Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Unsere Musikkultur verlangt, dass wir Musik vorplanen, üben und ihre Ausführung perfekt beherrschen. Improvisieren, die Kunst, mit ungeplanten und unvorhersehbaren musikalischen Situationen umzugehen, stellt dies in Frage. Wer sich darauf einlässt, erfährt einen Kosmos von schöpferischen Momenten, in dem Musik als etwas ganz Eigenes erlebbar wird. Jenseits rein musikstilbezogener Improvisationsanleitungen und "Methods and Tools" beschreibt dieses Buch die allgemeinen Voraussetzungen, die intensivem und qualitätvollem Improvisieren zugrunde liegen. Dabei steht im Fokus das Improvisieren als ein Spiel mit dem Unvorhergesehenen und Unerhörten. Improvisieren lernen kann nur gelingen, wenn auch die Probe oder der Unterricht dem Improvisieren angemessen gestaltet wird. Deshalb stellt dieses Buch Überlegungen zur Unterrichtsgestaltung, Lehrkompetenz und Ensembledynamik vor. Aber nicht nur in der Schule und Musikschule, sondern auch in nichtschulischen Bereichen kann Improvisation die Vision von Musikmachen als für alle zugängliche "soziale Kunst" einlösen, die unsere erstarrte Musikkultur ergänzt und professionelle und nichtprofessionelle MusikerInnen erfüllt und bereichert. Reinhard Gagel ist Improvisor/Researcher, Musikpädagoge und aktiver Improvisationsmusiker. Er leitet den Fachbereich Improvisation und Komposition an der Rheinischen Musikschule der Stadt Köln. Als Lehrbeauftragter für Gruppenimprovisation und Didaktik der Improvisation lehrt er an der Universität für Musik und Darstellende Kunst Wien.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 348
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Improvisation als soziale Kunst
Improvisation als soziale Kunst
ÜBERLEGUNGEN ZUM KÜNSTLERISCHEN UND DIDAKTISCHEN UMGANG MIT IMPROVISATORISCHER KREATIVITÄT
REINHARD GAGEL
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Bestellnummer SDP 118
ISBN 978-3-7957-8666-3
© 2015 Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz
Alle Rechte vorbehalten
Als Printausgabe erschienen unter der Bestellnummer UM 5009
©2010 Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz
www.schott-music.com
www.schott-buch.de
Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Nutzung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlags. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne eine solche Einwilligung kopiert und in ein Netzwerk gestellt werden. Das gilt auch für Intranets von Schulen oder sonstigen Bildungseinrichtungen.
Wie über Improvisieren und Lernen nachdenken?
Grundlegende Überlegungen zum „Betriebssystem“ des improvisatorischen Prozesses
Das Unvorhergesehene in der Improvisation – Emergenz
Selbstorganisation
Auf der Schneide des Augenblicks: Wirklichkeit und Wechselwirkungen
Komplexität und Qualität
Affektlogik
Zusammenfassung: System Improvisation
Wirkfaktoren: Improvisieren in der Situation
Situative Aspekte der Improvisation
Die Haltung des Improvisierens
In Interaktion entsteht Form
So-und-auch-anders: das Material zum Improvisieren
Der Hörraum des Improvisierens
Intensität des Körpers: Klang-Gesten
Es improvisiert: das Selbst auf der Gegenwartsbühne
Zusammenfassung: Improvisieren als Aktions- und Erfindungsprozess
Proben- und Unterrichtsmodelle: Improvisieren in der Praxis
Das Besondere am Improvisieren
Auftauchende Gestalten in „Mélismes“
Schwarmbildung: selbstorganisiertes Improvisieren im Ensemble
Von Anziehungspunkten und Zieltönen
Gestisches Musizieren am Instrument
Gestisches Improvisieren nach Bildern
Sieben Impulse: Textkompositionen im „Dazwischen“
Neue Klänge für den Blues – Improvisieren zwischen Pop und Neuer Musik
Improvisieren proben, anleiten und lernen
Abstufungen des Unvorhergesehenen und ihre didaktische Analyse
Gestalten und Lernen durch Ermöglichung
Unterricht und Probe als reflektierte Improvisation
Was lernt man eigentlich beim Improvisieren?
Musikalische Qualität: Wenn diese Musik aus dem Innern kommt… höre!
