Ingenieure des Chaos - Giuliano Empoli - E-Book

Ingenieure des Chaos E-Book

Giuliano Empoli

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Beschreibung

Lesen Sie dieses Buch, wenn Sie sich gegen Manipulationen von rechts schützen wollen!

Rechtspopulistische und rechtsextreme Politiker wie Donald Trump, Viktor 0rbán, Marine Le Pen, Matteo Salvini und Björn Höcke haben nicht nur ideologische Gemeinsamkeiten. Sie alle verfolgen auch die Strategie, ihre Anhänger vor allem über Social-Media-Kanäle anzuwerben. Die Experten, die ihnen dabei helfen, sind erfahren und international vernetzt. In der Wahl ihrer Mittel kennen sie keine Skrupel: Emotionalisierung und Aufmerksamkeit um jeden Preis, genau dosierte Tabubrüche und die Verknüpfung von Lügen mit Halbwahrheiten.

Diese Methoden haben dramatische Folgen für die Gesellschaft und jeden Einzelnen von uns. Unsere Demokratie steht auf dem Spiel.

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Seitenzahl: 241

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Zum Buch

Sie sind smart, skrupellos und politisch oft nicht einmal besonders gebildet. Aber sie wissen, wie die Social Media funktionieren, und sie haben die wichtigen Algorithmen. Dominique Cummings und seine Datenfirma Cambridge Analytica zum Beispiel verschickten geschätzt eine Billion genau fokussierte Werbebotschaften an die englischen Bürger, die prompt für den Brexit stimmten. Der Mann hinter Italiens Cinque-Stelle-Bewegung, Davide Casaleggio, geht nicht nur auf Wählerfang, er kontrolliert auch via Internet die Mitglieder der Bewegung, ohne dass diese es ahnen.

Austausch und Zusammenarbeit der Nationalisten nehmen international auf allen Ebenen zu. Dank der finanziellen Unterstützung der Secure America Now Foundation hat die Agentur für digitale Kommunikation Harris Media die Produktion von Videos mit Botschaften vorangebracht, welche die Ablehnung von Moslems und Einwanderung propagieren und auf beiden Seiten des Atlantiks viral gegangen sind. Die Harris Media Agentur ist ganz wesentlich für die AfD-Propaganda in Deutschland verantwortlich und bringt im Netz Werbekampagnen in Umlauf, die unterschiedliche Zielgruppen erreichen.

In Spanien beruht der Erfolg der immer stärker werdenden rechtsextremen Partei Vox auf der Unterstützung eines internationalen Netzwerks von Spendern, dessen Spektrum von ultrakonservativen Milliardären aus den USA über die Prinzessin von Thurn und Taxis bis hin zu russischen Oligarchen reicht, und ihnen allen ist gemeinsam, dass sie der Stiftung Citizen Go aus Madrid nahestehen. Eine Organisation, die sich damit hervorgetan hat, Busse in Spaniens Städten mit Werbeplakaten zu versehen, die einen mit rotem Lippenstift geschminkten Adolf Hitler in Kombination mit dem Hashtag #feminazis zeigten.

Die AfD? Sie nutzt die Social Media professioneller als die übrigen Parteien. Man verkündet eine kleine Wahrheit, die alle als solche erkennen, verknüpft sie mit einer großen Lüge, die nicht sofort durchschaubar ist, und verlinkt das Ganze mit einer seriösen Quelle. Immer im Geist des Wahlspruchs von Arthur Finkelstein, dem Ahnherrn aller Stimmenfänger: »Jede Kampagne braucht einen Feind.«

Zum Autor

Giuliano da Empoli wurde 1973 in Paris geboren und leitet den Volta Thinktank in Mailand. Er studierte Politikwissenschaft, war stellvertretender Bürgermeister für Kultur in Florenz und politischer Berater von Matteo Renzi. Seine Bücher wie »The plague and orgy« (2006) und »The Florentin« (Grasset, 2016) wurden international beachtet. Giuliano da Empoli lebt in Paris.

Giuliano da Empoli

INGENIEUREDES

CHAOS

Wie smarte Social-Media-Experten

den Rechtspopulisten helfen und

unsere Demokratie manipulieren

Aus dem Französischen

von Alexandra Hölscher

Blessing

Originaltitel: Les ingénieurs du chaos

Originalverlag: JC Lattès, Paris

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Die Originalausgabe wurde für die deutsche Übersetzung von Autor und Verlag aktualisiert und erweitert

Copyright 2019 Giuliano da Empoli

Copyright 2020 der deutschen Ausgabe Karl Blessing Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Herstellung: Ursula Maenner

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN 978-3-641-25980-8V001

www.blessing-verlag.de

INHALT

EINFÜHRUNG

ROM — DAS SILICON VALLEY DES POPULISMUS

DAS NETFLIX DER POLITIK

WALDO EROBERT DIE WELT — WIE SOCIAL-MEDIA-USER KONFLIKTE IN MYANMAR, FRANKREICH UND DEUTSCHLAND ANHEIZEN

DONALD TRUMPS TROLLS

DIE AFD UND DIE SOCIAL MEDIA

EIN SELTSAMES PAAR IN BUDAPEST

DER BREXIT UND DIE PHYSIKER

FAZIT

QUELLENANGABEN

Es gibt zwei Arten von Menschen auf dieser Welt,

gute und schlechte. Die Guten schlafen besser,

aber die Schlechten scheinen die wachen Stunden

viel mehr zu genießen.

