Integrative Ernährungspsychologie - Cornelia Fiechtl - E-Book

Integrative Ernährungspsychologie E-Book

Cornelia Fiechtl

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Beschreibung

Das Buch betrachtet die Entwicklung und Veränderung des Essverhaltens aus einer ganzheitlichen Perspektive und behandelt relevante Faktoren, die für die erfolgreiche Veränderung des Essverhaltens von Wichtigkeit sind. Im Zentrum stehen nicht Störungsbilder, sondern Verhaltensweisen. Gängige Ansichten zu Körpergewicht und Gesundheit werden hinterfragt und deren Auswirkungen beleuchtet. Es wird ein integratives Therapiekonzept vorgestellt. Dieses beinhaltet die Regulierung der Nahrungsaufnahme anhand von Körpersignalen, die Vermittlung von Strategien zur Emotionsregulation, die Kultivierung von Selbstmitgefühl, Körperbildarbeit sowie die Förderung freudvoller Bewegung und Ernährung. Praxisbeispiele illustrieren die Umsetzung des Konzepts.

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Seitenzahl: 369

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Inhalt

Cover

Titelei

Vorwort

1 Ernährungspsychologie als Schnittstellendisziplin

2 Essverhalten

2.1 Innere Einflüsse: Intuitive Verhaltenssteuerung und somatische Intelligenz

2.1.1 Hunger

2.1.2 Sättigung

2.1.3 Boundary-Modell des Essverhaltens

2.2 Äußere Einflüsse: Einflüsse aus der Entwicklungsgeschichte

2.2.1 Familiäre Einflüsse

2.2.2 Schönheits- und Schlankheitsideale (Körperbild)

2.2.3 Sozioökonomischer Status

2.3 Kognitive Einstellung

3 Kontinuum des Essverhaltens: Esstypen

3.1 Gezügeltes Essverhalten

3.1.1 Das-letzte-Abendmahl-Effekt

3.1.2 Kognitive Kontrolle

3.1.3 Disinhibition des Essverhaltens

3.1.4 Essanfälle (Binge Eating)

3.1.5 Adaptive Thermogenese

3.1.6 Zusammenfassung

3.2 Emotionsregulierendes Essverhalten (Binge Eating)

3.2.1 Warum essen hilft: Die Theorie des emotionalen Essverhaltens

3.2.2 Reinforcement Sensitivity Theory

4 Körpergewicht und Gesundheit

4.1 Annahme 1: Das Körpergewicht ist ein Indikator für Gesundheit

Fazit und Ausblick

4.2 Annahme 2: Jeder Mensch kann mit einer Diät und ausreichend Bewegung Gewicht verlieren

Fazit

4.3 Annahme 3: Gewichtsverlust ist die primäre Maßnahme, um die Gesundheit zu fördern

Fazit

4.4 Annahme 4: Dicke Menschen haben ein höheres Risiko zu sterben

Fazit

4.5 Zusammenfassung

5 Gesundheitsförderung neu gedacht

5.1 Health at every size®

5.2 Therapieinhalte in der gewichtsneutralen Therapie

5.2.1 Regulation der Nahrungsaufnahme durch Hunger- und Sättigungssignale

5.2.2 Vermittlung von alternativen Strategien zur Emotionsregulation

5.2.3 Selbstmitgefühl kultivieren

5.2.4 Körperbildarbeit

5.2.5 Freudvolle Bewegung fördern

5.2.6 Ernährungskompetenz freudvoll gestalten

5.3 Evaluierung alternativer Ansätze in der Forschung

5.3.1 Achtsamkeitsbasierte Ansätze

5.3.2 Intuitiv essen nach Tribole und Resch

5.3.3 ACHTSAM ESSEN Akademie nach Cornelia Fiechtl

5.3.4 Flexible Kontrolle des Essverhaltens

5.4 Zusammenfassung

6 Integrative Therapie des Essverhaltens

6.1 Einen gesundheitsförderlichen und stigmatisierungsfreien Raum schaffen

6.2 Besonderheiten in der Anamnese

6.3 Diagnostik und Fragebögen

6.3.1 Essverhalten

6.3.2 Körperbild und Selbstmitgefühl

6.3.3 Sonstige Fragebögen

6.4 Zielformulierung

6.5 Behandlung ungesunden/gestörten Essverhaltens

6.5.1 Gezügeltes Essverhalten ablegen

6.5.2 Körpersignale spüren lernen

6.5.3 Ernährung neu definiert

6.5.4 Körperbild und Selbstwert

6.5.5 Bewegung aus Freude

6.5.6 Emotionales Essen auflösen

6.6 Verändertes Essverhalten als Begleiter

6.6.1 Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS)

6.6.2 Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), Traumata

6.6.3 Borderline Persönlichkeitsstörung

6.6.4 Depressionen

6.6.5 Angststörungen

6.6.6 Hochsensibilität

7 Fallbeispiele

7.1 Frieden mit Ernährung schließen mit B.

7.1.1 Erstgespräch

7.1.2 Persönlicher Eindruck (Psychopathologischer Befund)

7.1.3 Problemanalyse

7.1.4 Therapieplan

7.1.5 Behandlungsverlauf

7.2 Gewichtsstigmata aufarbeiten mit S.

7.2.1 Erstgespräch

7.2.2 Persönlicher Eindruck (Psychopathologischer Befund)

7.2.3 Problemanalyse

7.2.4 Therapieplan

7.2.5 Behandlungsverlauf

7.3 Die Gesundheit fördern mit F.

7.3.1 Erstgespräch

7.3.2 Persönlicher Eindruck (Psychopathologischer Befund)

7.3.3 Problemanalyse

7.3.4 Therapieplan

7.3.5 Behandlungsverlauf

Literaturverzeichnis

Stichwortverzeichnis

Die Autorin

Mag. Cornelia Fiechtl ist Klinische Psychologin und Gesundheitspsychologin mit Schwerpunkt Essverhalten und Körperbild. Sie hält regelmäßig Workshops und Vorträge zum Thema, veröffentlichte mehrere Artikel in verschiedenen Printmedien und bildet Fachkräfte in Form von Lehrgängen und Webinaren im Bereich der Ernährungspsychologie fort. Als Dozentin hat sie an verschiedenen Fachhochschulen in Österreich (Studiengang Diätologie) und bei verschiedenen Berufsverbänden unterrichtet. Außerdem ist Cornelia Fiechtl Gründerin eines digitalen ernährungspsychologischen Coachingprogrammes mit dem Titel Food Feelings Programm (ehemals ACHTSAM ESSEN Akademie), Autorin des Buches Food Feelings sowie Host des gleichnamigen Podcasts.

Cornelia Fiechtl

Integrative Ernährungspsychologie

Psychologie und Therapie des Essverhaltens

Verlag W. Kohlhammer

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Autorinnenfoto: Patrick SchörgAbbildungen: Anna Sycik1. Auflage 2024

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-043592-6

E-Book-Formate:pdf: ISBN 978-3-17-043593-3epub: ISBN 978-3-17-043594-0

Für alle Kinder,die schon in frühen Jahren die Botschaft erhalten, dass ihr Körper falsch ist.Für alle Personen,die ihr Leben lang gegen ihr Körpergewicht kämpfen.Für alle Menschen,die aufgrund ihres Gewichtes diskriminiert und stigmatisiert werden.Für einen Perspektivenwechsel im Gesundheitssystem.

