In den Ketten der Angst - Dania Dicken - E-Book

In den Ketten der Angst E-Book

Dania Dicken

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Beschreibung

In Washington, D.C. werden über Wochen hinweg immer wieder Frauenleichen gefunden – misshandelt, teilweise vergewaltigt, brutal getötet. Nur zögerlich bittet Detective Benny Morgan FBI-Profilerin Libby Whitman um Hilfe, als es darum geht, aus den unterschiedlichen Mordfällen ein gemeinsames Profil abzuleiten. Er weiß nur zu gut, welchen wunden Punkt er damit bei Libby trifft. Gemeinsam mit ihren Kollegen von der Behavioral Analysis Unit liefert Libby ihm ein Profil, das in die Kreise des organisierten Verbrechens führt. Als sie Hinweise darauf erhalten, dass eine siebzehnjährige Schülerin den Verbrechern in die Hände gefallen ist, riskiert Benny sein Leben in einer verdeckten Ermittlung, um das Mädchen rechtzeitig zu finden – nicht ahnend, welche fatale Kettenreaktion dadurch ausgelöst wird ...

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Prolog
Montag, 20. Juni
Dienstag, 21. Juni
Mittwoch, 22. Juni
Samstag, 30. April
Mittwoch, 22. Juni
Donnerstag, 23. Juni
Freitag, 24. Juni
Dienstag, 10. Mai
Samstag, 25. Juni
Sonntag, 26. Juni
Montag, 27. Juni
Dienstag, 28. Juni
Mittwoch, 29. Juni
Donnerstag, 30. Juni
Freitag, 1. Juli
Montag, 4. Juli
Nachbemerkung
Impressum

 

 

 

 

 

 

 

Dania Dicken

 

In den Ketten der Angst

 

Libby Whitman 11

 

 

Thriller

 

 

 

 

 

 

 

 

Freundschaft ist ein Geschenk der Götter und die kostbarste Gabe für den Menschen.

 

Benjamin Disraeli

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Prolog

 

Sie sehnte den nächsten Schuss herbei. Den Moment, wenn der Stich mit der Nadel die Erlösung brachte, die sie so dringend brauchte. Die Erlösung, mit der jeder Schmerz verlosch.

Fentanyl war wie flüssiges Gold. Wenn es durch ihre Adern jagte, fühlte es sich an, als würde sie über einen Regenbogen fliegen. In diesem Moment gab es keine Probleme mehr. Keine Schwierigkeiten. Keinen Schmerz, kein Leid, keine erstickten Schreie.

Ihr Blick verlor sich im Nichts, während sie an ihre Heimat dachte. Sie war so voller Hoffnung gewesen, als sie in ein neues Leben aufgebrochen war. Ein besseres. Ein Leben voller Freiheit, voller Möglichkeiten.

Bekommen hatte sie Dunkelheit, Gestank und Angst.

Lethargisch hob Ana den Kopf und blickte auf die Handschellen, die das eine Ende der Ketten markierten. Das andere war in der Wand verankert. Jeder Versuch, die Ketten zu lösen, hatte sich als hoffnungslos erwiesen – und die Kratzspuren an der Wand zeugten davon, dass sie nicht die Erste war, die es versuchte.

Nach Wochen der Gefangenschaft in Ketten waren ihre Handgelenke gerötet und wundgescheuert. Fentanyl hätte die Schmerzen ausgelöscht. Diese und alle anderen – auch die der unzähligen kleinen Brandwunden auf ihrer Haut.

Würde es jemals aufhören?

Als die Tür aufflog, erwachte die Hoffnung jäh wieder – nur um gleich wieder zu verschwinden, als sie den Mann erkannte, der in der Tür stand. Er war nicht gekommen, um sie zu erlösen. Er war gekommen, um sie zu beschmutzen.

Ana machte sich klein, als er zu ihr ging und ihre Handschellen von den Ketten löste. Sie versuchte gar nicht, sich zu wehren – das war keine gute Idee, das hatte die Erfahrung sie gelehrt.

Er packte sie an den Handschellen, zerrte sie hoch und schleifte sie hinter sich her aus dem Raum. Sie folgte ihm stolpernd und versuchte, nicht zu stürzen. Aber der Weg war nicht weit. Als sie das Bett erreicht hatten, wusste sie, dass sie am Ziel waren. Tränen stiegen ihr in die Augen und sie wagte nicht, ihn anzusehen, als sie fragte: „Hast du was für mich?“

„Das musst du dir erst verdienen“, erwiderte er. „Wirst du brav sein?“

Beinahe entrang sich ein Schluchzen ihrer Kehle, aber sie war still, als er sie aufs Bett drückte und ihre Handschellen mit einem anderen Paar Handschellen am Kopfende des Bettes verband.

Er würde es tun, das wusste sie. Es gab nichts, was sie unternehmen konnte, um das zu verhindern. Er würde sich nehmen, was er wollte – genau wie die anderen. So lief das immer.

Aber die Aussicht auf eine Belohnung ließen sie gehorchen. Sie wimmerte nicht und sie wehrte sich nicht, als er ihre Beine auseinander drückte und sich schwer über sie beugte. Sie konnte seinen schweren, alkoholdurchsetzten Atem riechen, außerdem eine Mischung aus einem billigen Aftershave und Schweiß. Sein Gewicht lastete auf ihr, als er sich nahm, wovon er glaubte, dass es ihm zustand. Ana wehrte sich nicht, sie erduldete es einfach und ließ es über sich ergehen, denn er würde sie belohnen, wenn sie brav war. Auf Gold zum Regenbogen ... dafür hätte sie alles getan.

Sie blickte an ihm vorbei, deshalb sah sie es nicht kommen, als er seine Hände um ihren Hals schloss und mit brutaler Kraft zudrückte. Ana sah nur noch Sternchen und war gefangen in einem Strudel aus Panik und Schmerz. Vergeblich versuchte sie, sich zu wehren, zappelte hilflos und wimmerte in Todesangst. Warum ließ er nicht los? Er musste doch loslassen. Sie bekam keine Luft mehr. Ihr Blick verengte sich, sie strampelte panisch mit den Beinen.

Sie würde sterben, wenn er nicht losließ. Sie würde sterben ... das wollte er doch nicht?

 

Montag, 20. Juni

 

„Ihr habt nun mal eine Schlüsselrolle in den Ermittlungen wegen der Terroranschläge gespielt. Das zutreffende Profil war von euch, ihr habt Salim verhört, du hast Leyla aufgetrieben – und nicht zuletzt warst du diejenige, die zum Ende der Geiselnahme beim MPDC beigetragen hat.“ Nick sagte das alles mit Blick auf Libby, die in ihrem Stuhl immer kleiner wurde. Er meinte das nicht so, das wusste sie, aber dummerweise hatte er Recht. Sie hatte weitaus mehr im Mittelpunkt gestanden, als ihr lieb war.

„Besonders wegen deines Alleingangs beim MPDC wird man versuchen, dich auseinanderzunehmen. Die Dienstaufsicht hat damit ja nur begonnen, vor Gericht wird es weitergehen. Ich hoffe, dir ist bewusst, dass du damit auch nur deshalb durchkommst, weil das Ergebnis für sich spricht.“

„Ich weiß ... keine Alleingänge mehr.“

Nick seufzte. „Manchmal bist du Sadie und Matt viel zu ähnlich. Mir ist klar, dass du weißt, was du tust, und ich stehe immer hinter dir. Trotzdem handelst du manchmal sehr riskant.“

„Und dein Kopf rollt dann ebenfalls.“ Libby nickte wissend und ergänzte: „Es tut mir leid, aber es ging da um Owen. Das weißt du. Ich konnte nicht einfach untätig herumstehen und riskieren, dass er stirbt.“

„Ich weiß. Ich möchte euch ja auch nur daran erinnern, dass ihr mit besonderer Sorgfalt vorgehen solltet. Das ist ein Fall nationalen Interesses und wir dürfen uns hier einfach keine Fehler erlauben.“

Julie nickte. „Alles klar. Du kannst dich auf uns verlassen.“

„Ich weiß“, sagte Nick und lächelte. „Also dann, wir sehen uns morgen.“

„Hab einen schönen Abend“, sagte Julie, was Nick den beiden auch wünschte. Sie standen auf, kehrten an ihre Schreibtische zurück und schalteten ihre Computer aus, bevor sie das Gebäude verließen und auf dem Parkplatz zu Julies Auto gingen. Sie mussten es erst einmal lüften, weil es den ganzen Tag in der prallen Sonne gestanden hatte, und schon der Frühsommer konnte in Virginia ziemlich heiß werden. Die Klimaanlage lief auf Hochtouren, während Julie zum Freeway fuhr.