WOODYALLEN

EINFÜHRUNG

Am 19. Februar 1787 befindet sich Goethe in Rom. Anfang Herbst ist er dort angekommen und verweilt seitdem in einer anonymen Wohnung in der Via del Corso, von wo aus er, ohne gesehen zu werden, das Treiben auf der Hauptverkehrsader des historischen Stadtkerns beobachten kann. Der Dichter ist in der ewigen Stadt auf der Suche nach dem, was ihm bis dato in seinem Leben als Wunderkind der deutschen Literatur, als persönlicher Berater des Großherzogs von Weimar, als Bergbauminister und Verantwortlicher für den Straßen- und Wegebau des Herzogtums gefehlt hat. Vor allem aber ist er auf der Suche nach der Freiheit, selbstbestimmt über seine Zeit verfügen zu können. Um nicht weiter von den Bewunderern seines Romans Die Leiden des jungen Werther bedrängt zu werden, die ihn seit Jahren überallhin verfolgen, hat er unter dem Namen Jean Philippe Möller eine falsche Identität als Maler angenommen, was ihm zumindest für eine Weile die Ruhe verschafft, nach der er sich sehnt.

An diesem Tag jedoch nimmt Goethe Tumult auf der Straße wahr. Als er sich zum Fenster hinausbeugt, bietet sich ihm ein unerwartetes Schauspiel: Die Bewohner der Nachbarhäuser haben Stühle und Teppiche auf den Balkonen und vor den Hofeinfahrten platziert, als wollten sie die Straße schlagartig in ein Wohnzimmer verwandeln. Auf dem Corso fahren die Kutschen mittlerweile in entgegengesetzter Richtung, was für Chaos sorgt, und sonderbare Gestalten fangen an, sich unter die Menschenmenge zu mischen. Junge Männer, geputzt in Festtagskleidern der Weiber aus den untersten Klassen, mit entblößtem Busen und frecher Selbstgenügsamkeit, liebkosen die ihnen begegnenden Männer, tun gemein und vertraut mit den Weibern als mit ihresgleichen, treiben sonst, was ihnen Laune, Witz und Unart eingeben. Gleichzeitig haben die Frauen ebenso viel Lust, sich in Mannskleidern zu zeigen, sie gleichen Zwittergestalten, die der Dichter unumwunden als höchst reizend bezeichnet. Mitten im Gedränge gibt es sogar eine Person mit zwei Gesichtern: Man weiß nicht, welches sein Vorderteil, welches sein Hinterteil ist, ob er kommt, ob er geht.

Es ist der Beginn des Karnevals, des Festes, das die Welt auf den Kopf stellt und nicht nur die Beziehungen zwischen den Geschlechtern umkehrt, sondern auch zwischen den Klassen und all den Hierarchien, die im normalen Alltag das gesellschaftliche Leben bestimmen. Hier wird nur ein Zeichen gegeben, schreibt Goethe, dass jeder so toll sein dürfe, als er wolle, und dass außer Schlägen und Messerstichen fast alles erlaubt sei. Der Unterschied zwischen Höheren und Niederen scheint einen Augenblick aufgehoben; alles nähert sich einander, jeder nimmt, was ihm begegnet, leicht auf, und die wechselseitige Freiheit wird durch eine allgemeine gute Laune im Gleichgewicht erhalten.

Inmitten dieses bunten Treibens verkleiden sich Kutscher als adelige Herren und Adelige als Kutscher. Und sogar die in schwarze Roben gekleideten Abate, denen man sonst mit größtem Respekt begegnet, werden zum idealen Ziel für drageeförmige Wurfgeschosse aus Gips und Kreide. So sind die armen Männer schnell von Kopf bis Fuß mit weißen und grauen Flecken übersät. Keiner bleibt vor Angriffen verschont, am allerwenigsten die Mitglieder hochrangiger Familien, die sich auf der Höhe des Palazzo Ruspoli versammelt haben, wo wiederum die hinterhältigsten Angriffe und blutigsten Kämpfe stattfinden. Zeitgleich tauchen ein Dutzend Pulcinelle auf und versammeln sich an einer anderen Ecke der Straße, wo sie einen König wählen, ihn krönen, ihm ein Zepter in die Hand drücken und ihn unter lautem Geschrei mit Musik den Corso herauf, zu einem geschmückten Wägelchen begleiten.

