammeln … Was meint Ihr?«

Zweihundert? Er hatte auf tausend gehofft. Aureus war dennoch nicht bereit, einfach aufzugeben. Der Sturm auf das Herz der feindlichen Macht konnte diese Schlacht zu ihren Gunsten wenden – und es war eine große Gelegenheit, sich auszuzeichnen. Aureus hatte nicht vor, sich die durch die Lappen gehen zu lassen. Ursprünglich hatte General Pollos Plan vorgesehen, die Iscerer in breiter Front anzugreifen, aber dann war dieser seltsame Nebel aufgekommen. Die Männer waren beunruhigt, und sie raunten, die Dunkelheit, die der Feind verehrte, habe ihn gesandt. Aureus fand, dass das nicht von der Hand zu weisen war, denn es war Nebel, wie er ihn nur von kalten Herbsttagen kannte, und eigentlich war hier noch Sommer.

General Pollo hatte darüber gelacht und trotzdem den Angriff befohlen. Also war Aureus im Morgengrauen mit seinen Männern durch das Moor geschlichen, hatte sich in aller Heimlichkeit durch Morast, Gräben und Tümpel und übermannshohes Schilf gekämpft und hier in einem Wasserlauf Stellung bezogen. Ihre Späher hatten schon am Vortag eine Stelle gefunden, an der es zwar schwierig, aber nicht unmöglich war, die Palisade mit Sturmleitern zu erreichen.

Der Angriff erschien Aureus immer noch machbar, und er hatte seine eigenen Vorkehrungen getroffen, weil er wusste, wie unzuverlässig die Maruker waren. Aber nun waren sie nur dreihundert Mann – und nicht über tausend. Aureus biss sich auf die Lippen.

»Wollt Ihr es nicht einsehen, Hekator? Unsere Sache ist verloren!«

»Ich bitte Euch, Tribun, senkt Eure Stimme! Die Männer brauchen Mut für das, was vor uns liegt.«

»Ihr wollt doch nicht etwa angreifen, Moris? Wir sollten uns zurückziehen, wenigstens dort hinüber, zwischen die Hügel. Dort scheint die Schlacht weniger heftig zu toben. Wir können uns sammeln und überlegen, was zu tun ist. Vielleicht können wir von dort den anderen zu Hilfe eilen, den Rückzug decken …«

»Angreifen ist die einzige Möglichkeit«, entgegnete Aureus angewidert. Ein Rückzug? Wohin? Ihr befestigtes Lager brannte, und im Moor konnte sich vielleicht eine Hundertschaft retten – aber nicht eine ganze Legion. Hier hieß es siegen – oder sterben.

Der Tribun war anderer Meinung: »Nein, meine Entscheidung ist getroffen. Ich werde den Rückzug befehlen. Doch wohin, Moris, wohin?« Ihm schien sogar der Mut für diese Entscheidung zu fehlen.

»Wartet hier, Tribun, ich bin gleich zurück.« Aureus watete durch das kalte Wasser das Bächlein entlang, bis er die beiden Hekatoren fand, die die kleine Einheit mit Cauris hergeführt hatten. Er hatte einen Plan, und er würde sich nicht von Cauris aufhalten lassen. Er besprach sich kurz mit den beiden. Sie waren nicht begeistert, ja, sie nannten ihn und seinen Plan »verrückt«, aber auch sie sahen keine andere Möglichkeit.

Dann nahm er einen seiner Veteranen beiseite. »Hört, Claudio Optus – Ihr habt ein ehrliches Gesicht, und das werden wir brauchen. Erinnert Ihr Euch an den Graben, in dem einige von uns fast ertrunken wären? Gut. Dort etwa muss der Rest unserer Tagma stehen. Erklärt den Hekatoren, dass wir wie geplant angreifen und dass der Tribun sie so schnell wie möglich oben an der Festung erwartet.«

»Weiß Cauris, dass er diesen Befehl gegeben hat?«, fragte der Veteran mit der ihm eigenen unverwüstlich guten Laune.

Aureus schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Aber er wird sich später gewiss den Ruhm anheften lassen, wenn wir Erfolg haben.«

Optus kratzte sich im Nacken. »Das Wort wenn scheint mir hier von Bedeutung. Aber ich werde mich beeilen. Werdet Ihr wenigstens warten, bis ich zurück bin? Oder wollt Ihr den Spaß ohne mich beginnen?«

»Wir können nicht warten, sonst kommt mir der Tribun doch wieder in die Quere.«

»Schön. Gebt nur darauf acht, dass meinem Freund Stax nichts geschieht. Aber eigentlich mache ich mir keine Sorgen. Ihr wisst ja, was die Männer sagen, oder?«

Aureus starrte ihn verwirrt an.

Fröhlich erwiderte Optus. »Sie sagen, wo Aureus Moris ist, da ist der Sieg. Nein, schüttelt nicht den Kopf, Hekator. Und sie sagen, dass es eine Schande ist, dass Ihr noch nicht Tagmatos geworden seid.«

»Hattet Ihr nicht einen Befehl, Optus?«

Optus grinste schief, salutierte und schlich davon. Bald hatte der Nebel ihn verschluckt.

Aureus kehrte zu Cauris zurück. »Hört, Tribun. Ich werde die Männer etwas näher an die Festung heranführen. Am besten wird es sein, wenn Ihr hier auf die Verstärkung wartet, die ein Bote eben angekündigt hat. Vielleicht sehen wir dann klarer.«

»Verstärkung?«

»Ja, Pollo hat wohl irgendwo noch ein paar Männer zusammengekratzt.«

Der Tribun sah ihn zweifelnd an, aber Aureus war nicht bereit, länger zu warten. Er führte die Männer durch das Gewässer so nah wie möglich an die Palisade heran.

Stax wich ihm nicht von der Seite. »Seid Ihr sicher, dass Ihr das tun wollt, Hekator? Wir sind zu wenige, und selbst wenn Euer Plan gelingen sollte, werden viele von uns den Sieg mit dem Leben bezahlen.«

»Wenn wir es nicht tun, werden noch weit mehr unserer Kameraden mit ihrem Leben für unsere Untätigkeit büßen müssen.«

Aureus gab das Zeichen zum Vorrücken und kletterte die Böschung hinauf. Er schlich zwischen Sanddornbüschen voran, die Legionäre folgten ihm. Leise huschten sie den Hang hinauf, und im Nebel zeichnete sich bald die dunkle Wand der Palisade ab. Vielleicht wäre die Überraschung gelungen, wenn Cauris, der endlich gemerkt hatte, was vor sich ging, nicht plötzlich unten am Hang wie ein Verrückter angefangen hätte zu brüllen und ihnen das Umkehren zu befehlen.

