Interaktion und Kommunikation bei Autismus-Spektrum-Störungen - Ulrike Funke - E-Book

Interaktion und Kommunikation bei Autismus-Spektrum-Störungen E-Book

Ulrike Funke

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Beschreibung

Autismus-Spektrum-Störungen sind Störungen der Informations- und Wahrnehmungsverarbeitung. Der ganzheitliche Therapieansatz Komm!ASS® baut hierauf auf: Ein Hinführen zu spezifischen, positiv empfundenen Reizen sowie häufige Modalitätenwechsel und beständige Hilfen zur Selbstregulation verbessern die Wahrnehmung und die gesamte (Interaktions-)Entwicklung der Patientinnen und Patienten. Durch die gestärkte Eigen- und Fremdwahrnehmung wird Selbstbewusstsein und Selbstwirksamkeit gefördert. Die Patientinnen und Patienten lernen Wünsche zu äußern, diese einzufordern, aber auch abzuwarten und eigene Bedürfnisse zurückzustellen. Mithilfe von "Führen" soll gemeinsame und geteilte Aufmerksamkeit erreicht und Imitation und Modelllernen ermöglicht werden - Grundlage für Kommunikation und Sprachanbahnung.

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Die Autorin

Ulrike Funke schloss ihre Ausbildung zu Logopädin 1996 in Heidelberg mit dem Staatsexamen ab und eröffnete zwei Jahre später ihre eigene logopädische Praxis. Ihr Klientel umfasst Late-Talker sowie Kinder mit schweren geistigen und körperlichen Beeinträchtigungen oder starken Verhaltensauffälligkeiten und besonders Kinder aus dem autistischen Spektrum. Mithilfe zahlreicher Fortbildungen, u. a. bei Autismus Deutschland, bildete sie sich zur Autismus-Therapeutin weiter und entwickelte die Therapiemethode Komm!ASS®, die sie seit 2012 in regelmäßigen Fortbildungen lehrt. Ziel dieser Therapiemethode ist es, den Kindern Freude am kommunikativen Austausch und an Interaktion zu vermitteln. 2017 gründete sie in Schriesheim bei Heidelberg das Autismuszentrum Komm!ASS®.

Ulrike Funke

Interaktion und Kommunikation bei Autismus-Spektrum-Störungen

Mit Komm!ASS® zur Sprache führen

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Pharmakologische Daten, d. h. u. a. Angaben von Medikamenten, ihren Dosierungen und Applikationen, verändern sich fortlaufend durch klinische Erfahrung, pharmakologische Forschung und Änderung von Produktionsverfahren. Verlag und Autoren haben große Sorgfalt darauf gelegt, dass alle in diesem Buch gemachten Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Da jedoch die Medizin als Wissenschaft ständig im Fluss ist, da menschliche Irrtümer und Druckfehler nie völlig auszuschließen sind, können Verlag und Autoren hierfür jedoch keine Gewähr und Haftung übernehmen. Jeder Benutzer ist daher dringend angehalten, die gemachten Angaben, insbesondere in Hinsicht auf Arzneimittelnamen, enthaltene Wirkstoffe, spezifische Anwendungsbereiche und Dosierungen anhand des Medikamentenbeipackzettels und der entsprechenden Fachinformationen zu überprüfen und in eigener Verantwortung im Bereich der Patientenversorgung zu handeln. Aufgrund der Auswahl häufig angewendeter Arzneimittel besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

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1. Auflage 2020

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-035673-3

E-Book-Formate:

pdf:     ISBN 978-3-17-035674-0

epub:  ISBN 978-3-17-035675-7

mobi:  ISBN 978-3-17-035676-4

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Ganz lieben Dank!

