Insolvenz der Moderne - Werner Kindsmüller - E-Book

Insolvenz der Moderne E-Book

Werner Kindsmüller

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Beschreibung

Riesen sterben langsam und qualvoll. Mehr als zweihundert Jahre lang haben wir im Westen unseren materiellen Wohlstand auf Kosten der Natur und künftiger Generationen gemehrt. Wir spüren, dass es damit bald vorbei sein wird. Wie aber soll ein zukunftsfähiges Wohlstandsmodell aussehen, das allen, und nicht nur wenigen, die Chance auf ein glückliches Leben ermöglicht? Der Autor analysiert die Krise der Moderne als umfassende Kulturkrise unseres Lebensstils und entwickelt Wege in eine nachhaltige Zukunft.

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Seitenzahl: 533

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Werner Kindsmüller

Insolvenz der Moderne

Warum wir neue Wohlstandsmodelle brauchen

Band 1

Copyright: © 2015 Werner Kindsmüller

Satz: Erik Kinting / www.buchlektorat.net

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhaltsverzeichnis

Band 1

Vorwort

Einleitung

I. Die Moderne – Wie aus Autonomie Unterwerfung wird

1. Was ist die Moderne?

2. Die Kennzeichen der Moderne

3. Strategien der Moderne

II. Die Krise des Kapitalismus

1. Die Vorgeschichte der heutigen Krise

2. Die Antworten auf die Krise der 70er Jahre

3. Wirtschaftskrise und Staatsverschuldung

4. Der Weg in die Finanzialisierung

5. Der Kapitalismus als Weltsystem

6. Strategien des Kapitalismus zur Erweiterung seiner Verwertungsmöglichkeiten

7. Ökonomisierung als kultureller und sozialer Prozess

8. Die neuen Metamorphosen des Kapitalismus: Die Biopolitische Produktion

9. Die Entgrenzung der Arbeit

10. Das Netzwerkunternehmen

11. Der Mensch wird zum Konsumenten

12. Die Verarmung ist das Ergebnis von zu viel Reichtum

13. Der Hinterhof des Kapitalismu

14. Der Kapitalismus zerstört unsere natürlichen Lebensgrundlagen

15. Die beherrschende Rolle des Finanzkapitals

16. Fazit: Ist der Kapitalismus am Ende?

III. Von der Demokratie zur Diktatur des Kapitals?

1. Der moderne Staat

2. Die Legitimation des Staates

3. Das Ende des Nationalstaats?

4. Die Transformation des nationalen Sozialstaats in einen europäischen „managerial market-state“

5. Die Zukunft des Staates im globalen Informationskapitalismus

6. Market-state und Demokratie

7. Fazit und Ausblick auf eine Zeit nach der Demokratie

Band 2

IV. Prometheus ist unglücklich

1. Die Entgrenzung des Individuums

2. Die Trennung

3. Die Versachlichung

4. Der Tausch

5. Der moderne Gesellschaftscharakter – Individuum und Welt

6. Moderne Anthropologie und politische Philosophie

7. Der entgrenzte Mensch

8. Der biopolitische Gesellschaftscharakter

9. Grenzenlosigkeit führt zur Überforderung

10. Sekundäre Vergemeinschaftungen

11. Entfremdung – Zur Pathologie des modernen Menschen

12. Die gesellschaftspolitischen Konsequenzen

V. Die ökologische Krise ist in Wirklichkeit eine Kulturkrise

1. Natur und Moderne

2. Die Erschöpfung der fossilen Rohstoffe und die Bedrohung der Lebensbedingungen auf der Erde

3. Die strukturelle Bedeutung des Endes des fossilen Energieregimes Gerechtigkeit – die ökologischen Krisen werden Gewinner und Verlierer haben

4. Kriege – Die Welt wird gewalttätiger

5. Die demographische Bombe

6. Warum konsequente Lösungen unterbleiben

7. Steht der Untergang unserer Kultur bevor?

7. Was ist zu tun?

VI. Fazit

1. Die Grenzen sind erreicht

2. Es gibt keinen Fortschritt mehr

3. Der Kapitalismus hat die Ideale der Moderne geopfert

4. Zeiten des Übergangs – wohin?

VII. Beim Nachdenken über Alternativen

1. Stehen wir vor dem Ende der Moderne oder vor einem neuen Modernisierungsschub?

2. Szenarien möglicher Zukünfte

3. Bedingungen gelingender humaner Alternativen

VIII. Elemente eines neuen Wohlstandsmodells

1. Die Alternative – Das gute Leben für eine gute Welt

2. Für eine Politik höherer moralischer Güter

3. Anforderungen an ein neues Wohlstandsmodell

4. Elemente eines neuen Wohlstandsmodells

Skizze 1: Begrenzen – Für eine neue Raumordnung

Skizze 2: Entschleunigen – Für eine humane Zeitpolitik

Skizze 3: Von der Ökonomie zur Kultur des Wirtschaftens

Skizze 4: Die Naturgesetze respektieren

Schlussbemerkung

Literaturverzeichnis

Vorwort

Warum schreibt jemand zehn Jahre lang, neben seiner beruflichen Tätigkeit an einem Buch wie dem vorliegenden? Oftmals bin ich das gefragt worden. Die Antwort war immer die gleiche: Ich wollte verstehen, in welcher Welt wir leben. Ich wollte schreibend darüber nachdenken, was wir tun müssten, damit diese Welt eine lebenswerte bleibt.

Während meines Studiums in den 70er Jahren und seitdem in meiner Freizeit habe ich viele Bücher über politische, ökonomische, historische und philosophische Fragen gelesen. Ich habe darin nach Antworten auf die Frage gesucht, in welche Richtung sich unsere Welt bewegt, wie die Krisenentwicklungen der vergangenen Jahrzehnte zusammenhängen und welche Lösungen unsere moderne Zivilisation für die Menschheitskrisen, denen wir uns gegenüber sehen, bereit hält. Ich habe viele äußerst kluge und anregende Texte gelesen. Und dennoch habe ich ein Buch vermisst, in dem der Autor den Versuch unternimmt, den Zusammenhang zwischen den verschiedenen gegenwärtigen Entwicklungen herzustellen und sie historisch einzuordnen. Also habe ich mich daran gemacht, das Buch zu schreiben, das ich gerne lesen wollte.

Am Beginn der Arbeit an diesem Buch stand die Frage, wie „das“ alles zusammenhängt, was wir als Phänomene der Veränderungen in unserer Welt zu Beginn des 21. Jahrhunderts wahrnehmen. Ich wollte dem Verdacht nachgehen, dass unterhalb der sichtbaren Veränderungen unserer modernen Gesellschaften größere und längerfristig wirksame tektonische Verschiebungen im Gange sind. Ich bin überzeugt, dass wir unsere Situation zu Beginn des 21. Jahrhunderts nur verstehen können, wenn wir sie in einen größeren historischen Kontext stellen. Wenn wir etwas Abstand vom Tagesgeschehen nehmen, lässt sich ein gemeinsames Bewegungsmuster zwischen den krisenhaften ökonomischen Entwicklungen, den gestressten Naturverhältnissen, dem wachsenden Legitimationsdruck auf die Demokratie und unserem kulturellen Selbstverständnis als Mensch beobachten.

Die thematischen Analysen zu diesen zentralen Komplexen führten mich zu der Hauptthese des Buches, dass wir Zeitzeugen des Endes einer historischen Epoche sind, die wir als Moderne bezeichnen. Bei nüchterner Betrachtung der großen Entwicklungsströme unserer Zeit wird klar, warum unsere Wirtschaftsund Lebensweise nicht zukunftsfähig ist.

Das Buch wendet sich an all jene Menschen, die für die Entwicklungen in unserer Welt sensibel geblieben sind und sich Sorgen um die Zukunft unserer Gesellschaft, der Demokratie und der Erde machen. Ich will mit diesem Buch einen kleinen Beitrag zum Verstehen unserer verstörenden Gegenwart leisten, indem ich eine Interpretation anbiete, die sich in der Tradition linker Gesellschaftskritik sieht, ohne jedoch einer Schule verpflichtet zu sein.

Zugleich möchte ich den Möglichkeitsraum ausloten, der uns für humane Alternativen zum selbstzerstörerischen System des grenzenlosen Kapitalismus und einer infantilen Konsumgesellschaft zur Verfügung steht. Wer in diesem Buch allerdings Patentrezepte sucht, wird enttäuscht werden. Vielmehr soll, insbesondere mit dem Schlusskapitel, ein Suchprozess begleitet werden, auf dem wir uns gemeinsam begeben müssen, wenn wir auf diesem Planeten ein humanes Überleben sichern wollen. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Rekonstruktion des Begriffs vom „Guten Leben“ als einem Leitbegriff für ein neues, zukunftsfähiges Wohlstandsmodell.