Vorwort

»Eigentlich war ich ein glückliches Kind. Ich habe viel gelacht und mich gerne bewegt. Doch mein Körper war anscheinend von Anfang an nicht der Körper, der gewünscht war oder der akzeptiert wurde. Ich kann mich noch gut an eine Ballettlehrerin erinnern, die mir vermittelte, dass sie mit meinem Körper nichts anfangen konnte. Sie schloss mich zwar nicht aus dem Unterricht aus, aber sie stellte klar, dass sie keine Zeit in mich investieren würde. Mich als Baum in den Hintergrund zu stellen, sah sie als einzige Option, um mich bei den Aufführungen dabei sein zu lassen. Eine Aussage, die sich bis heute tief in meine Erinnerung gebrannt hat. Ich kann mich an keine Zeit in meinem Leben erinnern, in der das Gewicht meines Körpers keine Rolle spielte. Ich hatte immer mehr auf den Rippen als andere. Ständig wurde ich mit anderen verglichen. Das am laufenden Band zu hören war hart. Es hat mir vermittelt, dass ich nicht gut genug bin und dass es keinen Platz für mich gibt. Derartige Erfahrungen und Kommentare limitieren einen im Leben. Ich habe viele Dinge nicht gemacht, nur um nicht noch einmal in solche Situationen zu geraten. Man fühlt sich fehl am Platz und isoliert sich zunehmend. Ich habe mich oft gefragt, was ich falsch gemacht habe.

Meine Beziehung zum Essen wurde immer ungesünder. Es ist als würde Essen dein ganzes Leben bestimmen. Wenn du 8 oder 9 Jahre bist und die ganze Zeit daran denkst, was oder wann du essen sollst, ist das nicht normal. Irgendwann habe ich mir überlegt, ob ich nicht lieber das Gegessene erbrechen sollte, nur um abzunehmen. Mir ging es immer schlechter. Ich konnte mich nicht mehr sehen, nicht mehr fühlen. Es gab einen Punkt, an dem ich mir gewünscht habe, am nächsten Morgen nicht mehr aufzuwachen. Eines Tages war ich beim Arzt, weil ich aufgrund einer Gastritis Magenschmerzen hatte und nichts mehr schlucken konnte. Dass ich nichts essen oder trinken konnte, störte ihn offenbar nicht. Stattdessen merkte er an, dass sich das positiv auf mein Gewicht auswirken würde.«

Elisabeth M.

Elisabeths Geschichte ist kein Einzelschicksal, es ist die tägliche Realität von hochgewichtigen Menschen. Wir müssen die Art und Weise ändern, wie wir dicke Menschen sehen. Vor allem aber müssen wir ändern, wie die Welt Gewichtsreduktion bzw. Abnehmvorhaben bewertet. Denn Letzteres ist, wie wir im Verlauf dieses Buches sehen werden, mitverantwortlich für die Entwicklung von ungesunden Essverhaltensweisen, Essstörungen und Hochgewicht.

Das vorliegende Buch ist als integratives Werk zum Thema Essverhalten zu verstehen. Es soll dabei helfen, das Essverhalten von Klient:innen aus einer ganzheitlichen Perspektive zu verstehen. Dabei werde ich Ihnen Impulse und Ansätze an die Hand geben, die Ihnen dabei helfen werden, Ihre Klient:innen dabei zu begleiten, ein gesundes Verhältnis zu Essen, ihrem Körper und ihrem Selbstwertgefühl zu entwickeln.

Dabei beschränke ich mich nicht auf die Behandlung von Essstörungen oder die Therapie bei Adipositas. Vielmehr geht es darum, dass wir beginnen, Essverhalten als Kontinuum von gesund über ungesund bis hin zu krank zu sehen und Menschen in der Entwicklung eines gesunden Essverhaltens unterstützen, unabhängig davon, wo auf diesem Kontinuum sie stehen oder welches Gewicht sie haben.

Im ersten Teil des Buches steht der integrative Wissenserwerb rund um das Essverhalten. Wir beschäftigen uns damit, wie sich das Essverhalten über die Lebenszeit entwickelt und welche Faktoren es beeinflussen. Im hinteren Teil des Buches finden Sie ein Therapiekonzept mit Übungsimpulsen. Außerdem werden Sie einige Beispiele aus meiner Arbeitspraxis finden, die einen Einblick in die Praxis der Ernährungspsychologie gewährleisten.

Ich stelle Ihnen einen Ansatz vor, der über das traditionelle Denken hinausgeht. Ein Ansatz, der Gesundheit eines Menschen frei von Vorurteilen und Bewertungen und unabhängig vom Körpergewicht diskutiert. Mir ist bewusst, dass diese neuartige Perspektive auf Gesundheitsförderung ein komplexes Thema ist und kontroverse Diskussionen hervorrufen wird. Doch ich bin davon überzeugt, dass es an der Zeit ist, diese Diskussion zu führen und eine neue Denkweise zu fördern, die auf Akzeptanz, Respekt und Wertschätzung basiert. Daher werde ich im Sinne einer bewertungsfreien Haltung und Sprache auf neutrale und beschreibende Begriffe wie dick oder fett, Mehrgewicht oder Hochgewicht als Ausdruck für ein hohes Körpergewicht zurückgreifen.

Ich lade Sie herzlich dazu ein, dieses Buch als Leitfaden für Ihre eigene Entwicklung zu nutzen. Nehmen Sie sich die Zeit, über Ihre eigenen Überzeugungen, Glaubenssätze und Erfahrungen nachzudenken. Möge dieses Buch Ihnen Inspiration bieten, Ihre eigene Wahrnehmung zu erweitern und positive Veränderungen in Ihrem Leben herbeizuführen.

In erster Linie liefert Ihnen dieses Buch aber eine Integration bestehender sowie neuer Erkenntnisse aus verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen und überführt diese in konkrete Handlungsempfehlungen, die eine nachhaltige und ganzheitliche Gesundheitsförderung Ihrer Klient:innen ermöglichen. Denn nur, wenn wir über den Rand unserer eigenen gesundheitswissenschaftlichen Disziplin hinaussehen, können wir die Komplexität von Gesundheit verstehen und fördern.

Bevor es los geht, möchte ich ein paar Worte des Dankes aussprechen. Ein ganz besonderer Dank gilt an dieser Stelle Elisabeth Marcinkowski (auch bekannt unter Elly Magpie) und all den Menschen, mit denen ich in meiner Praxis und der ACHTSAM ESSEN AKADEMIE zusammenarbeite. Ich darf von euch lernen und mit euch gemeinsam wachsen.

Ich danke Juliette Wernicke, die mein Team seit mehreren Jahren bereichert und mich bei diesem Buchprojekt unterstützt hat. Außerdem danke ich meinen Eltern und meinem Partner, der immer für mich da ist und mich auf meinem Weg unterstützt.

Abschließend möchte ich meine tiefste Dankbarkeit gegenüber Christoph Klotter zum Ausdruck bringen. Er hat die Ernährungspsychologie würdig vertreten, sich für ihre Anerkennung und Wertschätzung eingesetzt und mir stets ein offenes Ohr geschenkt.

Mit herzlichen Grüßen,Cornelia Fiechtl

1 Ernährungspsychologie als Schnittstellendisziplin

Food is not an object, it is an interaction.(Autor unbekannt).

Die Ernährungspsychologie ist ein wissenschaftliches Fachgebiet, das oftmals als Teilbereich der Klinischen Psychologie und der Gesundheitspsychologie bzw. als Schnittstelle zwischen Psychologie und Ernährungswissenschaft gesehen wird. Im Mittelpunkt der Ernährungspsychologie steht die Erforschung der Beziehung zwischen unbewussten psychischen Vorgängen, Gefühlen, Verhalten und Ernährung bei Menschen. So beschäftigt sich die Ernährungspsychologie beispielsweise damit wie Emotionen, Gedanken, Gewohnheiten und die Einstellung das Essverhalten einer Person beeinflussen können. Aber nicht nur der Einfluss der Psyche auf das Essverhalten, sondern auch die Wirkung des Essens auf die Psyche wird im Rahmen der Ernährungspsychologie erforscht. Insgesamt ermöglicht die Ernährungspsychologie ein besseres Verständnis für die komplexen Mechanismen, die unser Essverhalten beeinflussen, und hilft dabei, maßgeschneiderte Lösungen zu entwickeln, um ein ausgewogenes Essverhalten zu fördern. Außerdem stellt sie Tools und Therapieansätze für Therapeut:innen zur Verfügung, um Klient:innen bei einer nachhaltigen Veränderung der Ernährung und Essverhaltensweisen zu begleiten.