Oben erwachte der Wall zum Leben. Pfeile, Steine und Speere kamen geflogen. Aureus verfluchte den Tribun, dessen Brüllen aber schnell in einem Gurgeln endete. Ein Pfeil musste ihn getroffen haben. Aureus hätte nicht darauf gewettet, dass er von einem iscerischen Bogen stammte …

Jetzt brüllten auch die Legionäre. Ihre Bogenschützen ließen die Sehnen sirren, und Aureus hastete voran. Der Mann zu seiner Linken sank getroffen zu Boden, der zu seiner Rechten ebenfalls. Ein Pfeil streifte seinen Helm. Er rannte weiter, warf das Seil und kletterte hinauf. Das mit dem Seil war ein Trick, den er von den Iscerern gelernt hatte. Die Legion kämpfte nicht auf diese Weise. Sie hatte Skorpione, Rammen, schwere Sturmleitern und sogar Belagerungstürme – mit so etwas Einfachem wie einem Seil gab sie sich für gewöhnlich nicht ab. Aber er hatte geahnt, dass die schweren Sturmleitern es nicht bis hierher schaffen würden, und seine Leute mit Seilen ausgerüstet.

Als Aureus oben anlangte, schaute er in das verblüffte Gesicht eines Iscerers. Es war ein alter Krieger, der noch einmal seinen Bogen spannte, als er besser zum Schwert gegriffen hätte. Aureus zerschmetterte den Bogen mit dem Schwert und rammte den Mann mit dem Schild, so dass er vom Wall stürzte. Er wehrte einen anderen Angreifer mit dem Rundschild ab, wich einem Hieb aus und fuhr instinktiv herum.Aus dem Nichts war ein Gegner aufgetaucht und schwang eine gewaltige Axt. Aureus sah sie auf sich zusausen und riss seinen Schild hoch. Funken sprühten, als das schwere Blatt am stählernen Rand des Schildes entlangschrammte. Für einen Augenblick schien die Zeit stehen zu bleiben. Aureus sah die Axt auf seine Brust herabfahren. Die Schneide blitzte – und drehte sich im letzten Moment. Der Schild musste sie irgendwie doch noch abgelenkt haben. Sie fetzte ein paar Schuppen aus dem Panzer und riss ihm die Seite auf – aber er war nicht tot, wie er es eigentlich hätte sein müssen.

Der Schmerz raubte ihm die Luft, und er taumelte zu Boden. Der Iscerer, dessen Axt sich in seinen Händen gedreht hatte, schien völlig verblüfft. Dann brüllte er und hob die Waffe zum nächsten Schlag.

Plötzlich war Phremos Stax da. Er tötete den wutschnaubenden Iscerer und half Aureus wieder auf die Beine. Immer mehr Legionäre tauchten jetzt auf dem Wall auf, und bald wurde überall gekämpft. Aureus erkannte die Schreie von Frauen und Kindern. Die Iscerer hatten ihre Familien hier oben? Hatten sie sich hier so sicher geglaubt? Wo war das Heiligtum? Er hörte merkwürdige Gesänge. Der Nebel – er schien von einer schwarzen Säule in der Mitte der Festung auszuströmen. In den Schwaden konnte Aureus nicht viel erkennen, nur dunkle Gestalten, die auf den Wall zurannten, Krieger, die ihn und alle seine Männer umbringen wollten. Es waren Hunderte.

Das flackernde Licht kämpfte vergeblich gegen die Dunkelheit, die sich zwischen den Säulen eingenistet hatte. Aureus Moris hob die Lampe. Die Säulen schienen zu schwanken und erinnerten ihn plötzlich an die alten Birkenwälder von Iscer.

Aber was war das? Stand dort jemand im Schatten? Er trat näher heran und blickte unvermittelt in das kalte Antlitz des Basileios. Es war nur eine Marmorbüste, die dort an der Wand befestigt war, und Aureus hatte sie schon oft gesehen. Allerdings lag es Jahre zurück, dass er zuletzt in dieser Halle gewesen war. Er hatte schlicht vergessen, dass es diese Büste gab.

Früher hatte er ihr kaum Beachtung geschenkt, aber jetzt betrachtete er sie eingehend: die erhabene Stirn, der strenge Blick, die würdevollen, ebenmäßigen Gesichtszüge, das nachsichtige, leicht spöttische Lächeln, das um die Lippen spielte. Das Licht der Lampe flackerte und ließ die majestätischen Züge erst lebendig und dann plötzlich fratzenhaft erscheinen.

Aureus hatte den Kaiser nur einmal gesehen, und das von Weitem. Das war auf Iscer gewesen, vor sieben Jahren, als der Angriff auf die große Insel begann. Sebastos Valis hatte ihre Parade abgenommen, hatte Iscer aber kurz darauf wieder verlassen. Sein Sohn Maxos, den sie bald den Unglücklichen nannten, hatte die Führung übernommen.

Aureus kehrte der Halle den Rücken. An der Pforte traf er auf einen einsamen Wachsoldaten, der sich an seine Fackel klammerte und ungelenk zu salutieren versuchte, als er seinen Vorgesetzten erkannte. Wie auch die anderen Wachen musste er zu den Rekruten gehören, die gerade erst in der Kaserne eingetroffen waren. Aureus bemerkte, dass der Junge seinen Schwertgurt über der falschen Schulter trug. »Alles ruhig, Legionär?«

»Vollkommen ruhig, Hekator.«

Aureus hätte es normalerweise dabei bewenden lassen, aber jetzt fragte er: »Wie alt bist du, Legionär?« Er hatte inzwischen herausgefunden, dass niemand hier war, der sich um die Ausbildung der Jungen kümmerte. Aber selbst der Verwalter, der einsam über die Kaserne wachte und ihnen ihre Ausrüstung gegeben hatte, hätte das mit dem Schwertgurt wissen müssen.

»Sechzehn, Hekator.«

»Wirklich? Recht alt, um noch in die Legion einzutreten.«

»Mein Vater wollte mich nicht früher fortlassen, wegen der Arbeit auf dem Hof. Ich musste warten, bis meine jüngeren Brüder alt genug waren.«

»Woher kommst du, Sohn?«

»Aus der Nähe von Saxa, Herr.«

»Ah, die Braut des Himmels. Sind noch mehr Männer aus den Bergen unter euch?«

»Zwei, Herr. Die anderen sind unterwegs zu uns gestoßen.«

»Verstehe.«

»Werdet Ihr uns kommandieren, Herr?«

Aureus nickte gedankenabwesend, dann öffnete er endlich den Schwertgurt des Jungen und legte ihn auf die richtige Seite. Der Rekrut lief rot an. Aureus klopfte ihm beruhigend auf die Schulter, dann setzte er seine nächtliche Runde fort.

