In einer Nacht am Straßenrand - Ben Worthmann - E-Book
SONDERANGEBOT

In einer Nacht am Straßenrand E-Book

Ben Worthmann

0,0
2,49 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 0,00 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Leonhard, Anfang vierzig, ist ein braver Familienvater mit gutem Job und Reihenhaus - nett, sympathisch, ohne Fehl und Tadel. Zufällig begegnet er der jungen, attraktiven Nina, die er alsbald im Verdacht hat, einen reichen Mann umgebracht zu haben. Anstatt zur Polizei zu gehen, lässt Leonhard sich von Nina zum Seitensprung verführen und verliert nach und nach völlig die Kontrolle über sein Leben. Während weitere Menschen sterben müssen, gerät er immer tiefer in ein heilloses Desaster aus Wahn, Trug und Feigheit. Außerdem von Ben Worthmann im Handel: Die Thriller "Auf gute Nachbarschaft", "Tödlicher Besuch", "Nocturno", "Das Grab der Lüge" und "Die Frau am Tor" sowie die Familientrilogie "Etwas ist immer", "Meine Frau, der Osten und ich" und "Leben für Fortgeschrittene"

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 151

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Ben Worthmann

In einer Nacht am Straßenrand

Psychothriller

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

Impressum neobooks

1. Kapitel

Es war eine milde Nacht im Juni, im Radio spielten sie gerade Adele. Noch fünf, sechs Minuten, das letzte Stück durch den Stadtwald, dann würde er zu Hause sein. Es ging auf Mitternacht zu. Hanna war bestimmt, wie meistens, schon auf dem Sofa vor dem Fernseher eingeschlafen; sie wusste Bescheid, dass er noch zu tun hatte. Seit er nicht mehr nur als Reporter arbeitete, sondern sich außerdem mit um die Online-Ausgabe kümmern musste, war seine Zeit für die Familie noch knapper geworden. Doch in dieser Nacht fühlte Leonhard Marthaler sich gut, ein bisschen müde zwar, weil es noch später geworden war, als geplant, aber zufrieden mit sich und der Welt. Jedenfalls, soweit ein Mann mit dreiundvierzig, einer Frau, zwei Kindern, einem Reihenhaus und akzeptablem Job in dieser Welt zufrieden sein konnte.

Endlich durfte er sich mal wieder auf ein dienstfreies Wochenende freuen, ein sonniges zudem, an dem sie zusammen etwas unternehmen würden, vielleicht einen Ausflug zum See machen und am Abend grillen oder essen gehen. Vielleicht würden Hanna und er aber auch einfach gar nichts Besonderes planen und die beiden Tage mit aktivem Nichtstun verbringen, wie sie es nannten. Der zwölfjährige Paul und seine zwei Jahre jüngere Schwester Marie fingen allmählich an, in ihrer Freizeit eigene Wege zu gehen und legten neuerdings immer weniger Wert auf Familienausflüge.

Ganz in Gedanken, sah er den stehenden Wagen spät, aber nicht zu spät, um rechtzeitig abzubremsen und auszuweichen. Es war ein kleiner silbergrauer Mazda-Zweisitzer mit offenem Verdeck, der halb auf der Straße, halb auf dem Randstreifen stand. Im langsamen Vorbeifahren konnte er sehen er, dass eine Frau am Steuer saß. Sie hatte die Unterarme aufs Lenkrad gestützt, ihr Kopf schien vornüber gesackt. Sofort hielt er an, sprang aus seinem Wagen und lief die paar Schritte zurück.

„Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“, fragte er und packte sie leicht bei der bloßen Schulter. Die Frau reagierte nicht. Mist, dachte er, jetzt bloß nicht noch irgendwelche Komplikationen. Er rüttelte sie ein bisschen und fragte erneut: „Hey, was ist mit Ihnen?“ Da hob sie langsam den Kopf, murmelte ein paar unverständliche Worte und richtete schließlich ihren Oberkörper auf. Sie wandte den Kopf und blickte ihn an.