Proben und Probenschritte
Was tut ein Improvisationsleiter?
Instrumentaltechnik und Üben
Improvisation als soziale Kunst
Mitspielräume: Orte sozialer Kunst und Vision gelebter Improvisation?
Thesen zur Improvisation als sozialer Kunst
Literaturverzeichnis
Wie über Improvisieren und Lernen nachdenken?
Was ist Improvisation? – Ein Erklärungsprinzip.
(frei nach Gregory Bateson)
Wer sich aufmacht, übers Improvisieren nachzudenken, muss sich klar sein, dass er es mit einem definiert labilen Geschehen zu tun hat, dessen Charakter flüchtig und einmalig ist. In jeder Improvisation entsteht etwas, das im Ganzen oder in Details unvorhersehbar ist. Jede Improvisation unterscheidet sich per Definition von der nächsten und entzieht sich so einer allgemein gültigen Bewertung.
Es ergeben sich damit gleich am Anfang einige Grundprobleme. Wir können ja nicht jede Improvisation in ihrer jeweils eigenen Unverwechselbarkeit betrachten. Wir müssen vielmehr ein Verfahren finden, mit dem Einzelfälle sich verbinden lassen und übertragbare Aussagen möglich werden. Dabei gibt es folgende Schwierigkeiten:
Wenn ich dies tue, muss ich Begriffe verwenden, die die spezielle Eigenheit in Frage stellen. Ich widerspreche dem Einmaligen durch Verallgemeinerung.
Mit vorbestimmten Kriterien lege ich Charakter und Ergebnisse einer Improvisation im Vorhinein fest.
Unvorhergesehenes kann eigentlich aus Prinzip nicht im Vorhinein beschrieben werden.
Viele Musikerinnen und Musiker erleben in ihrer künstlerischen Praxis, dass ihre Beschäftigung mit Improvisation in höchstem Maß individuell und scheinbar nicht übertragbar bzw. verallgemeinerbar ist. Jeder Improvisator hat seinen eigenen Weg, sich zu qualifizieren, als individuellen Prozess „von innen heraus“. Improvisieren kann dieser Auffassung nach nicht gelehrt werden: Wenn eine Lehrkraft überhaupt gebraucht wird, dann im jeweils besonderen „Meister-Schüler“-Verhältnis. Improvisatoren lernen voneinander in Workshops, aber nicht in der Musikschule. Institutionen widersprechen dem Gedanken einer „freien Musik“. Eine weitere Meinung improvisierender Musikerinnen und Musiker ist, dass Nachdenken über Improvisation aus all diesen Gründen nicht funktionieren kann, und sie sind Anhänger eines Practicing-Ideals: handwerkliche Verfeinerung am Instrument gepaart mit „Rauslassen“ in der Improvisationssituation. Spieltechniken, Patterns und Licks beherrschen bedeutet aber nicht automatisch, gut zu improvisieren.
Improvisierend nachdenken: ein neues Paradigma
Wenn ich im Folgenden hier übers Improvisieren reflektiere, muss ich fragen: Wie kann das gehen, ohne den genannten Charakter der Improvisation zu verletzen und ohne einem einfachen Practicing-Ideal nachzuhängen? Dazu müssen wir Folgendes bedenken:
Das Denken und Sprechen übers Improvisieren sollte der Einmaligkeit und Unvorhersehbarkeit des musikalischen Prozesses gerecht werden.
Die Erkenntnisse sollten auf eine Weise verallgemeinerbar sein, die keine Ergebnisse determiniert (Wege oder Formen festlegt) und keine dem jeweiligen Prozess fremde Logik aufzwingt.
Es sollte deshalb darum gehen, nicht in einer Theorie zu erstarren, sondern einen anderen Weg zu wählen.
Wir untersuchen Improvisieren als ein Zusammenwirken von beweglichen Elementen, die in der Improvisationssituation zu Ergebnissen bzw. zu musikalischen Strukturen führen. Diese Elemente lassen sich beschreiben und die Bewegungen, die zwischen ihnen wirken, bestimmen: als Kommunikationen. Grundüberzeugung dieser Überlegungen ist, dass musikalisches Improvisieren aus der Kommunikation der handelnden Menschen und aus der Wechselwirkung der Parameter des Klangmaterials entsteht. Dabei kommt dem zeitlichen Faktor dieses Wirkens eine hohe Bedeutung zu. Improvisierende bewegen sich in Echtzeit, ihre Bewegungen sind real, ihr Handeln ist situativ. Unter dieser Perspektive können wir Aussagen erhalten, die dem Improvisieren angemessen sind. Wir können den Prozess der improvisatorischen Strukturbildung mit offenem Ausgang differenziert reflektieren.