Abgesehen von den fünfzig Rekruten lebten in der großen Kaserne lediglich noch ein Verwalter und ein paar altersschwache Diener. Und derzeit beherbergte sie noch drei weitere Gäste, von denen er selbst einer war. Aureus marschierte über den Paradeplatz zu den Wohnquartieren. Sie boten in Friedenszeiten gerade genug Platz für die Krieger der Sechzehnten Legion, die nicht in der Stadt bei ihren Familien lebten. Doch es waren keine Friedenszeiten, und die Sechzehnte stand seit sieben Jahren fern im Westen auf Iscer im Feld und hatte die Kaserne verwaist zurückgelassen. Er stieg die Treppe zur Mauerkrone hinauf und blieb stehen.

Auch außerhalb der Mauern schien es ruhig zu sein, dabei war morgen der Tag des Lichts, ein Feiertag, und normalerweise blieben in der Nacht zuvor die Tavernen lange geöffnet, und auf den breiten Straßen amüsierten sich die Menschen. Eigentlich feierten sie gern in Maricat. Aureus hatte immer das Gefühl gehabt, dass es die Feste waren, die dieses Vielvölkergemisch aus Marukern, Hererern, Bovern, Amarern, Glatiern, Capianern und sogar Domorern zusammenhielt. Doch nun erschien ihm die Stadt still und schwermütig.

Eigentlich kein Wunder, dachte er. Die Sechzehnte stand im Feld, und viele der Männer, die dort unten früher zu feiern gepflegt hatten, würden nicht mehr zurückkehren. Aber das war womöglich nicht das Einzige, was die Stadt bedrückte.

Der Palast des Statthalters lag unten am Flussufer. Auf seinen Mauern gingen Soldaten zwischen hellen Wachfeuern auf und ab. Es waren mehr als üblich, denn der Basileios, der Kaiser selbst, war in Maricat.

Aureus kontrollierte die Posten ein zweites Mal, vermied aber weitere Gespräche. Er hätte den Rekruten vielleicht sonst Dinge gesagt, die sie früh genug erfahren würden: dass ihnen eigentlich drei Monate Ausbildung im Hinterland zustanden, die sie aber nicht bekommen würden. Die Verluste auf Iscer waren hoch, und die Sechzehnte brauchte jeden Mann, den sie kriegen konnte. General Pollo war der Meinung, dass die Legionäre im Feld am besten lernen würden. Er hatte Aureus den Befehl gegeben, auf dem Rückmarsch weitere Männer anzuwerben, junge Rekruten für die Legion, wenn möglich, aber auch erfahrene Krieger für die Hilfstruppen. Eigentlich wurden die Frischlinge immer zu den Bogenschützen gesteckt, denn diese meist schmächtigen Kerle taugten nicht für die Schlachtreihe, aber auch das konnte er den Jungen nicht versprechen. Aureus fasste den Entschluss, sie auf dem Marsch hart ranzunehmen. Ganz gleich in welcher Einheit sie landeten, sie würden es ihm später danken, und er hatte schon ganz andere Kinder zu fähigen Legionären geformt.

Er schüttelte den Kopf über sich selbst. Er machte sich schon Gedanken über den Rückweg, dabei war er gerade erst in Maricat eingetroffen. Der General hatte ihm dringende Schreiben mitgegeben. Vermutlich waren es Hilfsgesuche und Schilderungen ihrer überaus kritischen Lage, aber vielleicht war da auch noch mehr …

Pollo hatte nicht zugeben wollen, dass es Aureus’ Entscheidung gewesen war, die die Schlacht zu ihren Gunsten gewendet hatte. Ganz im Gegenteil – der General hatte Tribun Cauris zum Helden der Schlacht erklärt und ihm dort eine Ehrensäule errichten lassen, wo sie das dunkle Heiligtum der Iscerer niedergerissen hatten.

Aureus hatte protestiert, aber Pollo hatte ihn zur Seite genommen und gesagt: »Ihr findet das ungerecht, Hekator? Habt Ihr etwa mit einer Beförderung gerechnet? Was ist mit diesem Pfeil, der in Cauris’ Hals steckte? Es war einer von unseren eigenen. Findet Ihr es gerecht, dass der Mörder und der Mann, unter dessen Befehl er stand, ungestraft davonkommen werden? Also – wollt Ihr einen Prozess um die Ermordung eines Feiglings mit Euch als Angeklagtem – oder wollt Ihr die Ehrung eines Toten, der nichts mehr davon hat?«

Aureus hatte die Zähne zusammengebissen und geschwiegen. Je länger er darüber nachdachte, desto merkwürdiger erschien es ihm nun, dass Pollo ausgerechnet ihn nach Maricat gesandt hatte.

Aureus war der Erste Hekator der Ersten Tagma der Sechzehnten und damit der Ranghöchste unter den Hekatoren. Und obwohl er seine Männer bei jenem Angriff sehenden Auges in ein Schlachthaus geführt hatte, stand er bei den Legionären in hohem Ansehen, denn sie wussten, dass er die Sechzehnte mit seinem selbstmörderischen Vorstoß gerettet hatte.

Enthielten die Schreiben etwas anderes als eine Schilderung der Lage und Bitten um Verstärkung? Vielleicht eine Anklage? Neben all den offiziellen Botschaften, die vor Lob für den tapferen Tribun Cauris nur so troffen, gab es noch eine doppelt versiegelte Nachricht, die er dem Satrapen persönlich übergeben sollte.

Aureus lehnte sich auf die Zinnen und starrte hinüber zum Palast. Selbst dieser Dickschädel von einem General musste doch einsehen, dass seine Entscheidung sie alle gerettet hatte.

Er hatte Pollos Briefe gleich nach seiner Ankunft im Palast abgeliefert, war aber nicht zum Statthalter vorgelassen worden. Das war kein gutes Zeichen.

Ja, Pollo misstraute ihm, obwohl sie Seite an Seite gekämpft hatten, in jener ersten, wirren Nacht, als der Feind aus den Baumreihen des Waldes hervorgebrochen war, um ihr befestigtes Lager zu überfallen. Sie hatten sich darauf vorbereitet geglaubt und waren dann trotzdem von der Stärke dieses Angriffs überrascht worden. An unzähligen Wurfseilen waren die Iscerer über die einfachen Pfähle geklettert und ins Lager eingedrungen. Viele gute Männer waren in dem wilden Handgemenge zwischen den Zelten und auf den Palisaden gefallen. Aureus lächelte grimmig, als er daran dachte, dass der Feind in dieser dunklen Nacht seiner folgenden Niederlage den Weg bereitet hatte.

Versuchte Pollo jetzt, ihm aus der Sache mit Cauris einen Strick zu drehen? Falls ja, hatte er den Fehler gemacht, ihn selbst nach Maricat zu schicken. Aureus war fest entschlossen, dem Satrapen seine Sicht der Dinge darzustellen und alle denkbaren Vorwürfe als ungerechtfertigt zu entkräften. Er hatte doch wirklich keine Ahnung, wer den Pfeil abgeschossen hatte. Er seufzte. Dieser Bogenschütze hatte Cauris zum toten Helden gemacht – und damit verhindert, dass Aureus den verdienten Lohn für seinen Mut empfing. Pollo würde ihn nie befördern.

