Inspirationen für Gegenwart und Zukunft - Burkhard Budde - E-Book

Inspirationen für Gegenwart und Zukunft E-Book

Burkhard Budde

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Beschreibung

In den Irrungen und Wirrungen unserer Zeit sehnen sich viele Menschen nach bleibender Orientierung, sowie nach Erneuerungen im eigenen Leben, aber auch in Kirche und Gesellschaft. Das Buch lädt ein, mit Hilfe von christlichem Wissen und christlichen Perspektiven die eigene Urteilsfähigkeit zu stärken und öffnet neue Räume selbstständigen Denkens und spiritueller Erfahrung. Das kleine Kompendium christlichen Wissens inspiriert, aus der Quelle sinnstiftender Kraft zu schöpfen, den ethischen Kompass hilfreicher Leitlinien in die Hand zu nehmen sowie sich mit dem alltagstauglichen Florett kritischer Vernunft für eine bessere Zukunft in Freiheit und Verantwortung, in Würde und Liebe einzusetzen. Der Autor Burkhard Budde, promovierter Theologe, der viele Jahre Gemeindepfarrer in Spenge im Kreis Herford sowie Leiter einer diakonischen Stiftung in Braunschweig war, lebt als freier Journalist, Kolumnist und Autor in Bad Harzburg.

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Seitenzahl: 140

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Für meine Enkeltochter Carla Johanna anlässlich ihrer Taufe im Juni 2022

Inhalt

Vorwort

Die Geschichte der Zwillinge

Brief an alle, die auf der Suche nach religiöser Orientierung sind

Das Neugeborene als Motor der Hoffnung

Hoffnung in der Zeit der Pandemie und des Krieges in der Ukraine

Besondere Herausforderungen der Kirche

Zukunft der Kirchen

Was Christen verbindet, was trennt

Die Reformation ab 1517 und der Protest

Das Konzil von Trient 1545 -1563 und die Gegenreformation

Erstes Vatikanische Konzil 1969/1970 und die Aufklärung

Zweites Vatikanische Konzil 1962 bis 1965 und die Erneuerung

Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Konfessionen

Minden-Ravensberger Erweckungsbewegung

Die Freiheit eines Christenmenschen in der Bindung an Gottes Liebe

Die Bedeutung der Taufe

Aktuelle Bedeutung der Taufe im biblischen Horizont

wissen – verstehen – verantworten

Kalender Orientierung auf dem Weg

Kirchenjahr Christlicher Festkalender

Weihnachten Menschwerdung statt Vergötzung

Silvester „Einen guten Rutsch“

Epiphanias Weisheit der Könige

Valentinstag Tag der Liebe und der Liebenden

Karfreitag Tag der Wiederentdeckung

Ostern Ereignis neuen Lebens

Muttertag Mütter achten und ehren

Christi Himmelfahrt Grenzenlose Möglichkeiten Gottes

Pfingsten Kraft aus der Höhe

Buß- und Bettag Ende der Flucht, Anfang der Frucht

Sonntag Auf diesen Freund verzichten?

Nikolaustag Verkehrte Welt?

Reformation Das Herz im Herzen

Karneval Auszeit vom Alltag?

Rache Vergebung statt Rache?

Seligpreisungen Vorgeschmack auf Glückseligkeit?

Christliche Ethik Kompass, kein Rezeptbuch

Christliches

Menschenbild

Ein Kunstwerk Gottes

Werte Wertvolle Werte

Frieden Den Bären bändigen

Leben Würdig kämpfen

Das Böse Den Sumpf trockenlegen

Krisen Jenseits des Abgrundes

Aggressor Verteidiger der Menschlichkeit

Teufel Licht im Grauen

Schamgefühl Ohne eine Miene zu verziehen

Gott Fels in der Flut

Jesus Christus Geheimnisvolle Botschaft

Die fünf Siebe des Christlichen Managements

Universalistisches Ethos

Danksagung

Autor

Buchempfehlungen

VORWORT

In einer Welt, die für viele Menschen immer komplexer und komplizierter sowie immer undurchschaubarer und unberechenbarer geworden ist, wird der Ruf nach Orientierung und Halt sowie nach Neuanfang und Erneuerung lauter. Auch sehnen sich viele nach einer lebendigen Quelle sinnstiftender Kraft, einem ethischen Kompass hilfreicher Leitlinien sowie nach einem alltagstauglichen Florett kritischer Vernunft, um im großen und kleinen Durch-, Neben- und Gegeneinander das ganze Leben besser und neu wahrnehmen und bewältigen zu können. Dabei kann es helfen, eine gemeinsame Vision zu entwickeln.