Obwohl die Ernährungspsychologie erst in den letzten Jahren mehr und mehr Aufmerksamkeit erhält, reicht die Forschung im Bereich der Ernährungspsychologie in die 1930er Jahre zurück. Hilde Bruch, eine deutsche Ärztin und Psychoanalytikerin beschäftigte sich beispielsweise bereits 1936 mit dem Zusammenhang zwischen mit dem Körpergewicht von Kindern und dem Bindungsstil zu ihren Müttern. Die Erkenntnisse der Ernährungspsychologie hatten bis dato eher selten ihren Weg in Lehrbücher, Lehrsäle oder auf Vortragsfolien gefunden. Christoph Klotter, ein bekannter Experte im Bereich der Ernährungspsychologie, formulierte sehr treffend: »Ernährungspsychologie ist ein Orchideen-Fach, das sehr selten gelehrt wird, und dessen Erkenntnisse nicht immer in die praktische Ernährungserziehung und -beratung einfließen« (Klotter & Trautmann, 2009, S. 566). In Anbetracht der Tatsache, dass ungesundes Essverhalten und Essstörungen längst keine Ausnahmeerscheinung mehr sind, scheint es erstaunlich, dass all die Erkenntnisse rund um das Essverhalten stiefmütterlich behandelt werden. Ein möglicher Grund dafür ist, dass sich der wissenschaftliche Diskurs nach wie vor hauptsächlich mit körperlichen Prozessen der Ernährung beschäftigt und die Ableitung von Leitlinien und Empfehlungen hauptsächlich in der Ernährungswissenschaft und Ernährungsmedizin stattfindet.

Die Positionierung als Schnittstellendisziplin verschafft der Ernährungspsychologie höchstens den Charakter des »Zusatzelementes«, aber nicht den Stellenwert, den sie in der Therapie verdient. Dies spiegelt sich in vielen Programmen zur Lebensstilmodifikation wider, in denen die Psychologie oftmals ein »Zusatzmodul« im Ausmaß von wenigen Einheiten rund um die Themen Stress, Entspannung oder Motivation darstellt. Solange die Psychologie des Essverhaltens nur als »Beiwagen«, nicht aber als zentrales Element in der Therapie gesehen wird, kann keine nachhaltige Veränderung des Essverhaltens oder der Ernährungsgewohnheiten erfolgen. Wenn Menschen aufgrund eines Traumas unter regelmäßigen Essanfällen leiden, das abendliche Essen vor dem Fernseher das einzige Highlight im Leben ist oder der chronisch hohe Stresslevel den Blutzuckerspiegel in die Höhe treibt, ist jedes noch so gut gemeinte Ernährungsprogramm zum Scheitern verurteilt, wenn 80 % über Ernährung und 20 % über Stress und Motivation gesprochen wird. Wenn Menschen mit emotionalem Essen oder Essanfällen nur 5 Einheiten psychologische Beratung in Anspruch nehmen müssen, bevor Sie die Freigabe für eine bariatrische Operation erhalten (nein, das ist kein Scherz!), wird das Binge Eating nach der Operation nicht plötzlich verschwunden sein. Um das Essverhalten zu verstehen, zu erklären und Veränderungen nachhaltig zu begleiten ist ein ganzheitliches, also integratives Verständnis für das menschliche Essverhalten essentiell.

Das Essverhalten wird von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst. Dazu gehören nicht nur psychologische Faktoren wie Einstellungen und individuelle Lernprozesse, sondern auch biologische Faktoren wie Stoffwechselprozesse, kulturelle Einflüsse wie Traditionen und soziale Normen oder emotionale Aspekte wie Belohnungsverhalten und Emotionsbewältigung. Die integrative Ernährungspsychologie integriert damit Fachwissen aus den Disziplinen Medizin (Biologie), Psychologie, Ernährungswissenschaften und Soziologie.

Die Medizin liefert wertvolles Verständnis rund um biologische Vorgänge in Zusammenhang mit dem Essverhalten. Dazu zählt beispielsweise das Zusammenspiel von Hormonen, ihre wechselseitige Beeinflussung sowie das Wissen über diverse Erkrankungen, die das Essverhalten auf mehreren Ebenen beeinflussen. So kann die Medizin beispielsweise erklären, warum Stress eine Auswirkung auf den Blutzuckerspiegel oder Hungerhormone hat oder warum es nach einer Gewichtsabnahme zu einer vermehrten Synthese von Fettzellen kommt (▸ Kap. 3.1.5).

Die Psychologie steuert Verhaltens-‍, Kognitions-‍, Motivations- oder etwa Lerntheorien bei, die für das Verständnis der Entstehung und der Aufrechterhaltung von Essverhaltensweisen essentiell sind. So können wir mit Hilfe der Psychologie erklären, warum eine Einschränkung des Essverhaltens nicht über einen längeren Zeitraum aufrechterhaltbar ist oder warum Schlafmangel oder andere psychische Belastungen zu einem gesteigerten Drang nach energiereichen Lebensmitteln führt (▸ Kap. 3.2.1).

Die Ernährungswissenschaft spielt eine entscheidende Rolle im Verständnis rund um Nährstoffe und ihrer Funktionen. So kann die Ernährungswissenschaft erklären, warum eine unausgewogene Ernährung zu erhöhtem Verlangen nach Essen führt, während eine ausgewogene und vollwertige Mahlzeit emotionale Zufriedenheit erzeugt und das Wohlbefinden positiv beeinflussen kann.

Die Soziologie steuert Wissen bezüglich kultureller und sozialpsychologischer Aspekte bei, die das Essverhalten maßgeblich beeinflussen. Sie erklärt uns, warum die Anzahl der jungen Frauen, die an Essstörungen leiden, in den letzten Jahren so rasant gestiegen ist oder wie die Darstellung von kopflosen dicken Personen (headless fatties) Stigmatisierung und Diskriminierung von dicken Menschen fördert (▸ Kap. 2.2.2).

Die integrative Ernährungspsychologie vereint damit verschiedene Wissensbereiche, um ein umfassenderes Verständnis für das Essverhalten zu entwickeln. Dies trägt dazu bei, individuelle Interventionsansätze zu entwickeln, die auf die Bedürfnisse und Lebensumstände der jeweiligen Person abgestimmt sind.

Als Beispiel soll uns die Erkrankung Lipödem dienen:

Die Erkrankung Lipödem wird oftmals nicht erkannt oder diagnostiziert. Stattdessen hören Betroffene nicht selten, dass ihr Gewicht zu hoch sei. Betroffene versuchen abzunehmen und verfolgen dazu oftmals ein restriktives Essverhalten, um weniger Energie aufzunehmen. Dies wiederum kann zu einer Veränderung im Hormonhaushalt führen, was die Symptome verstärken kann. Betroffene suchen die Schuld für den ausbleibenden Gewichtsverlust oftmals in ihrer fehlenden Disziplin und entwickeln nicht selten selbstabwertende Glaubenssätze und Gedankenmuster. In Folge wird das restriktive Essverhalten meist verstärkt, was aufgrund der Mangelversorgung mit Nährstoffen wiederum zu Essanfällen führen kann. Durch die zunehmende Selbstabwertung ziehen sich Betroffene nicht selten aus dem Sozialleben zurück. Sie verdecken ihren Körper in der Regel mit weiter Kleidung, gehen immer weniger zum Sport und verzichten aus Scham auf Essenseinladungen oder Aktivitäten, bei denen kurze Kleidung oder Schwimmkleidung getragen wird. Hinzukommende Schmerzen können die Alltagsaktivität einschränken. Der soziale Rückzug kann seinerseits wieder zu einer massiven Belastung führen sowie psychische Erkrankungen wie Essstörungen oder Depressionen fördern.

Wie das Beispiel zeigt, sollten im Zuge der Therapie nicht nur die körperlichen Symptome, sondern auch das Körperbild, die massive psychische Belastung oder etwa das gezügelte Essverhalten adressiert werden.