„Wer sind Sie, was ist los?“, fragte sie, offensichtlich benommen. Er konnte erkennen, dass sie dunkle Augen, eine markante Nase und einen großen Mund hatte, der nur ganz dezent geschminkt zu sein schien; ihr schwarzes Haar war sehr kurz geschnitten, so dass es fast wie eine Männerfrisur wirkte.

„Was los ist? Das sollte ich Sie lieber fragen“, entgegnete Leonhard, erleichtert darüber, dass sie wieder bei Besinnung war.

Plötzlich straffte sie sich, öffnete die Tür und stellte beide Füße, die in flachen schwarzen steckten, auf den Asphalt. Als sie schließlich stand, etwas unsicher zunächst, zeigte sich, dass alles an ihr von einer dezenten Eleganz war. Sie war ziemlich groß, mindestens einszweiundsiebzig, und feingliederig und trug ein hellgraues Kleid mit schmalen Trägern, das perfekt saß und so weit oberhalb der Knie endete, dass es genug von ihren schlanken, gebräunten Beine freigab. Er schätzte sie auf Ende zwanzig, höchstens dreißig.

„Ach, es ist nichts weiter, geht schon wieder“, sagte sie mit einer Stimme, die noch jünger klang. „Mir war nur auf einmal ein bisschen flau, zu wenig gegessen, diese Hitze heute...es ist ja immer noch so schrecklich warm. Dann dauernd diese niedrige Blutdruck. Ich glaube, ich muss jetzt erst mal etwas trinken.“

„Soll ich Ihnen was holen? Ich habe Wasser dabei.“

„Danke, ich habe selber was.“

Sie beugte sich in ihren Wagen und holte ihre Handtasche hervor, eine große schwarze mit langem Riemen. Nach einigem Kramen darin hatte sie ihre Wasserflasche gefunden. Während sie in kleinen Schlucken trank, ging sie einige Schritte auf und ab, atmete immer wieder tief durch, lehnte sich dann gegen die Wagentür und blickte ihn mit einem kleinen, schüchternen Lächeln an. Ihre Bewegungen und ihre ganze Art hatten etwas Anmutiges, Graziles. Sie hatte dunkelrote Fingernägel. An ihren Ohrläppchen blitzten kleine Diamanten.

„Nett, dass Sie sich um mich gekümmert haben“, sagte sie.

„Kein Problem, so etwas ist doch selbstverständlich. Im ersten Moment haben Sie mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt, als ich Sie da so sah.“

„Normalerweise pflege ich Männer nicht zu erschrecken“, sagte sie mit einem unvermutet koketten Unterton. Ohne darauf einzugehen, fragte er sie erneut, ob denn nun wirklich alles in Ordnung sei und sie weiterfahren könne.

„Ja, alles okay, und nochmals schönen Dank“, sagte sie und stieg wieder ein. Ihre Tasche packte sie auf den Beifahrersitz, dann winkte sie noch einmal kurz und fuhr davon. Leonhard sah ihr nach und merkte sich die Autonummer – weniger aus einem speziellen Grund als aus Reportergewohnheit.

Als er zu seinem Volvo zurückgehen wollte, stieß er mit dem Fuß gegen etwas Metallisches. Er bückte sich und hob eine kleine Dose mit einem bunt emaillierten Deckel auf. Im Wagen schaltete er die Innenbeleuchtung an und betrachtete sie genauer. Offenkundig handelte es sich um ein Pillendöschen, das der Frau aus der Handtasche gefallen war. Es war aus Silber, fein gearbeitet und mit Jugendstilmustern verziert. Auf dem Deckel war ein Frauenkopf zu sehen, umgeben von Ranken. Auf der Rückseite des Bodens befand sich eine eingravierte Widmung: „In Liebe, Dein B.B.“ Er schob es in die Tasche seiner Jeans. Vermutlich hatte es einigen Wert, eine kleine antiquarische Kostbarkeit. Und bestimmt besaß es einen besonderen Wert für die Frau.