Das Ganze findet in einer Atmosphäre allgemeinen Frohsinns statt, auch wenn Goethe nicht umhinkommt, einige Misstöne zu beschreiben: Oft aber, schreibt er, werden die Händel ernsthaft und allgemein; und man sieht mit Erstaunen, wie Eifersucht und persönlicher Hass sich freien Lauf lassen. Auch während des traditionellen Pferderennens, das auf dem Corso stattfindet, beschreibt er schwerwiegende Zwischenfälle und manches Unheil, das man entweder nicht erfährt oder nicht achtet.

Hier offenbart sich die dunkle Seite des Karnevals, die unauflösliche Kombination aus Feiern und Gewalt, welche die Basis für sein subversives Potenzial bildet und bei allen Beteiligten immer einen latenten Zweifel über die wahre Natur des tatsächlich Geschehenen erzeugt. Der Karneval ist kein Fest wie die anderen, sondern Ausdruck eines tief sitzenden und unbändigen Gefühls, das unter der dünnen Schicht Asche aus Kultiviertheit schwelt. Es ist kein Zufall, dass der Römische Karneval kein Fest ist, das der Staat dem Volke gibt, sondern ein Fest, das sich das Volk selbst gibt, wie Goethe anmerkt.

Seit dem Mittelalter bietet der Karneval dem Volk die Möglichkeit, auf symbolische Weise und für eine begrenzte Zeit alle etablierten Hierarchien zwischen Herrschern und Beherrschten, zwischen Adel und gewöhnlichem Volk, zwischen den Oberen und den Niederen, zwischen Kultivierten und Primitiven, zwischen dem Geistlichen und dem Weltlichen umzukehren. In diesem Rahmen werden die Verrückten zu Weisen, die Könige zu Bettlern, Realität und Fantasie lassen sich nicht mehr auseinanderhalten. Eine symbolische Umkehrung der Verhältnisse, die fast immer damit endet, dass ein König als Stellvertreter auf Zeit für den eigentlichen Regenten gewählt wird.

Es ist also nicht verwunderlich, wenn die Grenze zwischen der närrischen und der politischen Dimension des Karnevals immer hauchdünn war. Nicht selten wurde aus der Feier eine Revolte, die wahrhaftige Massaker zur Folge haben konnte, und zwar dann, wenn die kleinen Leute sich nicht damit zufrieden gaben, einen Regenten aus Spaß abzusetzen, sondern versuchten, ihn zu töten. Es ist also auch nicht verwunderlich, wenn dieses Fest nach der Französischen Revolution fast überall, unter anderem in Rom, abgeschafft wurde, da man Nachahmer befürchtete. In Frankreich haben die Jakobiner den Karneval abgeschafft, sie sprachen sogar die Todesstrafe für diejenigen aus, die so tollkühn gewesen wären, sich zu verkleiden. Nur versklavte Völker brauchen ein solches Fest merkte Marat an – die Revolution hat ein für allemal für einen wahrhaftigen Umsturz gesorgt, es ist also nicht mehr notwendig, sich zu verkleiden: Gehen Sie weiter, es gibt nichts zu sehen.

Dennoch ist es keiner Staatsgewalt jemals gelungen, den Karneval mit seinem subversiven Charakter zu unterbinden. Heute spielt er sich nicht nur auf den Straßen ab, sondern auch in Pamphleten und Karikaturen beliebter Tageszeitungen, in jüngster Zeit in TV-Satireshows oder als Beschimpfungen durch Internet-Trolls. Ja, der Karneval hat seinen bevorzugten Platz am Rande des Gewissens des modernen Menschen verlassen und hat sich eine noch nie da gewesene, zentrale Position geschaffen, indem er sich als neues Paradigma in der globalen Politik etabliert hat.

Über zwei Jahrhunderte, nachdem Goethe sich in Rom einquartiert hatte, eroberte sich der Karneval seinen Platz in der Gesellschaft zurück. Am 1. Juni 2018 wurde in Italien eine neue Regierung ins Amt gewählt. An ihrer Spitze befand sich Giuseppe Conte. Wie der von Peter Sellers gespielte Gärtner in dem Film Willkommen, Mister Chance, war der neue Regierungschef ein Unbekannter, der immer ein bisschen neben der Spur wirkte und nur dank einer Reihe kurioser Ereignisse zum mächtigsten Mann des Landes wurde. Aber im Gegensatz zu dem Gärtner in dem Kinofilm wurde der unbekannte Professor, der in der Politik ein noch unbeschriebenes Blatt war, am Tag nach seiner Nominierung von den wichtigsten ausländischen Zeitungen unter die Lupe genommen. In dem Versuch, Mister Conte zu demaskieren, war so ziemlich das Einzige, was über ihn in Erfahrung gebracht werden konnte, sein im Internet veröffentlichter Lebenslauf, der vor Fake News nur so strotzte. Als dieser Lebenslauf publik wurde, hagelte es von allen Seiten des Planeten Dementis der angesehensten Universitäten der Welt: Die New York University, University of Cambridge und die Sorbonne, welche im Lebenslauf des Gärtners unter »Akademischer Werdegang« angeführt wurden, stellten mit aller Deutlichkeit klar, dass sich dort keine Spur seines angeblichen Wirkens nachweisen ließe.