Der Autor ist kein Wissenschaftler sondern ein informierter Laie, der versucht die Welt zu verstehen. Dieses Buch ist deshalb auch kein wissenschaftliches Buch. Kritiker werden wahrscheinlich viele Formulierungen finden, die einer strengen wissenschaftlichen Prüfung nicht standhalten. Der vorliegende Text versteht sich als ein politischer Text, der auf wissenschaftliche Befunde zurückgreift. Dazu war es notwendig viele Themen zu sichten, ohne sie in der Tiefe beleuchten zu können, wie dies bei Monographien möglich gewesen wäre. Ich bin mir dieser Schwäche bewusst und muss sie in Kauf nehmen. Nur auf diese Weise war es mir möglich, eine Gesamtschau der Probleme der Moderne und ihrer historisch- politischen Zusammenhänge vorzunehmen.

***

Während der Arbeit an diesem Buch sind mir immer wieder Zweifel gekommen, ob der Versuch zu verstehen, „was die Welt im Innersten zusammenhält“, eben nicht doch eine moderne Anmaßung ist, an der bereits Goethes Faust zugrunde gegangen ist. Vielleicht ist es ja so, wie Günter Anders es ausgedrückt hat, dass zwischen uns und der Welt ein „prometheisches Gefälle“ besteht, das verhindert zu verstehen, was mit uns geschieht. Dann wäre das höchste, was wir erreichen können, dass unsere Versuche scheitern. Aber „richtig“ Scheitern kann sehr lehrreich sein. Und ohnehin sind die richtigen Fragen oftmals wichtiger als die Antworten.

Irgendwann während der Arbeit an dem vorliegenden Buch ist wir eine Rede des früheren tschechischen Präsident Vaclav Havel in die Hände gelangt, die er am 4. Juli 1994 aus Anlass der Verleihung der Freiheitsmedaille zum Unabhängigkeitstag der Vereinigten Staaten, an historischer Stätte in Philadelphia gehalten hat. Diese Rede hat mir Mut gemacht, die Arbeit an dem Buch fortzusetzen. Vaclav Havel, den ich als Dramatiker wie als mutigen Politiker sehr schätze, hat mit dem Abstand des ehemaligen Präsidenten vom Tagesgeschehen, längst vor mir die These vertreten, dass wir uns in einer schmerzhaften historischen Übergangsperiode befinden, Ausgang offen.

Vor einem erlesenen und wohl irritiertem Auditorium in der Independence Hall in Philadelphia hat Vaclav Havel folgende Worte gesprochen:

„I think there are good reasons for suggesting that the modern age has ended. Today, many things indicate that we are going through a transitional period, when it seems that something is on the way out and something else is painfully beeing born. It is as if something were crumbling, decaying, and exhausting itself, while something else, still indistinct, were arising from the rubble.“1

Havel hat die Situation der Welt Ende des 20. Jahrhunderts mit dem Ende der hellenistischen Periode und dem Übergang von der mittelalterlichen Welt durch die Renaissance in unsere heutige Ära der Moderne auf eine Stufe gesetzt. Meine Studien haben mich davon überzeugt, dass es genau so ist, wie es Vaclav Havel an diesem Tag, den die prägende Macht der Moderne zur Erinnerung an ihre Einzigartigkeit zelebriert, beschrieben hat: Die Moderne hat ihre Energien verbraucht und wir erleben, wie etwas Großes allmählich zugrunde geht, während noch nicht klar ist, was danach kommen wird.

Ich versuche mit diesem Buch etwas besser zu verstehen, was untergeht und welche Welt wir verlassen müssen, wenn nicht auch wir als Menschheit untergehen wollen. Genauso wichtig ist mir aber auszuloten, welche begründeten Hoffnungen wir uns trotz aller Sorgen über die Zukunft machen dürfen und wo wir ansetzen können, um eine humane Zukunft zu gestalten.

Dieses Buch ist in selbstaufklärerischer Absicht entstanden, aber immer mit dem klaren Ziel, Erkenntnisse für die politische Praxis und das Handeln der Menschen im Kampf für eine bessere Welt zu gewinnen. Nichts liegt mir im Übrigen ferner, als Kulturpessimismus zu verbreiten, aber für naiven Fortschrittsoptimismus ist noch weniger Anlass. Wichtig ist der analytische, von ideologischen Erklärungsmustern unverstellte Blick auf unsere heutige Lage.

Wenn ich auf die vergangenen zehn Jahre, die ich an diesem Buch gearbeitet habe zurückblicke, dann fällt vor allem auf, dass immer neue Krisen dazugekommen sind und bereits bestehende überlagert haben. 2004, als ich anfing die ersten Seiten dieses Buches zu schreiben, drehte sich, zumindest in Deutschland die politische Diskussion vor allem um die Krisenhaftigkeit des Sozialstaats, auf die der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder mit einer steuerlichen Entlastung des Kapitals und einer Ökonomisierung des Sozialstaats antwortete. In den Jahren seit der UN-Klimakonferenz in Montreal (2005) rückten die Krise des Weltklimas und unser Umgang mit begrenzten Ressourcen in den Vordergrund der politischen Aufmerksamkeit. Ab 2007 löste die durch die Liberalisierung der Finanzmärkte ausgelöste Bankenkrise eine weltweite Wirtschaftskrise aus, der eine anhaltende Staatsschuldenkrise in vielen Ländern folgte. In den vergangenen Jahren mehrten sich schließlich die Zeichen, dass die demokratischen Systeme unter erheblichen Legitimationsdruck geraten sind und zudem die digitale Ökonomie privaten und staatlichen Überwachungssystemen die Möglichkeit bietet, die Demokratie und unsere Freiheit zu zerstören.

In den vergangenen zehn Jahren gerieten alle wesentlichen Grundlagen der westlichen Moderne in eine tiefe Krise, die sich mittlerweile zu einer umfassenden Systemkrise summieren. Vaclav Havel sprach in seiner Rede 1994 von der paradoxen Situation, dass wir technisch auf dem höchsten Niveau stehen, das menschliche Zivilisationen je erreicht haben und wir zugleich aber unsere Welt nicht mehr verstehen. Sie erscheint uns als chaotisch, unverbunden und verwirrend.

Die Welt Mitte des 21. Jahrhunderts wird nur noch wenig mit der Welt meines Geburtsjahres 1954 zu tun haben. Leider deutet alles darauf hin, dass die Bedingungen für humanes Leben auf der Erde in den nächsten Jahrzehnten schlechter und nicht besser werden. Es hat den Anschein, als würden wir angesichts der ratlos machenden Erfahrungen darauf bedacht sein, dass alles so bleibt, wie es ist, ohne uns einzugestehen, dass dies auf gar keinen Fall möglich sein wird. Es ist die Angst vor dem Absturz, die die modernen Gesellschaften heute beherrscht. Es scheint so, als würden die Menschen in den westlichen Gesellschaften in einer Schockstarre verharren und sich durch Konsum betäuben. Wir klammern uns an die Errungenschaften der Wohlstands- und Wachstumsgesellschaft, obwohl wir spüren, dass es „so“ nicht weitergehen kann. Grundlegende Lösungen aus dem System heraus, sind jedoch auch nicht erkennbar und selten so wenig gesucht worden. Dies gilt sowohl für Antworten auf die Krise des Kapitalismus, wie auch für den Umgang mit der Endlichkeit der Naturressourcen und der Sicherung der Demokratie. Politik hat das Feld der grundlegenden Fragen der Zukunft längst geräumt und erschöpft sich in geschäftiger Regierungstechnik.

Bei der Arbeit an diesen Themen ist mir klar geworden, dass keines dieser Probleme ohne tiefgreifende politische Veränderungen lösbar sein wird. Zugleich aber gilt auch, dass wir unsere Lebensweise fundamental ändern müssen. Die Überwindung des Kapitalismus, der Aufbau einer nachhaltigen und gerechten solaren Weltwirtschaft und der Ausbau der Demokratie müssen begleitet werden durch einen grundlegenden Wandel unserer Lebens- und Konsummuster. Es sind also nicht die „Anderen“, die Politiker, die Wirtschaft – oder wer auch immer-, die sich ändern müssen, sondern jeder von uns muss sein Leben ändern.