Im Radio lief inzwischen nicht mehr Adele, sondern Coldplay, was nicht so nach seinem Geschmack war. Er schaltete es aus, da es kaum mehr lohnte, einen anderen Sender zu wählen. Zu Hause ließ er den Volvo in der Einfahrt stehen, statt ihn in die Doppelgarage neben Hannas Corsa zu stellen. Er fühlte sich mit einem Mal müde und verschwitzt. Vielleicht sollte er noch eine Dusche nehmen. Nein, lieber nicht. Im Haus herrschte tiefe Ruhe und er wollte niemanden aufwecken. Auch Hanna war bereits vom Sofa hinauf ins Schlafzimmer umgezogen.

Er kroch zu ihr unter die Decke, ohne dass sie es mitbekam, nachdem er zuvor noch an den Türen von Paul und Marie gehorcht hatte, hinter denen sich ebenfalls nichts mehr zu regen schien. Eine Weile lag er wach. Er musste an die junge Frau denken. Wer mochte sie sein? Was machte sie beruflich? Wohin war sie unterwegs gewesen? War sie verheiratet? Hatte sie einen Ehering angehabt? Er wusste es nicht mehr, erinnerte sich aber daran, dass sie keinen auffälligen Schmuck getragen hatte, außer den Ohrstickern nur eine kleine Armbanduhr und eine schlichte Halskette aus Silber oder auch Platin.

Auf jeden Fall würde er dafür sorgen, dass sie ihr Pillendöschen zurückbekam. Sie würde es sicherlich vermissen. Zum Glück hatte er sich ja das Autokennzeichen gemerkt, und da er die Leute bei der Polizei kannte, würde es kein großes Problem sein, über eine Halterabfrage die Adresse der Frau herauszubekommen.

Dann schlief er ein.

2. Kapitel

Als er aufstand, hatte Hanna bereits den Frühstückstisch auf der Terrasse gedeckt. Leonhard freute sich auf Kaffee und frische Brötchen. Die Dusche ließ er abermals ausfallen, putzte sich nur die Zähne und schlüpfte in Jeans und T-Shirt. In der Hosentasche stieß er auf das Pillendöschen. Er nahm es heraus und verstaute es in seiner Aktentasche. Er würde sich am Montag gleich darum kümmern.

Es war schon fast elf und wieder genau so warm wie am Tag zuvor. Marie und Paul saßen am Tisch und rangelten, wie beinahe jeden Morgen, um das Nutella-Glas. Von diesen kleinen Rangeleien gab es täglich einige, wirklich ernst waren sie so gut wie nie. Mit ihren zehn und zwölf Jahren waren sie beide noch ziemlich kindlich oder, wie Hanna zu sagen pflegte, „handsam“. Paul ging seit zwei Jahren zum Gymnasium, Marie würde nach den Sommerferien ebenfalls dorthin wechseln. Beide hatten sie ihre Freunde und Freundinnen. Paul spielte begeistert Fußball, Marie bekam Ballettunterricht. Ihre größte Sorge schienen momentan Fragen wie die zu sein, ob sie morgens lieber in Jeans oder Rock zur Schule ging und ob sie sich vielleicht einen Vollpony schneiden lassen sollte oder besser doch nicht. Mit dem Frühstück waren die beiden rasch fertig und verabschiedeten sich bis zum frühen Abend. Sie waren mit Kindern aus der Nachbarschaft verabredet.

„Komm, lass uns noch einen Kaffee trinken und eine rauchen“, schlug Leonhard vor, als sie weg waren. Hanna rauchte gern, aber immer mit schlechtem Gewissen. Seit einigen Jahren gönnte sie sich nur noch morgens eine ganze Zigarette. Die anderen sieben, acht rauchte sie nur halb und ohne zwischendurch die Asche abzustreifen, sodass sie pro Tag schlimmstenfalls auf fünf kam. Und die ließen sich vertreten, fand sie.