Eine Vision – eine Vorwegnahme der Zukunft – muss keine unrealistische Schwärmerei und auch keine Moralkeule sein. Die Vision einer weltweiten zivilisierten Kultur – unabhängig von Religion oder Weltanschauung – kann vielmehr schon jetzt starke Menschlichkeit mobilisieren und wehrhafte Lebensgeister wecken: Sich selbst und seine Mitmenschen vor Hass und Lüge, Doppelmoral und Heuchelei, Gewalt und Unrecht zu verteidigen; vor allem unschuldige und wehrlose Menschen vor Brutalität und Bosheit zu schützen und ihnen beizustehen, damit sie frei und sicher, souverän und glücklich leben können.

Die Entwicklung einer weltumspannenden Vision fängt bei jedem einzelnen an:

Würdevoller zu leben, indem die angeborene Würde sowie die angeborene Freiheit anderer so geachtet werden, wie man selbst geachtet und behandelt werden will.

Gerechter zu leben, indem Lebenschancen für alle gesucht und unterschiedliche Leistungen anerkannt werden; dem Schwachen zur Selbsthilfe, dem Hilflosen solidarisch geholfen wird; die Folgen des Handelns stets für die Mit-, Umwelt- und Nachwelt mitbedacht werden.

Wahrhaftiger zu leben, indem Wahrheiten und Kompromisse, Lösungen und Optionen immer wieder neu und fair gesucht werden, die Kluft von Sein und Schein glaubwürdig überwunden wird.

Toleranter zu leben, indem Unterschiede und Vielfalt im Rahmen geltender Gesetze geachtet werden, Person und Sache unterschieden sowie die Entwicklung der Persönlichkeit ermöglicht wird.

Taktvoller zu leben, indem Rücksicht auf die Gefühle und die persönliche Situation anderer Menschen genommen wird; durch kulturelle Umgangsformen menschliches Format entstehen kann.

Barmherziger zu leben, indem Neuanfänge gewagt und Verantwortungen wahrgenommen werden, weil kein Mensch perfekt, eine austauschbare Ware oder ein zu funktionierender Automat ist.

Leidenschaftlicher zu leben, indem für das richtig Erkannte, das aktuell Notwendige, das langfristig Gebotene zugleich mutig und besonnen, tapfer und klug, stark und verantwortungsbewusst gekämpft wird.

Die gelebte Vision überwindet sowohl ein rein effizientes oder gleichgültiges Durchwursteln als auch ein unberechenbares oder machtsüchtiges Durcheinander. Sie vermittelt Haltung, Halt und Zusammenhalt, bremst Unmenschlichkeit und fördert ein zivilisiertes Miteinander mitten in allen Realitäten.

Das vorliegende Buch versucht, einen kleinen Beitrag zu einer gemeinsamen Vision, zur christlichen Bildung, zur Kritik-, Unterscheidungs- und Urteilsfähigkeit, zum besseren Verstehen untereinander, zum besseren Verständnis füreinander und zur besseren Verständigung miteinander im Blick auf gemeinsame und unterschiedliche Traditionen und Positionen, Sichtweisen und Perspektiven zu leisten.

Das Buch bietet keine wissenschaftliche und umfassende Darstellung zum Beispiel im Blick auf die Geschichte der Besonderheiten der Konfessionen, wohl aber aus subjektiver und selektiver Sicht klassische Anknüpfungspunkte sowie persönliche Denk- und Diskussionsanstöße. Auch sind wegen des begrenzten Rahmens des Buches andere Religionen und Weltanschauungen nicht zu Worte gekommen.