Aus der Definition der Ernährungspsychologie als Schnittstellendisziplin folgt, dass die Ernährungspsychologie in der Anwendung nicht nur Psycholog:innen oder Psychotherapeut:innen vorbehalten ist. Stattdessen sollten ernährungspsychologische Erkenntnisse von verschiedenen Fachkräften in ihren jeweiligen Tätigkeitsfeldern Anwendung finden. So sollte das Essverhalten in der Ernährungstherapie ebenso Berücksichtigung finden wie in der psychologischen Therapie (= klinisch-psychologische Behandlung nach österreichischem Berufsrecht) bzw. Psychotherapie oder bei medizinischen Untersuchungen. Die Arbeit mit dem Körperbild sollte neben der Psychotherapie oder psychologischen Therapie auch einen festen Platz in der Bewegungstherapie oder der Ernährungstherapie haben. Natürlich sei angemerkt, dass jede Fachkraft gleichzeitig den eigenen Kompetenzbereich und dessen Grenzen zu achten hat.

2 Essverhalten

Das Essverhalten von Menschen ist das Resultat eines hochkomplexen Zusammenspiels aus genetischen Faktoren, biologischen Steuermechanismen, lebensgeschichtlichen Lernprozessen, sozialen Einflüssen und kulturellen Normen (Pudel & Westenhöfer, 2003). Pudel (1986) fasst die unterschiedlichen Einflussfaktoren in seinem Komponenten-Modell des Essverhaltens (▸ Abb. 2.1) zu 3 großen Faktoren zusammen: innere Einflüsse, äußere Einflüsse sowie die kognitive (rationale) Einstellung der Person (Pudel & Westenhöfer, 2003). Je nach Lebensphase oder Lebenssituation haben manche Faktoren mehr Einfluss als andere. So ist der Einfluss von Trends und Schönheitsnormen im Jugendalter eventuell stärker als in einer späteren Lebensphase.

Abb. 2.1:Das Essverhalten ist das Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels von äußeren und inneren Einflüssen, die auf das Individuum mit seiner Persönlichkeit, Ressourcen, Belastungen sowie Erkrankungen wirken und das Verhalten maßgeblich beeinflussen.

2.1 Innere Einflüsse: Intuitive Verhaltenssteuerung und somatische Intelligenz

Zu den inneren Einflüssen zählen genetische Veranlagungen sowie biologische Steuermechanismen. Letztere werden im folgenden Abschnitt näher beleuchtet.

2.1.1 Hunger

Im Zusammenhang mit der Nahrungsaufnahme ist zwischen homeostatischen (physischen) Hunger und hedonischen (emotionalen) Hunger zu unterscheiden (Lowe & Butryn, 2007). Der homeostatische Hunger wird durch den Energiebedarf des Körpers gesteuert, über Hormonprozesse vermittelt und über Körpersignale wahrgenommen.

Neuronale Grundlagen der Energieversorgung

Die Energieverteilung des Körpers wird durch das Gehirn überwacht und gelenkt, wobei seine Energieversorgung aufgrund seiner überlebenswichtigen Funktionen stets höchste Priorität hat (Peters, 2011). Hierzu benötigt der menschliche Organismus verschiedene Nährstoffe. Der Energie- und Nährstoffstatus wird laufend durch Rückkoppelungsprozesse im Gehirn gemessen. Im Hypothalamus, die für das Essverhalten zuständige Gehirnregion, laufen die Informationen über die Energieflüsse im Blut zusammen. Die Energiefüllstände im Gehirn sowie Fett- und Muskelmasse werden hier registriert, der Energiebedarf ermittelt und die Blutströme gelenkt. Hierzu überwacht der Hypothalamus das Level an im Blut zirkulierender Hormone, die an der Vermittlung von Hunger- oder Sättigungssignalen beteiligt sind. Astrozyten docken an einer Seite an die Nervenzelle und auf der gegenüberliegenden Seite an den Kapillaren (kleine Blutgefäße) an. Kapillare und Astrozyten können Glucosemoleküle aus dem Blut aufnehmen und an die Nervenzelle im Gehirn weiterreichen, um sie mit Energie zu versorgen. Der laterale Hypothalamus (LH) ist als Hungerzentrum bekannt. Neuronen des LH sind mit Glucoserezeptoren ausgestattet, mit denen die Blutglucosekonzentration gemessen wird. Wird ein Abfall der Glucosekonzentration registriert, wird eine Stressreaktion aktiviert, die eine bedeutende Rolle in der Energieversorgung des Körpers spielt. Durch die vom Hypothalamus aktivierte Stressreaktion wird die Insulinausschüttung aus der Bauchspeicheldrüse eingestellt. Die Energie (hier: Glucose) kann ohne Insulin nicht von den Körperzellen aufgenommen werden und so steht die Energie dem Gehirn zur Verfügung. Bei Bedarf wird gespeicherte Energie aus der Leber, die sozusagen als Vorratskammer für Energie dient, freigesetzt (Gluconeogenese). Nun steht Glucose im Blutkreislauf zur Verfügung, die nun in Richtung Gehirn transportiert werden kann. Dieser Prozess wird von Achim Peters (2011) in seiner Selfish-Brain-Theorie als Brain Pull bezeichnet. Ist zu wenig Energie vorhanden oder neigen sich die körpereigenen Energiespeicher dem Ende, erfolgt laut Peters ein Body Pull, der den klassischen Gang zum Kühlschrank darstellt (Peters, 2011). Hierbei sind vor allem die Hormone Neuropeptid Y und Ghrelin von Bedeutung.

Hormone

Neuropeptid Y spielt eine wichtige Rolle bei der Steuerung des Hungergefühls und des Fetthaushalts. Es findet sich in den Nervenzellen des Gehirns, wird im Magen sezerniert und ist ein Neurotransmitter des noradrenergenen Systems. Neuropeptid Y fördert Appetit (Energiebeschaffung) und reduziert den Energieverbrauch (Energiesparen). Weitere ihm zugeschriebene Aufgaben betreffen die Steuerung der Stress- und Angstreaktion oder die Motilität des Gastrointestinaltraktes (Sominsky & Spencer, 2014)

Ghrelin ist als Botenstoff für die Vermittlung von Hungersignalen bekannt. Das Hormon Ghrelin wird hauptsächlich von Hormonzellen in der Magenschleimhaut und im Zwölffingerdarm gebildet. Neben seiner zentralen Rolle im Metabolismus ist Ghrelin z. B. an der Regulation der Stimmung, des Schlafes, bei Lern- und Gedächtnisprozessen oder der Darmtätigkeit beteiligt (Zigman et al., 2016). Das Plasmalevel des Hormons Ghrelin fluktuiert über den Tag hinweg und steigt kurz vor der Nahrungsaufnahme bzw. während Hungerphasen an. Nach der Nahrungsaufnahme reduziert sich das Level des Hormons (Raspopow et al., 2010). Bei Energie- bzw. Nährstoffmangel, der kognitiven Visualisierung von Lebensmitteln und dem Sehen von Speisen oder aber zu für die Nahrungsaufnahme typischen Uhrzeiten, wird es vom Darm ausgesendet, um die Nahrungsaufnahme einzuleiten (Zigman et al., 2016). Über den Blutkreislauf gelangt das Hormon über die Blut-Hirn-Schranke in das Gehirn, wo es das Hormon Neuropeptid Y sowie weitere Hormonprozesse aktiviert. Dies ist in Folge in Form von Körpergefühlen wahrnehmbar.

