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Ja, es gibt sie wirklich: Meerjungfrauen! Diese rätselhaften Fischwesen sind äußerst attraktiv, allerdings haben sie eine sehr einseitige Ernährung: frisches Menschenfleisch. Das kleine Inseldorf Siren Cove ist in Gefahr, denn die dort lebenden Meerjungfrauen machen Jagd auf die Einwohner, anstatt die extra bereitgestellten Futterangebote anzunehmen. Dr. Black, exzentrischer Mitarbeiter eines Konzerns für menschliches Ersatzfleisch, hat die Aufgabe, das bedrohliche Fressverhalten der Meeresbewohner zu korrigieren – mit katastrophalen Folgen … Insel der Meerjungfrauen ist wie eine Kreuzung von H. P. Lovecraft und David Lynch – nur viel, viel abgedrehter! Hunter Shea: »Carlton Mellicks Bücher sind gewöhnungsbedürftig, machen jedoch süchtig wie eine Droge.« Jack Ketchum: »Wenn du Mellick noch nicht gelesen hast, bist du vielleicht nicht verkorkst genug für das 21. Jahrhundert.« Vice Magazine: »Ein Wurmloch, gefüllt mit verstörendem Surrealismus und absurder Satire.« Fangoria: »Echte Outsider-Kunst.« Mit Leseband, gebunden in der Festa-Lederoptik. Vorbestellungen sind leider nicht möglich. Abos zum Subskriptionspreis (2,99 Euro günstiger) können jederzeit HIER abgeschlossen werden. Bestellungen zum regulären Preis sind ab Erscheinen möglich.
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Seitenzahl: 154
Veröffentlichungsjahr: 2022
Aus dem Amerikanischen von Manfred Sanders
Impressum
Die amerikanische Originalausgabe Village of the Mermaids
erschien 2013 im Verlag Eraserhead Press.
Copyright © 2013 by Carlton Mellick III
Copyright © dieser Ausgabe 2022 by Festa Verlag GmbH, Leipzig
Titelbild: Arndt Drechsler-Zakrzewski
Innengrafik: iStock/SongSpeckels
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-86552-988-6
www.Festa-Verlag.de
Vorwort des Autors
Egal was ihr über mich denkt, aber ich finde Meerjungfrauen cool.
Okay, eigentlich geht es bei dieser Textzeile aus Orgazmo um Einhörner und nicht um Meerjungfrauen, aber das hätte auch gepasst. Und Meerjungfrauen sind cool. Tatsächlich war ich schon immer ein großer Fan dieser ganzen ›Mädchen‹-Fantasygestalten: Meerjungfrauen, Feen, Einhörner, Kätzchen mit Engelsflügeln und so weiter. Das lag vielleicht daran, dass ich als Kind viel zu viel Zeit mit meiner kleinen Schwester verbracht habe. Ich habe mir alle ihre Mädchen-Zeichentrickserien wie Gem oder Rainbow Brite angesehen und sie sich meine Jungsserien wie He-Man und G. I. Joe. Vielleicht haben wir deshalb beide Interessen entwickelt, die eine Kombination aus Mädchen- und Jungskram waren. Wir spielten Spiele, bei denen sie eine kriegerische Fee mit Schwertern und Maschinengewehrarmen war und ich ein Einhorn mit Tattoos und einer Kettensäge als Horn. Wir kämpften gegen das Böse, und dann gingen wir in unserem imaginären Einkaufszentrum modische neue Outfits shoppen.
So ganz haben mich diese Interessen nie verlassen. Ich versuche in alles, was ich schreibe, eine Mischung aus mädchenhaften und jungenhaften Aspekten einfließen zu lassen. Wenn ich über Panzer schreibe, dann will ich, dass die Panzer rosa sind. Wenn ich über Meerjungfrauen schreibe, dann will ich, dass sie brutal und tödlich sind.
Schon immer hatte ich großen Spaß daran, traditionelle Fantasygestalten neu zu erfinden. Das war der eigentliche Grund, weshalb ich Warrior Wolf Women of the Wasteland geschrieben habe. Es sollte meine Interpretation des Werwolfthemas sein. Village of the Mermaids ist meine Interpretation des Meerjungfrauenthemas. Dabei handelt es sich nicht um Meerjungfrauen der Disney-Spielart. Bei mir sind es wilde Kreaturen, die einem die Kehle herausreißen wollen. Ich finde, so sollten Meerjungfrauen immer sein: wie die Alienkönigin, nur niedlicher.