Obwohl Mister Conte weltweit auf allen Kanälen bloßgestellt wurde, setzte er unerschütterlich seinen Aufstieg an die Spitze der italienischen Politik fort. Und so konnten die Parteichefs der Fünf-Sterne-Bewegung und der Lega Nord, die wirklich mächtigen Männer in der neuen Regierung, die Ziele, die sie verfolgten, umsetzen: Sie machten es sich ganz entspannt auf den Plätzen direkt unter ihm auf dem Podest bequem.

Zumindest der Parteichef der Fünf-Sterne-Bewegung, Luigi Di Maio, der sowohl stellvertretender Ministerpräsident als auch Minister für Wirtschaftliche Entwicklung, Arbeit und Sozialpolitik war, hatte keine Probleme mit seinem Lebenslauf. Er war zum Zeitpunkt seiner Wahl 33 Jahre alt, hatte keinen akademischen Abschluss und nur eine einzige Berufserfahrung vorzuweisen, bevor er dank der Online-Vorwahlen der Fünf-Sterne-Bewegung mit 189 Stimmen als Abgeordneter ins italienische Parlament gewählt wurde: Er hatte als Steward in dem Fußballstadion San Paolo di Napoli gearbeitet. »Ich hatte eine sehr verantwortungsvolle Position«, sagte er gegenüber der angesehenen italienischen Tageszeitung Corriere della Sera, »ich habe viele VIPs zu ihren Plätzen begleitet.« Das hinderte ihn aber nicht daran, eine der ersten Rollen im neuen römischen Karneval zu spielen, indem er sich durch die unsägliche Fähigkeit hervortat, eine Behauptung aufzustellen, diese innerhalb von wenigen Stunden zu revidieren und Fake News zu verbreiten. So verkündete er zum Beispiel, dass die Regierung dabei sei, sechs Millionen Karten zu drucken, um eine Bürgereinkommen genannte Grundsicherung einzuführen, obwohl der entsprechende Gesetzesentwurf nicht verabschiedet wurde, ja, noch nicht einmal dem Parlament vorlag. An seiner Kompetenz entstanden rasch Zweifel. Bei einem offiziellen Besuch in China sprach er den Staatspräsidenten Xi Jinping mit »Mister Ping« an.

Der wirklich mächtige Mann, der vom Time Magazine als Europas neues Gesicht bezeichnet wurde, war der andere Vizepräsident, Matteo Salvini, der direkt nachdem er sein Amt als Innenminister angetreten hatte, mit dem Spektakel eines fast täglichen Twittergewitters loslegte und auf diese Weise Angst und Fremdenhass schürte. Seit Beginn seines Mandats hatte Salvini Dutzende von »Schockvideos« ins Internet gestellt, die Straftaten – von besonders schwerwiegenden Fällen bis hin zu kleineren Vergehen – von Afrikanern oder illegalen Einwanderern zum Thema haben. Zum Beispiel kommentierte er im Sommer 2018: »Heute haben pflichtgetreue Moslems in ganz Italien das Opferfest gefeiert; zu diesem Zweck wird ein Tier geopfert, indem man ihm die Kehle durchschneidet. Dieses Zicklein ist in allerletzter Sekunde in Neapel gerettet worden, aber im restlichen Land wurden heute Hunderttausende von Tieren gnadenlos abgeschlachtet.«

Der von seinen Anhängern Il Capitano genannte Matteo Salvini nahm es mit der Überprüfung des Wahrheitsgehalts seiner Behauptungen nicht so genau. Er zögerte zum Beispiel nicht, eine Fehlinformation über Asylsuchende zu verbreiten, die in Vicenza eine Demo organisiert hätten, um den Pay-TV-Sender Sky sehen zu können. Diese Behauptung wurde von der Präfektur, das heißt von einem Staatsorgan des Ministeriums, dem Salvini vorstand, dementiert.

Die anderen Regierungsmitglieder waren der italienischen Öffentlichkeit im Rahmen ihrer ersten öffentlichen Auftritte allesamt unbekannt. Aber sie brauchten nicht lange, um von sich reden zu machen. Noch am ersten Tag seines Amtsantritts verkündete der neue Familienminister, »dass es keine homosexuellen Familien gibt.« Und als die Gesundheitsministerin zum Thema Impfungen befragt wurde, antwortete sie, dass sie diese grundsätzlich befürworte, dass man jedoch auch anderer Meinung sein könne. Der Justizminister setzte als Erstes eine der wichtigsten Maßnahmen seines Programms auf die Tagesordnung: die Abschaffung der Verjährung. Im Land des wahrhaftigen Populismus’ muss es doch möglich sein, jeden Bürger und jede Bürgerin zu jedwedem Zeitpunkt anklagen zu können. Und als Mister Conte dem Parlament die Vertrauensfrage in puncto seiner Regierungsfähigkeit stellte, war es vielleicht kein Zufall, dass er sich versprach und verkündete, bereit und willens zu sein, »die Schuldvermutung mit Händen und Füßen zu verteidigen«.