Körpergefühle

Der Anstieg der Hungerhormone im Körper, macht sich in Form von physischen sowie mentalen Hungeranzeichen bemerkbar. Leichter Hunger wird nicht selten in Form eines Körpergefühls, das sich wie Grummeln oder ein leichtes Magenknurren anfühlt, wahrgenommen. Je stärker das Hungergefühl wird, desto intensiver werden die Signale in der Regel wahrgenommen. Hunger kann als Kontinuum von Sattheit (Abwesenheit von Hunger) bis Heißhunger betrachtet werden (▸ Abb. 2.2). Das Hungergefühl kann sich dabei durch physische (Magenknurren, Übelkeit, ...), kognitive (Reduktion der Konzentrationsfähigkeit, selektive Wahrnehmung, Gedanken an Essen, ...) sowie emotionale (Gereiztheit, innere Unruhe, ...) Anzeichen oder etwa anhand von Verhaltensweisen (Hyperaktivität, Zittern ...) ausdrücken. Je stärker die Hungerwahrnehmung wird, desto stärker machen sich die Hungersignale bemerkbar. Nachdem das Hungergefühl lediglich einen Mangel signalisiert, äußert sich das Hungergefühl in einem unspezifischen Verlangen. Der Drang irgendetwas zu essen, um den Hunger zu stillen, steigt an. Steigt das Hungergefühl weiter an, kommt es zu einer Zunahme an essensbezogenen Gedanken, Einbußen in der Aufmerksamkeit bis hin zu Konzentrationsproblemen, Gereiztheit oder sogar Zittern (Peters et al., 2004). Heißhunger, als extremste Form des Hungers, löst massiven Stress im Körpersystem aus. Ist das Stressprogramm aktiviert, steht die Beseitigung des Nährstoffmangels, nicht aber der Genuss, im Vordergrund. Ein bewusstes Essverhalten findet unter Heißhunger kaum noch statt. Heißhunger fördert den Appetit auf energiedichte Lebensmittel und führt zu einer gesteigerten Essgeschwindigkeit, bei der die Gefahr eines Überessens in der Regel steigt.

Der moderate Hunger beschreibt ein eindeutiges, jedoch angenehmes Hungergefühl. Wenn der moderate Hunger wahrgenommen wird, ist noch ausreichend Zeit vorhanden, um sich eine Mahlzeit zuzubereiten. Hierbei kommt dem Appetit (hedonischer Hunger) eine besondere Rolle zu. Hedonischer Hunger ist ein psychischer Zustand, der sich durch ein spezifisches Verlangen auszeichnet. Appetit wird durch das limbische System und damit von emotionalen Erfahrungen sowie physiologischen Lernerfahrungen beeinflusst. So löst eine positive Erfahrung mit bestimmten Lebensmitteln Appetit aus, während unangenehme Erfahrungen wie Bauchschmerzen oder Übelkeit nach dem Verzehr von Speisen den Appetit hemmen können. Auch soziale und kulturelle Einflüsse haben einen Einfluss auf den Appetit. So werden bestimmte Lebensmittel von ganzen Kulturkreisen abgelehnt oder etwa bevorzugt. Damit kommt dem Appetit eine wichtige Rolle in der Auswahl von Speisen zu. Man könnte formulieren, dass Hunger einen Mangel signalisiert, wobei Appetit dabei hilft, die Speise der Wahl auszuwählen.

Appetit kann jedoch auch völlig losgelöst von physiologischen Hungersignalen zur Nahrungsaufnahme führen (Lowe & Butryn, 2007). Die oben beschriebene Hungerwahrnehmung ist ein physiologischer Prozess. Hungergefühle werden jedoch nicht ausschließlich durch die beschriebenen Hormonprozesse aktiviert. Auch mentale Prozesse sind in der Lage Hungergefühle auszulösen. Alleine der Anblick, der Geruch, ja sogar alleine die Vorstellung von bestimmten Speisen oder die Antizipation des Geschmacks einer Speise lassen wortwörtlich das Wasser im Munde zusammenlaufen. Der Anreiz ebendiese Speisen zu essen (Gusto/Appetit) steigt. In Folge kann eine Hungerkaskade ausgelöst werden und dazu führen, dass tatsächlich ein Gefühl von Hunger wahrnehmbar ist. Kurz ausgedrückt: Der Anblick von Speisen kann ein physisches Hungergefühl auslösen.

2.1.2 Sättigung

Das Gefühl der Sättigung bzw. Sattheit ist ein hochkomplexer Prozess, der sowohl mentale als auch physiologische Mechanismen umfasst. Ohne Genuss und bewusste Wahrnehmung kann sich keine anhaltende Sattheit einstellen. Umgekehrt ist Sattheit mehr als nur »ein voller Magen« und setzt nährstoffreiche Mahlzeiten voraus. Sättigung umfasst physische und mentale Vorgänge, die noch während der Nahrungsaufnahme Sättigung signalisieren und in Folge zu einem Beenden der Mahlzeit führen. Sattheit beschreibt die erlebte Befriedigung nach Beendigung der Mahlzeit. Der Prozess der Sättigung bis hin zur Sattheit umfasst verschiedene Stufen, die nacheinander ablaufen. Blundell hat diesen Prozess in Form seiner Sättigungskaskade 1990 beschrieben (▸ Abb. 2.3; Blundell & Halford, 1994; Pudel & Westenhöfer, 2003).

Abb. 2.3:Sättigungskaskade angelehnt an Blundell & Halford (1994) und Pudel & Westenhöfer (2003).

Zu Beginn der Sättigungskaskade stehen sensorische Prozesse, die den Geruch, die Optik oder etwa die Konsistenz umfassen. Eine sensorisch ansprechende Mahlzeitengestaltung hat damit einen bedeutenden Einfluss auf die wahrgenommene Sättigung. Danach folgen kognitive Prozesse. Es geht also nicht nur darum irgendwas zu essen, sondern die Mahlzeit bewusst zu essen, sie genussvoll zu erleben und als solche zu bewerten. Später folgen postingestionale und postresorptive Sättigungssignale. Sie entfalten ihre Wirkung in der Regel, nachdem die Nahrungsaufnahme beendet wurde.

Sensorische Sättigung

Die sensorische Sättigung umfasst den Geruch oder etwa das Aussehen einer Speise sowie die Konsistenz, das Mundgefühl sowie die Intensität des Geschmacks während der Nahrungsaufnahme. Je ansprechender die Mahlzeit für die Sinnesorgane ist, desto stärker fällt die emotionale Befriedigung und sensorische Sättigung einer Mahlzeit aus. Sensorische Sättigungssignale werden direkt im Prozess der Nahrungsaufnahme wahrgenommen (Blundell & Halford, 1994; Pudel & Westenhöfer, 2003). Eine besondere Rollte nehmen hierbei die Geschmacksknospen ein. 2.000 bis 4.000 Geschmacksknospen besitzt ein erwachsener Mensch. Die Geschmacksknospen liegen auf der Zunge. Aktuell geht die Wissenschaft von den fünf Geschmacksrichtungen süß, sauer, salzig, bitter und umami aus (Elmalfda, 2019).

Die Sensibilität der Geschmacksknospen (Sensory specific satiety, SSS) bezeichnet die Abnahme der Geschmacksintensität während des Verzehrs einer Speise im Vergleich zu einem Lebensmittel, dass nicht gegessen wurde (Wilkinson & Brunstrom, 2016). So essen Menschen beispielsweise mehr Sandwiches oder Joghurt, wenn das Lebensmittel in verschiedenen Geschmacksrichtungen oder Variationen serviert wird (Rolls et al., 1981). Die Geschmacksknospensensibilität liefert eine Erklärung dafür, warum sich Menschen an bestimmten Lebensmitteln satt essen, während sie in der nächsten Sekunde bei anderen Speisen weiter zulangen können. Sättigung kann sich damit auf einzelne Lebensmittel beziehen, wobei sich für andere Lebensmittel noch keine Sättigung einstellt (Le magnen, 1999; Rolls et al., 1981). In der wissenschaftlichen Literatur wurde dieser Effekt des Öfteren als Erklärung herangezogen, warum Menschen überessen. Dabei wird gerne übersehen, dass die Geschmacksknospensensibilität dabei unterstützt, vielfältig zu essen. Auf diesem Wege sorgt sie dafür, dass bei einer Mahlzeit verschiedene Nährstoffe aufgenommen werden.

Je stärker der Hunger, desto sensibler sind die Geschmacksknospen. Mahlzeiten werden demnach als besonders genussvoll erlebt, wenn man zu Beginn der Nahrungsaufnahme hungrig ist. Während des Konsums einer Speise verlieren die Geschmacksknospen zunehmend ihre Sensitivität gegenüber Nahrungsreizen. Die Speise schmeckt in Folge nicht mehr so intensiv wie zu Beginn der Mahlzeit. Die besten Effekte konnten dabei für salzige und süße Speisen nachgewiesen werden (Sørensen et al., 2003). Es wird davon ausgegangen, dass dieser Effekt mit der postingestionalen und postresorptiven Sättigung in Zusammenhang steht und damit von den aufgenommenen Makronährstoffen abhängt.