Anlass für die Sammlung und Deutung der vorliegenden Texte im kirchlichen Zusammenhang ist die grundlegende Einsicht, dass strukturelle Änderungen einer äußeren Gestalt ohne eine kritisch-konstruktive und aufrichtige Auseinandersetzung mit unterschiedlich gewachsenen Grundüberzeugungen aktivistisch ins Leere laufen können. Eine glaubwürdige Rundumerneuerung jedoch, zu der auch das geistliche Leben gehört, wird nach den Ursachen der offenen oder versteckten Konflikte und Spannungen fragen, sie benennen, betrachten, abzubauen oder neu zu gewichten versuchen, damit das als „vernünftig Erkanntes“ und „geistlich Geschenktes“ auf neuen Wegen gemeinsam erlebbar werden kann.

Ein weiterer Anlass, das Buch zu verfassen, ist die Taufe meines zweiten Enkelkindes Carla Johanna. Meine Frau und ich freuen uns sehr, dass Christen unterschiedlicher Konfessionen an dieser Feier teilnehmen. Alle sind tolerant und achten sich gegenseitig. Die „Chemie“ stimmt.

Überhaupt: Katholiken und Protestanten, aber auch Nichtchristen können miteinander befreundet, verheiratet, glücklich sein, auch religiöse Herausforderungen fair meistern und miteinander fröhliche Feste des Glaubens feiern, wenn sie keine festen Vorbehalte und selbstgerechte Vorurteile haben, vor allem wenn sie Person und Konfession, Überzeugung und Zugehörigkeit voneinander trennen oder sogar als gegenseitige Bereicherung erleben können. Gemeinsam sollte allen sein: Wichtiger als Konfession oder Religion ist die aufgeklärte Freiheit in Würde und Menschlichkeit, seinen Erfahrungs- und Erlebnishorizont ständig zu erweitern, zu vertiefen und zu erneuern – übrigens ganz im Sinne Jesu, der auf den Gastgeber aller kirchlichen Feiern hinweist, den dreieinigen Gott, der alle Gäste, auch Suchende und Zweifelnde, Gewisse und Enttäuschte, Geprägte und Neugierige willkommen heißt. Und für unvorhersehbare Überraschungen der Liebe und für neue Wunder im Glauben immer gut ist.

Wer mehr wissen und erfahren will, ist zur Lektüre dieses Buches herzlich eingeladen.

Burkhard Budde

DIE GESCHICHTE DER ZWILLINGE

Eine Mutter gebar im 16. Jahrhundert Zwillinge.

Der eine Zwilling diente nicht nur der Mutter, sondern identifizierte sich mit ihr so stark, dass er behauptete, selbst die Mutter zu sein, die sich leider immer mehr von ihrem ursprünglichen Wesen entfernt hatte. Der Zwilling ließ Ablassbriefe verkaufen, um vor allem Geld für den Neubau einer großen Kirche zu bekommen. Den Käufern wurde jedoch etwas anderes erzählt: „Sobald der Gülden im Becken klingt im huy die Seel im Himmel springt.“ Der Zwilling, der glaubte, dass er bei seiner Weihe – einer Art rituellen Heiligung zum Dienst an der Mutter - einen einzigartigen „unverlierbaren Charakter“ erhalten habe, fühlte sich den anderen Menschen immer überlegener und unantastbarer und handelte immer willkürlicher und missbräuchlicher.

Dass gefiel dem zweiten Zwilling überhaupt nicht. Scharf kritisierte er das Täuschungsmanöver sowie das „Profitmodell“ des anderen Zwillings, das „Beten, Bereuen und Bezahlen“ und die „Heuchelei, Verdummung und Geschäftemacherei.“ Der Streit eskalierte: Der eine wurde als „Antichrist“ bezeichnet, der andere als „Ketzer“ – und aus der Gemeinschaft ausgeschlossen.