Sie hatte die nackten Füße auf die Sitzkante des Stuhls hochgezogen und den Kaffeebecher auf den Knien platziert. In ihren weißen Shorts und dem Trägertop wirkte sie besonders jung. Man sah ihr wirklich nicht an, dass sie siebenunddreißig und Mutter von zwei halbwüchsigen Kindern war. Leonhard dachte oft, dass sie sich in all den Jahren kaum verändert hatte. Immer noch war sie fast mädchenhaft schlank. Ihr kinnlanges, hellblondes, leicht gewelltes Haar glänzte in der Sonne. Sie schminkte sich kaum – etwas Puder auf die hohen Wangenknochen, das war's. Und natürlich Lippenstift, den benutzte sie mehrmals täglich. Leonhard hatte einmal mit angehört, wie Marie ihrer derzeit besten Freundin Pia erzählte: „Ohne Lippenstift kann meine Mutter nicht leben.“ Die Kleine hatte bestürzt gemeint: „Echt? Das ist ja schlimm.“

„Es ist ja gestern ganz schön spät geworden, ich habe gar nicht mehr gemerkt, wie du gekommen bist“, sagte Hanna, während Leonhard zwei Camel anzündete und ihr eine davon reichte.

„Ja, es nahm wieder mal kein Ende. Gerade, wenn ich dachte, wir hätten's gepackt, kam wieder irgendwas Neues rein oder jemand wollte etwas von mir. Dann hatten wir auch noch ein Computerproblem.“

„Na ja, jetzt hast du ja erst mal Pause, mein Lieber. Die hast du dir auch wirklich verdient.“

Nachdem Hanna den Tisch abgeräumt hatte, blieb er noch eine Weile sitzen. Er blickte auf den kleinen Garten und dachte wieder einmal, wie gut es doch gewesen war, dieses Haus damals zu kaufen, als die Immobilienpreise am Stadtrand noch erschwinglich waren. Es war ein Eckhaus und gehörte zu einer ehemaligen Werkssiedlung für die Arbeiter einer Fabrik, die es längst nicht mehr gab, und alle Häuser waren im Zuge der sogenannten Gentrifizierung hübsch restauriert worden, jeweils nach den Wünschen der neuen Besitzer. Ihres hatte abgezogene Dielen in dem großen Wohnraum mit Glaswand zum Garten, die Böden in Küche und Bad waren schwarz-weiß gefliest, die Wände mit dem etwas rauen Putz schlicht geweißt – ganz nach seinem und vor allem Hannas Geschmack, die ein Händchen für dergleichen besaß. Schließlich war sie Innenarchitektin. Alles passte zusammen und hatte seinen Platz. Hanna verstand es einfach, dafür zu sorgen, dass es behaglich war und sie sich wohl fühlen konnten, vor allem Leonhard, der sich nicht so sehr um diese Dinge kümmerte.

Als sie sich kennengelernt hatten, vor fast fünfzehn Jahren, steckte sie noch mitten in ihrem Studium, während er bereits bei der Zeitung angefangen hatte. Seit die Kinder da waren, übte sie ihren Beruf aber nicht mehr regelmäßig aus, sondern übernahm nur noch gelegentlich Aufträge. Die Summen, die dadurch zusätzlich in die Haushaltskasse kamen, waren dennoch beachtlich, und mehr als einmal hatte sich Leonhard bei heimlichen Kalkulationen ertappt, die besagten, dass Hannas Arbeit deutlich besser bezahlt wurde als seine eigene, auch wenn er mit seinem Gehalt zufrieden war.