Village of the Mermaids ist mein 40. veröffentlichtes Buch. Es ist schon irre, wenn ich darüber nachdenke. 40 klingt nach einer Menge Bücher. Aber ich bin jetzt seit zehn Jahren Vollzeitautor. Ohne einen störenden Lohnjob war es eigentlich ganz leicht, in dieser Zeit 40 Bücher zu schreiben, vor allem wenn die meisten davon 40.000 Wörter oder weniger umfassen.
Ich habe mir fest vorgenommen, von jetzt an vier Bücher pro Jahr zu schreiben, eins in jeder Jahreszeit. Das mache ich seit einer Weile ohnehin schon, aber jetzt habe ich beschlossen, es offiziell zu machen. Ihr könnt also ab jetzt jeden Januar, April, Juli und Oktober mit einem Buch von mir rechnen. Und dem gelegentlichen Bonusbuch zu besonderen Gelegenheiten.
Diesem Buch vorangestellt ist eine gestrichene Bonusszene. Es ist eine meiner Lieblingsszenen im Buch, aber sie passte nirgendwo in die Geschichte, deshalb musste ich sie herausschneiden. Tatsächlich ist es so eine Art Prolog zum Buch, da sie zu einem früheren Zeitpunkt spielt. Aber beachtet bitte, dass sie eigentlich nicht mehr zur Geschichte gehört. Sie ist nicht kanonisch. Vielleicht solltet ihr sie sogar ein paar Tage, bevor ihr mit dem Buch anfangt, lesen, damit es sich mehr wie eine eigenständige Prequel-Story anfühlt.
Hier ist es also nun. Buch Nummer 40. Und es dreht sich um Meerjungfrauen. Wie geil ist das denn?
– Carlton Mellick III, 19.03.2013, 7:51 Uhr
Vater-Tochter-Gespräch
Gestrichene Prequel-Szene
»Du fragst dich sicher, warum ich dich heute herbestellt habe«, sagte Doktor Black, als das kleine Mädchen lächelnd sein Büro betrat. »Bitte nimm Platz.«
Er zeigte auf den kleinen Metallstuhl in der Mitte des Raumes. Das Mädchen nickte zweimal kurz und setzte sich schweigend.
»Rücken gerade!«, befahl der Doktor mit strengem Blick auf die inakzeptable Körperhaltung der Kleinen. Das Mädchen streckte den Rücken durch und hob das Kinn. Diese Übung kannte es nur zu gut.
Doktor Black erhob sich hinter seinem Schreibtisch. Er ragte über dem Mädchen auf, das mit seinen glänzend braunen Augen zu ihm hochblinzelte. Das Mädchen lächelte pausbäckig und fummelte an seiner lila karierten Schleife im Haar herum.
»Normalerweise würde ich meinen Kollegen und Bekannten diese Information durch meine Sekretärin zukommen lassen«, sagte der Doktor. »Aber als dein Vater erscheint es mir angemessener, dir die Neuigkeit persönlich mitzuteilen.«
Das kleine Mädchen lächelte seinen Vater nur an. Es war aufregend, sich im gleichen Raum wie er zu befinden. Obwohl sie im gleichen Haus wohnten, bekam das Mädchen ihn nur selten persönlich zu Gesicht. Er nahm sich nie die Wochenenden oder Feiertage frei. Und wenn das Mädchen ihn sah, dann sprach er nur selten direkt mit ihm. Er war immer zu sehr mit seiner Arbeit beschäftigt.
»Ich habe dich hergebeten«, sagte Doktor Black, »um dich darüber in Kenntnis zu setzen, dass ich nur noch eine Woche zu leben habe.«
Das Lächeln fiel dem Mädchen aus dem Gesicht. Zuerst dachte es, dass er nur scherzte, aber das war nicht möglich. Ihr Vater machte niemals, niemals Scherze.
»Du meinst … du wirst sterben?«, fragte die Kleine. Ihr Atem ging schneller, ihre Augen wurden feucht.