Der zweite Zwilling, der ausgeschlossene Kritiker, wollte das Familienband nicht zerstören, sondern die Gemeinschaft mit seinem Mitzwilling von dem ursprünglichen Verständnis der gemeinsamen Mutter her erneuern. Sein Mitzwilling jedoch verstand sich als „Heiliger Vater“, der die alleinige Deutungshoheit im Blick auf die Auslegung der Bibel beanspruchte, der zentralen Urkunde der Mutter von Anfang an. Er forderte als allererster „Diener der Diener Gottes“ unbedingten Gehorsam gegenüber sich und seiner Macht.

Der ausgestoßene Zwilling dachte nicht daran, vor dem „Heiligen Vater“ in die Knie zu gehen. Er warf ihm vielmehr vor, seine neuen Lehren mit der Botschaft der Bibel zu verwechseln. Denn nicht durch die Vermittlung des „Heiligen Zwillings“ komme ein Mensch in ein Verhältnis zu Gott, sondern durch den persönlichen Glauben an den lebendigen Gott der Bibel. Gott selbst bringe das gläubige Herz zum Schlagen. Der Schlachtruf des zweiten Zwillings lautete deshalb: „Allein die Schrift“ („Sola scriptura“), weil nur die Bibel den Funken neuen Lebens kenne. „Allein durch Gnade“ („Sola gratia“), weil nur durch die Gnade Gottes der Funke neuen Lebens geschlagen werden könne. „Allein durch den Glauben“ („Sola fide“) und „Allein durch Christus“ („Solus christus“), weil nur durch den Glauben an Christus der Funke neuen Lebens einen Flächenbrand der Liebe und der Hoffnung auf Erlösung auslösen könne.

Dass sein Mitzwilling durch seine Weihe einen „unverlierbaren Charakter“ der unnahbaren Abgehobenheit vom gläubigen Mitmenschen bekommen habe, sei biblisch nicht begründbar. Und dass das geistliche Amt nicht mit der Stimme und dem Willen Gottes verwechselt werden dürfe, dessen war er sich sicher. Überhaupt werde im Namen Gottes die menschliche Freiheit zur persönlichen Verantwortung durch Gehorsamsforderung eingeschränkt und manipuliert. Die Weihe schaffe vor allem einen „unversöhnlichen Zwiespalt“ zwischen Geweihten und Nichtgeweihten und begünstige ein hierarchisch- willkürliches und scheinheiligmissbräuchliches Handeln. Und darüber hinaus: Seien nicht alle Gläubige durch ihren Glauben an Gott „Geweihte“, die zur „Mutter Kirche“ und zum Gottesvolk gehörten? Und einen direkten Draht zu Gott hätten?!

Aber der Mitzwilling, der „Heilige Vater“, kämpfte um seine Macht. Und baute sie aus. Auf einer Versammlung mit seinen Anhängern im 16. Jahrhundert bekam die alte Tradition neben der Bibel einen besonders autoritativen Charakter, um sein Auslegungsmonopol zu stärken. Eine zweite Versammlung 1869/1870 unterstrich, dass der „Heilige Vater“ mit seinem eigenen Profil und seiner höchsten Rechtsgewalt überall und immer das letzte Wort habe und dass er Lehren des Glaubens und der Moral als unfehlbar bestimmen könne, wenn er „ex cathedra“ - „von seinem Sitz aus“ - kraft seines Lehramtes spreche. Eine dritte Versammlung, die von 1962 bis 1965 dauerte, relativierte zwar die Macht des „Heiligen Vaters“, indem seine leitenden Mitarbeiter – die Bischöfe -, die durch die zweite Veranstaltung total entmachtet worden waren, „kollegiale Vollmacht“ zugesprochen bekamen - aber nur unter Vorbehalt, immer nur in der Gemeinschaft mit dem „Heiligen Vater“, dessen „Unfehlbarkeit“ und „Vorrangstellung“ unangetastet blieben.