Riesen sterben langsam und qualvoll. Und während sie sterben wachsen in ihrem Schatten bereits die neuen heran. Aber das Verpuppungsstadium ist noch nicht überwunden. Wir befinden uns global in einer historischen Übergangsphase, in der die Elemente des Alten immer weniger Kraft besitzen und die Kräfte des Neuen noch unbeholfen agieren. Die Moderne treibt ohne Kompass in eine unbestimmte Zukunft. Die Fortschrittsverheißungen haben sich indes als Alptraum erwiesen.

Im Zentrum dieses Buches stehen die großen Veränderungen von Ökonomie, Gesellschaft, Politik und individueller Lebenswelt, die sich heute vor unseren Augen abspielen. Statt aus dem Blickwinkel der vordergründigen Ereigniswelt der Tagespolitik, werde ich versuchen die tektonischen Verschiebungen in den Tiefenstrukturen aufzuzeigen, deren Zeuge wir sein können, wenn wir nur genau genug hinschauen wollen.

Die Analyse des Zustands der Welt zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist in gewisser Weise nur die Grundlage für die abschließenden Überlegungen. Es geht mir in diesem Buch in erster Linie darum, einen Suchprozess mitzugestalten, wie wir als Menschheit unter humanen Bedingungen überleben und nach Möglichkeit gut leben können. Die mit dem Schlusskapitel vorgelegten Gedanken sind zwangsläufig unfertig und thesenartig. Sie sind mir gleichwohl wichtig, da es nicht um fertige Konzepte sondern um das Suchen gehen kann. Dazu sollen die Gedanken zu einem neuen Wohlstandsmodell anregen.

***

Dieses Buch verdankt seine Erkenntnisse vielen Menschen, die längst vor dem Autor über die Fragen nachgedacht haben, die hier abgehandelt werden. Ohne den intellektuellen Austausch mit lebenden und längst gestorbenen Denkern aus ganz unterschiedlichen Fachrichtungen, wäre dieses Buch nicht möglich gewesen. Ich habe ihre Beiträge zu meinen Gedanken, wo immer mir ein Rückschluss auf sie möglich war, durch Zitate oder Literaturhinweise kenntlich gemacht.

***

Ein besonderer Dank gilt meiner Familie, meiner Frau Ulrike Bruckner-Kindsmüller, die mich auch bei den Korrekturarbeiten unterstützt hat und meinem Sohn Jakob für viele Wochenende und Urlaubstage, die ich mich an meinen Schreibtisch zurückgezogen habe.

Werner Kindsmüller

Kaarst, Mai 2015

1http://www.worldtrans.org/whole/havelspeech.xhtml

Einleitung

„Ich versteh‘ die Welt nicht mehr!“, ruft der Schuster Anton am Ende von Friedrich Hebbels bürgerlichem Trauerspiel Maria Magdalena aus.2 Es ist wohl auch unmöglich unsere Welt hinreichend zu verstehen, solange wir nicht über den zeitlichen Abstand zu den Ereignissen verfügen. Erst mit der Distanz des Historikers klären sich die Tatsachen. Es wird sichtbar, welche Ereignisse für den Entwicklungsgang der Geschichte relevant waren und welche nicht. Dennoch können wir nicht leben, ohne uns einen Begriff von dem zu machen, was in unserer Welt geschieht und uns berührt.

Wenn wir heute versuchen zu begreifen, welche Veränderungen unmerklich und doch wirksam vor sich gehen, dann stoßen wir als erstes auf den epidemisch verwendeten Begriff der Krise. Sie ist allgegenwärtig, wahlweise als Finanz-, Staaten-, Wirtschafts-, Kultur- oder ökologische Krise. Obwohl wir spüren, dass tiefgreifende Veränderungen im Gang sind, fällt es uns schwer, diese Krisen tiefer zu begreifen. Ein Grund dafür liegt darin, dass für die meisten Menschen Krisen sinnlich nicht erfahrbar sind. Unser Vorstellungsvermögen reicht kaum aus, grausige Unfälle, terroristische Anschläge wie die am 11. September 2001 in New York, Naturkatastrophen wie Erdbeben oder Technikkatastrophen wie in Fukushima zu erfassen. Konfrontiert uns das Fernsehen mit Bildern von Unfällen und Katastrophen erfasst uns kurzzeitig zwar ein Entsetzen, womöglich angesichts dessen, was „der Mensch“ anrichten kann, sogar eine „prometheische Scham“ (Günther Anders) – aber dann wenden wir uns wieder den alltäglichen Zerstreuungen und Verpflichtungen zu. Dieses Verhalten ist weiter nicht zu beanstanden, fehlt uns doch ein Sensorium, das zu betrauern, was wir aufgrund seiner Größe nicht begreifen können.

Bieten uns bei den „normalen Katastrophen“ (Charles Perrow) die Medien noch Bilder gegen unsere Vorstellungsarmut, so fehlt uns bei abstrakten Krisen, wie der Finanz- und Schuldenkrise jegliches Vorstellungsvermögen. Was es bedeutet, dass Staaten in Europa bei den Banken mit 120% ihres jährlichen Sozialprodukts verschuldet sind oder dass Staaten Banken mit Milliardenhilfen retten, kann man sich nicht mehr wirklich vorstellen. Die Prognosen von Klimaforschern, dass der Anstieg des CO2 – Anteils in der Atmosphäre dazu führen wird, dass die Temperaturen um 2 Grad steigen werden, erscheinen vielen Menschen wie Berichte aus einer noch fernen Zukunft. Die Krisen des 21. Jahrhunderts sind nicht fassbar. Es fehlt uns auch eine angemessene Sprache, um zum Ausdruck zu bringen, was hinter den Katastrophen steht, die, auch wenn sie sich nicht in Bildern formen, für die Menschen in Gestalt von geringeren Sozialleistungen oder Löhnen, von Arbeitslosigkeit oder fehlenden Berufschancen gleichwohl real werden.

Ein weiterer Grund für die Diskrepanz zwischen dem, was der Krisenbegriff mitteilen will und unserer Erfahrung besteht darin, dass die heutigen Krisen in der Regel, anders als in kriegerischen Zeiten des 20. Jahrhunderts, nicht abrupt in das Leben der allermeisten Menschen eindringen. Die Krisen des 21. Jahrhunderts kommen auf leisen Sohlen. Sie bieten der Öffentlichkeit nur selten grelle Bilder. Aber sie überziehen unsere Gesellschaften wie ein Ölfilm das Meer.

Worum es in diesem Buch gehen soll, ist, die Erfahrungswelt der Menschen mit den abstrakt bleibenden ökonomischen, politischen und kulturellen Entwicklungen unserer Zeit zu verbinden. Damit soll ein Versuch unternommen werden, die Strukturen und Prozesse besser zu verstehen, die sich hinter den Begriffen der Krise und den täglichen menschlichen Erfahrungen verbergen.

Die inflationäre Verwendung des Begriffs der Krise mag bereits ihrerseits auf ein Krisenphänomen hinweisen, das so jedenfalls neu ist. Krisen hat es auch früher gegeben. Allerdings überwog in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts der Fortschrittsoptimismus. Es scheint so, als ob die im Vorfeld der Französischen Revolution formulierte Warnung von Jean-Jacques Rousseau aus dem Jahre 1762 heute an Aktualität gewonnen hat. Rousseau ruft im dritten Buch seines ‚Emile‘ aus:

„Ihr verlasst euch auf die bestehende Gesellschaftsordnung und bedenkt nicht, dass sie unvermeidlichen Veränderungen unterworfen ist, und dass ihr diejenigen, die eure Kinder erleben werden, weder voraussehen noch verhindern könnt. Der Große wird klein, der Reiche arm, der Monarch Untertan. Sind denn Schicksalsschläge so selten, dass ihr damit rechnen könnt, davon verschont zu bleiben? Wir nähern uns einer Krise und dem Jahrhundert der Revolutionen.“3

Mit der Französischen Revolution setzte ein Zeitalter der Revolutionen ein, in dessen Folge die alten feudalen staatlichen Verhältnisse aufgebrochen wurden. Rousseau wollte dem Fortschrittsoptimismus der Aufklärung nicht folgen und fasste, wie Reinhard Koselleck herausgearbeitet hat,4 als erster das Wechselverhältnis von moderner Gesellschaft und Staat unter dem Begriff der Krise. Denn, anders als die im Fortschrittsglauben befangenen Aufklärer, erkannte er, dass mit dem Umsturz der absolutistischen Ordnung eine Phase der Krise beginnen würde, die nicht schlagartig zu einer neuen sozialen und politischen Ordnung und zu paradiesischen Verhältnissen führen werde sondern es zu neuen gesellschaftlichen Unsicherheiten und Ungewissheiten.