Aureus ließ seinen Blick über die schlafende Stadt hinüber zum Lichttempel schweifen, der auf einem Hügel stand und damit alle Häuser überragte. Er war fast so groß wie der Palast des Satrapen, und seine Mauern waren von vielen Feuern erleuchtet.

Das muss wohl so sein, dachte Aureus. Es hieß, das Große Licht könne den Geist von allen dunklen Gedanken reinigen, aber seine Erfahrung war eine andere.

Der Wind frischte auf und kündigte den Herbst an, der morgen beginnen würde. Aureus setzte seine Runde fort, und er fragte einen der Rekruten, wann er abgelöst werde, doch das wusste der Junge – er war vielleicht fünfzehn – nicht. Also ging er in das Quartier der Frischlinge, weckte den ältesten von ihnen und teilte mit ihm zusammen die Wachen für den Rest der Nacht ein.

Als er in sein eigenes Quartier zurückkehrte, hörte er seine beiden Begleiter in der Nebenkammer schnarchen. Sie schienen unbeschwert zu schlafen. Optus und Stax waren verdiente Veteranen, und am kommenden Tag sollten sie, vielleicht sogar aus der Hand des Kaisers selbst, mit ihrer Entlassungsurkunde ein Stück Land entgegennehmen, das ihnen ihr zwanzigjähriger treuer Dienst für das Capianische Reich eingebracht hatte. Sebastos Valis liebte die Legion, das war bekannt, und er ließ angeblich nur selten eine Gelegenheit verstreichen, verdiente Veteranen zu ehren.

Aureus öffnete einen Krug Wein. Der Basileios … Es hieß, dass der Kaiser krank sei. Vermutlich war es das, was wie Mehltau über der Stadt lag. Die Menschen waren besorgt. Niemand wusste, was dem Basileios fehlte, sicher war nur, dass es ernst war, denn er hielt sich schon viel länger als geplant in Maricat auf. Aureus leerte nach und nach den ganzen Krug. Erst dann fand er zur Ruhe.

Im Morgengrauen riss ihn ein empörter Verwalter aus dem Schlaf: »Steht endlich auf! Über Nacht muss sich herumgesprochen haben, dass jemand von der Sechzehnten Legion aus dem Westen gekommen ist, Herr, denn vor dem Tor unseres Kastells haben sich viele Frauen versammelt. Sie verlangen Auskunft über ihre Männer, doch habe ich die Listen, die Ihr mir gebracht habt, noch nicht mit den Soldlisten abgeglichen und kann sie daher nicht freigeben. Ihr müsst diese Frauen fortschicken!«

Aureus rieb sich den Schlaf aus dem Gesicht. »Freigeben? Wie lange soll das dauern?«

»Nun, ich muss prüfen, ob Männer Eurer Liste noch Sold erhalten. Bis ich Namen für Namen abgeglichen habe, was eine große Sorgfalt erfordert, können schon zwei oder drei Wochen vergehen. Es ist ja nicht so, dass ich nicht noch andere …«

Aureus schnitt ihm das Wort ab. »Diese Listen – bringt sie mir. Die Legion ist diesen Ehefrauen Auskunft schuldig. Man kann sie nicht wochenlang warten lassen, Mann.«

»Es sind Hunderte Namen. Die könnt Ihr doch nicht alle verlesen!«

»Aber ich kann sie am Tor anschlagen, und Optus und Stax können die Namen nachschauen, nach denen die Frauen fragen, die nicht lesen können. Außerdem kennt Optus sowieso die halbe Sechzehnte persönlich. Er kann Auskunft geben.«

»Aber wenn die Listen beschädigt werden! Wenn ein Blatt verloren geht!«

»Nun macht schon, oder ich schicke diese Frauen in Eure Stube. Dann könnt Ihr ihnen selbst sagen, ob ihre Männer tot sind oder noch leben!«

Diese Drohung brachte den Verwalter zum Einlenken, und während er die Listen holte, weckte Aureus die beiden Veteranen.

»Ich hatte eigentlich vor, in ein paar Gasthäusern vorbeizuschauen, die ich früher gerne besucht habe. Aber wenn es denn sein muss, werden wir uns um die Sache kümmern. Und, ja, wir versuchen, es den Witwen so schonend wie möglich beizubringen, Hekator«, rief Claudio Optus und klang wie immer eine Spur zu fröhlich.

»Ich denke, wir sind es den Kameraden auch schuldig, die Schulter an Schulter mit uns im Kampf gestanden haben – und weniger Glück hatten als wir«, brummte Phremos Stax mit düsterer Miene.

Sobald er die Pergamente in den Händen hielt, ging Aureus mit den beiden Veteranen hinaus vor das Tor. Eigentlich hatte er erwartet, dass die Frauen ihn mit Fragen bestürmen würden. Doch sie waren ganz ruhig, als hätten sie Angst, dass ein falsches Wort den Namen ihres Mannes irgendwie auf eine Liste zaubern könnte, die schon vor Wochen verfasst worden war.

Er überließ die Liste Optus und begab sich in den Palast des Satrapen wie schon am vorigen Tag, und er fand sich wieder dem gleichen Schreiber gegenüber.

»Euer Begehr?«, fragte der Mann dennoch mit blasierter Herablassung.

»Es ist das gleiche wie gestern Abend. Ich habe Sendschreiben von General Pollo überbracht und habe hier immer noch eine persönliche Mitteilung des Generals an den Satrapen.«

»Und Ihr wollt sie mir auch heute Morgen nicht aushändigen?«

»Mein Befehl, sie nur dem Satrapen selbst zu geben, hat sich über Nacht nicht geändert«, erwiderte Aureus gereizt.

»Der Satrap ist mit dringenden Angelegenheiten der Provinz beschäftigt. Ich werde jedoch einen Boten senden, der ihn über Eure Anwesenheit informiert, Hekator. Nehmt doch einstweilen Platz.«

Der Mann verschwand kurz im Nebenzimmer, dann widmete er sich wieder seiner Arbeit, ohne Aureus weiter zu beachten.

»Könnt Ihr mir sagen, wie lange das dauern wird?«

Der Schreiber zuckte mit den Schultern und seufzte. »Das sind schwere Zeiten, wie Ihr sicher wisst, Hekator. Der Satrap hat alle Hände voll zu tun.«

»Ich kann Euch auch die Wunden zeigen, die ich diesen schweren Zeiten zu verdanken habe. Im Gegensatz zu Euch stehe ich nämlich im Kampf. Und ich werde auf Iscer gebraucht – und nicht in dieser verstaubten Stube.«

Der Schreiber war offenbar nicht so leicht zu beeindrucken. »Auch die Verwaltung einer Provinz ist ein ständiger Kampf. Ihr habt ja keine Vorstellung …«

Die hatte Aureus tatsächlich nicht. Am liebsten wäre er an dem Mann vorbeigestürmt und hätte den Satrapen einfach aufgesucht. Aber er wusste, dass die Wachen, die hier an jeder Ecke postiert waren, bei Anwesenheit des Kaisers keinen Spaß verstanden. Er übte sich also in Geduld.