„Nick ist der Beste“, sagte sie.

„Das stimmt. Ich glaube, mit jedem anderen Vorgesetzten wäre ich meinen Job längst los!“, erwiderte Libby und lachte.

„Er hat aber Recht – du weißt, was du tust. Du leistest großartige Arbeit. Die Nummer bei der Geiselnahme muss man ja auch erst mal hinkriegen, das schaffen andere nicht mal dann, wenn sie nicht befangen sind.“

Libby lächelte bloß, erwiderte aber nichts. Julie war jedoch noch nicht fertig.

„Du warst ja gerade deshalb so gut, weil du befangen warst. Weil es um Owen ging. Das hätte niemand in dem Moment besser machen können, denn natürlich war es deine Absicht, ihn da lebend rauszuholen. Das hat dich nicht beeinträchtigt, sondern bestärkt.“

„Erklär das mal der Dienstaufsicht“, sagte Libby mit einem schiefen Grinsen.

„Ach, diese Bürohengste ... die hätten ja mal versuchen können, das so hinzukriegen!“

Amüsiert blickte Libby auf die Straße, erwiderte jedoch nichts. Sie liebte Julies direkte Art, denn ihre beste Freundin sagte immer ganz offen, was sie dachte. Das schätzte nicht jeder, aber Libby fand es großartig.

„Und jetzt Sushi ... ich kann es kaum erwarten“, sagte Julie, als sie in Springfield den Freeway verließen, um Owen abzuholen.

„Da hattest du eine ziemlich gute Idee“, sagte Libby. Am Vormittag hatte Julie spontan Heißhunger auf Sushi entwickelt, was bei Libby prompt auf Gegenliebe gestoßen war, und auch Owen hatte dagegen nichts einzuwenden.

Julie hielt vor Libbys und Owens Haus und Libby wollte schon aussteigen, um Owen zu holen, als die Haustür geöffnet wurde und er darin erschien. Libby stieg trotzdem aus und begrüßte ihren Mann mit einer vorsichtigen Umarmung, bevor sie ihn küsste.

„Schön, dich zu sehen“, sagte sie.

„Ich freue mich auch, euch zu sehen. Ich habe schon richtig Hunger!“, sagte er, bevor er einstieg und Julie ebenfalls begrüßte.

„Wie war dein Tag?“, fragte Libby, während sie sich auf den Weg nach Arlington zur Sushibar machten.

„Langweilig. Ich bin froh, wenn ich endlich wieder zur Arbeit kann. Nicht zu fassen, wie lang Rippenbrüche sich hinziehen können.“

„Du willst wieder arbeiten, oder?“, fragte Julie grinsend.

„Ihr habt ja keine Ahnung! Ich hasse es, wenn ich zu Hause herumsitzen muss, zumal ich weiß, dass die Kollegen alle Hände voll zu tun haben. Benny meinte da was von mehreren Mordfällen, bei denen sie jetzt nach einem Zusammenhang suchen. Sie könnten meine Hilfe gut brauchen, aber nein ...“

„Hilf doch vom Sofa aus mit“, schlug Libby vor.

„Ja, vielleicht mache ich das, bevor ich noch die Wände hochgehe.“

„Mein armer Mann“, sagte sie mitfühlend. „Ich kenne das, ich hasse es auch, wenn ich krankgeschrieben bin.“

„Ich finde das überflüssig. Am Schreibtisch sitzen kann ich bestimmt prima, ich nehme ja nicht mal mehr Schmerzmittel. Und wie war es heute bei euch?“

„Wir sind mit den Berichten zu den Terroranschlägen beschäftigt und bereiten alles für die Staatsanwaltschaft vor“, sagte Julie.

„Oh, so eine Freude ...“

„Nick hat mich vorhin daran erinnert, dass ich wohl öfter aussagen muss und vorsichtig damit sein soll, was ich sage. Mit meinen Alleingängen habe ich mich ziemlich angreifbar gemacht“, sagte Libby.

„Das mögen sie gar nicht, oder?“, fragte Owen grinsend.

„Absolut nicht. Du kennst doch das FBI.“

Während der Fahrt nach Arlington unterhielten sie sich über die Arbeit. Schließlich verließ Julie den Freeway über die Abfahrt, die Libby auch immer benutzt hatte, um nach Hause zu kommen. Das war ein eigenartiges Gefühl für sie. Sie war froh, nicht mehr dort zu leben, denn das hätte sie zu sehr an alles erinnert, was dort passiert war. Schlimm genug, dass sie so viele Narben davongetragen hatte, die sie ihr Leben lang daran erinnern würden.

Julie parkte auf dem Parkplatz der Mall und sie wählten den Hintereingang am Kino vorbei, um zur Sushibar zu kommen. Noch herrschte nicht viel Betrieb, weshalb sie nicht lang auf ihr Essen warten mussten. Das kam Libby sehr gelegen, denn sie hatte das Gefühl, kurz vorm Verhungern zu stehen.

„Heute Nachmittag habe ich übrigens mit Byron telefoniert“, berichtete Owen. „Er fühlt sich wohl im Entzugsprogramm – so wohl ein Junkie sich beim Entzug fühlen kann, würde ich sagen. Er sagte doch tatsächlich, dass er froh ist, dass ich ihm das rausgesucht habe.“

Libby grinste. „War dein Tipp etwa gut?“

„Ich kenne die Entzugseinrichtungen hier in der Gegend ein wenig, man weiß ja, welchen Ruf die haben. Byron meinte jedenfalls, das wäre die beste Anlaufstelle, die er je hatte. Allerdings kommt er auch besser mit Suboxone zurecht und kann sich jetzt vorstellen, bald ohne auszukommen.“

„Das wäre doch toll“, sagte Julie.

„Ja, ich bin auch verdammt froh darüber. Mein Bruder muss endlich clean werden.“

„Diesmal schafft er es bestimmt.“

Libby hoffte das ebenfalls. Sie würde nie vergessen, wie sie Byron mit blauen Lippen am Boden seines Badezimmers gefunden hatte.

Sie ließen sich Zeit beim Essen und so war es schon fast halb neun, als sie nach Hause kamen. Während sie dem Straßenverlauf zu ihrem Haus folgten, entdeckte Libby Kyles Auto vor der Auffahrt und stellte mit einem zweiten Blick fest, dass Kyle auf den Treppenstufen vor der Haustür saß und wartete. Julie hatte ihn auch schon bemerkt und hätte beinahe abrupt gebremst. Sie fuhr näher ans Grundstück heran und hielt gleich vor Kyles Auto, bevor sie ausstiegen und der Auffahrt zum Haus folgten. Mit gesenktem Kopf stand Kyle auf, sein Gesichtsausdruck verriet seine Anspannung.

„Du hier“, sagte Julie mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Ja, ich hier ... ich würde gern mit dir reden.“

„Wartest du schon lang?“

Kyle schüttelte den Kopf. „Ich bin erst vor ein paar Minuten gekommen und hatte vermutet, dass ihr auswärts zum Essen seid.“

„Stimmt“, erwiderte Julie. Für einen Moment schwiegen alle, während Owen sich ein Herz fasste und die Haustür aufschloss.

„Können wir reden?“, fragte Kyle.

„Sicher“, sagte Julie und ließ ihm den Vortritt. Kyle bewegte sich vorsichtig, während er das Haus seiner Freunde betrat. Libby beobachtete ihn dabei aufmerksam.

Es war nicht das erste Mal, dass er kam, um nach seiner Frau zu sehen und mit ihr zu sprechen. Julie war nun schon seit fast zwei Wochen bei ihr und Owen und während Kyle sich anfangs darauf beschränkt hatte, ihr zu schreiben und mit ihr zu telefonieren, war er vor einer guten Woche schon einmal aufgetaucht, um mit ihr zu sprechen. Das Gespräch war allerdings nicht besonders gut verlaufen, sondern hatte mit vielen Tränen auf Julies Seite geendet, so dass Kyle es von sich aus abgebrochen hatte. Dass er Julie mit seiner Kollegin Ashley hintergangen hatte, saß sehr tief bei Julie.