Wahrscheinlich sind wir heute wieder an einem historischen Kipp-Punkt. Die Tatsache, dass es den Regierungen nicht mehr gelingt, das Gespenst der Krisen zu verscheuchen und dass sie trotz ihrer permanenten Gipfeltreffen auch gemeinsam nicht in der Lage sind, die Probleme auch nur annähernd in den Griff zu bekommen, mag als Indiz dafür gelten, dass sich unsere Gesellschaften auf eine Epochenschwelle zubewegen. Zeitenwenden und Epochenschwellen kündigen sich nicht durch abrupte Brüche an sondern sind dem „gletscherartig langsamen Wandel in der Klima- und Agrargeschichte“5 vergleichbar, wie der Münchner Historiker Jürgen Osterhammel schreibt. Sie kündigen sich durch „Häufigkeitsverdichtungen von Veränderungen“ an. Zugleich scheint sich das Tempo der Ereignisse vor dem Übergang von Systemen zu verlangsamen, um dann Fahrt aufzunehmen. Diese Abfolge lässt sich am Ende der DDR, der Regime in Ägypten, Tunesien und Marokko feststellen. Es liegt zuerst eine bleierne Schwere über der Gesellschaft, bis dann eine Eruption erfolgt, die kurz vorher noch nicht vorstellbar gewesen ist.

Wir sollten uns, Rousseau eingedenk, vor der Fehleinschätzung von Voltaire hüten, der das Ende der absolutistischen Ordnung, das er nicht mehr erleben sollte, als den Anbruch der „beaux temps“ erwartete. Diese Warnung hat ihren Grund nicht nur darin, dass dem allgemeinen Verständnis nach die Menschen mit Krisen eher Ängste vor Auflösung, Anarchie und Chaos verbinden als die Hoffnung auf ein besseres Leben. Krisen haben in der Neuzeit auch selten eine politisch motivierende Wirkung gehabt. Zudem ist fraglich, ob wir die aktuelle Krisensituation richtig verstehen, wenn wir sie aus der historischen Dichotomie zwischen Ordnung und Unordnung zu begreifen versuchen. Vielleicht besteht ja das Wesen der Krise, mit der wir es heute zu tun haben gerade darin, dass die bestehende Ordnung ihrerseits Elemente der Unordnung hervorbringt, die funktionale Bedeutung für die Weiterexistenz eben dieser Ordnung besitzen. So paradox es klingen mag: Die komplexe Herrschaftsordnung der kapitalistischen Welt sichert ihre Existenz dadurch, in dem sie Elemente der Anarchie, des Chaos und der Regellosigkeit, die sie selbst mit Regelmäßigkeit hervorbringt, für ihre Herrschaftszwecke nutzt. Der Begriff der Ordnung wie der Begriff der Krise bedürfen deshalb einer Erörterung. Ist es nur Zufall, dass an die Stelle der Weltordnung der Begriff der global governance getreten ist, der eben nicht das gleiche bezeichnet?

Den bisherigen Gedanken folgend, sieht der Autor die aktuellen Krisenphänomene als Indizien für eine Krise historischen Ausmaßes, die nicht nur einen Teil der Wirklichkeit ergriffen hat sondern im Begriffe ist, das Ganze unserer modernen Lebensverhältnisse zu revolutionieren. Um diesen umfassenden Charakter der Krise angemessen zu bezeichnen, soll von der Krise der Moderne die Rede sein. Was damit gemeint ist, wird im 1. Teil des Buches erläutert werden.

Wohin die Reise geht, ist indes offen. Wir kennen die Zukunft nicht. Insofern besteht weder Anlass zu Fatalismus noch zu revolutionären Träumen. Allerdings müssen wir versuchen zu verstehen, was in dieser Welt vorgeht, um aus dem Objekt der Verhältnisse zu einem handelnden politischen Subjekt werden zu können. Dazu will das Buch einen bescheidenen Beitrag leisten. Die zentrale These des Buches lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Seit dem 16. Jahrhundert hat sich, ausgehend von Europa das Zeitalter der Moderne herausgebildet. Ihre einzigartige historische Leistung besteht darin, dass sich ein neues Verständnis vom Menschen durchgesetzt hat: Der Mensch hat sich als ein mit Vernunft begabtes mündiges Wesen erklärt und sich an die Stelle Gottes als nun selbst verantwortlichen Schöpfer seines Lebens gesetzt. Damit hat der Mensch eine Energie freigesetzt, mit der eine historisch einzigartige Entwicklung ihren Anfang nahm: das Zeitalter des Fortschritts und der Zivilisation. Nicht weniger bedeutend dürfte gewesen sein, das Streben nach persönlichem Glück aus der Verbindung mit moralischen Pflichten, wie diese sowohl in der platonischen wie auch in der religiösen Vorstellungswelt bestand, zu lösen. Aus dem sittlich verstanden Glücksstreben, der Eudaimonia wurde die Maximierung des individuellen Nutzens.

Die Moderne konnte auch deshalb ihre Faszination und motivierende Kraft entfalten, weil ihr Glücksversprechen mit einem universellen Geltungsanspruch einher ging: „Alle Menschen werden Brüder“ oder wie es in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Französischen Revolution von 1793 heißt: „Ziel der Gesellschaft ist das Glück aller.“

Das Projekt der Moderne, das dem Anspruch nach zur Subjektwerdung und zum Glück der Menschen führen sollte, erfuhr allerdings ein Schicksal, das Saint- Just mit Blick auf die Ideale der Französischen Revolution mit den Worten beschrieb: „Die Macht der Umstände führt uns vielleicht zu Ergebnissen, an die wir nie gedacht hätten.“6 Was in unserem Falle als „Macht der Umstände“ gelten kann, bleibt zu klären.

Aus dem Prometheus der Moderne ist ein Zerstörer geworden, weil er seinen Fortschrittsdrang auf die Überwindung der Abhängigkeit des Ökonomischen von äußeren gesellschaftlichen, kulturellen und natürlichen Bedingungen errichtet hatte. Ausgehend von diesem Verständnis und mit Hilfe der revolutionierten Technik vollzog sich die physische Verwandlung unseres Planeten in ein Rohstofflager mit einer so rasanten Geschwindigkeit und Rücksichtslosigkeit, dass wir heute mit dem Lebensmodell der Moderne am Ende sind. Der Grundgedanke der Moderne, die Abhängigkeit des Menschen von äußeren Bedingungen zu überwinden, also autonom zu werden, findet seinen extremen Ausdruck in der lächerlichen Figur des homo oeconomicus, also des seinen Nutzen maximierenden Individuums. Die ökonomische Logik, die sich auf die Gebote der Rationalität beruft, hat das Erbe der Aufklärung angetreten.7

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts befinden wir uns an einem kritischen Punkt der menschlichen Entwicklung. Die Mittel, mit denen wir den unvergleichlichen Erfolg der Moderne in den zurückliegenden Jahrhunderten erwirtschaftet haben, schwinden. Zugleich erweisen sich die bisherigen Strategien unseres Fortschritts als die eigentlichen Ursachen für die drohende Selbstzerstörung der modernen Gesellschaften und unseres Lebens auf der Erde. Mit der systematischen Plünderung der Zukunft durch den Raubbau an der Natur, haben wir künftigen Generationen eine unverantwortliche Belastung aufgebürdet.

Vor diesem Hintergrund fällt die Bilanz der Moderne trotz des erheblichen materiellen und zivilisatorischen Fortschritts von Jahrzehnt zu Jahrzehnt negativer aus. Ein „Weiter so“ ist mit dem Anspruch auf die universellen Ziele der Moderne nicht zu erreichen. Schon gar nicht in einer Welt mit demnächst neun Milliarden Menschen. Müssen wir also die Ziele revidieren, die sich die Moderne gestellt hat oder reicht es, aus den Fehlern zu lernen und neue Wege einzuschlagen? Hat die Moderne das Potenzial zur Selbstkorrektur oder ist der Selbstlauf der Dinge unaufhaltsam? Einen wesentlichen Faktor in der Entwicklung der vergangenen zweihundert Jahre und einen Katalysator der Moderne bildet die Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise gegen handwerkliche und agrarische Methoden. Die ökonomische Rationalität des Kapitalismus hat die Moderne überformt und den emphatischen Anspruch der Aufklärung, dass der Mensch sich aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit befreien möge, pervertiert. Denn an die Stelle der alten Abhängigkeiten von Kirche und Königen ist eine neue, anonymere und umfassendere Abhängigkeit getreten, die Diktatur der ökonomischen Rationalität oder mit anderen Worten, die Diktatur des Kapitals. Zu keinem Zeitpunkt war die Macht des Ökonomischen so umfassend wie heute. Sie beschränkt sich schon längst nicht mehr auf das Marktgeschehen und die Abhängigkeiten, die wir als Lohnabhängige erfahren, sondern sie prägt alle unsere Lebensverhältnisse und unser Denken. Die Macht des Ökonomischen ist totalitär geworden.