Etwa eine Stunde später brachte ein Bote ein Pergament und flüsterte dem Schreiber einige Worte ins Ohr, die diesen zu beeindrucken schienen. Er warf Aureus einen überraschten Blick zu, schüttelte den Kopf und widmete sich wieder seinen Dokumenten, nachdem der Bote gegangen war. Er schrieb ein paar Zeilen, was Aureus fassungslos mit ansah. Ganz offensichtlich hatte der Bote über ihn gesprochen. Er trat an den Schreibtisch heran.

»Ihr werft einen Schatten auf meine Zeilen.«

»Das werde ich so lange tun, bis Ihr mir sagt, was der Bote Euch mitteilte.«

»Wie? Nun, das sage ich Euch schon noch. Lasst mich gerade noch diese Liste abschließen und ablegen und …«

Aureus wischte das Pergament und einige andere Dokumente zur Seite. »Ich glaube, wir können sie als abgelegt betrachten. Also?«

Der Schreiber seufzte. »Ihr benehmt Euch wie ein Domorer«, sagte er leichthin und schien nicht zu bemerken, dass Aureus, der doch tatsächlich ein Domorer war, zusammenzuckte. Dann nahm er die Nachricht des Boten zur Hand. »Dies ist eine Anweisung an Currio, den Theatermeister, damit er Euch und Euren beiden Begleitern heute Abend Plätze frei hält.«

»Plätze?«

»Beim Lichtfest, Hekator. Ihr bekommt Plätze für die Feier, und glaubt mir, die sind sehr begehrt. Die ganze Stadt wird dort sein.«

»Und der Satrap?«

»Der auch, wenn es seine Zeit erlaubt. Er bittet um Vergebung, dass er Euch erst morgen empfangen kann. Deshalb vermutlich die Plätze. Ehrlich, ich beneide Euch.«

Scramo Narth zählte Wolfsfelle, als sich die Tür seines kleinen Ladens öffnete. Stirnrunzelnd blickte er auf. Kundschaft? Heute? Es war ein Festtag, die ganze Stadt strebte hinaus in die Hügel, um dem Licht zu huldigen. Doch jemand hatte seinen Laden betreten.

Scramo brauchte nur Augenblicke, um den Fremden einzuschätzen: Seine Kleidung, von den Sandalen bis zur Toga, war von erlesener Qualität, was auch der schlichte Umhang mit Kapuze nicht verbergen konnte, den der Fremde offenbar übergeworfen hatte, um genau das zu tun: seinen Status zu verbergen. Ein kostbarer goldener Ring schimmerte an seiner Rechten, mit der er den Überwurf zusammenhielt. Der Mann roch nach Honig, kostspieligen Salben und Ölen – kurz, nach Geld, viel Geld.

Vielleicht war es ein Kurator oder gar Prokurator oder sonst ein hohes Tier, sicher niemand, der normalerweise einen Laden betreten hätte, um ein paar Felle zu erwerben. Das Gesicht hielt er im Schatten seiner Kapuze verborgen, und seinen Siegelring hatte er klugerweise nach innen gedreht, so dass Scramo das Wappen nicht zu erkennen vermochte. Die dunklere Haut seiner Arme verriet, dass er aus dem Süden stammte, vielleicht aus der großen Stadt Capia selbst.

Scramo wusste, dass das nichts Gutes bedeuten konnte. Er hatte in den vergangenen Nächten zweimal von einer Krähe geträumt, die über dem Haus kreiste, während auf der Straße vor dem Laden eine verhüllte Gestalt gestanden hatte, dem Fremden nicht unähnlich. Krähen waren Unglücksboten, das wusste jeder. Hatte nun also das Unglück seinen Laden betreten?

Der Fremde sah sich um, er wirkte unschlüssig. Einen Augenblick lang hoffte Scramo, dass er den Laden wieder verlassen würde.

»Wir haben geschlossen, Herr.«

Das kam von Warra, seiner Frau, die hinter der schlichten Theke stand und die stämmigen Arme verschränkte.

Der Fremde erstarrte. Für einen Augenblick war sein glatt rasiertes Kinn zu erkennen, auf dem eine kleine Warze saß. Dann wandte er sich ab, war schon auf dem Weg zur Tür – und blieb doch stehen.

»Lass uns allein«, sagte Scramo seufzend.

Seine Frau warf ihm einen wütenden Blick zu. Er erwiderte den Blick nur stumm, aber eindringlich, und sie zog sich, ganz gegen ihre Art, ohne weitere Worte zurück.

»Was kann ich für Euch tun, Herr?«

»Ich bin nicht hier, um Pelze zu kaufen.« Der Fremde senkte die Stimme. »Ich überbringe Grüße aus der Dunkelheit.«

Scramo nickte bloß. Es war also, wie er es befürchtet hatte.

Der Fremde betastete ein paar Fuchsfelle. Er wirkte sehr nervös. »Erstaunlich. Es sieht genauso aus, wie die Herrin es mir gezeigt hat. Dreimal habe ich hiervon geträumt. Aber erst, als sie mir Euren Namen zuflüsterte, konnte ich Euch finden, Bruder. Sagt, seid Ihr auch ein Seher?«

»Sie hat zu Euch gesprochen?« Scramo war wirklich überrascht. Und als er sich gefasst hatte, entschied er, die Frage nicht zu beantworten. Scramo war mehr als ein Seher, mehr als ein bloßer Traumdeuter, er war ein Druadag, aber er fand, der Fremde müsse nicht wissen, was das bedeutete. Es war auch so schon schlimm genug.

Die Bilder mit der Krähe und dem Verhüllten waren nicht wie die üblichen Träume mit dem Morgen verblasst. Trotzdem hatte er das Offensichtliche nicht wahrhaben wollen: Die Dhurna schickte ihm Botschaften, das erste Mal seit Jahren. Und nun stand die verhüllte Gestalt leibhaftig in seinem Laden und nicht mehr davor wie in seinem Traum. Es war ein Capianer, jedenfalls ein Mann aus dem Süden, ohne Zweifel. Und sie hatte zu ihm gesprochen? Dieser Sohn des Lichts empfing von der Dunklen Fürstin klarere Botschaften als er selbst?