Während Libby, Owen und Julie ins Wohnzimmer gingen und Libby Kyle etwas zu trinken anbot, blieb er unschlüssig im Türrahmen stehen und fragte: „Wo können wir denn allein reden?“

„Damit es endet wie beim letzten Mal?“ Julie schüttelte den Kopf. „Wir können hier reden. Libby und Owen wissen sowieso alles.“

Kyle holte tief Luft und seufzte. „Na schön. Wenn du drauf bestehst.“

„Oder geht es um irgendwelche schlüpfrigen Details?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein, ich wollte nur unter vier Augen mit dir sprechen. Es ist unsere Ehe.“

„Das war dir doch auch egal, als du mit Ashley ins Bett gegangen bist.“

Betreten senkte Kyle den Kopf. „Es tut mir immer noch unendlich leid, Jules. Es war dumm von mir und es ist nicht zu entschuldigen.“

„Nein, da hast du wohl Recht.“ Julie setzte sich aufs Sofa und Kyle bat nun doch um ein Bier, das Owen ihm wortlos in die Hand drückte.

„Ihr könnt auch hier allein reden“, bot Owen an.

„Das ist euer Wohnzimmer. Bleibt ruhig hier“, sagte Julie und ihr Unterton verriet, dass es ihr ernst damit war.

„Es geht mich aber nichts an“, sagte Owen, während Libby beschloss, sich zu Julie zu setzen. Wenn ihre Freundin nicht allein mit Kyle sprechen wollte, würde sie sie auch nicht allein lassen.

Kyle nahm einen Schluck Bier und holte tief Luft. „Willst du überhaupt wieder nach Hause?“

Julie zögerte mit ihrer Antwort. „Ich weiß es nicht. Ich frage mich immer noch, ob ich das je vergessen kann.“

„Liebst du mich denn noch?“

Die Blicke der beiden trafen sich und Julie nickte. „Ja, sehr sogar. Deshalb tut das auch so weh.“

Kyle stellte die Bierflasche weg und beugte sich vor. „Ich wünschte, ich könnte es ungeschehen machen.“

„Ich verstehe immer noch nicht, was du dir gedacht hast. Dachtest du ...“

„Ich habe mir gar nichts dabei gedacht, das ist es ja. Ich hatte getrunken und da war die Gelegenheit. Da war eine Frau, die Sex mit mir wollte und ...“ Er zögerte kurz, sagte es dann aber trotzdem. „Eine Frau, die nicht nur mit dem Kopf in Büchern steckt und Abhandlungen über Serienmörder schreibt.“

Auch von der Seite sah Libby, wie Julie sämtliche Farbe aus dem Gesicht wich. „Das ist immer noch mein Job, Kyle.“

„Das weiß ich.“

„Du wusstest von Anfang an, dass ich Profilerin werden will. Hier oder in England. Ich bin es hier geworden, weil du hier zum FBI wolltest. Das war deinetwegen. Dass ich die Doktorarbeit begonnen habe, war auch nur, weil ich hier nichts anderes tun konnte. Ich habe das alles getan, um bei dir sein zu können!“

Er seufzte tief. „Ja, das weiß ich. Das war auch alles richtig so.“

„Und jetzt hältst du mir das vor? Jetzt sagst du mir, ich arbeite dir zu viel? Weißt du, wie unfair das ist?“

„Du musst zugeben, dass wir wirklich kaum Freizeit zusammen hatten in den letzten Monaten.“

„Ich will meine Thesis fertigkriegen! Es ist nicht mehr viel. Dir ist schon klar, dass eine Doktorarbeit eigentlich ein Vollzeitjob ist? Dummerweise habe ich jetzt einen Vollzeitjob beim FBI und muss das irgendwie nebenher machen. Damit warst du einverstanden. Hast du das vergessen?“

„Nein ...“

„Worüber reden wir dann hier? Du wirfst mir nur Dinge vor, mit denen du mal einverstanden warst!“

„Ich wusste doch nicht, wie das wird! Wusste ich, dass du eigentlich nur nachts beim Schlafen bei mir sein würdest? In den letzten Monaten kam alles zu kurz!“

„Und dann war da Ashley und du dachtest: Ach, die ist so sexy, dann geh ich einfach mit ihr ins Bett?“

Kyle versuchte, ruhig zu bleiben und sich zu sammeln. „Es hat mir gefallen, dass sie Interesse an mir hatte. Dass sie mit mir geflirtet hat. Das hat mir bei uns alles gefehlt.“

Nun beugte Julie sich ihrerseits vor. „Und warum genau sagst du mir das nicht, Kyle Thornton?“

„Das habe ich doch ...“

„Du hast es als Scherz verpackt. Du hast nie klar gemacht, wie unzufrieden du bist.“

„Du hättest mir doch sowieso nicht zugehört.“

„Natürlich hätte ich! Aber was soll ich tun? Meine Thesis in die Tonne stecken, in die ich so viel Arbeit gesteckt habe und die auch viel Geld verschlungen hat? Soll ich bei der BAU kündigen? Was genau stellst du dir vor?“

„Einfach nur ein bisschen mehr Zeit für uns ...“

„Die hättest du immer haben können. Weißt du, du bist auch immer eingespannt, wenn du einen fordernden Fall hast und du auch mal am Wochenende arbeiten musst. Beschwere ich mich dann? Flirte ich mit meinen Kollegen?“

„Nein ...“ Frustriert ließ Kyle den Kopf hängen. „Ich wusste ja, dass du genau das sagen würdest. Dass das nun mal alles so ist und ich damit einverstanden war. Ich wollte das einfach aussitzen und durchhalten und habe mich darauf gefreut, dass du bald fertig bist. Deshalb bin ich auch nie wirklich auf Ashleys Flirts eingestiegen. Sie wollte ja schon länger mit mir ins Bett, aber das habe ich immer abgeblockt.“

„Bis auf das eine Mal.“

Er suchte nach Worten. „Ich war dumm, okay? In dem Moment habe ich das gebraucht, aber danach habe ich mich gleich mies gefühlt.“

„Ach ja? Ist mir nicht aufgefallen, als du nach Hause gekommen bist.“

„Nein, du solltest das schließlich nicht merken. Hast du auch nicht, denn du warst noch am Computer, als ich um kurz vor Mitternacht nach Hause kam. Du hast noch gearbeitet.“

„Höre ich da einen unterschwelligen Vorwurf?“, schnappte Julie.

„Eine Feststellung“, sagte Kyle. „Du warst abgelenkt. Natürlich hast du es nicht gemerkt. Ich bin gleich ins Bett gegangen und weiß noch gut, wie ich mich den ganzen nächsten Tag geschämt habe, aber das hast du auch nicht gemerkt, weil du gearbeitet hast.“

„Nicht mehr lang und ihr habt einen Rosenkrieg“, warf Libby ein. Überrascht sahen die beiden sie an und Kyle sagte: „Warum mischst du dich jetzt ein?“

„Weil ich hier auf Julies Wunsch hin sitze und alles höre. Ihr seid nur dabei, euch gegenseitig mit Vorwürfen zu überhäufen. Wollt ihr das nicht lieber überspringen und dem anderen stattdessen sagen, was ihr euch jetzt wünscht?“

Das nahm Kyle den Wind aus den Segeln. Julie nickte und blickte zu ihrem Mann.

„Was wünschst du dir denn von mir?“

„Dass du wieder meine Frau bist. Dass du nach Hause kommst und wir es noch mal versuchen. Ich wünsche mir zwei Abende in der Woche, die du mit mir verbringst und nicht mit irgendwelchen Serienmördern. Was ich mir sonst noch wünsche, werde ich vor deiner Freundin nicht ausbreiten.“

Während Libby versuchte, sich das Grinsen zu verkneifen, sagte Julie: „Das musst du auch gar nicht.“

„Du siehst, viel ist es gar nicht, aber es würde mir sehr viel bedeuten.“

„Ich weiß ... du musst mich wirklich bremsen, was meine Arbeit angeht. Ich mache das mit Leidenschaft, das weißt du.“

„Das kannst du auch, aber mich hast du leider vergessen. Am besten machst du deine Doktorarbeit so schnell wie möglich fertig.“

„Das widerspricht sich aber damit, dass du zwei Abende in der Woche ...“

„So sehr wird sich das doch auch nicht verlängern“, sagte Libby. „Wie viel hast du noch? Du brauchst vielleicht noch zwei oder drei Monate, dann bist du fertig. Wenn sich das um ein, zwei Wochen verlängert, ist das doch auch nicht schlimm.“

„Da hast du Recht“, stimmte Kyle ihr zu. „Und was wünschst du dir, Jules?“

Zögerlich sah Julie sie an. „Dass du nicht mehr mit ihr zusammen arbeitest.“

„Mit Ashley? Wie soll das gehen? Sie ist in meiner Abteilung, sie ...“

„Dann wechselst du die Abteilung. Am allerbesten lässt du dich versetzen.“

Kyle war fassungslos. „Ich soll was? Wohin denn? Nach Richmond oder Baltimore oder was?“

Julie zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht, aber ich könnte nicht damit leben, dass du weiter mit ihr arbeitest.“

Er schluckte hart, bevor er sagte: „Mein Versprechen, dass ich sie links liegen lasse, genügt dir also nicht?“

Julie schüttelte den Kopf. „Nein. Tut mir leid.“

„Und wie soll ich das begründen?“

„Ich weiß es nicht. Muss ich auch nicht, oder? Aber ich glaube, sie wird dich nicht in Ruhe lassen und das wäre fatal, wenn ihr weiterhin direkte Kollegen seid.“

„Das ist mein Job, Jules, ich bin zufrieden in der Abteilung ...“

Julie warf ihrem Mann einen Blick zu, der verriet, dass sie in dem Punkt nicht mit sich reden ließ. „Das ist meine Bedingung. Ich will nicht, dass du weiter mit Ashley zusammen arbeitest. Vielleicht lässt sie sich ja auch versetzen?“

„Als ob.“ Kyle schüttelte den Kopf.