Einige Tage später erschienen, um die neue Regierungsriege zu vervollständigen, weitere Personen auf dem Parkett, die größtenteils den Eindruck erweckten, man habe sie für einen Monty-Python-Film gecastet. Der neue Staatssekretär für die Beziehungen zum Parlament, Maurizio Santangelo war ein Anhänger der sogenannten Chemtrail-Theorie, die besagt, dass Linienflugzeuge von den Regierungen dazu benutzt würden, schädliche chemische oder biologische Substanzen über der Bevölkerung zu verteilen. Um diese Theorie zu untermauern, postete er von Zeit zu Zeit Fotos von weißen Flugzeugstreifen in den sozialen Medien, die er dann zum Beispiel mit »Woran erinnert sie dieser Himmel?« raunendkommentierte.

Auch der Staatssekretär für Inneres, Carlo Sibilia, gab sich als Anhänger wilder Verschwörungstheorien zu erkennen, bezweifelte er doch immer noch, dass die Amerikaner jemals auf dem Mond gelandet seien: »Heute feiern wir das Jubiläum der Mondladung«, twittert er. »Wie kann es möglich sein, dass sich immer noch niemand gefunden hat, der endlich zugibt, dass es sich um eine Farce handelt?« Aber der größte Experte unter ihnen in Sachen Verschwörungstheorien war ohne Zweifel der Staatssekretär für Europäische Angelegenheiten, Luciano Barra Caracciolo, der auf seinem Blog Orizzonte48 den Euro in Frage stellte, die Europäische Union mit Deutschland während des Nationalsozialismus verglich und Verschwörungstheorien wie den Hazard Circular erneut in Umlauf brachte, wonach obskure Finanzmächte die Sklaverei abgeschafft hätten, um eine subtilere Form der Unterdrückung zu schaffen, die darauf beruhte, Kapital zu kontrollieren.

Im Laufe des Sommers 2019 streifte sich ein Großteil der beteiligten Akteure eine andere Maske über: Auf die souveränistische anti-europäische Regierung unter Mister Conte folgte eine progressive pro-europäische Regierung, die immer noch dem Gärtner Conte untersteht und in ständiger Gefahr einer Ablösung schwebt.

Unter diesen Bedingungen kann man der Financial Times nur zustimmen, wenn sie den italienischen Regierungsapparat als »unkonventionellste und unerfahrenste Regierung an der Spitze einer Demokratie im westlichen Europa seit der Gründung der Europäischen Union 1957« bezeichnete. Diese Regierung stellte eine Art psycho-politisches Experiment dar, das vielleicht faszinierend wäre, wenn das Schicksal der siebtgrößten Industriemacht weltweit, und in einem gewissen Maß sogar das gesamteuropäische Konstrukt, nicht vom Ausgang dieses Experiments abhängig wären.

Aber auch wenn Italien wie immer ganz vorn mit dabei ist, beschränkt sich die Hochkonjunktur des Karnevals bei Weitem nicht auf die Halbinsel. Überall, nicht nur in Europa, hat der erstarkende Populismus die Form eines wilden Tanzes angenommen, der alle bestehenden Regeln über den Haufen wirft und sie in ihr Gegenteil verkehrt.

In der Nacht vom 28. auf den 29. November 2016 verhüllten zum Beispiel Aktivisten der Identitären Bewegung in Wien das mehr als zwanzig Meter hohe Maria-Theresia-Denkmal zwischen Natur- und Kunsthistorischem Museum mit einer gigantischen Burka, um gegen die vermeintliche Islamisierung der Republik Österreich zu protestieren. Die »kontrollierte Provokation«, wie sie es nannten, ging natürlich viral auf YouTube und Facebook: Man scheute nicht einmal davor zurück, einen Terroranschlag nachzuspielen und einen flashmob, also eine scheinbar spontan sich zusammenfindende Menschenmenge, zu den sogenannten Altparteien zu schicken.

Die Schwächen der tonangebenden Populisten verwandeln sich aus der Sicht ihrer Wähler zu Stärken. Ihre Unerfahrenheit ist der Beweis dafür, dass sie nicht zu dem korrupten Kreis der Eliten gehören, und ihre Inkompetenz ist Ausdruck ihrer Authentizität. Die Spannungen, die sie auf internationaler Ebene auslösen, veranschaulichen ihre Unabhängigkeit, und die für ihre Propaganda charakteristischen Fake News stehen für die Freiheit ihres Geistes.