Dazu gehört auch das Gefühl, das viele Menschen beherrscht, dass die Vorstellbarkeit und die Realisierbarkeit einer Alternative mit ihrer Notwendigkeit abnehmen. Allerdings hält uns die Geschichte auch diesbezüglich durchaus unterschiedliche Erkenntnisse bereit: Der Aufstieg von Imperien vollzieht sich in langen Zeiträumen, ihr Niedergang, nicht selten am Punkt ihrer höchsten Machtentfaltung, geht häufig sehr schnell. Manchmal bemerken die Herrschenden den Umschlag nicht einmal, wie der britische Historiker Edward Gibbon(1737 – 1794) in seinem monumentalen Werk „Verfall und Untergang des römischen Imperiums“, sicherlich auch mit einem Seitenblick auf das Schicksal des britischen Empires festgestellt hat. Ähnliches galt für den französischen Absolutismus am Vorabend der französischen Revolution: Wer konnte sich 1788 vorstellen, dass wenige Monate später, die Souveränität des von Gott gesandten König auf eine aus Bauern, Bürgern, Angehörigen des Klerus und der Adeligen gebildeten Nationalversammlung übergehen würde und der König gezwungen wäre, seinen Treueeid auf die Nation und auf die Gesetze abzulegen!

Gesellschaften ist der Gedanke des eigenen Untergangs fremd. Selbst dann, wenn die Symptome unverkennbar sind, werden sie verharmlost oder falsch gedeutet. Das Wissen über unsere Geschichte zeigt aber, dass der Niedergang von Gesellschaften und von Kulturen der Normalfall ist. Besorgniserregend ist, dass die vom Niedergang bedrohten Gesellschaften ihre Bedrohung erst dann in ihr Bewusstsein aufgenommen haben, als es schon zu spät war. Man kann sich offenkundig nicht vorstellen, dass Strategien, die bislang immer zum Erfolg geführt haben, nun plötzlich den Niedergang der gewohnten Lebensweise herbeiführen sollten. Auch dann, wenn sich die ökonomische und soziale Lage für eine Mehrheit bereits spürbar verschlechtert hatte, hielt sie an ihrem bisherigen „Erfolgsmodell“ fest, weil sie hoffte, es gäbe eine Rückkehr zur „guten alten Zeit“.

Dazu kommt, dass wir Menschen sehr gut darin sind, unangenehme Wahrheiten zu verdrängen. Was Georg Lukács im Rückblick über die 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts als „Wirklichkeitsverleugnung“ bezeichnet hat, kann man ohne Abstriche auch von unserer heutigen Situation sagen. Ein Großteil von uns, insbesondere jene, die Verantwortung für die Zukunft der Welt tragen, leben behaglich im „Grand Hotel Abgrund“, an einem schönen, mit allen Raffinement ausgestattetem Komfort. „Und der tägliche Anblick des Abgrunds, zwischen behaglich genossenen Mahlzeiten oder Kunstproduktionen, kann die Freude an diesem raffinierten Komfort nur erhöhen.“8

Die Geschichte gescheiterter Kulturen wirft ein pessimistisch stimmendes Bild auf unsere Fähigkeiten, die „Wirklichkeitsverleugnung“ zu überwinden und die ihr zugrunde liegenden Irrwege zu verlassen. Nichts spricht dafür, dass die menschliche Fähigkeit zur Selbstkorrektur in den vergangenen Jahrtausenden Fortschritte gemacht hat. „Ist es ein Wesenszug von Zivilisation, nicht anpassungsfähig zu sein?“ fragt Ronald Wright in seiner „Kurzen Geschichte des Fortschritts“.9 Fehlt uns das Bewusstsein für die unweigerlichen Grenzen, auf die jede Kultur stößt, wenn sie expandiert? Die Zivilisation auf den Osterinseln und der Mayas waren lokale Kulturen, deren Niedergang ohne besondere Folgen für den Rest der damaligen Menschheit war. Auch der Untergang des Römischen Imperiums hatte nur Konsequenzen für den Kern des Imperiums. Mit der modernen Zivilisation verhält es sich jedoch anders, sie ist heute die dominante Kultur der Welt. Ihre Krise lässt sich aufgrund der Globalisierung nicht mehr regional begrenzen.

Wie also wird es weitergehen? Wir können es nicht wissen. Nur so viel ist sicher: Schon seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts ist erkennbar, dass unsere, auf permanentes Wachstum und Konsum basierende Lebensweise in den kapitalistisch verfassten Gesellschaften nur noch um den Preis des immer riskanteren Vorgriffs auf die Zukunft aufrecht erhalten werden kann. Eine doppelte Verschuldungsspirale hat eingesetzt: Die rücksichtslose Inanspruchnahme und Zerstörung der knappen Naturressourcen hat die Chancen künftiger Generationen zerstört. Die finanzielle Verschuldung der Staaten hat sie in Abhängigkeit von Gläubigern gebracht. Während sich die Verschuldung an der Natur in Form von immer bedrohlicheren Naturkatastrophen bemerkbar macht, hat die Verschuldung der Staaten bei den mächtigen Finanzmärkten dazu geführt, dass ein immer größerer Teil des Sozialprodukts zur Bedienung der Ansprüche der Rentiers aufgewandt werden muss.

Zugleich befinden sich die formal demokratisch verfassten Gesellschaften des Westens in einem antagonistischen Konflikt zwischen den Prinzipien der Marktgerechtigkeit und der sozialen Gerechtigkeit, den Erwartungen der Finanzmärkte und denen der eigenen Bürger.10 Welchen Interessen sind Regierungen heute mehr verpflichtet, denen des Staatsvolks oder denen der Finanzmärkte? Beides lässt sich nicht in Einklang bringen. Keine Regierung traut sich anscheinend, das „Vertrauen der Märkte“ zu verspielen. Sie kann den Gläubigern ihre Loyalität nur unter Beweis stellen, wenn sie zugleich ihre Leistungen für die Bevölkerung einschränkt. Demokratisch organisierte Gesellschaften stehen deshalb vor einem existentiellen Legitimationsproblem. In den vergangenen Jahrzehnten haben sich die Gewichte eindeutig zugunsten demokratisch nicht legitimierter interstaatlicher Institutionen und zu Lasten parlamentarischer Macht verschoben.

Bislang ist es den demokratisch verfassten Gesellschaften des Westens noch gelungen, die Bürger durch Sedierung mit den Mitteln des Konsums und der Kulturindustrie ruhig zu halten. Erstmals werden in den südeuropäischen Demokratien, in denen Technokraten, Vertraute der Finanzelite die Regelung der Ansprüche der Finanzmärkte übernommen haben, Konflikte sichtbar, die möglicherweise mit Brot und Spielen alleine nicht mehr in den Griff zu bekommen sind. Vorbilder in Russland und China, die es geschafft haben, günstige Verwertungsbedingungen für das Kapital durch eine Politik der physischen Härte gegen das eigene Volk durchzusetzen, drohen auch in Europa. Sind wir etwa bereits auf dem Weg in den postdemokratischen Kapitalismus, in die Diktatur der kapitalistischen Marktgesellschaft?

Es hat den Anschein, dass die Probleme in unserem „vergesellschafteten Kapitalismus“ schneller wachsen als die Mittel zu ihrer Lösung. Parteien und Regierungen, die ihre Aufgabe darin sehen, dafür zu sorgen, dass der „Laden läuft“, sehen alt und hilflos aus, weil sie an die tatsächlichen Ursachen für die Probleme nicht heranwollen, ja sie nicht einmal mehr begreifen. Was bleibt Ihnen übrig? Symbolpolitik, die scheinbare Lösungen für den nächsten Tag bringen, bevor das nächste Problem ansteht. Und wenn das nicht mehr hilft? Ablenkungsmanöver, Schuldige Benennen, Aktivierung von Vorurteilen und populistische „Lösungen“. Und wenn auch dies nicht mehr hilft, weil die Menschen spüren, dass der ganze Hofstaat nackt auf der Bühne steht? Dann bleiben nur noch die Mittel des Repression und der Einschränkung der bürgerlich-demokratischen Freiheiten.