„Ich habe keine Ahnung, wie du das anstellen könntest, aber es ist mir auch egal. Wenn ich mir jetzt vorstelle, ihr wärt weiterhin in derselben Abteilung und ich müsste mir jeden Morgen, wenn du zur Arbeit fährst, die Frage stellen, was heute wieder passiert ... Nein. Das geht nicht. Das kann ich nicht.“

„Ich kann mich nicht versetzen lassen!“, sagte Kyle aufgewühlt.

„Du erwartest also wirklich von mir, damit zu leben, dass du weiter jeden Tag mit ihr arbeitest? Das kannst du unmöglich ernst meinen.“

„Es war nur einmal ...“

„Das ist mir egal, Kyle. Einmal zu viel, oder? Wechsle von mir aus in Washington in eine andere Abteilung, aber das ist wirklich das absolute Minimum.“

„Das würde doch gar nicht helfen, sie wäre immer noch in der Nähe.“

„Dann fühlt es sich aber nicht mehr ganz so beschissen an! Verdammt, Kyle, willst du unsere Ehe jetzt retten oder nicht? Du hast Scheiße gebaut, also bring das wieder in Ordnung!“

„So viel habe ich nicht von dir verlangt.“

„Ich bin auch nicht fremdgegangen, oder?“

„Aber du tust auch Dinge, die nicht richtig sind. Dinge, die das alles erst verursacht haben.“

„Ach, dass ich viel arbeite, hat das verursacht? Meinst du, ja? Ich glaube eher, dass du an diesem Abend zu viel getrunken hast, du hast nicht mehr nachgedacht ... wie auch, ich glaube, das Blut war dann schon an den völlig falschen Stellen im Körper, oder?“

Kyle hielt die Luft an und versuchte, nicht zu explodieren. „Du kannst so fies sein, weißt du das?“

„Das ist dein Problem? Dass ich jetzt fies bin? Ich habe dich nie betrogen, Kyle, und das würde ich auch nie. Ich habe so viel getan, um mit dir zusammenleben zu können, und du ... du kriegst nicht mal den Mund auf, wenn ich dir zu viel arbeite, sondern springst stattdessen zu einer Arbeitskollegin ins Bett. Weißt du, wie weh das tut?“

„Ich glaube, wir brechen das jetzt besser ab“, sagte Kyle.

„Haust du wieder ab, wenn es unangenehm wird?“, fauchte Julie. „Ich werde dann nach Hause zurückkommen, wenn du dir etwas hast einfallen lassen, wie du nicht mehr mit Ashley zusammen arbeiten musst. Vorher müssen wir gar nicht weiter diskutieren.“

„Wenn du meinst.“ Kyle leerte die Bierflasche und stand auf, doch dann blieb er abrupt stehen. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Owen in der Tür stand.

„Hast du jetzt doch zugehört?“, fragte er giftig.

„Das ist mein Haus. Nebenbei bemerkt wart ihr so laut, dass ich das am anderen Ende des Gartens noch gehört hätte“, erwiderte Owen.

„Machst du bitte Platz?“

Owen verschränkte die Arme vor der Brust und warf Kyle einen forschen Blick zu. „Denkst du nicht, dass du deiner Frau was schuldig bist?“

„Das hier alles führt doch zu nichts! Ich kann mich nicht versetzen lassen, nur weil ...“

„Nur?“, wiederholte Owen. „Du wirst jetzt sagen, dass mich das nichts angeht, und gewissermaßen hättest du dann Recht – aber andererseits ist deine Frau gerade in meinem Haus, weil du große Scheiße gebaut hast, insofern geht es mich doch etwas an.“

„Und was willst du jetzt?“

„Du solltest über ihre Worte nachdenken.“

„Wenn sie mir jetzt nicht vertraut, bringt das alles sowieso nichts mehr!“

Owen richtete sich vor Kyle auf und schüttelte den Kopf. „Du machst es dir gerade ziemlich einfach, oder?“

„Sie verlangt, dass ich meinen Job aufgebe! Was denkst du, was hier los wäre, wenn ich je so etwas von ihr verlangt hätte?“

„Es geht hier nicht um deinen Job. Es geht hier darum, dass du mit einer Kollegin im Bett warst. Ich finde es nicht so abwegig, dass Julie dich jetzt darum bittet, dieser Kollegin fortan aus dem Weg zu gehen.“

„Ich kann nicht mich nicht mal eben versetzen lassen, so einfach ist das nicht!“

„Verdammt, Kyle, willst du jetzt deine Ehe retten oder nicht? Du solltest deiner Frau jetzt lieber beweisen, dass es dir ernst ist, oder?“

Kyle kniff die Augen zusammen und grollte: „Du hast Recht, Owen. Es geht dich nichts an. Und jetzt mach gefälligst Platz.“

Erst rührte Owen sich keinen Zentimeter, aber dann trat er so weit zur Seite, dass Kyle neben ihm durch den Türrahmen passte. Während Julie neben Libby in Tränen ausbrach, blickte Owen Kyle hinterher und murmelte: „Das hätte ich ehrlich nicht von dir erwartet.“

„Halt dich da raus, Owen.“ Hinter Kyle fiel die Haustür ins Schloss und während Julie weinend die Hände vors Gesicht schlug, legte Libby ihren Arm um die Schultern ihrer Freundin und blickte unwirsch zu Owen.

„Idiot“, grollte Owen gereizt, während Libby versuchte, Julie irgendwie zu beruhigen.

„Das war alles immer nur für ihn ... ich hätte nicht in Amerika bleiben müssen. Ich habe alles für ihn aufgegeben! Und er ...“ Der Rest ging in Tränen unter und weil keine Packung auf dem Couchtisch lag, besorgte Owen Taschentücher, die er Libby zuwarf. Sie packte Julie eins aus und redete beruhigend auf sie ein.

„Ganz egal, wie das ausgeht – du bist bei uns immer willkommen“, sagte sie. „Du bleibst einfach, so lange du willst.“

„Danke, aber ... ich will ja gar nicht hierbleiben. Wir haben uns hier vor einem halben Jahr ein Haus gekauft! Ich dachte, ich wäre endlich am Ziel ... mit meinem Mann, meinem amerikanischen Pass, meinem Traumjob, einem Haus ... und dann ...“ Wütend zerknüllte Julie das Taschentuch in ihrer Hand.

„Ich muss zugeben, ich kannte Kyle nicht so gut, wie ich dachte – aber mir scheint, er denkt manchmal nicht zu Ende“, sagte Owen, während er sich den beiden gegenüber setzte.

„Wie meinst du das?“, fragte Julie.

„Ich glaube dir, dass er dir nicht deutlich genug gesagt hat, was sein Problem ist. Er will auch jetzt die Konsequenzen seines Handelns nicht tragen.“

„Aber er hat ja nicht Unrecht, ich meine ... zu so etwas gehören immer zwei. Es stimmt, ich hatte wirklich fast keine Zeit für ihn.“

„Es stimmt aber auch, wenn du sagst, dass sein Job ebenfalls fordernd ist. Ihr habt beide genug zu tun und dass bei dir noch eine Doktorarbeit obendrauf kommt, wusste dein Mann. Da kann er jetzt schlecht sagen, dass das alles so blöd und anstrengend ist“, sagte Libby.