In der Welt von Donald Trump, Boris Johnson, Alexander Gauland, Viktor Orbán und Jair Bolsonaro sind Fauxpas, Polemiken oder Eklats an der Tagesordnung. Man hat kaum Zeit, auf einen Zwischenfall einzugehen, schon wird er von einem nächsten überschattet, eine Endlosspirale, die dafür sorgt, dass ihnen Aufmerksamkeit gewiss ist und die Medien voll von ihnen sind. Angesichts dieses Schauspiels könnten aufmerksame Beobachter der Versuchung erliegen, gen Himmel zu schauen und Hamlet recht zu geben: Die Zeit ist aus den Fugen geraten! Dabei übersieht man leicht, dass hinter dem entfesselten Erscheinungsbild des populistischen Karnevals die Arbeit von Dutzenden von Beratern, Ideologen und immer öfter auch von Wissenschaftlern und Big-Data-Experten steckt. Ohne deren Hilfe wären die Populisten in Italien niemals an die Macht gekommen, ohne deren Hilfe hätten sie in England niemals den Brexit erzwungen, wären sie in Frankreich und Deutschland nicht beängstigend erfolgreich, und ohne sie hätte Donald Trump niemals das Weiße Haus erobert.

Dieses Buch erzählt ihre Geschichte.

Zum Beispiel die Geschichte eines italienischen Marketingexperten, der Anfang der 2000er-Jahre erkannte, dass das Internet die Politik revolutionieren würde, auch wenn ihm bewusst war, dass die Zeit noch nicht reif für eine rein digitale Partei war. So engagierte Gianroberto Casaleggio den Komiker Beppe Grillo, um ihn zum ersten Avatar aus Fleisch und Blut einer Algorithmen zugrundeliegenden Partei zu machen, der Fünf-Sterne-Bewegung, die ausschließlich aus den gesammelten Daten von Wählern entstand und frei von einer ideologischen Ausrichtung die Erfüllung ihrer Anliegen zum Ziel hatte. Das ist ein bisschen so, wie wenn das Datenanalyseunternehmen Cambridge Analytica, anstatt von Donald Trump beauftragt worden zu sein, selbst direkt an die Macht gekommen wäre, indem es sich seinen eigenen Kandidaten ausgesucht hätten.

Oder die Geschichte von Dominic Cummings, dem Mastermind der Brexit-Kampagne, der sagt: »Wenn Sie in der Politik vorankommen wollen, stellen Sie keine Experten oder Rhetoriker ein, sondern holen Sie sich Physiker ins Boot.« Dank der Arbeit eines Teams von Wissenschaftlern gelang es Cummings, Millionen von unentschlossenen Wählern, von denen seine Gegner nicht mal die Spur einer Ahnung hatten, gezielt anzusprechen, indem er zum richtigen Zeitpunkt genau die Botschaften an sie richtete, die es brauchte, um sie ins Brexit-Lager zu holen.

Die Geschichte von Steve Bannon, dem Einmannorchester des amerikanischen Populismus, der, nachdem er Donald Trump zum Sieg geführt hatte, davon träumte, eine internationale populistische Bewegung zu gründen, um die von ihm betitelte Davos-Partei der globalen Eliten zu bekämpfen.

Und die Geschichte von Milo Yiannopoulos, dem britischen Blogger, der dafür sorgte, dass es eine Umkehrung des Rechtsverständnisses gegeben hat. Wenn in den 1960er-Jahren die Systemgegner darauf aus waren, die gängige Moral anzuprangern und die Tabus einer konservativen Gesellschaft aufzubrechen, haben die Nationalpopulisten von heute ein ganz anderes Politik- und Rechtsverständnis übernommen: In ihrer Rhetorik geht es als Erstes darum, den Kodex der Linken und die Political Correctness aufzubrechen.

Die Geschichte von Arthur Finkelstein aus New York, der Viktor Orbáns wichtigster Berater geworden ist, und, obwohl er selbst jüdischer Herkunft ist, den Antisemitismus beförderte und Fahnenträger eines reaktionären Europas wurde, das sich einem gnadenlosen Kampf um den Erhalt traditioneller Werte verschrieben hat. Die Geschichte der Kommunikationsstrategen, die sowohl in Spanien als auch in Deutschland dabei sind, Geister der Vergangenheit heraufzubeschwören und ihnen mithilfe des Web 4.0 ein neues Gewand zu verpassen.

Alle miteinander sind sie dabei, als Ingenieure des Chaos eine Propaganda noch einmal zu erfinden, die sich der Ära der Selfies und sozialen Medien anpasst, und damit das innere Wesen selbst des demokratischen Verständnisses zu verändern. Ihr Handeln ist die Übersetzung der Mechanismen von Facebook und Google in die Politik. Sie ist auf natürliche Weise populistischer Art, denn wie die sozialen Medien kennt sie keine Form von Dazwischen und stellt alle auf eine gleiche Stufe, die nur einen einzigen Bewertungs-parameter erlaubt: die Likes. Inhalte zählen in diesem Verständnis nicht, denn wie in den sozialen Medien gibt es nur ein Ziel: das, was die kleinen Genies im Silicon Valley Engagement nennen und auf politischer Ebene »sofortiges Einvernehmen« bedeutet.