***

Im ersten Kapitel des Buches wird der Begriff der Moderne näher bestimmt. Ihre Strategien (Produktivismus, Naturaneignung und Selbstobjektivierung) werden herausgearbeitet. Anhand der philosophischen Literatur der Frühmoderne werden die Glücksgüter der Moderne, denen diese Strategien dienen sollten, dargestellt.

In den Kapiteln II bis V wird anhand einer Analyse der aktuellen Entwicklung des Kapitalismus, der Entwicklung der Demokratie, der Pathologien des modernen Menschen und der Naturbeherrschung begründet, warum ich davon überzeugt bin, dass die Moderne keine (gute) Zukunft haben wird. Die Befunde münden im dem Fazit (Kapitel VI), dass ein „Weiter so“ nicht möglich ist, ohne die Lebensgrundlagen der Menschheit zu gefährden. Die „Gegenstrategien“ der Moderne, soweit sie in der Logik der Moderne verhaftet bleiben, werden als ungeeignet angesehen, die Probleme zu beseitigen, die der Prozess der Modernisierung hervorgebracht hat.

In Kapitel VII soll dass die Moderne selbst Möglichkeitsräume geschaffen hat, in denen der Keim ihrer Überwindung gedeiht. Alternativen zu unserer heutigen Wirtschafts- und Lebensweise sind möglich. Sie bedingen allerdings einen radikalen Bruch mit den Grundlagen unserer modernen Lebensweise, insbesondere dem kapitalistischen Wirtschaftssystem und dem ihm zugrunde liegenden Produktivismus und Naturverständnis. Dafür muss die Politik wieder ihre ureigenste Aufgabe übernehmen; sie muss die Ordnungen schaffen, in denen die Menschen nach ihrer eigener Facon glücklich werden können. Zum Schluss (Kapitel VIII) werden Elemente eines neuen Wohlstandsmodells diskutiert, die die Möglichkeiten für eine humane und gerechte Zukunft schaffen sollen. Dabei werde ich mich an der Idee des guten Lebens für die gute Welt orientieren.

Der viel zu früh verstorbene britische Historiker Tony Judt hat in seinem letzten Buch die Frage aufgeworfen, warum Menschen sich eine andere Gesellschaft nicht mehr vorstellen können.11 Seiner Auffassung nach liegt der Grund darin, dass wir nicht mehr verstehen, wie wir über diese Fragen sprechen können. Wir reden über politische Fragen vorwiegend in der Sprache der ökonomischen Rationalität. Wir reduzieren den Menschen auf einen konsumierenden homo oeconomicus. Aber zu allererst sind wir doch Wesen, die vor allem eines wollen: Glück, Sicherheit und die Chance, das Leben in Freiheit selbst zu gestalten.

Wir stehen nicht in erster Linie vor ökonomischen Schwierigkeiten sondern vor kulturellen und politischen Problemen, die mit unserem Lebensstil zu tun haben. Dieses Buch soll einen Beitrag dazu leisten, das Bewusstsein für die Dimension der Schwierigkeiten und ihrer Ursachen zu erlangen, denen sich unsere Welt gegenübersieht. Mit der Orientierung am altehrwürdigen Prinzip des guten Lebens und am Glück der Vielen soll an dem emphatischen Postulat der humanen Gründungsideen der Moderne und der Aufklärung festgehalten werden.

Von diesen Prinzipien ausgehend, sollen im Schlusskapitel Gedanken für eine alternative Welt skizziert werden. Sie erheben keinesfalls den Anspruch eines Modells, sondern wollen eine Diskussionsrichtung vorzeichnen.

Ein gutes Leben für eine gute Welt verlangt von uns den Abschied vom prometheischen Selbstbild, vom entgrenzten Produktivismus, der die Triebfeder des Kapitalismus ist, von der rücksichtslosen Vernutzung der Natur und von einer Kultur der Selbstentgrenzung und Selbstobjektivierung, die uns nicht glücklich gemacht hat. Ob wir, als durch und durch konditionierte Konsumenten dazu fähig sind, ein erweitertes Bewusstsein unserer Möglichkeiten als Mensch zu entwickeln, wird sich erweisen. Unsere Möglichkeiten als Menschen sind noch nicht erschöpft, wenn wir uns nicht damit zufrieden geben, als der armselige homo oeconomicus das Ende der menschlichen Evolution bezeichnen zu wollen.

2 Hebbel, F.: Maria Magdalena, 3. Akt, 11. Szene

3 Rousseau, J. J. (12. Aufl. 1995). S. 192

4 Kosselleck, R. (1973). S. 132 ff.

5 Osterhammel, J. (2009). S. 115

6 Zit. nach: Furet, F., & Richet, D. (1968). S. 233

7 „Die“ Aufklärung hat es nicht gegeben. Insofern stellt der Begriff, wie er hier verwendet wird, eine Vereinfachung dar. Die Aufklärung stellt keine einheitliche philosophische und politische Richtung dar, wie Jonathan Israel in seiner Studie „Radical Enligthenment“ dargestellt hat. Während manche Denker der Aufklärung, wie Lessing die religiöse Macht und den Einfluss der Kirche beschneiden wollten, strebten Andere, die unter dem Begriff „Radikalaufklärer“ zusammengefasst werden, darüber hinaus auch weitreichende institutionelle und politische Reformen an. Aufklärer wie Voltaire oder Montesquieu vertraten sowohl in religiösen Fragen weit weniger radikale Ansichten als z.B. Spinoza und Diderot. Vgl. Israel, J. (2006)

8 Lukács, G. (1962) S. 219

9 Wright, R. (2006). S. 89

10 Siehe dazu: Streeck, W. (2013)

11 Judt, T. (2010). S. 34

Kapitel I

Die Moderne – Wie aus Autonomie Unterwerfung wird

Das Banner der Moderne trägt eine doppelte Losung: Freiheit und Glück. Beides sind Verheißungen, deren Einlösung an die Verwirklichung der Vernunft gebunden ist. In der Antike war die Suche nach der Freiheit eine inwendige Angelegenheit, in der der Mensch sich seiner Bedingtheit und Begrenztheit bewusst werden sollte, wie man bei Horaz und Marc Aurel nachlesen kann. Der moderne Mensch gelangt zur Freiheit, indem er nichts unversucht lässt, um der Welt ihre Geheimnisse zu entreißen und sie nach seinem Plan zu gestalten.

Ähnlich verschieden ist die Vorstellung, die Antike und Moderne vom Glück haben. Das Gefühl der Harmonie, das den griechischen Glücksbegriff eudaimonia kennzeichnet, meint den Zustand, in dem der Dämon in uns zur Ruhe gekommen ist. Der Zustand des Glücks ist nur zu erreichen, wenn der Mensch mit Hilfe der Vernunft und durch das Wirken in der Polis seine Anlagen entfaltet. Mäßigung ist nach Aristoteles Bedingung für Glück. Die antiken Ideale werden in der christlichen Lehre durch Gebote und Verbote überformt. Wer sie einhält und gottgefällig lebt, kann durch die Gnade Gottes das Glück im Jenseits erfahren.

Der moderne Mensch muss dagegen den Dämon in sich ständig in Bewegung halten. Es existiert nichts, was es nicht verdient, zerstört zu werden. Faust ist ohne Mephisto nicht möglich. In der Moderne findet eine Säkularisierung der Glücksverheißung statt. Das christliche Ziel des ewigen Lebens wird ersetzt durch die Verheißung des irdischen Glücks. In seiner banalen und massenwirksamen Form ist Glück gleichbedeutend mit materiellem Besitz und Konsum.

Die Grundthese dieses Buches lautet, dass sich die moderne Welt an einer Epochenschwelle befindet. Die Ressourcen der Moderne erschöpfen sich und ihre Strategien, die uns Fortschritt und Zivilisation gebracht haben, wenden sich gegen die Menschen und die Natur. Inwieweit nur die Strategien oder auch die Ziele der Moderne revisionsbedürftig sind, bleibt vorerst offen. Um diese These diskutieren zu können, soll in diesem Kapitel eine Vorstellung vom Begriff der Moderne entwickelt werden. Angesichts der Fülle von Literatur zu diesem Thema und der Breite des Begriffsfeldes sowie der Tatsache, dass dieses Buch die Erkenntnisse der Wissenschaft zwar nutzt aber im engeren Sinne keinen Anspruch ergebt, ein wissenschaftliches Buch zu sein, kann an dieser Stelle nur eine grobe Skizze angeboten werden, hoffentlich ausreichend, um eine Grundlage für die folgenden Bewertungen zu haben. Um den Begriff zu erfassen, soll am Anfang eine kurze historische Einordnung erfolgen, bevor dann die Kennzeichen und Strategien der Moderne herausgearbeitet werden sollen.