„Im Übrigen bin ich der Ansicht, dass du Recht hast. Ich könnte mich an deiner Stelle auch nicht sicher fühlen, wenn er jetzt weiter mit Ashley zusammenarbeitet. Ich finde, dieses Opfer darf er jetzt durchaus bringen, wenn es ihm ernst damit ist, alles wiedergutzumachen“, sagte Owen.

Überrascht blickte Julie auf. „Ihr schlagt euch aber sehr deutlich auf meine Seite.“

„Ich sowieso“, sagte Libby. „Du bist meine beste Freundin.“

„Du würdest mir aber sagen, wenn ich auf dem Holzweg wäre.“

„Ja, mag sein. Trotzdem macht Kyle einen Fehler.“

„Kyle war feige“, sagte Owen. „Er hat sich nicht klar gemacht, wie anstrengend das alles wird, und er hatte nicht den Mut, es dir zu sagen, Julie. Für ihn war es einfacher, mit Ashley zu flirten, weil er ja dachte, du findest das nie raus. Ich weiß gar nicht, wie ernst es ihm damit war – vielleicht gar nicht so sehr. Aber jetzt will er die Konsequenzen seines Handelns nicht tragen und das nehme ich ihm übel.“

„Danke“, murmelte Julie leise. „Ich bin so froh, dass ihr jetzt wenigstens da seid ...“

„Sind wir“, bestätigte Libby.

 

 

Dienstag, 21. Juni

 

Als Libby an diesem Morgen erwachte, war das Bett neben ihr leer. Auch Oreo war nicht mehr im Schlafzimmer. Sie blinzelte müde, als sie aufs Display ihres Handys blickte, um nach der Uhrzeit zu sehen. Kurz nach sechs. Es war ohnehin bald an der Zeit, aufzustehen.

Sie rechnete eigentlich damit, Owen im Bad zu finden, doch dort war er nicht. Libby zog ihren Morgenmantel über, bevor sie auf die Suche ging, und bereute diese Entscheidung nicht. Als sie unten im Wohnzimmer ankam, stand die Terrassentür offen. Owen stand draußen und lauschte aufs Zwitschern der Vögel. Er hatte sich nur ein T-Shirt übergezogen, was Libby beim bloßen Anblick frösteln ließ.

Sie seufzte. Eigentlich hatte sie gehofft, dass es vorbei war, aber da hatte sie sich wohl geirrt.

Sie gab sich keine Mühe, leise zu sein, während sie das Wohnzimmer durchquerte. Owen drehte sich um, als er sie hörte, und lächelte. Er wirkte müde.

„Hey“, sagte er und breitete die Arme aus. Libby ging zu ihm und lächelte, als er sie in die Arme schloss.

„Ich habe dich vermisst“, sagte sie.

„Ich wollte dich nicht wecken.“

„Seit wann bist du wach?“

Owen kniff die Augen zusammen, während er in Richtung der aufgehenden Sonne blickte. „Halbe Stunde vielleicht?“

„Alpträume?“

Er nickte. „Es ist immer wieder derselbe Moment. Ich sehe immer, wie Tarek aufsteht, allahu akbar schreit und den Auslöser über sein Handy betätigen will. Ich dachte wirklich, dass ich sterbe. Vorhin stand ich wieder kurz vor einer Panikattacke.“

Libby machte ein mitfühlendes Gesicht. „Sprich doch noch mal mit Michael.“

Owen seufzte tief. „Es wird ja besser. Eigentlich ist es nicht überraschend, dass mir das nachhängt, oder?“

„Nein, natürlich nicht. Du wärst in dem Moment wirklich fast gestorben. Ich darf gar nicht dran denken.“

„Ich merke die Verletzungen immer noch. Vorhin musste ich einfach raus an die frische Luft, das hat es besser gemacht. Im Schlafzimmer dachte ich, ich kriege keine Luft.“

Libby legte ihre Hände auf seine Oberarme und suchte seinen Blick. „Du hättest mich auch wecken können.“

„Ich weiß. Wollte ich aber nicht.“

Das konnte Libby verstehen. Sie hatte Owen auch nicht immer geweckt, wenn sie mal Alpträume gehabt hatte. Und dass er gerade welche hatte, verstand sie nur zu gut. Bei der Geiselnahme in Washington hatte er sich in einer Situation befunden, die mit anhaltender Todesangst verbunden war. Dieser Bedrohung machtlos ausgeliefert zu sein, war eine traumatisierende Erfahrung, das wusste sie selbst gut genug. Den nächsten Termin, den sie nach der Geiselnahme bei Michael gehabt hatte, hatte sie an Owen abgetreten, damit er eine Möglichkeit zur Aufarbeitung hatte, und das hatte auch geholfen, aber ihn plagten trotzdem Alpträume.

„Ich denke, ich brauche einfach etwas Zeit“, sagte er.

„Ja, kann sein. Aber du kannst immer mit mir reden – und geh ruhig noch mal zu Michael.“

„Mal sehen. Ich gehe jetzt duschen.“

Libby nickte. Sie deckte den Tisch fürs Frühstück und gesellte sich zu Owen ins Bad, als sie fertig war. Beide waren schon unten und bereiteten das Frühstück vor, ohne dass sich bei Julie etwas geregt hätte.

„Ich sehe mal nach Jules“, sagte Libby und Owen nickte. Oben angekommen, klopfte Libby zaghaft an die Tür des Gästezimmers und erntete ein Knurren.

„Geh weg.“

„Es ist Viertel nach sieben. Du solltest aufstehen.“

„Schon?“

„Frühstück ist fertig.“

„Ich komme gleich.“

Owen und Libby warteten, bis Julie zehn Minuten später angezogen, aber sichtlich müde unten erschien. Sie aß auch mit mäßigem Appetit. Um ihr einen Gefallen zu tun, schlug Libby vor, an diesem Tag zu fahren. Seit Julie bei Owen und Libby war, hatte sie darauf bestanden, zur Arbeit zu fahren – als kleines Dankeschön, wie sie es ausgedrückt hatte, und sie war auch schon für alle einkaufen gegangen.

So kannte Libby ihre beste Freundin. Julie dachte immer an andere, war warmherzig und liebenswert. Allerdings konnte Libby sich auch vorstellen, wie es in ihrer Ehe zugegangen war, seit sie bei der BAU arbeitete, denn Julie konnte extrem sein, wenn sie für etwas brannte. Sie hatte schon mit solchem Ehrgeiz an ihrer Thesis gearbeitet, dass sie damit schneller vorankam als üblich, doch der Job bei der BAU hatte sie natürlich ausgebremst. Libby wusste aber auch, dass Julie tatsächlich nach der Arbeit und am Wochenende furchtbar viel an ihrer Doktorarbeit gesessen hatte, und so gesehen überraschte es sie nicht, dass Kyle sich vernachlässigt fühlte.

Sie gab Owen aber Recht in der Annahme, dass Kyle es aus Fairness hatte aussitzen wollen, eben weil er auch damit einverstanden gewesen war – und dass Ashley an ihm interessiert war, hatte er dann einfach genossen. Ohne große Hintergedanken, ohne ernsthafte Absichten, aber eigentlich war das schon zu viel – und dass er mit ihr geschlafen hatte, war durch nichts zu entschuldigen. Er hatte die Dinge einfach laufen lassen, war nicht ehrlich zu Julie gewesen, hatte Ashley nicht in ihre Schranken gewiesen – und nun war ihm alles entglitten.

„Findest du, ich verlange zu viel?“, fragte Julie, nachdem sie auf den Freeway aufgefahren waren.