»Korrekt«, sagte der Doktor. »Deine Mutter und ich haben es für das Beste gehalten, dich über den tödlichen Verlauf meiner Krankheit im Unklaren zu lassen, bis meine letzten Tage anbrechen.«
Das Mädchen stand von seinem Stuhl auf, streckte ihm die Arme entgegen und wollte ihn an sich drücken, aber das ließ der Doktor nicht zu. Er hielt seine Tochter mit erhobener Hand davon ab, ihm näher zu kommen.
»Umarmungen sind nicht gestattet«, sagte er und bedeutete ihr, sich wieder auf ihren Stuhl zu setzen.
Das Mädchen wischte sich die Tränen ab. »Also haben wir nur noch eine Woche zusammen?«, fragte es.
Der Doktor schüttelte den Kopf.
»Nein«, sagte er. »Bedauerlicherweise habe ich für den Rest der Woche geschäftlich zu tun. Ich werde nach diesem Gespräch zum Flughafen aufbrechen.«
Die Augen des Mädchens wurden leuchtend rot und dann brach es in einen Weinkrampf aus.
»Bitte bewahre die Fassung«, sagte der Doktor und zeigte auf eine strategisch platzierte Schachtel Papiertaschentücher. »Dies ist ein Ort der Arbeit.«
Das Mädchen zog Taschentücher aus der Schachtel. Es versuchte sich zu beruhigen, bekam aber vor Kummer einen Schluckauf.
Der Doktor warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Ich habe nur zehn Minuten für unser Zusammensein veranschlagt, und wir haben bereits fünf davon verschwendet, deshalb sollten wir etwas das Tempo anziehen.«
Der Doktor reichte dem Mädchen einen Stapel Umschläge.
»Hier sind deine Geburtstagskarten für die nächsten 20 Jahre«, sagte er. »Jeder Umschlag enthält einen 100-Dollar-Schein. Bitte sieh davon ab, mehr als eine Karte pro Jahr zu öffnen, selbst wenn du das Geld benötigst.«
Das Mädchen blickte auf die Umschläge. Auf jedem stand eine andere Jahreszahl. Die Handschrift war nicht die ihres Vaters.
»Und hier ist eine Liste akzeptabler Berufswege«, sagte der Doktor und reichte dem Mädchen ein laminiertes Blatt Papier. Das Mädchen nahm es entgegen wie eine Speisekarte. »Wähle einen davon, wenn du in das entsprechende Alter kommst. Ich empfehle Datensystemanalytikerin. Es ist ein anregendes Betätigungsfeld, für das immer Nachfrage besteht.«
Der Blick des Mädchens war in die Ferne gerichtet. Es hörte ihm nicht mehr zu, während er einen Stapel DVDs nahm und sie eine nach der anderen auf den Schoß des Mädchens legte.
»Diese DVD enthält die Rede, die ich für deine Hochzeitsfeier vorbereitet habe«, sagte Doktor Black. »Du wirst einen Projektor und eine gute Lautsprecheranlage benötigen. Es könnte etwas leise sein, deshalb achte darauf, dass die Lautstärke einstellbar ist.« Er zeigte auf eine andere DVD. »Diese enthält eine Grußbotschaft anlässlich der Geburt deines ersten Sohnes. Vielleicht solltest du sie dir schon vorher ansehen, da ich darauf einige geeignete Namen für das Kind diskutiere.« Das Mädchen hielt die DVDs in den Armen, umarmte die Restwärme seines Vaters. »Die übrigen Videoaufnahmen sind disziplinarische Vorträge für den Fall, dass du ein Kapitalverbrechen begehst, deine Ausbildung vorzeitig abbrichst oder eine unangemessene Neigung zum gleichen Geschlecht verspürst.«
Das Mädchen legte die DVDs auf den Boden und streckte die Arme aus, eine flehende Bitte um Umarmung.
Der Doktor schüttelte nur den Kopf. »Ich habe dir bereits gesagt, dass Umarmungen nicht gestattet sind.« Er zeigte auf die Puppe in der Ecke des Büros. »Wenn du etwas umarmen musst, dann benutze den Umarmungs-Dad.«
Die Puppe war eine lebensgroße Plüschnachbildung von Doktor Black. Sie hatte die Arme zu einer Umarmung ausgestreckt, das Gesicht war mit einem Filzstift aufgemalt. Selbst die Puppenversion des Doktors zeigte kein Lächeln. Das Mädchen sah die Puppe für einen Moment an, umarmte sie aber nicht.