Epochenschwellen sind, um die Definition von Jürgen Osterhammel zu wiederholen, „Häufigkeitsverdichtungen von Veränderungen“.12 Solche Verdichtungen von Veränderungsprozessen, die es rechtfertigen von einer neuen historischen Periode zu sprechen, lassen sich in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts nachweisen. Galileo Galileos Dialog über die beiden Weltsysteme (1630), Rene Descartes Discours de la methode (1637) und Thomas Hobbes Leviathan (1651) markieren den Einzug der Rationalisierung in den Naturwissenschaften, den Geisteswissenschaften und den politischen Wissenschaften. Diese wegweisenden Schriften ragen aus einer Zeit hervor, in der Europa in blutigen konfessionellen und politischen Kämpfen verstrickt, eine fundamentale Krise der bisherigen Denk-, Glaubens- und Lebensformen durchlitt. Der englische Bürgerkrieg und der Dreißigjährige Krieg in Mitteleuropa erwiesen sich im Nachhinein als Katalysatoren für einen historischen Umbruch, der den Menschen die Tür zur Moderne öffnete.

Inmitten konfessioneller Kriege und dem Niedergang der mittelalterlichen Welt, der endgültigen Zerstörung des mittelalterlichen Reichsgedankens und der Einheit der christlichen Kirche, entwickelte sich mit dem Rationalismus13 ein neues gedankliches System, das in den folgenden Jahrhunderten fast alle Lebensbereiche der Menschen in Europa und der neuen Welt prägen sollte. Bis heute sind die grundlegenden Gedanken des Rationalismus für unser Denken und Handeln bestimmend.

Die Krise des Mittelalters und insbesondere seiner zentralen Institutionen, der Kirche und des Reichs, hat sich in der historischen Rückschau lange angekündigt. Seit dem 14. Jahrhundert haben sich inmitten der Krise des Mittelalters, gebunden in den herrschenden Institutionen, neue Denkansätze herausgebildet: Der Humanismus der italienischen Renaissance, die Revolutionen im naturwissenschaftlichen Denken (Kopernikus, Kepler) und die Entdeckungen und Eroberungen neuer Kontinente gingen den Ansätzen der Rationalisten voraus. Allerdings besteht zwischen dem Gedankengut der Humanisten und der Aufklärer ein für unser Erkenntnisinteresse entscheidender Unterschied. Wir werden darauf noch ausführlicher eingehen.

Wir sehen am Beispiel der Vorgeschichte der Moderne, was auch für unsere Zeit bedeutsam ist, dass sich historische Veränderungen über längere Zeiträume im Schoße der alten Gesellschaft, wie Karl Marx sagen würde, vorbereiten.

1.

Was ist die Moderne?

Die Moderne bietet eine neue Antwort auf die seit Menschen Gedenken gestellte Frage: Wer bin ich und wie kann ich mein Glück finden? Die Moderne setzt das Glück erstmals in das Vermögen des einzelnen Menschen selbst. „Du bist Deines eigenen Glückes Schmied!“, befiehlt ein Sprichwort. „Traue Dich Deines Verstandes zu bedienen!“, lautet die Aufforderung der Aufklärung.

Kurz gefasst lässt sich die Moderne aus der Zentralperspektive des heutigen Menschen durch folgende vier Charakteristika bezeichnen: Erstens: Der Mensch entwirft sich erstmals als vernunftbegabtes Wesen, das sein Leben nach rationalen, den Naturwissenschaften entlehnten Prinzipien organisiert. An Stelle des durch religiöse und politische Krisen geschwächten Prinzips der göttlichen Herrschaft, stattet sich zweitens der Mensch mit dem Anspruch nach Freiheit und Selbstverwirklichung aus. Damit verbindet er den Anspruch, sich von außermenschlichen Bedingungen zu emanzipieren und sein Glück alleine und auf sich selbst gestellt zu wagen. Diese im Vergleich zur christlichen Demutshaltung unglaubliche Selbstermächtigung entgrenzt drittens den im mittelalterlichen Weltbild hermetischen Zeit-Raum und strebt ins Unendliche und ins Zukünftige. Die Moderne lebt von der Zukunft. Schließlich umkleidet der moderne Mensch sein Vorwärts- und Aufwärtsstreben in eine bessere Zukunft mit einem sittlich- teleologischen Mantel, den er Zivilisation und Fortschritt nennt und dessen Telos der Glaube an die Erforschbarkeit der Welt und die Verwirklichung des Glücks auf Erden für die gesamte Menschheit sind. Aus mittelalterlicher Eschatologie wird moderne Fortschrittsutopie.

Diese Merkmale bilden zusammen die Elementarteilchen der Moderne, die sich seit dem ausgehenden Mittelalter rückblickend herauskristallisiert haben. Ihr Zusammenwirken verleiht dem Leben der Menschen, den Gesellschaften und der Politik in Europa etwa seit dem 18. Jahrhundert eine neue historische Gestalt.

Es ist schwierig, die Geburtsstunde der Moderne exakt zu bestimmen, weil die Moderne ein Gebilde ist, das sich aus verschiedenen Facetten zusammensetzt, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten entstanden sind. Manche Merkmale der Moderne entwickelten sich bereits im Schoße der mittelalterlichen Scholastik, andere kommen erst während der krisenhaften Jahrzehnte zu Beginn des 17. Jahrhunderts hinzu. Ihre materielle Form fand die Moderne schließlich erst durch die Entfaltung des industriellen Kapitalismus im Europa des ausgehenden 18.Jahrhunderts. Und erst im 19.Jahrhundert fließt alles zusammen, was vorher vereinzelt Gestalt angenommen hat. Die Beschreibung des Schriftstellers Durs Grünbein beschreibt das Problem der Moderne wohl zutreffend:

„Moderne ist, nach meiner Auffassung, ein Phänomen des Ungleichzeitigen, ein Kreuzungspunkt vieler unzusammenhängender Progressionen zu verschiedenen Zeiten, von Entwicklungssprüngen, die nichts miteinander gemein haben als den einen Effekt, über ihren Anlass hinauszuschießen in eine überzeitliche Sphäre.“14

Die geistige Krise des Spätmittelalters und der Rationalismus

Wir müssen uns den Zustand der europäischen Gesellschaften am Ende des 16. Jahrhundert und zu Beginn des 17. Jahrhunderts vergegenwärtigen, um zu verstehen, warum ein grundlegend neues Weltbild, geprägt vom naturwissenschaftlichen Rationalismus des 17. Jahrhunderts entstehen konnte.

Krise, auch wenn dieser Ausdruck für die Denkstruktur der damaligen Zeit unpassend ist, ist ein zu schwacher Begriff für den Zustand der europäischen Gesellschaften zu der Zeit. Konfessionelle Bürgerkriege verwüsteten weite Gegenden Europas. Der „schwarze Tod“ raffte ganze Dörfer weg. Kalte Winter, die sogar die Ostsee und die Themse zufrieren ließen und nasse Sommer, so dass das Getreide auf den Halmen verfaulte führten mehrere Jahre lang zu bitteren Hungersnöten, in deren Folge die Landbevölkerung dezimiert wurde. Und zugleich befanden sich die weltlichen und religiösen Mächte Europas in einem Dauerkonflikt, der mit ihrem gemeinsamen Niedergang endete. Europa war seit dem Fall Konstantinopels (1453) auf etwa sein heutiges Territorium geschrumpft und hatte wichtige Handelswege nach Asien an die Muslime verloren – einer der Gründe für die Expeditionen über das Meer nach Indien und in die Neue Welt; durch Schismen und Nepotismus geschwächt, zerfiel die Autorität des Papstes in Rom. Die Reformation Luthers (1521) und die Herausbildung von Nationalkirchen in England und Frankreich waren die Folge der Schwächung des Römischen Reiches. Europa befand sich im 15. Jahrhundert neben der politischen und ökonomischen aber auch in einer geistig-spirituellen Krise. Die Ungewissheit, wie man sein Leben gottgefällig führen soll und an welchen Autoritäten man sich dabei orientieren kann, musste für die Menschen des Spätmittelalters eine schreckliche Bedrohung ihres Seelenheils darstellen. Wir können uns das heute kaum mehr vorstellen. Grundlagen des mittelalterlichen Lebens, die man für ewig und unverrückbar gehalten hatte, zerbrachen. Die Achsen des mittelalterlichen Koordinatensystems, die über Jahrhunderte vom Papst und vom Kaiser gebildet wurden, waren zerbrochen. Zu Beginn des 15. Jahrhunderts beanspruchten nicht nur drei Fürsten den Titel des deutschen Königs für sich (1410) sondern auch drei Päpste (1409/10) gaben vor, der legitime Nachfolger Petri zu sein. Die Päpste bekämpften sich mit allen Mitteln und nannten sich gegenseitig Betrüger und Gottlose. Wie sollten die Gläubigen da noch auf die Autorität der Kirche setzen können?