Systemtheorie
Wollen wir diesem Prozesscharakter des Gegenstands gerecht werden, dann müssen wir eine Theorie zur Hilfe nehmen, die prozessorientiert ist. Das ist die Theorie von Systemen.
Systemforschung geht grundsätzlich davon aus, dass innerhalb von Systemdynamiken nichtkausale Zusammenhänge herrschen und unvorhergesehene Ergebnisse entstehen. Das beschreiben einige Autoren mit dem Begriff der „Emergenz“.
Systemforschung beschreibt elementar Systeme, bestehend aus Elementen, die wechselwirken und die sich selbst organisieren. Dabei spielt die Kommunikation der Elemente eine besondere Rolle.
Systemforschung benennt das Ergebnis von Emergenz als Strukturbildung im sensiblen „Dazwischen“ von Chaos und Ordnung. Ein anderer Begriff dafür ist „Komplexität“, der zudem die Qualität des Prozesses beschreibt.
Die systemische Psychotheorie der Affektlogik hilft erklären, wie „Einfälle“ und „Sprünge“ (elementare Kategorien des improvisatorischen Prozesses) aus bioenergetischen Wechselwirkungen im handelnden Menschen entstehen.
Improvisieren als soziale Kunst
Damit haben wir eine Grundlage. Denn nun ist es möglich, Einzelfälle und individuelle Kompetenzen über Elemente und ihre Bewegungen zu definieren. Diese können lernend erforscht, erfahren und differenziert werden, ohne dass eine lineare, kausale Logik bestimmte Ergebnisse determiniert. Mit diesen Begriffen können wir auch über Lernen und Lehren von Improvisation nachdenken. Es können dann Elemente von Planung und Durchführung von Unterricht und Proben benannt werden, mit denen ein dem Improvisieren angemessenes Lehren ermöglicht wird. Zuletzt können wir das System Improvisation auch als so beweglich einstufen, dass es als soziale Kunst verstanden werden kann. Diese Kunstausübung ermöglicht die spontane musikalische Ausdrucksfähigkeit, das Entstehen von Werken aus der musikalischen Kommunikation und die Beteiligung Vieler am schöpferischen Prozess.
Die Struktur des Textes
In diesem Text gehe ich das „System Improvisation“ auf verschiedenen Ebenen an. Diese Ebenen sind nicht hierarchisch, sondern sie wirken vielfältig aufeinander ein und durchdringen sich in einem endlos geflochtenen Band.
Ebene 1: Das Betriebssystem der Improvisation. Hier benenne ich Grundprinzipien der systemischen Dynamik des Wandels: Emergenz, Selbstorganisation, Wechselwirkung, Kommunikation, Komplexität. Ein Kapitel wird sich der Affektlogik widmen.
Ebene 2: Wirkfaktoren. Hier beschäftige ich mich mit Haltungen, Handlungen, Wahrnehmungen und Körperlichkeit in der Improvisationssituation: Interaktion, Klangmaterialbeschaffenheit, Hören, Gesten und Präsenz.
Ebene 3: Erläuterung der Wechselwirkungen an modellhaften Praxissituationen. Dabei beschreibe ich künstlerische Prozesse verschränkt mit didaktischen Reflexionen. Alle Modelle sind praktische Unterrichts- und Übungsvorschläge.
Ebene 4: Didaktische Überlegungen zum Lernen und Lehren der Improvisation. Hier stelle ich aus den vorigen Kapiteln abzuleitende Konsequenzen für den pädagogischen Umgang mit Improvisation dar. Neben praxisorientierten Folgerungen finden sich auch allgemein didaktische Überlegungen zu einem schöpferisch-experimentellen Musikunterricht.
Ebene 5: Improvisieren als soziale Kunst. Hier beschreibe ich Anwendungsmöglichkeiten in kulturellen Kontexten und entwickle Visionen einer Beschäftigung mit Improvisation in gesellschaftlichen Zusammenhängen und Institutionen.