»Ja, sie sprach zu mir, ein Flüstern, schwer zu verstehen, Bruder. Und nur so konnte ich Euch endlich finden. Ich muss gestehen, dass ich diesen Teil der Stadt nämlich kaum kenne. Und Euren Laden kannte ich gar nicht.«

Er kann noch nicht lange in Maricat sein, dachte Scramo, denn es gab nur zwei Pelzhändler in dieser Stadt, die so riesig nun auch wieder nicht war. Ob er vielleicht mit dem Kaiser hergekommen ist? »Was hat sie Euch noch gesagt, Herr?«

Der Fremde antwortete zögernd. »Wenige Worte, aber viele düstere Bilder. Es werden Dinge geschehen, wichtige Dinge. Ich sah endlosen, dunklen Wald, einen langen Zug Legionäre – und Ihr saßt unter Bäumen an einem Lagerfeuer. Ich kann aber nicht sagen, was das bedeutet.«

Scramo dachte einen Augenblick nach. Nichts dergleichen hatten ihm seine Träume gezeigt. Er konnte jedoch seine Schlüsse aus den Worten des Capianers ziehen: »Ich arbeite nicht als Führer für die Legion, Herr, und sie hat auch noch nie nach meinen Diensten verlangt. Ich habe nicht vor, Soldaten in irgendeinen Wald zu führen … oder zu begleiten.«

»Ich habe noch etwas gesehen, Bruder … uns beide, im Lichtkreis einer einzelnen Kerze. Und Ihr habt etwas in einen Kessel gegossen, Blut, wenn ich nicht irre. Dann habt Ihr das Licht gelöscht.«

Scramo schloss die Augen und verfluchte den Tag. Das Seelenritual? Der Capianer hatte das Ritual gesehen? Er öffnete die Augen wieder. Der Fremde stand immer noch in seinem Laden, kein plötzlicher Windstoß oder sonst ein Wunder hatte ihn hinausbefördert. »Ihr wisst nicht, was Euch die Dhurna da gezeigt hat, Herr?«

Der Fremde schüttelte den Kopf.

Scramo hätte gerne sein Gesicht gesehen. Es war nicht gut, dass dieser Fremde mehr über ihn wusste als umgekehrt, und dass er sich anbiederte und ihn Bruder nannte, machte es nicht besser. »Wartet hier, Herr, oder besser, wartet dort, hinter dem Vorhang, im Lager. Meine Kinder sollen Euch nicht sehen. Ich werde den Kessel holen und dafür sorgen, dass wir nicht gestört werden.« Dann schüttelte er den Kopf und ging zur Eingangstür, um sie zu verriegeln, was er an diesem Morgen aus irgendeinem Grund versäumt hatte. »Es ist eigenartig, dass die Herrin dieses Ritual heute verlangt. Es ist doch der Tag, den sie in dieser Stadt den Tag des Lichts nennen.«

Aureus Moris hatte ein ungutes Gefühl, und die nervöse Stimmung, die auf den Straßen herrschte, verstärkte das Gefühl nur. Es war ein Festtag, und die Stadt war voll mit Menschen, die durch das Tor hinausstrebten, um beim abschließenden Höhepunkt der Feiern dabei zu sein.

Ihm kam es vor, als müssten die Maricater sich anstrengen, eine festliche Laune an den Tag zu legen. Das konnte er verstehen: Der Krieg auf Iscer nahm kein Ende, und viele Legionärsfrauen hatten wohl gerade erst an diesem Morgen erfahren, dass sie Witwen geworden waren.

»Was für ein Gedränge«, brummte Phremos Stax und schob mit seinem langen Arm einen Mann zur Seite, der stehen geblieben war, um mit einem Bekannten zu sprechen.

»Es ist eben ein Feiertag«, erwiderte Claudio Optus fröhlich. Er musste sich beeilen, um mit seinem viel größeren Kameraden Schritt zu halten, und da er wegen einer alten Verletzung leicht humpelte, war das nicht so einfach. Er verstand es jedoch, den Platz geschickt zu nutzen, den der lange Stax ihnen verschaffte.

Aureus fand das Gedränge eigentlich erträglich, ja, es war erstaunlich, mit welcher Ruhe und Ordnung die Menschen aus dem Tor zogen.

»Ich möchte wissen, warum sie diese Arena nicht in der Stadt bauen konnten. Das würde uns dieses Geschiebe ersparen.«

»Es ist ein Theater, keine Arena, Stax«, lautete die fröhliche Antwort.

»Danke, dass du mich daran erinnerst, Optus. Theater …Weihespiele …«, seufzte Stax. »Eine gute iscerische Tierhatz oder Reiterspiele, das würde ich mir gefallen lassen. Aber singende Priesterinnen?«

»Es ist weit mehr als das! Warst du denn wirklich noch nie bei einem Lichtfest?«

»Doch, natürlich, in meiner Heimat in Glatien gab es das auch. War aber keine große Sache. Unser Tempel war ein umgebauter Stierstall, und unsere Priesterin – es gab nur eine –, hatte keine Zähne mehr im Maul. Das Licht, das sie entfachte, war so schwach, dass man bis zur späten Dämmerung warten musste, um es überhaupt zu sehen.«

»Aber auf Iscer, bei unserer Landung, da entzündeten die Priesterinnen doch ein Licht, das aussah, als würde es bis zum Mond reichen. Ich glaube, ich habe noch nie eine Legion derart erstrahlen sehen. Hast du denn da nichts gespürt?«

»Ich war mit unserem Hekator hier bei der Vorhut, wie du dich vielleicht erinnerst, und ich dachte damals nur, dass es nicht so klug ist, gleich der ganzen Insel zu verraten, dass die Legion gelandet ist.«

Optus schüttelte den Kopf. »Das hier wird jedenfalls großartig, glaube mir, mein Freund. Diese Stimmung erinnert mich an meine Kindheit. Einmal im Jahr wanderten wir von unserem kleinen Fischerdorf nach Farsis, wo sie das Fest auf einem riesigen Feld vor der Stadt begehen. Ich glaube, die Bevölkerung der halben Provinz war dort und hat gefeiert. Ich habe immer bedauert, dass sie dieses schöne Fest nur einmal im Jahr abhalten. Jetzt werden es sicher nicht ganz so viele Menschen wie damals in Kyrien, aber der Basileios ist hier, also werden sie sich ins Zeug legen. Wenn es für dich wirklich das erste Große Licht ist, wirst du das nie vergessen … Es ist … erhebend. Ja, das ist das richtige Wort – erhebend! Nicht wahr, Hekator?«

Aureus Moris nickte zerstreut. Es war sicher eine Auszeichnung, dass man sie eingeladen hatte, aber seiner Erfahrung nach wäre es für ihn besser gewesen, der Feier fernzubleiben.

»Was glaubt Ihr, Hekator, werden wir in der Loge des Kaisers sitzen?«, fragte Optus.

»Das kann ich mir nicht vorstellen.« Aureus bezweifelte, dass der Kaiser überhaupt dort sein würde.