Selbst Gott, den die Kirche und die Gläubigen auf ihrer Seite zu wissen glaubten, konnte nicht verhindern, dass Konstantinopel 1453 an die Muslime fiel. So ist es nicht erstaunlich, dass die Pest, die seit Mitte des 14. Jahrhunderts in plötzlichen Wellen bis Mitte des 15. Jahrhunderts in weiten Teilen Europas die Bevölkerung stark dezimiert hat, von den Menschen als Vorbote des Jüngsten Gerichts angesehen wurde.15 Für die Gläubigen – und wer war damals kein Gläubiger? – fügten sich diese Schreckensereignise zur Vorstellung des bevorstehenden Weltuntergangs zusammen. Die Sätze der Offenbarung des Johannes mussten den Menschen wie eine Beschreibung ihrer Erfahrungen vorkommen.

In seiner „Kulturgeschichte der Neuzeit“ fasst Egon Friedell die Entwicklungen zusammen: „Alle die religiösen, ethischen, philosophischen, politischen, ökonomischen, erotischen, künstlerischen Normen und ‘Wahrheiten‘, bislang so sicher geglaubt und begründet und die Orientierung des Menschen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft scheinbar für immer garantierend, brechen mit einem Male zusammen, ein Trümmerfeld hinterlassend“.16

Der französische Mediävist Jacques Le Goff spricht von einem „Gefühlsschock“, dem die Menschen ausgesetzt waren. Man glaubte, der Teufel habe die Macht übernommen. Welche Antworten boten sich den Menschen, mit ihren Ängsten umzugehen? Die katholische Kirche, selbst seit dem Großen Schisma (1378-1415) und den Konzilien im Streit um die Macht und Deutungshoheit zutiefst gespalten, konnte den Gläubigen des 15. Jahrhunderts nicht allzu viel bieten. Die Amts- und Lehrautorität des Papstes war durch die Konzilsbewegung und das Schisma in ihren Fundamenten gerade zu einem Zeitpunkt geschwächt, zu dem die Gläubigen starke Hirten gebraucht hätten. Der Klerus stand aufgrund seines unsittlichen Lebenswandels in geringem Ansehen. Ihre Geldgier und Faulheit hatte die Kluft zwischen Amtskirche und Gläubigen vertieft.

In solchen Situationen klammern sich die Menschen an jede Hoffnung. So entstanden überall in Europa Volksbewegungen von Gläubigen, die sich selbst auf den Weg machten, den wahren Pfad zu Gott zu finden. Auch der Aberglaube, den die katholische Kirche erfolgreich bekämpft hatte, fand wieder Anhänger unter den verunsicherten Menschen. Reformer wie Jan Hus und die Vielzahl der Reformschriften, die von Wanderpredigern verbreitet wurden, waren Vorboten der späteren Kirchenspaltung und der Herausbildung von Nationalkirchen im 16. Jahrhundert. Vor allem hat die Krise des 15. Jahrhunderts zu einer radikalen Individualisierung im Verhältnis des Einzelnen zu Gott geführt. Wenn man sich auf die Amtskirche nicht mehr verlassen konnte, musste man versuchen, das Heil im Jenseits durch eigene Spiritualität und ein gottgefälliges Leben zu erwirken. Die Wurzeln für den Protestantismus mit seiner unmittelbaren Beziehung zwischen den Gläubigen, ihren Werken und Gott, gründen in der Krise der Amtskirche.

Aber auch die katholische Kirche versuchte den Gläubigen mit den himmelstrebenden Kathedralen der Gotik, der einsetzenden Reliquienverehrung sowie den überall auftretenden Bußpredigern eine Antwort auf die Verunsicherung ihres Glaubens anzubieten. Die Mediävistik spricht von einer neuen Frömmigkeit als Antwort auf die Krise des Spätmittelalters.

Die Krisenerfahrungen und insbesondere die allgegenwärtige Gefahr des „schwarzen Todes“ erklären auch die Bedeutung und Umwandlung, die der Tod in der Kultur erfährt. Der Tod wird im 15. Jahrhundert zum Lieblingsthema der aufblühenden Malerei. Das Buch „Ars Moriendi“, das um 1465 in der Rheingegend erschienen war und durch den Buchdruck schnelle Verbreitung in Europa fand, war ein Lehrbuch, das der Vorbereitung auf den Tod dienen sollte.17 Es bestand aus elf Holzschnitten. Auf jedem Bild war ein Sterbender zu sehen, dem von schrecklichen Fratzen, wie wir sie aus den Fresken der Zeit kennen, sein Sündenregister entgegen gehalten wurde. Auf den Gegenbildern bot sich dem Sterbenden ein Engel, die Göttliche Dreifaltigkeit und Heilige als Helfer in seinem einsamen Kampf um die Rettung der Seele. Man versteht die eigentliche Bedeutung dieser Bücher, die schnell zu Bestsellern wurden, nur, wenn man sich klar macht, wie groß die Angst der Menschen vor dem gewesen sein muss, was sie nach dem Tod erwartet. Zum Einen hatte die Pest sie gelehrt, dass der Tod jederzeit vor der Tür stehen kann und man also wenig Zeit hat, sich vorzubereiten. Zum Andern drückt sich im Erfolg der Sterbebüchlein eine Art der Selbstsorge und Selbstermächtigung aus. Man könnte sagen, dass viele Menschen Beistand in ihrer schwersten Stunde nicht mehr vom Prälaten erwarteten, den man womöglich aus dem Bett einer Dirne holen musste, um das Sakrament der Letzten Ölung und das Viatikum zu spenden.

Die radikalste Antwort auf die Krise der mittelalterlichen Gesellschaft gibt die Renaissance. Seitdem Marsiglio Ficino, Ende des 15. Jahrhunderts Platon und Plotin ins Lateinische übersetzt hatte, – vorher waren die griechischen Klassiker nur aus arabischen Übertragungen zugänglich – stand den Gelehrten eine höchst anregende Gedankenwelt zur Verfügung, mit der das enge Korsett der mittelalterlichen Scholastik aufgesprengt und der Weg zurück in die Diesseitigkeit erkundet werden konnte.

Die Universitäten, die seit dem 12. Jahrhundert in vielen europäischen Städten entstanden waren und neben den Klöstern zum weltlichen Zentrum des intellektuellen Austausches wurden, sowie der Buchdruck seit Mitte des 15. Jahrhunderts boten entscheidende Voraussetzungen für die Verbreitung eines neuen Denkens, mit dem die geistige Krise der mittelalterlichen Gesellschaften überwunden werden sollte.

Von der Renaissance zu Rene Descartes

Es ist wohl kein Zufall, dass diese Zeit eine Neuvermessung der Welt vornahm. Mit der Übernahme der Perspektive in der Architektur und Malerei schufen der Architekt Filippo Brunelleschi (1377 – 1446) und der Bildhauer Donatello (1386 – 1466) eine neue Räumlichkeit, in der sich zugleich ein neues Bild des Menschen ausdrückt. Leon Battista Alberti, dem die Erfindung der Perspektive zugeschrieben wird, und der zugleich der erste Theoretiker der Malerei und Baukunst seiner Zeit war, wollte im Blick die Endlichkeit des Auges überwinden. Der Fluchtpunkt ist der Punkt im Raum, in dem der moderne Mensch glaubt, die Welt zu „haben“.18 Der perspektivische Blick in der Kunst der Renaissance ist der ästhetische Vorgriff auf die spätere reale physische Entgrenzung des Raums und der Zentralstellung des Menschen.

Wenn wir heute die Schriften der Philosophen der Renaissance lesen, begegnet uns eine Welt, die so reichhaltig an Gedanken und an sinnlichen Zugängen ist und die zugleich kühn und produktiv,