Viele Jahre stritten sich die Zwillinge, gingen rechthaberisch und besserwisserisch in Stellung, waren aggressiv und verurteilten sich gegenseitig. Viele Jahre lebten sie gleichgültig oder hochnäsig nebeneinander her und taten so, als wären sie füreinander Luft. Als der weltliche Gegenwind jedoch durch Aufklärung und Entfremdung immer stärker wurde, wurden sie ein wenig durch- und wachgerüttelt und lebten viele Jahre miteinander auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Sie sprachen von gelebter Gemeinschaft und von vielen Gemeinsamkeiten. Aber durchs Feuer inhaltlicher Auseinandersetzungen im Blick auf ihr Selbst- und Amtsverständnis gingen sie nicht. Grundsätzliche Unterschiede wurden unter den Teppich gekehrt, wo sie ein unsichtbares sowie immer größer werdendes Eigenleben führten. Und merkten beide nicht, dass ihre gemeinsame Mitwelt sie immer häufiger links liegen ließ.

Eines Tages gab es ein großes Erdbeben. Skandale, Missstände und Straftatbestände im Raum der Zwillinge wurden bekannt und erschütterten ihre bislang abgeschirmte Sonderwelt, vor allem ihre Glaubwürdigkeit. Politisierung und Moralisierung der eigenen Botschaft sowie „weltlicher Angelegenheiten“ hatte ohnehin viele genervt. Systematischer Etikettenschwindel und persönliche Scheinheiligkeit, einmal durchschaut, wurden mit Unverständnis und Empörung vor allem der Gläubigen quittiert. Eine Abstimmung mit den Füßen, aber auch eine demonstrative Abkehr von den Zwillingen fand statt. Wer wollte sich noch offen und öffentlich zu den Zwillingen bekennen? Immer mehr Gläubige der Mutter der Zwillinge fragten sich, ob es nicht auch ein geistig-geistliches Leben ohne die Zwillinge gebe? Und bei manchen Gläubigen wurde der Glaube selbst durch die Würdelosigkeit der Geweihten und durch deren Missbrauch ihres Vertrauens zerstört.

Auch die Mutter der Zwillinge war entsetzt über das Verhalten ihrer Kinder. Eines Tages hatte sie einen Traum.

Die Zwillinge stritten wie Hähne: Wer von uns ist der Größte? Wer hat das Sagen? Wer wird von der Mutter am meisten geliebt? Wer ist erfolgreicher im Kampf um Macht und Einfluss, Geld und Status, Wertschätzung und Anerkennung?

Um sie herum waren Zuschauer. Einige konnten sich über ihre Streiterei köstlich amüsieren. Das ehrsüchtige Macht- und Statusgehabe der Zwillinge im Gewand des Bescheidenen und Demütigen wirkte komisch, ja peinlich angesichts ihrer Ahnungs- und Bedeutungslosigkeit. Andere Zuschauer schüttelten wegen des inszenierten „Schattenboxens“ auf offener Bühne nur den Kopf, entfernten sich und besuchten lieber „richtiges Theater“. Wieder andere feuerten die Streithähne an. Sie hatten es schon immer gewusst: Beide seien nur für Unterhaltung gut, in Wirklichkeit aber „flüssig“, überflüssig, weil sie durch ihre unverständliche Selbstbeschäftigung und unbegreifliche Selbsterhöhung schon lange ihre Glaubwürdigkeit verloren hätten.

Manche der Zuschauer waren jedoch auch sehr traurig, tief betroffen und einfach sprachlos; wieder andere zornig: Warum kümmerten sich die Zwillinge nicht um den frohmachenden und sinnstiftenden Auftrag ihrer Mutter, der unverwechselbar und unvertretbar war, vor allem dem Leben aller diente?! Manche Zuschauer forderten wohl deshalb eine Rundumerneuerung. Und hatten Tränen in den Augen.

Da erschien im Traum ein weiser Mann, den sie beide kannten. Den fragten die Streithähne: „Wer ist der Größte von uns?“ Der antwortete: „Wenn einer unter euch der Erste sein will, der soll der Letzte von allen und aller Diener sein.“ Die Zwillinge verdrehten ihre Augen.