»Ich glaube, das wäre alles«, sagte der Doktor. »Hast du noch Fragen?«
Das Mädchen zitterte vor Panik. Es konnte nicht fassen, dass es seinen Vater jetzt zum letzten Mal sah.
»Also werde ich dich nie wiedersehen?«
»Das ist korrekt.«
»Jetzt gibt es nur noch mich und Mommy?«
»Nein. Ich fürchte, nicht. Unglücklicherweise kam deine Mutter heute Morgen auf dem Weg zur Arbeit bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Du wirst bei der Familie meiner Sekretärin wohnen, bis dein Onkel nächsten Monat aus dem Gefängnis entlassen wird.«
Das Mädchen hörte auf zu atmen und starrte seinen Vater mit zitternden Augen an. Dann schrie es aus vollem Hals.
»Ich verstehe, dass diese Neuigkeiten für dich ein wenig verstörend sein dürften, aber bitte bewahre die Fassung.« Doktor Black zeigte auf die Puppenversion von sich selbst. »Benutze den Umarmungs-Dad.«
Das Mädchen sah die Puppe an. Tränen strömten ihm über das vor Kummer verzerrte Gesicht.
»Ich bestehe darauf«, sagte der Doktor. »Immer wenn du einsam oder aufgebracht bist, sollst du den Umarmungs-Dad benutzen. Ich habe meine Sekretärin gebeten, ihn zusammen mit dir mit nach Hause zu nehmen.«
Das Mädchen ging zu der wuchtigen Puppe und legte unbeholfen die Arme um sie. Es durchfeuchtete den Plüschstoff mit seinen Tränen.
»So, wenn du mich jetzt bitte entschuldigen würdest«, sagte der Doktor. »Ich darf meine Maschine nicht verpassen.«
Er strich seinen Anzug glatt und hob die Hand. Es sah mehr so aus, als würde er einen Schwur leisten, und weniger wie ein Abschiedsgruß.
»Es war mir eine Freude, dein Vater zu sein«, sagte er.
Bevor er sein Büro verlassen konnte, riss sich die Tochter von der dadförmigen Puppe los und stürzte sich auf ihn. Sie schlang mit aller Kraft ihre Arme um ihn und weinte in seinen Bauch. Der Doktor erwiderte die Umarmung nicht, sondern hob die Arme und stand unbehaglich da, während das Mädchen sich an seine Hüfte presste.
»Nun gut, eine Minute …«, sagte der Doktor und versuchte die Umarmung seiner Tochter zu ertragen.
Er schaute auf seine Armbanduhr und seufzte vernehmlich, während das Mädchen eine kopfförmige Einbuchtung in seinem Unterleib hinterließ.
1 – Die Monochromen
Doktor Black hatte die Krankheit. Die, über die niemand reden mochte.
Jeder auf dem Schiff konnte erkennen, dass er infiziert war. So viele Schichten Kleidung er auch trug, um seine nicht menschliche Haut zu verbergen, alle wussten genau, was mit ihm los war. Und sie hielten sich so weit wie möglich fern von ihm, standen alle auf der vorderen Hälfte des Schiffes, als würden sie sich zusammendrängen, um sich zu wärmen.
Nur eine Frau wagte es, sich ihm zu nähern – eine junge Frau im Collegealter mit kurzen blonden Haaren und einem Lächeln, das zu klein war für ihr Gesicht.
»Es heißt, Sie hätten Zimmers Krankheit«, sagte sie zu ihm.
Das war eigentlich keine Art, sich einem Fremden vorzustellen, vor allem jemandem, der so ungewöhnlich war wie Doktor Black. Seine Kleidung glich eher der eines Leichenbestatters als der eines Arztes. Seine trüben Augen lagen tief eingesunken in seinem Kopf wie die einer mumifizierten Leiche.
Er blickte düster auf die Frau mit dem Kindergesicht hinab. Aufgrund ihres fröhlichen Auftretens vermutete der Doktor, dass sie aus der Stadt kam. Von den Inseln konnte sie nicht kommen. Fröhliche Menschen gab es auf den Inseln nicht.
»Das ist korrekt«, sagte er mit fester Stimme, gedämpft durch den Nebel des Meeres. »Bitte halten Sie Abstand …«
Er verstummte, als die Frau einen Penny an seine Stirn heftete. »Was machen Sie …?«
Und dann drückte sie noch einen Vierteldollar und ein Zehncentstück auf seine Stirn. Die Frau lächelte, als die Münzen in seiner Haut eingebettet haften blieben.