„In welcher Hinsicht?“

„Damit, dass Kyle sich versetzen lassen soll.“

„Nein“, sagte Libby, ohne nachzudenken. „Ich habe das natürlich nur oberflächlich beobachtet, aber auf mich wirkte es so, als sei Ashley die treibende Kraft hinter allem. An deiner Stelle würde ich mich auch nicht gut damit fühlen, dass die beiden sich jeden Tag sehen.“

Erst nickte Julie stumm, sagte dann aber nach kurzem Nachdenken: „Soll er sich meinetwegen in Washington in eine andere Abteilung versetzen lassen. Das ist nicht perfekt, aber Richmond und Baltimore sind vielleicht etwas extrem ...“

„Richmond auf jeden Fall, Baltimore nicht unbedingt.“

„Nein, das muss es nicht sein. Ich bin auch kompromissbereit. Aber das ist meine Bedingung an ihn – wenn ich zurückkommen soll, darf er nicht mehr jeden Tag mit Ashley zusammenarbeiten. Das geht einfach nicht. Damit käme ich nicht zurecht.“

„Ginge mir nicht anders.“

„Und dass er mir jetzt vorwirft, ich könnte ihm nicht vertrauen ... wie sollte ich denn? Welchen Grund hätte ich?“

„Ich weiß es nicht.“

„Eben. Ich auch nicht. Es ist nur ... es tut so wahnsinnig weh, eben weil ich ihn liebe.“

„Was eigentlich gut ist. Sonst wäre eure Ehe jetzt gescheitert.“

Julie nickte stumm, in ihren Augen standen Tränen. „Ich hoffe, das ist sie nicht trotzdem. Seit ich bei euch bin, denke ich ja darüber nach, wie es weitergehen soll. Ob ich ihm verzeihen kann, ob ich zurückwill ... Wir würden beide so viel verlieren, verstehst du? Jetzt bin ich hier am Ziel, ich bin Profilerin beim FBI, aber ich habe wegen Kyle meine Heimat, meine Familie und meine Freunde aufgegeben. Würde ich mich von ihm trennen, wüsste ich nicht, ob ich zurückkehren soll ...“

Libby schluckte. „Du hast doch hier nicht nur Kyle.“

„Ich weiß, natürlich nicht ... trotzdem muss ich mir die Frage doch stellen.“

„Das verstehe ich. Ich vermisse meine Familie auch.“

Julie schluckte die Tränen herunter und atmete tief durch. „Ich weiß nicht, ob es wieder so werden kann wie vorher. Ob ich ihm je wieder vertrauen kann. Was gerade so weh tut, ist seine mangelnde Bereitschaft, mir jetzt entgegenzukommen. Er glaubt ja tatsächlich, mit einer Entschuldigung wäre es getan – ist es für mich aber nicht. Ungeschehen kann er es nicht machen, aber eine Wiedergutmachung wäre schön. Und dass er jetzt nicht verstehen will, warum mir das wichtig ist, tut verdammt weh ...“

Das konnte Libby nachvollziehen. „Ich weiß, worauf du damit hinaus willst. Du willst auch wissen, ob du ihm wichtig genug bist, dass er jetzt dieses Opfer bringt, oder?“

„Vielleicht, ja ... Vor allem will ich mir nur sicher sein können, ich habe nämlich auch das Gefühl, dass es eigentlich immer von Ashley ausging. Deshalb will ich ja, dass er nicht mehr in ihrer Nähe ist.“

„Soll ich noch mal mit ihm reden?“

Julie schüttelte den Kopf. „Nein, erst mal nicht. Er braucht ja immer ein bisschen, um darüber nachzudenken. Ich würde jetzt mal abwarten, ob er nicht wieder auf mich zukommt, wenn er sich entschieden hat.“

„Okay“, sagte Libby gleichmütig. Während sie sich Dale City näherten, fragte sie: „Hast du eigentlich inzwischen mit deinen Eltern gesprochen?“

Julie schüttelte den Kopf. „Zuletzt am Tag, bevor ich zu euch gekommen bin. Ich weiß nicht, was ich sagen soll – meine Mum würde sich irre Sorgen machen und mein Dad würde in den nächsten Flieger steigen, um Kyle den Kopf abzureißen. Sie würden sich verrückt machen drüben in England und tun können sie ja doch nichts.“

„Vielleicht würde es dir trotzdem dabei helfen, klarer zu sehen.“

„Vielleicht“, murmelte Julie unschlüssig. Fortan schwiegen die beiden, bis sie in Quantico waren und sich nach dem täglichen Sicherheitscheck ins Büro begaben. Libbys Motivation war nicht besonders groß – auf sie wartete noch ein Bericht der Dienstaufsicht, den sie unterzeichnen musste, außerdem musste sie selbst noch zwei verschiedene Berichte wegen der Terroranschläge verfassen. Einer, der sich mit ihren Ermittlungsansätzen befasste und darlegte, wie sie zu ihrer Lageeinschätzung gekommen waren und ein weiterer, in dem sie die Ereignisse des 6. Juni für die Anklage festhielt. Für die Staatsanwaltschaft war es wichtig, zu wissen, wie sie am Tag der Anschlagsserie vorgegangen waren. Ihre Berichte über die Verhöre von Salim und Hina hatte sie schon fertig.

Was vollkommen ins Hintertreffen geraten war, war ihr Text über Vincent Howard Bailey. Der hatte gerade keine Priorität und musste warten, obwohl Nick bereits beim FBI Law Enforcement Bulletin angefragt hatte, wann der Text darin veröffentlicht werden konnte.

Julie half ihr bei der Ausarbeitung des Berichtes über ihre Ermittlungsansätze, so dass Libby sich um den Rest kümmern konnte. Bis auf eine kurze Mittagspause arbeiteten die beiden durch und es war schon später Nachmittag, als Libby eine Nachricht von Owen erhielt.

Vorhin hat Benny mit mir telefoniert. Er würde gern nach Feierabend vorbeikommen, um mit uns über seinen Fall zu sprechen. Wäre das in Ordnung?

Libby lächelte und schrieb zurück: Immer doch. Braucht er Profiler-Hilfe?

Kann gut sein, er hat explizit nach euch gefragt. Dann sage ich ihm zu.

Libby schickte ihm einen küssenden Smiley und gab Julie Bescheid.

„Der Partner deines Mannes braucht Hilfe? Klingt gut“, fand Julie. „Besser als der beschissene Papierkram hier.“

„Ich hasse das auch. Gehört nur leider dazu.“

„Mhm“, machte Julie unwirsch. Bis zum Feierabend arbeiteten sie weiter, aber Libby war froh, als sie nach Hause fahren konnten. Bei ihrem Eintreffen war Owen noch allein zu Hause und hieß Libby mit einer liebevollen Umarmung willkommen, nachdem er auch Julie begrüßt hatte.

„Schön, dass ihr wieder da seid. Allein ist es so verdammt langweilig zu Hause ...“

„Du bist doch gar nicht allein, wenn ich das mal so sehe“, sagte Libby mit Blick auf Oreo, die ebenfalls im Flur aufgetaucht war, um sie zu begrüßen.

„Ja, so gesehen stimmt das. Die Katze ist verdammt anhänglich, sie ist eigentlich den ganzen Tag da, wo ich bin.“

„Süß.“ Julie ging an Owen vorbei ins Haus und begrüßte Oreo mit ein paar Streicheleinheiten.

„Ich dachte, wir bestellen uns gleich Pizza, wenn Benny hier ist“, sagte Owen. „Er ist schon auf dem Weg, dauert wahrscheinlich nicht mehr lang, bis er da ist.“

„Guter Plan“, sagte Libby. Sie gingen ins Wohnzimmer und steckten schon einmal die Köpfe über der Speisekarte zusammen, um ihre Auswahl zu treffen. Damit waren sie gerade fertig, als es klingelte. Owen ging zur Haustür und kehrte gleich darauf mit Benny zurück.

„Hey.“ Libby stand auf und umarmte Benny zur Begrüßung. „Schön, dass du da bist.“

„Bin mal gespannt, ob du das gleich auch noch sagst“, erwiderte er augenzwinkernd. „Im Flur steht ein Karton mit Akten.“

„Hast du es offiziell gemacht?“, fragte Owen.

„So halb. Correll weiß, dass ich mit euch spreche, um eure Meinung zu hören. Ob wir es offiziell machen, sehen wir dann. Hey, Julie.“ Benny begrüßte Julie mit Handschlag und traf seine Auswahl fürs Essen, so dass Owen die Bestellung aufgeben konnte.

„Wird Zeit, dass du zurückkommst“, sagte Benny. „Es sind noch einige Kollegen mit den Ermittlungen zu den Anschlägen beschäftigt – mich haben sie ja wegen Befangenheit abgezogen und zur Unterstützung der Kollegen in dieser Mordserie abgestellt. Jetzt sind wir zu dritt. Bei dem, was wir da haben, reicht das hinten und vorne nicht. Ich hoffe wirklich, du kannst uns bald unterstützen. Wann musst du wieder zum Arzt?“

„Am Donnerstag. Ich hoffe, dass er sich dazu breitschlagen lässt, mich nur noch nächste Woche krankzuschreiben. Drunter wird er wohl nicht gehen.“

Benny brummte unzufrieden. „Deshalb meine Idee, unsere Lieblings-FBI-Profilerinnen an Bord zu holen. Habt ihr überhaupt Zeit für so etwas?“

„Kommt drauf an, was du meinst. Wir können uns auf jeden Fall ansehen, was du da hast – dass wir die Ermittlungen aktiv begleiten, kann ich dir aber nicht versprechen“, sagte Libby.