Wenn der Algorithmus der Social Media so programmiert ist, dem Nutzer Inhalte anzubieten, die ihn etwas öfters und etwas länger an eine bestimmte Plattform fesseln, so ist der Algorithmus der Ingenieure des Chaos darauf ausgerichtet, irgendeinen Standpunkt zu vertreten, sei er vernünftig oder absurd, realistisch oder intergalaktisch, solange die Wähler und Wählerinnen mit ihren Sehnsüchten und Ängsten – vor allem mit ihren Ängsten – dadurch abgeholt werden.

In Stanley Kubricks Film Dr. Seltsam oder Wie ich lernte, die Bombezu lieben (2006) fühlte sich ein amerikanischer General durch eine kommunistische Weltverschwörung bedroht. Eines Tages dreht dieser auch wieder von Peter Sellers gespielte Dr. Seltsam durch und setzt die amerikanische Atombombenflotte in Richtung Sowjetunion in Marsch. Die neuen, von Verschwörungstheorien durchdrungenen Dr. Seltsams der Politik aber trachten nicht mehr danach, Menschen um einen kleinstmöglichen gemeinsamen Nenner zu vereinen, ganz im Gegenteil: So viele Splittergruppen wie möglich sollen in den Themen, für die sie brennen, bestärkt werden, um dann eine große Schnittmenge aus ihnen zu machen, was sie nicht einmal merken. Um eine Mehrheit für sich zu gewinnen, zielen die neuen Dr. Seltsams nicht mehr auf die Mitte, sondern auf die Extremen ab. Nicht von ungefähr hat eine deutsche Studie unlängst die »verlorene Mitte« aufgezeigt. Diese Tendenz der Polarisierung zieht sich durch sämtliche Gesellschaften. Indem er die Wut der Einzelnen nährt, während er die Kohärenz des Ganzen außer Acht lässt, löst der Algorithmus der Ingenieure des Chaos die alten ideologischen Schranken auf und formuliert den politischen Konflikt auf der Basis eines einfachen Gegensatzes – das »Volk« gegen die »Elite« – um. Im Falle des Brexits, der immer mehr Stimmen gewinnenden AfD, von Trump oder von Italien lässt sich der Erfolg der Nationalpopulisten an ihrer Fähigkeit bemessen, den tiefen Graben zwischen Linken und Rechten zu überwinden, um die Wahlstimmen aller Alarmierten und Verängstigten und nicht nur aller Rechtsradikalen für sich zu gewinnen.

Spät, aber immerhin öffentlichkeitswirksam, etabliert sich eine Gegenbewegung, die Datensouveränität auf ihre Fahnen schreibt. Die aus dem Mittleren Westen der USA stammende Brittany Kaiser, von vielen schon als Greta der Datenwelt gefeiert, kann bereits mit 34 Jahren auf eine aufregende Karriere zurückblicken. Als sie 18 war, arbeitete sie in den USA für einen Demokraten im Vorwahlkampf, mit 22 Jahren betreute sie den Facebook-Auftritt von Barack Obama. Der Londoner Datenunternehmer Alexander Nix holte sie 2015 zu Cambridge Analytica, wo sie für Menschenrechtsprojekte arbeitete, aber auch für die Brexit-Kampagne und für Donald Trump.

2018 jedoch wechselte sie spektakulär die Seiten, entlarvte öffentlich die Manipulationen von Cambridge Analytica und startete auf Facebook eine Kampagne für Datensouveränität: »Own your Data.« Spätestens durch die Netflix-Dokumentations-Serie »The Great Hack«, in der ihre eigene Geschichte verarbeitet wird, wurde sie zum Star der Datenweltkritiker.

Der Nährboden sowohl der Social Media als auch der neuen Propaganda besteht hauptsächlich aus negativen Gefühlen, denn sie sind ein Garant für höchstmögliche Wahlbeteiligung; das erklärt dann auch, warum Fake News oder Verschwörungstheorien so erfolgreich sind. Dennoch hat diese Feindpropaganda auch eine Art zelebrierende und befreiende Seite, die oft von denjenigen verkannt wird, die ihr Augenmerk nur auf die obskure Seite des populistischen Karnevals richten.

Spott ist schon immer ein besonders wirkungsvolles Mittel gewesen, Hierarchien auf den Kopf zu stellen. Während des Karnevals untergräbt ein befreiender Lachanfall den Pomp, die starren Regeln und die Selbstgefälligkeit, die mit der Macht zwangsläufig einhergehen. Es gibt nichts Verheerenderes für eine Autorität ausübende Instanz als einen Vorwitzigen, der diese Autorität der Lächerlichkeit preisgibt. Angesichts der Ernsthaftigkeit der Agenda der Macht, angesichts der Freudlosigkeit und Arroganz, die sie ausstrahlt, sorgen ein selbstverliebter Abenteurer wie Trump, der Gesetze nach eigenem Gutdünken auslegt, für einen Schub, der kurzfristig Energien freisetzt. Tabus, Scheinheiligkeiten und sprachliche Konventionen zerfallen inmitten des Jubels der außer Rand und Band geratenen Menge zu Staub. Auch bei der explosionsartigen Vermehrung der Gelbwesten, die sicherlich nicht mit den rechten Populisten in eins gesetzt werden dürfen, war dieses Phänomen zu beobachten.