Die Wahrnehmung der Geschmacksknospensensibilität kann dabei helfen, die Sättigung wahrzunehmen und die Mahlzeit zu beenden. Sie kann damit als wichtiges Sättigungssignal gesehen werden (Wilkinson & Brunstrom, 2016).

Kognitive Sättigung

Der bewusste Verzehr der Mahlzeit spielt eine wesentliche Rolle im Prozess der Sättigung. Unbewusstes Essen kann dazu führen, dass die aufgenommene Nahrungsmenge nicht bewusst (kognitiv) erfasst werden kann. Viele Menschen kennen das erstaunliche Gefühl, dass sich breit macht, wenn man sich mit 3 Käsebroten vor den Computer setzt und nach wenigen Minuten feststellen muss, dass die Brote weg sind. Das Gefühl, etwas gegessen zu haben, sowie die emotionale Befriedigung, die sich nach dem Essen einstellt, können in Folge ausbleiben. Die Wahrscheinlichkeit eine weitere Mahlzeit einzunehmen oder zu snacken steigt (Robinson et al., 2013; Seguias & Tapper, 2018). In einer Überblicksarbeit konnte gezeigt werden, das Essen unter Ablenkungen die aufgenommene Nahrungsmenge im Moment steigern kann, vielmehr jedoch die Nahrungsmenge steigert, die später gegessen wird (Robinson et al., 2013). Wird die Aufmerksamkeit auf das Essverhalten bzw. die gegessene Essensmenge gelenkt, wird im Gegensatz dazu weniger Nahrung verzehrt (Robinson et al., 2013).

Auch das bewusste Erinnern an die bereits verzehrte Nahrungsmenge (food memory) bei einer folgenden Mahlzeit hat einen Einfluss auf die gegessene Nahrungsmenge (Robinson et al., 2013). Dieser Prozess scheint unter anderem auch Habituierungsprozessen zugrunde zu liegen (Morewedge et al., 2010). Habituierung bezeichnet die Gewöhnung an eine Speise, die dazu führt, dass die Nahrungsaufnahme dieses Lebensmittels eingestellt wird. Die Verarbeitung der Eindrücke aus Sinnesorganen und die Verarbeitung von Gedächtnisinhalten scheinen ähnliche oder die gleichen Gehirnstrukturen zu nutzen. Alleine der Gedanke an eine Spinne kann beispielsweise dieselbe Gänsehaut erzeugen wie die Präsenz der Spinne. Die mentale Vorstellung von Verhaltensweisen scheint dabei die gleichen Gehirnareale zu aktivieren wie das tatsächliche Verhalten. (Kemps & Tiggemann, 2007). Das bewusste Wahrnehmen von Essprozessen und der Speise hat demnach einen Einfluss auf die Nahrungsaufnahme.

Auch die Einstellung und die Werturteile gegenüber dem Lebensmittel beeinflussen die Sättigung. So wird eine Mahlzeit die als gut, wohltuend und freudvoll bewertet wird, andere Effekte erzeugen als eine Mahlzeit, die negativ beurteilt wird. Auch die wahrgenommene Portionsgröße hat einen Einfluss auf die Sättigung (Pudel & Westenhöfer, 2003).

Postingestionale Sättigung

Während der Nahrungsaufnahme sammelt sich der Speisebrei für die enzymatische Verdauung im Magen. Die Magenwand ist mit feinen Rezeptoren, den Mechano-Rezeptoren ausgestattet, die die Magendehnung registrieren und an das Sättigungszentrum im Gehirn melden. Zusätzlich zu der Dehnung wird die Entleerungsrate des Magens sowie die Ankunft von Nährstoffen im Darm überwacht (Elmalfda, 2019). Dies erklärt, warum das Trinken von Wasser nur kurzfristig zu einem Gefühl der Sättigung führt. Spannend ist in diesem Zusammenhang die Unterscheidung zwischen Vollsein und Sattheit bzw. Sättigung. Während Sattheit die Versorgung des Körpers mit relevanten Nährstoffen bezeichnet, bezieht sich Vollsein auf die Menge. So kann ein Müsliriegel satt machen, jedoch nicht voll, während eine Packung Popkorn nicht satt macht, jedoch ein Völlegefühl verursachen kann. Das Gefühl des Vollseins wird hauptsächlich von den Dehnungsrezeptoren vermittelt und äußert sich in einem Spannungsgefühl im Bauch. Pudel geht von der Annahme aus, dass Sättigung, ebenso wie Hunger, Konditionierungsprozessen zugrunde liegt (Pudel & Westenhöfer, 2003). Demnach lernen Menschen, welches Körpergefühl mit angenehmer Sättigung verbunden ist und stellen die Nahrungsaufnahme ein. Auch während der Nahrungsaufnahme finden Rückkoppelungsprozesse zwischen Gehirn und Botenstoffen statt, bis die Nahrungsaufnahme eingestellt wird (Elmalfda, 2019). Zwei wichtige Vertreter dieser Stoffe sind die Hormone Leptin und Insulin.

Postresorptive Sättigung

Nach der Nahrungsaufnahme wird der Speisebrei in seine Bestandteile aufgespalten. Kohlenhydrate werden beispielsweise zu Glucose abgebaut. Diese wird anschließend von den Darmzellen aufgenommen und über die Pfortader zur Leber weitergeleitet. Ein Teil der ankommenden Glucose füllt dort gegebenenfalls Speicherdepots auf. Der Rest passiert die Leber. Den Transport der Glucose im menschlichen Organismus übernimmt der Blutkreislauf. Der Glucosetransport läuft in Richtung Gehirn sowie Peripherie und versorgt den Körper mit Energie. Die überschüssige Energie, wird zurück zur Leber und weiter in die Speicher geleitet (Elmalfda, 2019).

Das Hormon Leptin wird vor allem in den weißen Fettzellen gebildet. Weißes Fettgewebe dient als Energiespeicher und Wärmeschutz für den Körper. Das Ausmaß von im Blut zirkulierenden Leptin signalisiert den Füllstand der Fettzellen. Leptin wird von den Fettzellen sezerniert und wandert über den Blutkreislauf ins Gehirn (Lister et al., 2023). Im ventromedialen Hypothalamus befinden sich Rezeptoren, die das durch Leptin vermittelte Sättigungssignal empfangen. Ein hohes Leptinlevel im Blut signalisiert Sättigung. Diese Sättigungssignale werden vom Hypothalamus registriert und tragen in Folge zur Einstellung der Nahrungsaufnahme bei (Most & Redman, 2020; Rosenbaum et al., 2002).

Insulin spielt als Sättigungshormon eine wesentliche Rolle in der Nahrungsaufnahme.

Das Pankreas (Bauchspeicheldrüse) überwacht den Blutzuckerspiegel während der Nahrungsaufnahme und fördert die Ausschüttung von Insulin, welches als Transporter für Energie (Glucose) in die Zellen fungiert. Auf diese Weise wird die Zelle mit Energie versorgt. Verzeichnet der Hypothalamus hohe Mengen an Insulin, wird die Nahrungsaufnahme eingestellt (Dallman et al., 2005; Sominsky & Spencer, 2014).

Spätestens an dieser Stelle wird klar, warum z. B. ein großes Volumen an Salat zwar kurzfristig sensorische oder postingestionale Sättigung auslöst aber nicht zu anhaltender Sattheit führt. Eine nährstoffreiche Mahlzeit, die alle Nährstoffe in ausreichender Menge enthält, führt zu einer anhaltenden Sattheit und emotionaler Befriedigung. Einseitiges, vor allem protein- und kohlenhydratarmes Essen oder aber der Verzehr einer zu geringen Menge an Nahrung führen zu einem anhaltenden Bedürfnis zu essen.