„Okay ... egal. Vielleicht reicht das ja schon. Allerdings muss ich vorausschicken, dass dir das garantiert nicht gefallen wird.“

„Mir? Wieso?“, fragte Libby.

„Es geht um tote Frauen. Sie wurden teilweise richtig übel zugerichtet, manche vergewaltigt. Ich dachte, ich sage dir das lieber gleich.“

„Okay ... zugegeben, damit hatte ich seit dem letzten Jahr nicht mehr zu tun. Solche Fälle hat Nick seitdem immer an die Kollegen gegeben, aber ich kann ja nicht ewig den Kopf in den Sand stecken.“

„Ich wollte dich nur warnen und ich möchte auch, dass du weißt, dass ich nicht böse bin, wenn du dir das nicht ansehen kannst. Dann finde ich eine andere Lösung.“

Das überraschte Libby nun doch. „Danke, Benny. Lieb von dir, dass du dran denkst.“

Ein Lächeln huschte über seine Lippen. „Irgendwann letztes Jahr hab ich mal mit Owen drüber gesprochen, ob es dir eigentlich was ausmacht, weiter als Profilerin zu arbeiten. Da hat er mir gesagt, dass du um solche Fälle aktuell eigentlich einen Bogen machst.“

„Bis jetzt ja. Mal sehen, was da kommt.“

„Du hast ja keine Ahnung, wie gern ich euch helfen würde, aber man lässt mich ja nicht. Gut, ich muss zugeben, es sieht auch immer noch nicht gut aus ...“ sagte Owen.

„Kann ich mir vorstellen“, sagte Benny.

„Willst du mal sehen?“

„Immer.“

Owen stand auf und zog sein T-Shirt hoch bis unters Kinn. Sein Oberkörper sah aus, als wäre er in einen Farbkasten gefallen – er hatte große Blutergüsse in den unterschiedlichsten Farben, die über den Rippen lagen und ziemlich dramatisch aussahen. Entsetzt verzog Benny das Gesicht.

„Heilige Scheiße ... okay, ich sehe ein, dass du noch krankgeschrieben bist.“

„Ich nicht“, erwiderte Owen und lachte. „Ihr braucht mich und ich sitze hier nur rum. Du darfst mich jederzeit anrufen, wenn ihr Hilfe bei den Ermittlungen braucht.“

„Okay, ist gemerkt.“ Benny nickte und erzählte ein wenig von der Arbeit, bis das Essen kam. Beim MPDC waren nach der Geiselnahme neue Sicherheitsvorkehrungen getroffen worden, damit sich so etwas nicht wiederholen konnte. Owen freute sich, Neuigkeiten von der Arbeit zu hören, und auch während des Essens sprachen sie über die verschiedensten Dinge. Erst, als sie fertig waren, holte Benny den Karton aus dem Flur und stellte ihn auf den Couchtisch.

„Sagt nicht, ich hätte euch nicht gewarnt“, sagte er, während er nach einem Hefter suchte und ihn herauszog.

„Der erste Fall ist neun Wochen alt – Jordana Pine, 17, sie stammte ursprünglich aus Baltimore. Instabile Familienverhältnisse, abgehauen ist sie mit 15. So ganz genau wissen wir noch nicht, was sie in der Zwischenzeit getrieben oder wo sie gelebt hat, aber die Vermutung liegt nah, dass sie auf den Strich gegangen ist. Laut Toxscreen hat sie die verschiedensten Drogen konsumiert.“ Benny warf Libby einen eindringlichen Blick zu. „Das wird jetzt hässlich, okay?“

Libby nickte. „Okay.“

Benny öffnete den Hefter und zeigte ihnen Fotos der Leiche. Sie trug noch ein winziges Tanktop und einen verrutschten BH, am Unterleib war sie jedoch nackt. Am Hals hatte sie Würgemale, ihre Augen waren blutunterlaufen, eins war zugeschwollen. Auf ihrem Mund klebte noch immer Klebeband, ihre Hand- und Fußgelenke wiesen Fesselmale auf, aber keine Stricke oder Ähnliches. Ihre Arme und ihr Oberkörper waren von blauen Flecken übersät, an ihren Oberschenkeln waren ebenfalls Hämatome und außerdem getrocknetes, verschmiertes Blut zu sehen. Unwillkürlich erstarrte Libby am ganzen Leib und vergaß für einen Moment zu atmen. Sie ballte die Hände zu Fäusten und schloss die Augen.

„Wie gesagt, wenn dir das zu viel ist ...“ begann Benny, aber Libby schüttelte den Kopf.

„Gib mir nur einen Moment, okay?“

„Klar.“

Libby öffnete die Augen wieder und gab ihm mit einer Geste zu verstehen, dass er ihr den Hefter geben sollte. Wortlos schaute sie die Fotos durch – Jordanas Leiche war in Brentwood in der Böschung unweit von Bahngleisen gefunden worden.

„Der Gerichtsmediziner hat uns bestätigt, dass sie über mehrere Tage irgendwo festgehalten worden sein muss, bevor sie getötet wurde. Todesursache war Erwürgen. Sie wurde wiederholt vergewaltigt – auf alle Arten, die man sich denken kann, es wurden entsprechende Verletzungen im Vaginal- und Analbereich entdeckt.“

Libby schlang die Arme um den Oberkörper und atmete tief durch, bevor sie nickte. „Was sonst.“

„Für eine Prostituierte ein ziemlich hässliches Ende, aber anfangs waren die Kollegen deshalb noch nicht allzu nervös. Etwa drei Wochen später tauchte die Leiche von Melissa Perkins, 19, an einer Unterführung auf. Sie stammte hier aus DC, war ein Junkie und Gelegenheitsprostituierte. Bei ihr wurden zwar keine Hinweise auf Vergewaltigung gefunden, aber sie sah trotzdem übel aus.“

Benny nahm den nächsten Hefter und zeigte ihnen Fotos der Toten. Für einen Moment wandte Libby den Blick ab. Melissa war totgeschlagen worden, ihre Leiche war bis zur Unkenntlichkeit erstellt. Sie hatte Schwellungen an beiden Augen, an Wangen und Lippe, Hämatome überall am Körper, einer ihrer Arme war seltsam verrenkt und ihre Finger standen in unnatürlichen Winkeln ab. An ihren Armbeugen war noch sichtbar, dass sie sich regelmäßig Drogen gespritzt hatte.

„Der Gerichtsmediziner sprach von mehreren Knochenbrüchen, unter anderem die Rippen und ein Schlüsselbein, der Arm, ein Unterschenkel. An ihr hat sich jemand abreagiert. Sie wurde durch stumpfe Gewalteinwirkung gegen den Schädel getötet. Interessant ist, dass auch sie gefesselt war. Sie scheint ihren Mörder ziemlich gegen sich aufgebracht zu haben, er hat ihr an einer Hand mehrere Finger gebrochen.“

„Mein Gott“, murmelte Owen betroffen.

„Nur eine Woche später wurde die Leiche von Olivia Dominguez gefunden – vergewaltigt, verprügelt und, anders als die anderen, verdurstet.“ Benny zog den nächsten Hefter aus dem Karton und zeigte ihnen Fotos. Olivia war noch an Händen und Füßen gefesselt, außerdem geknebelt und splitternackt. Deshalb konnten sie mühelos sehen, wie brutal man sie zugerichtet hatte – an ihren Armen, ihrem Oberkörper und an den Brüsten hatte jemand Zigaretten ausgedrückt, die Verbrennungen waren noch frisch.

„Sie war erst sechzehn. Vor einem Jahr ist sie als Illegale mit ihrem Bruder aus Kuba gekommen, nachdem die Eltern gestorben sind. Der Gerichtsmediziner hat festgehalten, dass sie vor ihrem Tod ziemlich brutal vergewaltigt wurde, die Details erspare ich euch. Danach hat man sie gefesselt irgendwo liegenlassen, bis sie verdurstet ist.“

Libby ballte die Hände zu Fäusten und schloss die Augen, als ihr heiß wurde und ihr Herz zu rasen begann. Sie versuchte, sich aufs Atmen zu konzentrieren, um die aufsteigende Panik zurückzudrängen.

„Geht es?“, fragte Owen, dem ihre Verfassung nicht verborgen blieb.

Als Libby die Augen wieder öffnete, sah sie alles durch Tränen. „Ich brauche nur einen Moment, okay?“

„Ich hätte es lassen sollen“, murmelte Benny, aber Libby schüttelte den Kopf.