Dann stellte der Mann überraschend ein Kind in ihre Mitte und fügte hinzu: „Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie dieses Kind, dann könnt ihr mich und eure Mutter nicht verstehen.“

Die Zwillinge schwiegen verdutzt, wollten gerade anfangen, ihre Hahnenkämpfe klein und schön zu reden, als sie langsam ins Denken kamen: Meint er, dass wir so klein wie ein Kind sind, so hilfsbedürftig und auf Liebe angewiesen, so abhängig, so vertrauensvoll auf Vertrauen angewiesen?

Da fügte der Mann noch etwas Erschütterndes hinzu: „Wer diesen Kleinen, die an mich glauben, Ärgernis gibt, dem wäre es besser, dass ein Mühlstein an seinen Hals gehängt wird…“

Jetzt fiel es beiden Zwillingen wie Schuppen von den Augen:

Jesus hatte zu ihnen gesprochen, der am Anfang ihrer Mutter gewirkt hatte.

Und als Jesus den Ort verlassen hatte und nicht mehr zu sehen war, wurden Mutter und Zwillinge wach. Und sahen klarer, weil sie der Wahrheit durch den Glauben an Jesus Christus auf der Spur waren:

Als einzigartiger Geber der Botschaft ihres Glaubens war er und ist Schöpfer und Sinngeber ihrer Existenz. Als bleibender Gastgeber aller ihrer Feiern und Angebote ist er selbst Ursprung, Mitte und Ziel ihres Lebens. Als befreiender und zugleich versöhnender Geist will er in allen seinen Gästen wirken.

Die Zwillinge beschlossen, geistlich erwachsen zu werden, aus Hochmut ehrliche Demut und aus Herrschaft aufrichtigen Dienst werden zu lassen, das Trennende zu überwinden und das Gemeinsame zu erneuern.

In Zukunft sollte die biblische Botschaft die gemeinsame Quelle ihrer Inspiration, der gemeinsame Kompass ihrer Ethik und das gemeinsame Florett ihrer kritischen Vernunft sein, damit in ihrer versöhnten Gemeinschaft das jeweils Eigene und Originelle als bereichernde Fülle beachtet und geachtet und vielleicht sogar erneuert werden könne.

Die Zeit war wohl reif, die Flucht vor der Botschaft Jesu und die Selbstbespiegelung zu beenden und der Frucht der froh- und neumachenden Botschaft Jesu bei sich selbst und in Beziehung zum Gegenüber sowie zur Mitwelt eine Chance zum Wachsen zu geben.

BRIEF AN ALLE, DIE AUF DER SUCHE NACH RELIGIÖSER ORIENTIERUNG SIND

Das Neugeborene als Motor der Hoffnung

Schwärmen ist erlaubt: Ein Wunderwerk, das das Licht der Welt erblickt hat, verzaubert die Herzen und lässt sie – bei aller Coolness – höher schlagen. Mit großen Augen schaut Carla die glückliche Mutter an. Mit ihrem süßen Mund und ihrer niedlichen Nase fasziniert sie den erleichterten Vater. Mit ihren leicht geöffneten Händchen und ihrer samtenen Haut schlägt sie die ältere, vor allem stolze Schwester in einen prickelnden Bann. Sie verzaubert jeden, der in ihre Nähe kommt. Ein Zauber wohnt in diesem sanften und unschuldigen sowie einzigartigen und unverwechselbaren Geschöpf.

Schwärmen schließt reflektierte Wahrnehmung nicht aus: In einer entzauberten Welt braucht dieser Zauber Ehrfurcht vor dem Leben, Neugierde auf das Leben und Zuversicht im Leben, aber auch leidenschaftliche Verantwortung für das Leben.

Die Ehrfurcht vor dem Leben, die angesichts der Geburt eines Menschen bei vielen Mitmenschen geweckt wird, ist mehr als ein seelisches oder ein frommes Gefühl. Diese gemischte und vermischte Bewegung des Gemütes und des Körpers erinnert den Kopf an den Ursprung, aber auch an die Endlichkeit allen Lebens und lässt das Herz demütig und dankbar für das Leben schlagen.