Hanna kannte sich nicht nur mit Wohnungseinrichtungen aus, sie hatte auch den berühmten grünen Daumen. Entsprechend gepflegt sah der Garten mit seinen blühenden Blumenbeeten und üppigen Büschen aus. An der Seite zum Nachbargrundstück, das durch eine Hecke abgegrenzt war, gab es neuerdings ein schmales Nutzbeet, auf dem sie Erdbeeren angepflanzt hatte.

Der Rasen allerdings sah zurzeit nicht so gut aus, fand Leonhard. An einigen Stellen wucherte Löwenzahn, außerdem konnte er ruhig mal wieder gemäht werden. Und etwas Bewegung würde ihm selber auch ganz gut tun. Hanna ermahnte ihn bisweilen, ein bisschen mehr darauf zu achten. Hin und wieder joggte er ein paar Kilometer oder verbrachte eine halbe Stunde im Keller, wo ein Boxsack unter der Decke baumelte, den ihm die Kinder zum vierzigsten Geburtstag geschenkt hatten. Doch er musste sich ehrlicherweise eingestehen, dass er dabei keinen übermäßigen Ehrgeiz entwickelte. Sein Leben bestand nun einmal im Wesentlichen aus seiner Familie und dem „Morgenkurier“, viel Zeit und Energie für anderes blieb da kaum.

Vor einigen Jahren hatte er noch gelegentlich mit dem Gedanken gespielt, zu einer größeren Zeitung zu wechseln, um „richtig Karriere“ zu machen, wie Hanna es nannte. Aber diese Pläne hatten sich spätestens seit dem Hauskauf erledigt. Außerdem war er gern Reporter bei diesem zwar nicht sonderlich bedeutenden, aber solide und ordentlich gemachten Blatt, und seine neue zusätzliche Aufgabe im Online-Bereich empfand er nicht als belastend, im Gegenteil. Mit den größtenteils jüngeren Kollegen, die ihn wegen seiner Erfahrung schätzten, kam er gut aus. Aber wenn er es alles in allem betrachtete, musste er Hanna Recht geben, die, wie sie gern zugab, seine Umgänglichkeit zwar zu schätzen wusste, ihm bisweilen allerdings auch vorhielt, dass er zu leicht bereit sei, sich mit gewissen Dingen abzufinden, oftmals zu nachgiebig sei und sich dabei manchmal sogar etwas blauäugig verhalte.

Nach dem Mähen war er völlig durchgeschwitzt. Es war höchste Zeit, nun endlich ins Bad zu gehen. Er duschte lange und rasierte sich sorgfältig, wie immer nass. Hanna mochte es nicht, wenn sein Kinn stoppelig war. In letzter Zeit kam es ihm so vor, als würde sein Bart schneller nachwachsen. Vielleicht lag das ja am Alter, wenn man auf die Mitte der vierzig zuging.

Vor dem großen Badezimmerspiegel musterte er sich kritisch. Die ersten grauen Strähnen in seinem dunkelbraunen, noch relativ vollen Haar ließen sich nicht mehr übersehen. Er trug es ziemlich lang, sowohl im Nacken als auch über den Ohren, aus alter Gewohnheit und weil er ungern zum Friseur ging, egal, ob längeres Haar gerade wieder einmal der Mode entsprach oder nicht. Über sein Gesicht hatte Hanna einmal gesagt, es sehe ein bisschen so aus wie das von Kevin Costner, aber das war schon eine Weile her; inzwischen fand sie Costner nicht mehr so attraktiv, und er selber hatte nie verstanden, worauf diese Ähnlichkeit angeblich beruhte. Sein Gesicht war schmal und wies ein paar leichte Falten auf, und er hatte graublaue Augen, ähnlich wie Hanna. Den Anblick seines Körpers - gut mittelgroß, relativ kräftig, ohne Bauchansatz - fand er einigermaßen passabel, auch wenn er nicht allzu viel für seine Form tat. Zum Glück hatte er keinerlei Veranlagung zum Dickwerden.