„Ich bin FBI-Profilerin. Das gehört zu meinem Job. Soll ich jetzt nie wieder solche Fälle bearbeiten, nur weil dieser beschissene Sadist Bailey mich so etwas auch hat spüren lassen? Das Gegenteil sollte der Fall sein – ich sollte solche Typen jagen und zur Strecke bringen.“

„Ich kann das nicht verantworten.“ Benny wollte den Hefter schon zuschlagen und wegnehmen, aber Libby legte ihre Hand darauf und sah Benny eindringlich an, während sie den Hefter festhielt.

„Lass es mich selbst entscheiden, okay?“

„Ich weiß nicht“, murmelte Benny verhalten, doch dann meldete Owen sich zu Wort.

„Es ist okay, Benny, sie kann das selbst einschätzen.“

„Nicht, dass du mir den Kopf abreißt, weil ich deiner Frau so etwas zumute ...“

„Tue ich nicht. Ist okay.“

Benny entspannte sich wieder und holte zwei weitere Hefter aus dem Karton.

„Die bisher letzten Fälle. Sie sind jetzt zwei Wochen alt, zwischen ihnen lagen nur drei Tage Abstand. Das erste Opfer war Ana de Reyes, 19. Sie war eine Illegale aus Brasilien, die vergewaltigt und erwürgt wurde. Auch sie wies Verbrennungen von Zigarettenstummeln auf, hatte Fesselmale an Händen und Füßen – das ganze Programm.“ Benny zeigte ihnen Fotos der Leiche, die übel zugerichtet worden war.

„Drei Tage später haben wir Norah Boone gefunden, die einzige Afroamerikanerin unter den Opfern. Sie lag in der Nähe von Müllcontainern in einem Hinterhof, man hat sie verprügelt und erschlagen.“

„Warum seht ihr einen Zusammenhang zwischen den Morden? Ein Opfer wurde erschlagen, drei erwürgt, eins hat man einfach sterben lassen. Nicht alle wurden vergewaltigt. Der Modus Operandi ist unterschiedlich“, sagte Julie.

„Das stimmt, aber der Opfertyp ist ähnlich – und bei allen wurde Fentanyl im Blut nachgewiesen. Es war allerdings nicht von allen bekannt, dass sie abhängig waren. Womit wir es hier zu tun haben, weiß ich nicht – ein sadistischer Serienmörder, ein Frauenhasser?“

Libby beugte sich vor. „Gute Frage. Wie lang waren die Opfer denn verschwunden, bevor sie tot aufgefunden wurden?“

„Das wissen wir nicht bei allen. Es war teilweise schwierig genug, sie überhaupt zu identifizieren. Die Kollegen waren mit ihren Fotos auf dem Straßenstrich unterwegs, um sich dort nach ihnen zu erkundigen. Das ist auch das Problem, das wir haben: Das sind junge Frauen, die niemand vermisst. Wir wissen nichts über ihr Verschwinden, es hat sie niemand als vermisst gemeldet, sie hatten teilweise keinen festen Wohnsitz – es ist ein Alptraum. Wir haben keine Ahnung, ob sie von einem Serienmörder entführt wurden und wie lang er sie möglicherweise festgehalten hat. Mich macht es auch stutzig, dass da so viele Unterschiede bestehen, aber dennoch glaube ich, dass die Fälle zusammenhängen.“

„Das einzig Ähnliche am Opfertyp ist, dass es sich um junge Frauen handelt“, sagte Julie. „Um Ausreißerinnen und Prostituierte. Für mich spricht gegen einen Serienmörder, dass es zwei Weiße, zwei Latinas und eine Schwarze sind. Serientäter morden üblicherweise in ihrer eigenen ethnischen Gruppe, da gibt es nur ganz wenige Abweichungen wie den Nightstalker Richard Ramirez.“

Libby nickte. „Organisiertes Verbrechen? Vielleicht derselbe Zuhälter?“

„Das haben wir uns auch schon überlegt, bloß fehlt uns da jeder Ansatz. Die Opfer waren wochen- oder sogar monatelang verschwunden, bevor sie tot aufgefunden wurden. Wir konnten zwar bei den Vergewaltigungsopfern Spermaspuren sichern, aber natürlich gab’s in der Datenbank keinen Treffer. Ganz ehrlich? Wir stehen mit leeren Händen da.“

„Ich verstehe auf jeden Fall euer Problem“, sagte Libby. „Durch die Opferwahl sind eure Ermittlungen erschwert und weil da keine klare Linie erkennbar ist, ist auch das Motiv auf den ersten Blick nicht klar.“

„Ich weiß nicht, ob mich das jetzt beruhigt“, murmelte Benny.

Libby tauschte einen Blick mit Julie. „Das sieht so komplex aus, dass wir uns damit genauer beschäftigen sollten. Am besten stellen wir es dem Team vor.“

„In der Hoffnung, dass Nick uns Zeit dafür einräumt“, sagte Julie.

„Das müssen wir sehen. Ich glaube nicht, dass es sich hier um den klassischen sadistisch motivierten Sexualmörder handelt, auch wenn es auf den ersten Blick danach aussieht. Damit würde ich mich gern in Ruhe beschäftigen und die Meinungen des Teams hören.“

„Klar, kein Problem“, sagte Benny. „Ich kann euch die Akten vorübergehend hierlassen, damit ist der Sergeant einverstanden.“

„Okay, wir sehen uns das morgen an und dann geben wir dir Bescheid“, versprach Libby.

„Danke, ihr seid großartig.“ Benny war sichtlich erleichtert, was Libby gut verstehen konnte. Sie wusste auch noch nicht, was sie von diesem Fall halten sollte – aber sie wusste, dass es eine große Herausforderung für sie werden würde.

Benny blieb noch ein bisschen, doch Julie verzog sich bald ins Arbeitszimmer, um sich ihrer Doktorarbeit zu widmen. Daran arbeitete sie, bis sie schließlich schlafen ging. Owen und Libby sahen noch ein wenig fern, bis sie ebenfalls ins Bett gingen.

„Süß von Benny, dass er sich Sorgen macht, du könntest ihm den Kopf abreißen, weil er mich in einem solchen Fall um Hilfe bittet“, sagte Libby, während sie sich zu Owen ins Bett gesellte.

Grinsend erwiderte er: „Das zeichnet einen Freund doch aus, oder? Nein, im Ernst, ich fand das auch nett. Er hat ja Recht, das trifft deinen wunden Punkt – aber ich bin wirklich der Meinung, dass du das selbst entscheiden solltest.“

Libby lächelte. „Ich finde es toll, dass du da so entspannt bist.“

„Es stimmt doch – du bist FBI-Profilerin. Immer noch. Ich weiß, dass du stark bist und damit klarkommst. Es muss ja auch weitergehen.“

„Stimmt“, sagte Libby und gab ihm einen Kuss.

Mittwoch, 22. Juni

 

Sie konnte ihre Beine nicht ausstrecken. So gut es ihr gefesselt möglich war, versuchte sie, sich irgendwie anders hinzusetzen, ihr Gewicht zu verlagern, sich Erleichterung zu verschaffen. Aber im Schrank war schlichtweg kein Platz.

Sie konnte kaum atmen, das Klebeband hatte es ihr beinahe unmöglich gemacht. Es reichte bis fast an ihre Nase, sehen konnte sie ebenfalls nichts.

Sie hatte schrecklichen Durst. Hunger hatte sie auch, der war fast noch schlimmer. Ob und wann sie etwas zu essen bekam, war Glückssache. Meist hatte sie keins.

An ihren wundgeriebenen Hand- und Fußgelenken war Blut getrocknet, ihre Schnittverletzungen brannten. Die Striemen auf ihrem Rücken quälten sie ohnehin die ganze Zeit. Dazu kam das Blut, das an ihren Beinen klebte. In ihrem Unterleib pochte ein Schmerz, den sie am liebsten ausgeblendet hätte, aber sie konnte nicht.

Sie wollte schreien, aber sie konnte nicht. Sie konnte gar nichts. Verzweifelt versuchte sie, sich nicht die Situation bewusst zu machen, in der sie steckte. Wie lange würde das noch so gehen?

Mit Herzrasen fuhr Libby aus dem Schlaf hoch. Verdutzt sah Oreo sie an, die Katze hatte sich am Fußende des Bettes zusammengerollt und geschlafen, bis Libby ruckartig aus ihrem Alptraum erwacht war.

Die Erinnerung würde nie ganz verschwinden, das wusste sie. Sie dachte jedes Mal an Vincent Howard Bailey, wenn sie im Spiegel ihre Narben sah.

---ENDE DER LESEPROBE---