Für Zuschauer ist während des Karnevals kein Platz. Jeder macht mit beim Jubel-Trubel der auf den Kopf gestellten Welt, keine Beleidigung, kein Witz sind zu vulgär, wenn sie dazu beitragen, die herrschende Ordnung zu zerstören und diese durch eine neue Dimension von Freiheit und Brüderlichkeit zu ersetzen. Der Karneval erzeugt bei denjenigen, die ihn zelebrieren, ein intensives Gefühl von Vitalität, das Gefühl, Teil eines sich erneuernden Kollektivs zu sein. Aus Zuschauern werden Akteure, Einkommen oder Bildungsgrad spielen eine Zeit lang keine Rolle. Die Meinung des erstbesten Dahergelaufenen ist genauso viel wert wie die des Experten, möglicherweise sogar mehr. Die Karnevalsmasken haben sich mittlerweile ins Internet verlagert, wo unter dem Deckmantel der Anonymität völlige Enthemmtheit herrscht, ein Zustand, der früher erst mit dem Anziehen einer Verkleidung hervorgerufen wurde. Trolls sind die neuen Pulcinellas, die Öl in das befreiende Feuer des populistischen Karnevals gießen.

Nichts ist in diesem Ambiente schädlicher, als die Rolle des Spielverderbers einzunehmen. Der Fakten-Checker, der Fehler mit dem Rotstift markiert, der Liberale, der sich mit hochgezogener Augenbraue über die vulgäre Ausdrucksweise der neuen Barbaren empört. »Darum sind die Linken so unglücklich«, sagt Milo Yiannopoulos, »sie kennen keinen Spaß und können der Feierei nichts abgewinnen.« Der ehemalige Breitbart-Journalist und Partypopulist hält Progressive für Besserwisser, die nicht viel bewegen und deren Pragmatismus für Fatalismus steht, wobei die Könige des Karnevals versprechen, die bestehende Realität in die Luft zu sprengen.

Das Leben besteht nicht nur aus Rechten und Pflichten oder aus Zahlen und auszufüllenden Formularen. Der neue Karneval hält nichts vom gesunden Menschenverstand, nein, er funktioniert nach einer eigenen Logik, die dem Theater nähersteht als der Schule, die mehr nach Greifbarem und Bildern giert als nach Texten und Theorien, die mehr auf die erzählerische Intensität als auf die Richtigkeit von Fakten abzielt. Wir haben es mit einem Politikverständnis zu tun, das wenig vom rationalen Abstrahieren hält, jedoch dann eine unerwartete Kohärenz aufweist, wenn es darum geht, systematisch gesellschaftliche Normen auf den Kopf zu stellen und ihnen entgegengesetzte Werte für gültig zu erklären.

Hinter der scheinbaren Absurdität von Fake News und Verschwörungstheorien steckt Kalkül. Aus Sicht der populistischen Führer sind alternative Fakten nicht nur ein reines Propagandamittel. Im Gegensatz zu echten Informationen erzeugen sie eine wunderbare Grundlage für das Gefühl von Verbundenheit. In vielerlei Hinsicht stellen Absurditäten ein effektiveres Organisationsmittel dar als die Wahrheit, schreibt der Blogger der US-amerikanischen alternativen Rechten, Mencius Moldbug. Jeder Hinz und Kunz kann wahre Fakten glauben, aber es zeugt von echter Loyalität, wenn man an das Absurde glaubt. Und wer eine Uniform trägt, hat eine Armee.

So hebt sich also der Anführer einer Bewegung, der Fake News in das Konstrukt seiner ganz eigenen Vision der Welt integriert, von der Allgemeinheit ab. Er ist kein pragmatischer Bürokrat und Fatalist wie die anderen, sondern ein Mann der Tat, der seine eigene Realität erschafft, um die Erwartungen seiner Anhänger zu erfüllen. In Europa und auf der ganzen Welt stehen Lügen hoch im Kurs, denn sie werden in politische Narrative eingebettet, die auf die Ängste und Sehnsüchte einer immer größer werdenden Wählerschaft eingehen, während die Fakten derjenigen, die Lügen anfechten, in Narrative eingebettet werden, deren Glaubwürdigkeit angezweifelt wird. In der Praxis bedeutet das für die populistischen Glaubensgenossen, dass der Wahrheitsgehalt von Fakten im Einzelnen nichts mehr zählt. Wahr ist nur die Botschaft in ihrer Gesamtheit, die ihren Erfahrungen und ihren Gefühlen entspricht. Es ist folglich zwecklos, Daten und Korrekturen zu sammeln, wenn immer mehr Wähler die Gesamtvision von Regierenden und traditionellen Parteien als realitätsfern empfinden.