Am Abend, nachdem die Kinder zurück waren, gingen sie alle zusammen zum Italiener, um Pizza zu essen. Später saßen Hanna und er noch lange draußen, bevor sie zusammen zu Bett gingen. Den Sonntag verbrachten sie ebenfalls zu Hause. Paul hatte sich mit ein paar Freunden zu einer Radtour aufgemacht, Marie war bei einer Freundin, die ihren Geburtstag feierte.

Nach dem Mittagessen zog sich Leonhard zum Lesen auf die Terrasse zurück und ließ die Markise so weit herunter, dass sie ihm in seinem Liegestuhl genug Schatten spendete. Und dann war das Wochenende auch schon fast vorbei – viel zu schnell.

3. Kapitel

Am Montagmorgen, kurz nach halb zehn, machte sich Leonhard auf den Weg zur Arbeit. Trotz des erholsamen Wochenendes fühlte er sich etwas lustlos und ohne rechten Antrieb. Er mochte die Montage nicht. Hanna mokierte sich manchmal, wenn er das allzu nachdrücklich betonte.

„Also tschüss, ich bin dann mal weg!“, rief er die Kellertreppe hinunter. Hanna sortierte leere Gläser, sie wollte Erdbeermarmelade einkochen. Vom Obstteller in der Küche schnappte er sich zwei Bananen und packte sie zusammen mit dem Handy in die Aktentasche. Dabei stieß er auf das Pillendöschen. Das ganze Wochenende über hatte er tatsächlich gar nicht mehr daran gedacht. Er steckte es in die Tasche seines hellen Leinensakkos, das er nur über den Arm nahm. Auch jetzt schon war es wieder viel zu warm, um mit mehr als einem Polohemd und Jeans am Leib aus dem Haus zu gehen.

Eine Viertelstunde später kam er in der Redaktion an. Sie befand sich am alten Marktplatz mit seinen historischen Häuserfronten und Kolonnaden und war in einem großen Gebäude untergebracht, das früher einmal einem wohlhabenden Kaufmann gehört hatte. An der ehrwürdigen Fassade prangte unübersehbar in Leuchtbuchstaben der Schriftzug „Morgenkurier“. Durch eine Toreinfahrt gelangte man in den Hof zur Druckerei und zu den Parkplätzen für die Beschäftigten. Es gab dort auch einen Anbau jüngeren Datums für die Verlagsverwaltung. Im Unterschied zu den meisten Kollegen arbeitete Leonhard nicht im Großraum, sondern hatte ein eigenes Büro. Es lag im dritten Stock, mit Blick auf den Marktplatz mit seinem Treiben und dem ewig plätschernden Brunnen in der Mitte.

Als er sein Sakko über den Stuhl hängte, klackte das Döschen gegen die Lehne und er überlegte, ob er jetzt sofort oder erst nach der Konferenz bei der Polizei anrufen sollte. Am besten erledigte er das jetzt gleich, sonst vergaß er es womöglich noch. Der Beamte, den er an den Apparat bekam, kannte ihn, so wie die meisten anderen im Präsidium auch. Er hatte dort einen guten Ruf und galt als absolut vertrauenswürdig. Ganz korrekt war es zwar nicht, die Daten einer Halterabfrage an Dritte weiterzugeben, aber in Leonhards Fall gab es da keine besonderen Bedenken. Der Beamte versprach, ihn später zurückzurufen.

Die Konferenz zog sich wieder einmal in die Länge. Gerd Weidemann, der Chefredakteur, hatte die Angewohnheit, sich gern reden zu hören, was ihn für seine Mitarbeiter ein bisschen anstrengend machte. Wie auf einem Thron saß er an der Stirnseite des langen Tischs, knapp sechzigjährig, wohlgenährt, mit ganzjähriger Bräune aus dem Solarium und wie immer im dreiteiligen Anzug. Wenn ihn jemand unterbrach, dann war er das meistens selbst – um Kunstpausen einzulegen und dabei auf einem Bügel seiner Lesebrille zu kauen.