»Es stimmt also«, sagte sie. »Ihre Haut ist wirklich wie Knetgummi.«
Er entfernte die Münzen von seiner Stirn und warf sie über seine Schulter in die eisgrauen Wellen. Die drei Vertiefungen verblieben in seiner Haut, geformt wie die Gesichter von US-Präsidenten.
»Es ist hochgradig ansteckend«, sagte der Doktor. »Sie sollten mich besser nicht berühren.«
»Ich habe Sie nicht mit meinen Fingern berührt«, erwiderte sie. »Außerdem ist Ihre Krankheit gar nicht so ansteckend, wie man immer sagt. Nur Ihr Schweiß kann mich infizieren, und da die meisten Ihrer Poren glatt verwachsen sind, schwitzen Sie so gut wie gar nicht.«
»Es ist das Risiko nicht wert«, sagte der Doktor und drehte sich wieder zum Meer. »Es gibt kein Heilmittel. Gehen Sie lieber wieder.«
Die junge Frau kicherte nur leise.
»Ich passe schon auf«, sagte sie. Ihr Tonfall klang, als würde sie sich über seine Besorgnis lustig machen.
Als er sie wieder ansah, schaute er ihr tief in die Augen und erkannte, dass sie eine viel stärkere Persönlichkeit war als die meisten jungen Frauen ihres Alters.
Auf der linken Wange hatte sie eine kreisrunde Narbe, die aussah, als hätte jemand sie als Kind mit einem Zigarettenanzünder verbrannt. Weiße Narben erstreckten sich über ihre Kehle, als hätte jemand versucht, sie in einer dunklen Gasse zu ermorden, aber nur knapp die wichtigsten Arterien verfehlt. Offensichtlich hatte sie in ihrem jungen Leben schon einiges durchgemacht. Der Doktor bezweifelte, dass es viel gab, was ihr noch Angst machte.
»Zu welcher Insel fahren Sie?«, fragte sie.
»Siren Cove.«
»Die mit den Meerjungfrauen?«
»Ja. Ich habe dort zu tun.«
»Ich schätze, dann sind wir fast so was wie Nachbarn«, sagte sie. »Ich fahre nach Green Rock, der Insel gleich nebenan.«
»Ich habe noch nie von einer Insel namens Green Rock gehört.«
»Sie ist nicht bewohnt. Dort gibt es nichts außer Schildkröten. Mein Vater und sein Assistent leben dort seit ein paar Monaten und studieren die Mutationen.«
Doktor Black nickte. Er wusste von den Missbildungen einiger wasserlebender Spezies in dieser Region, vor allem der Schildkröten, denen zusätzliche Gliedmaßen gewachsen waren, sodass sie stämmigen, gepanzerten Arachniden glichen.
»Ich hasse es, die Stadt zu verlassen«, sagte die junge Frau. »Draußen auf den Inseln gibt es nicht einmal Internet oder Handyempfang. Aber mein Dad möchte ein Auge auf mich haben, solange die Schule während der Winterferien geschlossen ist. Er ist immer so besorgt.« Sie blickte zu dem jungen Doktor hoch. »Wie lange bleiben Sie auf Siren Cove? Vielleicht kann ich Sie einmal besuchen kommen und wir sehen uns gemeinsam die Meerjungfrauen an?«
»Die Bucht ist für Touristen verboten«, erwiderte der Doktor.
»Jaja, das Gesetz zum Schutz bedrohter Arten«, sagte sie. »Ziemlicher Blödsinn.«
»Nicht einmal Dokumentarfilmer werden in dem Gebiet geduldet.«
»Ich weiß. Ich wünschte, ich könnte die Meerjungfrauen wenigstens auf Discovery Channel sehen. Bisher kenne ich nur alte Fotos.«
Sie blickte auf das Wasser hinaus und suchte die Oberfläche nach Fischfrauen ab.
»Glauben Sie, dass sie bis nach Green Rock hinausschwimmen?«, fragte sie.
»Wahrscheinlich nicht. In der Regel bleiben sie in der Nähe ihrer Nahrungsquelle. Eine unbewohnte Insel interessiert sie nicht.«
»Nahrungsquelle? Sie meinen Menschen, richtig?«
»Männliche Menschen«, sagte er.