Ich wünsche mir, dass dies dazu beträgt, das Gelingen bzw. Misslingen von Improvisationen besser zu verstehen. Ich möchte kompetent machen dafür, Musik alleine und mit anderen spontan und selbstverständlich zu improvisieren. Ich möchte anregen, Improvisieren zu unterrichten und seine Qualitäten zu erleben und zu steigern. Ich möchte vorschlagen, mit Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen, mit Nichtinstrumentalisten, mit Schülerinnen und Schülern, Studierenden und Profis an dem Erlebnis des Improvisierens teilzunehmen. Wenn wir verstehen, wie improvisatorische Dynamik funktioniert, können wir mit großem Gewinn spielen, proben, lernen und lehren.
Grundlegende Überlegungen zum „Betriebssystem“ des improvisatorischen Prozesses
Definitionen: Das Unvorhergesehene der Improvisation
Um Improvisation zu definieren, wird sie meist der Komposition gegenübergestellt. Aus dieser Dichotomie werden Kriterien abgeleitet, die die eine gegen die andere abgrenzen: Nicht-Schriftlichkeit gegen Notation, Formlosigkeit gegen Form, Moment gegen Architektur, Echtzeit gegen Zeitplanung. Die Kompositions- und Improvisationspraxis der vergangenen Jahrzehnte hat dazu beigetragen, diese dichotome Unterscheidung zu differenzieren und das starre Gegenüber in vielfältig verzahnte Komplexe aufzulösen.1
Solche Übergänge sprechen für das Interesse der Improvisatoren und der Komponisten am jeweils anderen. In der Nachbarschaft solcher „Rekonfigurationen“ und „Grenz-Revisionen“ (Wilson 2003 a, S. 46 ff.) befindet sich auch die lexikalische Begriffsdefinition „Improvisation“ im MGG. Sie differenziert zunächst allgemein, ohne auf Stile u. Ä. einzugehen, Improvisation in Hinsicht auf Durchdringungen, Verzahnungen und Mischungen. Vor allem baut sie auf dem Begriff des „Unvorhergesehenen“ auf, der die besondere Qualität von Improvisation folgendermaßen benennt: „Improvisation bedeutet im allgemeinen Sprachgebrauch unvermutetes, unvorbereitetes, (im lat. Wortsinne adjektivisch: improvisus, adverbial ex improviso) unvorhergesehenes Handeln, genauer: eine Handlung (u. U. auch das Ergebnis einer Handlung), die in wesentlichen Aspekten als unvorhergesehen (eventuell auch unvorhersehbar, lat. improvisibilis) erscheint – und zwar nicht nur für die von der Handlung betroffene(n) Person(en), sondern auch für die handelnden Person(en).“ (MGG 2003)2
Mit dieser Definition wird ein Vorstellungs- und Wortfeld erschlossen, in dem Unvorhergesehenes, Unvorhersehbares, Unerwartetes, Unvermutetes, Unvorbereitetes, aber auch der besondere Einfall und individuelle Spontaneität für die Improvisation als charakteristisch angesehen werden. Hier wird der kreative „Sprung“ des Handelns ins Zentrum der musikalischen Definition gerückt. Er erzeugt die „neue“ Qualität, welche nicht vorhersehbar aus dem „Nichts“ auftaucht. Auch die Praktiker freier Improvisation verwenden ähnliche Begriffe zur Beschreibung ihrer Kunstpraxis: „In einem Konzert der ausschließlich improvisierten Musik werden die Klänge und Ideen der beteiligten Spieler unvorhersehbar im Sinne von unabgesprochen, ohne vorbestimmten Plan zusammengesetzt, also per Definitionem ‚komponiert‘. Je nach Haltung des Spielers und nach Raumästhetik wird, gesteuert von spontanen Einfällen als Ergebnis der Umstände und Möglichkeiten der Konzertsituation sowie der geistigen und körperlichen Verfassung der Spieler, Impulsen gefolgt, die zu klanglichen oder performativen Ereignissen führen. Die eingetretenen Ereignisse lassen sich nicht an einem präexistenten Prinzip messen, sondern stehen als Performanceereignis für sich selbst.“ (Hübsch 2003)
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!