»Sie werden schon eine dunkle Ecke für uns finden«, brummte Stax. Er wehrte einen Händler ab, der ihm ein paar Kerzen für das Fest aufschwatzen wollte.

Aureus hielt seine Kerzen bereits in der Hand. Sie waren in Wachspapier eingeschlagen und fühlten sich weich an. Er hatte sie gleich zu Anfang ihres Weges erworben, obwohl Optus ihm versichert hatte, dass sie günstiger würden, je näher sie dem Theater kämen.

Sie durchquerten das imposante Stadttor und konnten etwas abseits der schnurgeraden Straße die weißen Mauern des Theaters in den Hügeln sehen. Die bunte Menschenmenge zog langsam – und dabei einem Heerwurm nicht unähnlich – den Hügel hinauf.

Die feierliche Stimmung war jedoch durch die schlechten Nachrichten aus dem Palast getrübt.

»Kaiser kommen und gehen, aber das Reich bleibt bestehen«, hörte Aureus einen Bürger sagen. Sein Nebenmann widersprach: »Wenn ein Basileios stirbt, ist es immer eine Erschütterung für das ganze Reich. Und so mancher Nachfolger, der angeblich schon feststand, wurde noch vor der Thronbesteigung gestürzt. Außerdem lässt die Unsicherheit die Leute ihr Geld zusammenhalten. Ich weiß noch, wie es beim letzten Mal war. Nein, mein Freund, der Tod eines Kaisers ist zumindest schlecht für das Geschäft. Denk an meine Worte!«

Warra rückte den Kessel nur widerstrebend heraus. »Der Fremde gefällt mir nicht. Und was du vorhast, gefällt mir noch weniger.«

»Glaubst du denn, ich tue das gerne? Aber der Ruf ist ergangen. Bei der Dunkelheit, ich habe wirklich versucht, ihn zu überhören!«

»Und warum hörst du ihn jetzt?« Ihr breites Gesicht drückte Zorn aus – und Sorge.

»Weil es aussichtslos ist! Vermutlich würde jetzt nicht dieser feiste Capianer in meinem Lager auf mich warten, wenn ich eher auf die Zeichen gehört hätte. Und tu nicht so, als wüsstest du das nicht!«

»Ich verstehe nicht viel von der Dunkelheit, Scramo, aber ich weiß, dass sie Gefahr bedeutet, vor allem in einer Stadt des Lichts, wo es von neugierigen Priesterinnen und frommen Lichtlern nur so wimmelt. Und es ist auch nicht mehr wie früher, als es nur um uns beide ging. Du hast zwei Söhne und drei Töchter. Du hast eine Familie, um die du dich zuerst kümmern solltest!«

Sie versteht es wirklich nicht, dachte Scramo, sonst wüsste sie, wie gefährlich es ist, sich den Wünschen der Dunklen Herrin zu widersetzen. Er versuchte auch nicht, es ihr zu erklären. Es war besser, sie wusste nicht zu viel.

Er löste den Kessel aus ihrem festen Griff und verschwand in den Hof. Das Ritual verlangte Blut. Er ging in den Stall und schnappte sich nach kurzer Überlegung den Hahn. Es war schade um das stattliche Tier, aber er wollte die Dhurna nicht mit einem minderwertigen Opfer beleidigen. Er seufzte, als er den flatternden Hahn in einen Korb sperrte. Wie lange war es her, dass er dieses Ritual zuletzt durchgeführt hatte? Fünfzehn, zwanzig Jahre? Und jetzt musste er es im Beisein eines Fremden tun. Er hielt inne. Der Capianer gäbe ein viel besseres Opfer ab als dieser Hahn …

»Schlecht sind die Plätze nicht.« Claudio Optus stand auf den Zehenspitzen, sah ins weite Rund und rieb die Hände wie immer, wenn er nervös war.

»Aber gut auch nicht.« Phremos Stax hatte sich gesetzt und blickte missmutig über die bunte Menge. Verkäufer drängten sich durch die Reihen und boten Kerzen sowie Esswaren an. Aureus nahm ebenfalls Platz. Er hatte das Theater von Maricat früher nie besucht und war überrascht, wie groß es innen war. Es war perfekt in die Hügel eingebettet, so dass es auf dem Weg hinein gar nicht einmal imposant wirkte, aber hier drinnen war er bereit zu glauben, dass es wirklich dreißigtausend Menschen fasste. Es war nicht viel kleiner als das in Capia.

Theatermeister Currio hatte sie persönlich am Eingang erwartet und zu diesem Platz gelotst.

»Wie habt Ihr uns erkannt?«, hatte Optus fröhlich gefragt.

»Ein domorischer Hekator und zwei altgediente Legionäre? Das war nicht schwer«, lautete die Antwort.

Der Mann meinte das nicht böse, aber Aureus war dennoch verstimmt. Auch jetzt schien es ihm, dass die Leute hinter ihm tuschelten, als er seinen Helm abnahm und sein helles Haar seine Herkunft verriet. Aber vielleicht bildete er sich das nur ein. Es dienten immer noch viele Domorer in der Legion, auch wenn es für sie alle schwerer geworden war, und es lebten etliche in Maricat, schließlich lag ihre Heimat auf der anderen Seite des Parans. Aber wenn er sich umsah, stellte er fest, dass nicht viele hellhaarige Menschen auf den Rängen saßen, und er dachte wieder an das alte Sprichwort, das sagte, dass der Paran nicht nur breit, sondern auch tief war.

Ihr Platz war zwar nicht in der Nähe der Loge, gehörte aber fraglos zu den besseren, wie er aus der Kleidung der Männer und Frauen um sie herum schließen konnte.

Der Stuhl des Basileios weiter oben war frei, auch vom Satrapen der Provinz war nichts zu sehen. Er bemerkte jedoch einige Prokuratoren und einen General, den er gleich am blank rasierten Schädel erkannte.

Optus hatte ihn ebenfalls entdeckt. »Ist das nicht Clavus Ambo? Der Kommandant der Vierten?«

Der Mann war eine Legende, ein Veteran zahlloser Schlachten, aber seine Legion stand in der Dämmermark und in den Hirschbergen an der Ostgrenze, nicht in Maricat. Gab es einen Grund für seine Anwesenheit?

Hinter Aureus raunte ein Bürger seinem Nachbarn zu: »Der General ist also wirklich in der Stadt. Das kann nichts Gutes bedeuten!«

»Er ist ein Befehlshaber der Legion. Was ist so erstaunlich daran, dass er dem Kaiser, wenn der nun schon einmal hier im Norden weilt, seine Aufwartung macht?«, lautete die geflüsterte Antwort.