2.1.3 Boundary-Modell des Essverhaltens

Herman und Polivy (1992) gehen in ihrem Boundary-Modell des Essverhaltens davon aus, dass sich das Essverhalten automatisch reguliert. Nach dem Modell können Hunger und Sättigung als Kontinuum betrachtet werden (▸ Abb. 2.4). Ein zunehmender Hunger kann zu unangenehmen oder gar schmerzenden körperlichen Folgen führen. Menschen sind nach dem Modell daher bestrebt, die extremen Pole Heißhunger sowie übermäßige Sattheit zu vermeiden und in einem angenehmen Wahrnehmungsbereich zu bleiben. Demnach besitzt jeder Mensch eine physiologische Grenze für Hunger und eine Art Grenze für Sättigung. Sobald die Wahrnehmung die Grenze für Hunger überschreitet, löst dies einen Mangel bzw. einen inneren Druck aus, der zu einer Nahrungsaufnahme führt. Gleiches gilt für Sättigung. Menschen tendieren demnach dazu, unangenehme Körpergefühle wie Hunger oder Vollsein/Sättigung zu vermeiden, weshalb sich die Nahrungsaufnahme durch Aversion selbstständig reguliert. Zwischen den Grenzen liegt ein individueller Raum, in dem das Essverhalten durch individuelle, familiäre, emotionale, soziale oder kognitive Faktoren bestimmt wird.

Abb. 2.4:Boundary-Modell des Essverhaltens angelehnt an Herman und Polivy (1992).

So ist es zum Beispiel bis zu einem gewissen Punkt möglich, Hunger wahrzunehmen und auszuhalten. Herman und Polivy gehen in ihrem Boundary-Modell des Essverhaltens davon aus, dass jeder Mensch eine andere Grenze für Hunger oder Sättigung aufweist. Außerdem kann die Grenze verschoben werden. Die Toleranz für Hungerwahrnehmung kann beispielsweise reduziert oder aber das Gefühl für Sättigung nach oben verschoben werden. Tatsächlich werden in der Praxis Menschen vorstellig, die Vollsein und Sättigung gleichsetzen. Dies hat zur Folge, dass es regelmäßig zu einem Überessen bis hin zu einem Völlegefühl kommt. In extremen Fällen kann dieses Völlegefühl ein Ausmaß erreichen, mit dem Bauchschmerzen verbunden sind.

Die jeweiligen Grenzen für Hunger und Sättigung sind individuell und unterliegen Lernprozessen (Pavlov, 1927; Pudel & Westenhöfer, 2003). So kann der regelmäßige Verzehr eines Frühstücks zu einem erlernten Hungergefühl führen. Wird täglich gegen 8 Uhr gefrühstückt, kann dies zu einer konditionierten Ausschüttung von Insulin führen, die einen Abfall des Blutzuckerspiegels nach sich zieht. Die Folge sind reduzierte Energieflüsse im Blut, was zu einer Aktivierung der Hungerkaskade führt. Die Aktivierung von physischen Hungersignalen wird dabei nicht durch einen Energiemangel ausgelöst, sondern durch eine Konditionierung (Pudel & Westenhöfer, 2003). Bei der klassischen Konditionierung wird ein ursprünglich neutraler Reiz (z. B. Uhrzeit) zum Auslöser für eine bestimmte Verhaltensweise oder Körpersignale (z. B. Hungersignale). Grundsätzlich ist eine derartige Konditionierung per se nicht als schlecht zu bewerten, da sie eine regelmäßige Mahlzeiteneinnahme fördern kann. Schlecht ist sie dann, wenn sie ungesunde Verhaltensweisen oder einen Leidensdruck nach sich zieht.

2.2 Äußere Einflüsse: Einflüsse aus der Entwicklungsgeschichte

Zu Beginn des Lebens sind vor allem innere Einflüsse für die Steuerung des Essverhaltens von Bedeutung. Im Laufe des Heranwachsens wird das Essverhalten zusätzlich durch äußere Einwirkungen beeinflusst. Hierzu zählen familiäre Einflüsse und Erziehung, Schönheits- oder Schlankheitsideale, der sozioökononomische Status, psychische Erkrankungen sowie Diskriminierung und Stigmatisierung. Auch Schlafmangel, physische Erkrankungen wie das Polycystische Ovarialsyndrom (PCO) (Moran et al., 2010), Hashimoto (Ostrowska, Gier & Zyśk, 2022) oder etwa Lipödem (Al-Wardat et al., 2022), ein Ungleichgewicht im Hormonhaushalt, Medikamenteneinahme oder auch Stress beeinflussen das Essverhalten direkt oder indirekt (Dallmann et. al., 2005).

All diese Faktoren und Einflüsse können ein gesundes Essverhalten formen, ungesunde Essverhaltensweisen fördern oder zu der Entwicklung von Essstörungen beitragen. Auf den Einfluss von psychischen Erkrankungen auf das Essverhalten wird in ▸ Kap. 6.6 näher eingegangen.

2.2.1 Familiäre Einflüsse

Familiäre Einflüsse umfassen das Essverhalten der Eltern ebenso wie die Erziehungsstile in Punkto Essverhalten. Dabei scheinen die Erziehungsstile und Einflüsse innerhalb der Familie im Vergleich zu anderen Einflussfaktoren den stärksten Effekt auf das Essverhalten auszuüben. Sie prägen das kindliche Essverhalten und gelten damit als Prädiktoren für gesundes oder gestörtes Essverhalten im Erwachsenenalter (Birch et al., 2003; MacLean et al., 2017; Scaglioni et al., 2008).

In der Forschung konnten verschiedene Erziehungsstile und Einflüsse in Punkto Essverhalten beobachtet werden, die das Essverhalten von Kindern langfristig prägen (Allen et al., 2016). Dazu zählen Verhaltensweisen wie etwa die Kontrolle des Essverhaltens in Form von Zügelung oder aber in Form eines Drucks zur Nahrungsaufnahme, belohnende und instrumentalisierende Verhaltensweisen sowie Vorleben. Dabei konnte gezeigt werden, dass sich manche Erziehungsstile ungünstiger auf das kindliche Essverhalten auswirken als andere (Allen et al., 2016; Scaglioni et al., 2008).

Günstige Erziehungsstile

Es zeigt sich, dass Kinder von Eltern, die vielfältig essen und diese Vielfalt auch ihren Sprösslingen anbieten, tendenziell vielseitiger essen. Dies beruht auf Erfahrungslernen. Die Geschmacksknospen der Zunge interagieren über Fasern mit dem Geschmackskern (nucleus solitarius). Von hier aus führen die Nervenfasern des Geschmackskerns weiter zu diversen Gehirnregionen wie etwa dem Thalamus, dem Hypothalamus sowie zur Amygdala. Der Thalamus ist für die bewusste Verarbeitung von sensorischen Informationen zuständig. Der Hypothalamus kann als Zentrale in der Steuerung des Essverhaltens betrachtet werden, während die Amygdala eine besondere Rolle in der Abspeicherung und dem Abruf von emotionalen Erfahrungen einnimmt. Auf diese Weise werden ankommende Informationen von den Geschmacksknospen verarbeitet. Die Vernetzung zwischen Geschmacksknospen und diversen Gehirnarealen bildet die neurologische Grundlage für Erfahrungslernen (Konditionierungen). Geschmacksaversionen sowie Geschmackspräferenzen werden hier gelegt (Yamamoto & Ueji, 2011). Der frühe Kontakt mit Lebensmitteln scheint dabei einen großen Effekt auf die allgemeinen Geschmackspräferenzen auszuüben (Capaldi, 1992). Mit zunehmendem Alter lernen Kinder die Esserfahrung, wie etwa den Geschmack von Lebensmitteln, mit der wahrgenommenen Sättigung, den physiologischen Effekten oder dem Körpergefühl nach dem Essen zu kombinieren. Auf diese Weise wird ein zuvor neutraler Reiz (Geschmack) mit den Erfahrungen kombiniert. Es entsteht eine Konditionierung. Dieser Lernprozess wird als flavornutrient learning (Geschmack-Nährstoff-Lernen) bezeichnet (Capaldi, 1992; Myers, 2018; Yamamoto & Ueji, 2011). Bei dem Verzehr von Joghurt im Sommer beispielsweise wird der kühlende Effekt von Joghurt spürbar, was zu einer Speicherung der Erfahrung Joghurt kühlt führen kann. Ist diese Erfahrung erst einmal gemacht, ist es möglich, an heißen Tagen auf diese Lernerfahrung zurückzugreifen. Instinktiv wird im Sommer eventuell zu Joghurt gegriffen, während in Wintermonaten eher auf Speisen zurückgegriffen wird, die eine wärmende Wirkung haben. Eine Geschmackserfahrung, auf die eine starke Übelkeit folgt, führt in der Regel zu einer konditionierten Geschmacksaversion. Das Lebensmittel wird wahrscheinlich in Folge eher gemieden. Auf diese Weise lernen Kinder welche Lebensmittel ihnen guttun, welche ihnen nicht guttun und welche Wirkung gewisse Lebensmittel auf den Organismus haben. Ein intuitives Essverhalten entwickelt sich. Diese Lernerfahrung setzt ein Erfahrungslernen mit unterschiedlichen Lebensmitteln voraus (Capaldi, 1992).