»Die Fischer aus dem Dorf?«
Der Doktor nickte. »Die jungen Söhne von Fischern sind ihre begehrteste Beute. Sie lassen sich in dem Alter nicht nur leicht ins Wasser locken, ihr Fleisch ist auch besonders frisch und zart.«
»Sie fressen keine Frauen?«
»Normalerweise jagen sie keine Frauen, aber sie versuchen es vielleicht, wenn keine männliche Beute zur Verfügung steht.« Er zeigte hinaus aufs Meer. »Und auf offenem Meer ist niemand vor ihnen sicher. Schwimmende Beute brauchen sie nicht anzulocken. Sie ziehen sie einfach unter die Wasseroberfläche und ertränken sie.«
»Sind sie wirklich so gefährlich?« Die junge Frau lehnte sich an die Reling und trommelte nachdenklich mit den Fingern auf einer Zigarettenschachtel in ihrer Jackentasche.
»Ja, in der Tat«, antwortete der Doktor. »Sie sind die einzigen Meereslebewesen, die sich auf Menschen als Nahrungsquelle spezialisiert haben. Es ist weit weniger gefährlich, in Haigewässern zu schwimmen.«
Sie lächelte aufgeregt. »Ich hoffe, dass ich sie eines Tages zu sehen bekomme.«
Der Doktor schüttelte den Kopf. Es wunderte ihn immer wieder, wie leichtsinnig alle die Gefahren von Meerjungfrauen unterschätzten, bis sie von ihnen unter Wasser gezerrt wurden.
Die junge Frau kicherte, als wüsste sie genau, was er dachte.
»Übrigens …« Sie drehte sich zu ihm um und streckte die Hand aus. »Ich habe Ihren Namen nicht mitbekommen.«
Er blickte auf ihre Hand. »Black«, sagte er.
»Das ist alles? Nur Black?«
»John Black.«
»Freut mich, Sie kennenzulernen, John Black. Ich bin Jackson. Nur Jackson.«
Sie packte seine Hand und schüttelte sie, obwohl ihr klar sein musste, dass er das nicht wollte. Für den Doktor spielte es keine Rolle, dass sie beide Handschuhe trugen. Er war ein bisschen paranoid, was das Verbreiten seiner Krankheit anging. Er konnte die Vorstellung nicht ertragen, ein anderes menschliches Wesen mit so einem grotesken Leiden zu infizieren.
Die anderen Passagiere wurden auf den größeren, bewohnten Inseln der Region abgesetzt. Auf dem lang gestreckten Abschnitt in Richtung Siren Cove blieben nur Jackson und Doktor Black zusammen mit dem Schiffer auf dem Schiff. Je näher sie der Insel kamen, desto dunkler wurde der Himmel. Der Nebel wurde so dicht, dass sie kaum noch sehen konnten, wohin sie fuhren.
»Hier draußen ist es wirklich sehr abgeschieden«, sagte Jackson.
»Die dreistündige Fahrt vom Festland schottet das Dorf ganz gut vom Rest der Welt ab.«
»Muss sehr einsam sein.« Jackson wollte nicht daran denken, dass ihr Reiseziel noch weiter draußen lag, noch abgeschiedener von der Welt.
Von der kalten Luft lief ihr die Nase. Sie wischte sie mit ihren roten Handschuhen ab und fragte: »Glauben Sie, wir bekommen Meerjungfrauen zu sehen, wenn wir anlegen?«
Der Doktor zuckte mit den Schultern. »Wir fahren bald durch ihre Gewässer, aber es ist unwahrscheinlich. Sie sind sehr scheue Kreaturen. Normalerweise sieht man sie nur während der Paarungszeit oder wenn man als Beute von ihnen gejagt wird.«
»Haben wir zufällig gerade Paarungszeit?«
»Weit davon entfernt.«
»Sie paaren sich mit Menschen, richtig? Deshalb sieht man sie häufiger während der Paarungszeit, weil sie nach Menschenmännern suchen, um sich mit ihnen zu paaren?«
Er schüttelte den Kopf. »Das ist nur ein Mythos. Sie paaren sich nicht mit Menschen.«
»Aber es gibt keine Meermänner«, wandte Jackson ein. »Wie pflanzen sie sich fort?«