»Stell dich nicht unwissender, als du bist! Ich hörte, er sei ein Parteigänger des Marcellus. Vielleicht hält der Purpurne es für angebracht, seine Truppen zu sammeln, für den Fall der Fälle.«

»Du bist ein Schwarzseher, Freund! Marcellus muss keine Truppen sammeln, denn er ist der Heres, der einzige logische Erbe, seit sein Bruder Maxos vom Pferd stürzte. Und der Basileios mag ja krank sein, aber mit dem Frostfieber kann man noch viele Jahre leben.«

»Wenn es das Frostfieber ist, wenn es das ist … Außerdem soll es noch einen Bastardsohn des Kaisers geben, den der Rat der Vierhundert irgendwo im Süden versteckt hält. Doch still, man weiß nicht, wer zuhört, und es ist gefährlich, von solchen Dingen zu sprechen.«

»Als wenn irgendjemand über anderes spräche in diesen Tagen«, sagte sein Gesprächspartner, aber dann unterhielten sie sich wieder über Geschäfte und über die Schwierigkeiten, Olivenbäume in Maricat zu ziehen. Auch die anderen Besucher schienen nur ein Thema zu kennen. Der Basileios, so hörte Aureus, sei auf einer Reise durch alle nördlichen Provinzen nach Maricat gekommen und habe eigentlich nur eine Woche in der Stadt verweilen wollen. Nun war er schon zwei Monate hier. Doch was genau dem Basileios fehlte, das war offenbar nicht durch die Mauern des Palastes gedrungen. Frostfieber kann es nicht sein, dachte Aureus, denn das fesselte den Befallenen stets nur kurz an sein Lager, um ihn erst nach einigen Jahren, in denen es immer wieder kam und ging, umzubringen.

Aureus kannte andere Krankheiten, die in Frage kamen. Die meisten stammten aus den nördlichen Sümpfen, und Menschen aus dem fernen Capia schienen besonders anfällig dafür zu sein. Er wusste das aus eigener leidvoller Erfahrung: Sein Adoptivvater war den Schwarzen Sumpfpocken erlegen, drüben in Alenum, der Hauptstadt der Dämmermark.

Aber er kannte kein Fieber, das einen Kranken über Monate ans Bett fesselte. Ob es vielleicht ein tückisches Gift war, das den Kaiser langsam tötete, wie mancher hinter vorgehaltener Hand murmelte?

Höflicher Applaus lief durch das Halbrund des Theaters. Aureus blickte hinauf zur Loge. Marcellus Valis, der Sohn des Kaisers, war erschienen. Er grüßte mit erhobener Hand in die Runde und nahm den Applaus der Menge mit einer leichten Verbeugung entgegen, bevor er sich den Würdenträgern zuwandte, die sich in der Kaiserloge drängten.

»Warum nennt man ihn eigentlich den Purpurnen, Hekator?«, fragte Stax.

Aureus kannte die Antwort, aber er hätte sie ungern in der Öffentlichkeit ausgesprochen.

Claudio Optus nahm ihm das ab: »Die einen sagen, das läge daran, dass der Heres sich gern in kostbare purpurne Gewänder hüllt, und wenn du hinaufblickst, kannst du sehen, dass das nicht falsch ist. Die anderen aber sagen, er habe seine Gefühle nicht im Griff und laufe oft so rot an, dass es schwer sei, ihn dann noch von seiner prächtigen Kleidung zu unterscheiden.«

In den Reihen vor ihnen lachte jemand halblaut.

Aureus warf dem Veteranen einen warnenden Blick zu. »Ich glaube, die Feierlichkeiten beginnen gleich. Setzt Euch endlich, Optus, und hört auf, an einem so schönen Festtag über Politik zu reden.«

Der Veteran grinste, deutete einen Salut an und nahm Platz.

Unten kehrten junge Mädchen in den weißen Gewändern der Lichtpriesterinnen mit grünen Palmwedeln den feinen Sand. Aureus blickte zum Himmel. Die Dämmerung hatte eingesetzt, und die Wärme des Tages begann sich zu verflüchtigen. Es war der Tag des Lichtfestes, der letzte Tag des Sommers. Es würde rasch noch kälter werden. Aureus kannte das nur zu gut, er war schließlich gar nicht weit östlich von hier geboren.

»Nach Euch, Herr.« Scramo Narth hatte einen Teppich zurückgeschlagen und die Falltür zu seinem Keller geöffnet.

»Da hinunter?«, fragte der Fremde. Er hielt sich immer noch im Schatten, und als dann doch das Licht der Talgkerze unter die Kapuze drang, sah Scramo, dass er sich inzwischen auch noch ein Tuch vor das Gesicht gebunden hatte. Dieser Mann war wirklich vorsichtig.

»Ihr seid doch ein Diener der Dunkelheit, oder nicht? Na schön, wenn Ihr mir nicht traut, gehe ich eben voran. Haltet das.« Er drückte dem Verdutzten den Korb mit dem Hahn in die Hand und stieg die alte Leiter hinab in das niedrige Gewölbe. Die Feuchtigkeit, die durch die buckligen Mauern sickerte, verhinderte, dass er hier seine Felle einlagern konnte, wie er es beim Kauf des Ladens vorgehabt hatte. Ganz offensichtlich hatte der Verkäufer ihn getäuscht und über den Tisch gezogen.

Scramo hatte dann gedacht, dass er den Raum noch für etwas anderes gebrauchen könne. Aber wie oft hatte er das Ritual hier unten abgehalten? Kein einziges Mal, nicht in seinem Haus, nicht in der Stadt. Es war klüger, das an anderen Orten zu tun. Am Ende hatte er nur Krüge mit Öl, Fett, Wein und Milch hier eingelagert, sonst war der Raum leer. Er stellte die Kerze auf den Boden und ließ sich von seinem Gast den Korb und dann den Kessel hinabreichen.

»Passt auf Euren Kopf auf, Herr.«

»Was geschieht nun, Bruder?«

»Nur Geduld, Ihr werdet es gleich sehen.« Scramo drückte einen Nagel in den lehmigen Boden, spannte eine Schnur und zog mit einem zweiten Nagel einen großen Kreis. »Es ist nicht vollkommen, aber unter diesen Umständen das Bestmögliche.«

»Ein Zauber?«

Scramo antwortete nicht. Was sollte es sonst sein, wenn kein Zauber? Er versuchte, sich an die genaue Form und Reihenfolge der nötigen Symbole zu erinnern, und ordnete sie den Himmelsrichtungen zu. Der Kreis musste zwei Männer aufnehmen, also größer sein als sonst. Vielleicht sahen die Zeichen deshalb so dürftig aus. Norden lag doch dort, oder? Ja natürlich.

Etwas, nein, alles an der Sache widerstrebte ihm, und er brauchte länger als gedacht, um den Kreis und die magischen Zeichen zu vollenden. Er fuhr mit der Hand über die Linien im Lehm und murmelte eine erste Beschwörungsformel. Sofort hatte er das Gefühl, dass die Dunkelheit in die gekratzten Vertiefungen sickerte.

ENDE DER LESEPROBE