Bis zu einem Alter von ca. 2 Jahren nehmen Säuglinge und Kinder bereitwillig neue Lebensmittel an (Scaglioni et al., 2008). Für Lebensmittel, die in dieser Phase angeboten werden, scheint sich in Folge eine Präferenz zu entwickeln. In einer Studie wurde Säuglingen eine zuckerhaltige Flüssigkeit zur Beruhigung verabreicht. Im Alter von 6 Monaten zeigen die Säuglinge, die Zuckerwasser zur Beruhigung erhalten hatten, eine Präferenz für Süßes. Bei den Säuglingen, die kein Zuckerwasser erhalten hatten, zeigte sich keine Präferenz für Süßes. Diese Effekte zeigten sich auch noch nach 2 Jahren, auch wenn die Gabe von Zuckerwasser gestoppt wurde (Beauchamp & Moran, 1982).

Allgemein scheinen Kinder süße und bekannte Lebensmittel zu bevorzugen. Unbekannte Lebensmittel werden zunehmend abgelehnt. Dabei wird ein Geschmack, der einem Geschmack ähnelt, der als positiv oder angenehm bewertet wird, ebenfalls als positiv bewertet, während ein Geschmack, der einem Geschmack ähnelt, der als negativ bewertet wird, ebenfalls abgelehnt wird (flavor flavor learning) (Capaldi, 1992).

Um die Bereitschaft zu erzeugen neue Lebensmittel zu verzehren, ist ein kontinuierliches Anbieten, also eine laufende Exposition mit unbekannten oder neuen Lebensmitteln, notwendig. In einer Studie aus dem Jahr 1982 mussten unbekannte Lebensmittel mehr als 10-mal angeboten werden, bis die Kinder eine Bereitschaft zeigten, die unbekannten Lebensmittel zu probieren (Birch & Marlin, 1982). Ein Effekt, der unter der Bezeichnung Mere-Exposure-Effekt bekannt wurde. Das mehrmalige (>10-mal) Anbieten von verschiedenen Speisen und Lebensmitteln kann demnach die Vielfalt im Lebensmittelreportoire der Kinder erhöhen (Capaldi, 1992; Westenhoefer, 2001).

Den stärksten und positivsten Effekt auf das kindliche Essverhalten scheint das Vorleben von gesunden Essverhaltensweisen zu haben. Essen Bezugspersonen vielfältig oder probieren neue Speisen aus, führt dies unter anderem dazu, dass tendenziell auch die Kinder mehr Lebensmittel probieren bzw. essen (Allen et al., 2016; Scaglioni et al., 2008).

Ungünstige Erziehungsstile

Oft gut gemeinte Verhaltensweisen, die Eltern einsetzen, um ihren Kindern ein gesundes Essverhalten zu vermitteln und sie zu lehren, wann, was und wie viel gegessen werden soll, nehmen Kindern Autonomie, reduzieren die Möglichkeiten zur Selbstkontrolle und fördern ein ungesundes Essverhalten. Als ungünstige Erziehungsstile gelten Restriktion von Lebensmitteln oder die Kontrolle von bestimmten Verzehrsmengen, das Erzeugen eines Drucks, um die Nahrungsaufnahme zu fördern sowie das Belohnen von Kindern mit Lebensmitteln.

Die Art, wie Eltern ihre Kinder ernähren, hängt vom Gewicht der Kinder ab: Eltern von laut BMI übergewichtigen Kindern oder Jugendlichen tendierten dazu, restriktive und überwachende Erziehungsmaßnahmen in Punkto Essverhalten einzuführen (Loth et al., 2013, 2014). Kontrollierende Ernährungsstile haben meist das Ziel, das Körpergewicht der Kinder zu reduzieren oder es konstant zu halten oder aber das Ernährungsverhalten gesundheitsförderlich zu beeinflussen. So begrenzen Eltern beispielsweise den Zugang zu Süßigkeiten oder energiereichen Lebensmitteln, um Kinder vor einer Gewichtszunahme zu bewahren. Diese, oft gut gemeinten Regeln zeigen langfristig jedoch keine Wirksamkeit in der Prävention von Hochgewicht oder etwa im Aufbau von Ernährungskompetenz (Allen et al., 2016).

Stattdessen zeigen Kinder, deren Süßigkeitenkonsum eingeschränkt wird, ein gezügeltes Essverhalten, ungesunde und zum Teil extreme Versuche, das Körpergewicht konstant zu halten und ungesunde Essverhaltensweisen (Birch et al., 2003; Houldcroft et al., 2014). Außerdem zeigt sich ein höheres Ausmaß an Gelegenheitsessen, Essen ohne Hunger sowie emotionalem Essen (Allen et al., 2016; Birch et al., 2003; Loth et al., 2014).

Aufgrund des ungesunden Essverhaltens steigt das Risiko der Kinder, hochgewichtig zu werden (Birch et al., 2003; Faith et al., 2004). Eine Studie aus dem Jahr 2003 beschäftigte sich mit dem Zusammenhang zwischen dem Gewicht und dem Essverhalten von Kindern (Birch et al.). Die Forscher konnten zeigen, dass Mädchen im Alter von 5 Jahren, die laut BMI übergewichtig waren und von den Bezugspersonen gezügelt wurden, im Alter von 9 Jahren mehr Überessen zeigten. Je stärker die Restriktion war, desto stärkeres Überessen fand statt. Das Ausmaß des Überessens steigerte sich dabei im Verlauf der Zeit (Birch et al., 2003). Restriktion wirkt sich demnach ungünstig auf Kinder aus, wobei die Effekte für hochgewichtige Mädchen (im Vergleich zu normgewichtigen Mädchen oder Jungs im Allgemeinen) am stärksten zu sein scheinen. Eine Studie konnte außerdem zeigen, dass die Art des Erziehungsstils unterschiedliche Reaktionen im kindlichen Gehirn provoziert (Allen et al., 2016). So zeigen Kinder, die restriktiv ernährt werden, eine Reaktion in Gehirnregionen, die auf visuelle Reize reagieren, wenn sie energiereiche Lebensmittel sehen. Diese Effekte zeigen sich sowohl bei dicken als auch bei schlanken Kindern. Kinder, die restriktiv erzogen werden, reagieren demnach stärker auf energiereiche Lebensmittel wie Süßigkeiten (Allen et al., 2016). Dies zeigt sich eventuell in einem höheren Verzehr von Süßigkeiten, sobald sich die Gelegenheit bietet (z. B. bei Geburtstagen) oder in einer allgemein höheren Nachfrage nach Süßigkeiten. Restriktive Erziehungsstile führen außerdem zu einer reduzierten Fähigkeit, angemessen auf Körpersignale wie Hunger oder Sättigung zu reagieren (Houldcroft et al., 2014).

Manchmal kommt es zu einer Kombination von kontrollierenden Verhaltensweisen, wobei Druck ausgeübt wird, um den Verzehr von Obst und Gemüse zu steigern (pressure-to-eat