1 Einführung

1.1 Was ist Wahrnehmung?

1.2 Jede Wahrnehmung ist einzigartig

1.3 Eine ganz besondere Wahrnehmung

1.4 Autismus-Spektrum-Störungen

2 Wahrnehmung und Wahrnehmungsverarbeitung

2.1 Das kinästhetische/propriozeptive Wahrnehmungssystem

2.1.1 Mögliche Symptome bei einer Störung des propriozeptiven Wahrnehmungssystems

2.1.2 Praktische Tipps: Übungen zur Verbesserung

2.2 Das vestibuläre Wahrnehmungssystem

2.2.1 Mögliche Symptome bei einer Störung des vestibulären Wahrnehmungssystems

2.2.2 Praktische Tipps: Übungen zur Verbesserung

2.3 Das taktile Wahrnehmungssystem

2.3.1 Mögliche Symptome bei einer Störung des taktilen Wahrnehmungssystems

2.3.2 Praktische Tipps: Übungen zur Verbesserung

2.4 Das gustatorische Wahrnehmungssystem

2.4.1 Mögliche Symptome bei einer Störung des gustatorischen Wahrnehmungssystems

2.4.2 Praktische Tipps: Übungen zur Verbesserung

2.5 Das olfaktorische Wahrnehmungssystem

2.5.1 Mögliche Symptome bei einer Störung des olfaktorischen Wahrnehmungssystems

2.5.2 Praktische Tipps: Übungen zur Verbesserung

2.6 Das visuelle Wahrnehmungssystem

2.6.1 Mögliche Symptome bei einer Störung des visuellen Wahrnehmungssystems

2.6.2 Praktische Tipps: Übungen zur Verbesserung

2.7 Das auditive Wahrnehmungssystem

2.7.1 Mögliche Symptome bei einer Störung des auditiven Wahrnehmungssystems

2.7.2 Praktische Tipps: Übungen zur Verbesserung

2.8 Exkurs: Wahrnehmungsstörung im Hals-, Gesichts- und Mundbereich

2.8.1 Nahrungsaufnahme

2.8.2 Mundhygiene

2.8.3 Stimmgebung

2.8.4 Artikulation und Mimik

2.9 (Auto-)Stimulationen

3 Isolierte Reizverarbeitung

3.1 Monowahrnehmen – reizkonstant

3.2 Monowahrnehmung – reizoffen

3.3 Zentrale Kohärenz

3.4 Exekutive Funktionen

4 Soziale Kompetenzen

4.1 Erste Fokussierungen und erster Blickkontakt

4.2 Frühe soziale Interaktionen

4.2.1 Mimik mit Blickkontakt

4.2.2 Erstes Turn-Taking und einfache (sprachliche) Imitationen

4.2.3 Gemeinsame Aufmerksamkeit, gemeinsame Freude

4.2.4 Triangulationen

4.2.5 Selbstbewusstsein

4.3 Aufbauende soziale Interaktionen

4.3.1 Imitation und (Modell-)Lernen

4.3.2 Symbolspiel

4.3.3 Theory of Mind

4.3.4 Selbstwirksamkeit

4.4 Sprachentwicklung

4.4.1 Zeigegesten und Gesten

4.4.2 Spracherwerb

5 Reizsetzung in der Therapie

5.1 Therapiebaustein: Spezifisch-sensorischer Input

5.1.1 Auswahl des Reizes

5.1.2 Intensität und Dauer der Reizsetzung

5.1.3 Dynamische und hochfrequente Reizsetzung

5.1.4 Bewertung der erfolgten Reizsetzung

5.1.5 Umgang mit Autostimulationen und Stimming

5.1.6 Unpassende bzw. nicht entsprechende Reizgebung

5.2 Therapiebaustein: Reizkopplung

5.2.1 Reizgebung zur Erweiterung der Aufmerksamkeit

5.2.2 Reizwahrnehmung auf Impulse erweitern, die nicht im Fokus stehen

5.3 Therapiebaustein: Variationen

5.3.1 Variationen im Therapieablauf

5.3.2 Variationen schützen vor Überforderung

5.3.3 Variationen ermöglichen neue Schritte

5.3.4 Variationen ermöglichen die Übertragung in den Alltag

6 Führen

6.1 Anleitung zum körperlichen Führen

6.1.1 Einstieg in das Führen

6.1.2 Weiterer Verlauf beim Führen

6.2 Führen der frühen Interaktionen

6.2.1 Gemeinsame Aufmerksamkeit, gemeinsame Freude

6.2.2 Mimik mit Blickkontakt

6.2.3 Turn-Taking und einfache Imitationen

6.2.4 Selbstbewusstsein

6.2.5 Wechsel der Aufmerksamkeit und Triangulation

6.3 Führen der aufbauenden sozialen Interaktionen

6.3.1 Imitationen und Modelllernen

6.3.2 Den Anderen mit seinen Gedanken und Bedürfnissen wahrnehmen

6.3.3 Symbolspiel

6.3.4 Theory of Mind

6.3.5 Selbstwirksamkeit

6.4 Weitere Zielsetzungen

6.4.1 Neue Impulse zulassen, neue Dinge erleben

6.4.2 Warten lernen

6.4.3 Motorische Fähigkeiten stärken

6.5 Führen von Gesten

6.5.1 Gesten führen

6.5.2 Zeigegesten führen

7 Gebärden

7.1 Auswahl der Gebärdensysteme

7.2 Auswahl des Gebärdenwortschatzes

7.3 Hilfen für die Einführung von Gebärden

7.4 Gebärden erleichtern den Einstieg in die gesprochene Sprache

8 Sprache und Sprachanbahnung

8.1 Hilfen für den Einstieg und die Festigung von Laut- und Sprachimitation

8.2 Auswahl der Laute und Worte

8.3 Stimmmodulationen

8.4 Visuelle und taktile Hilfen zur Lautbildung

8.5 Sprache, Sprechen und Handeln zeitgleich

8.6 Mit Sprache führen

9 Die ersten Stunden – der Einstieg in die Komm!ASS

®

-Therapie

9.1 Struktureller Ablauf einer Therapiestunde

9.2 Inhaltlicher Ablauf einer Therapiestunde

9.3 Die erste Stunde

9.3.1 Erstkontakt mit dem Kind

9.3.2 Anamnese

9.3.3 Aufklärung der Eltern

9.4 Dokumentation der (ersten) Stunde/n

9.5 Therapieplanung

10 Entwicklungsverläufe

10.1 Neue Fähigkeiten zu Lasten von bereits Gelerntem

10.2 Neue Fähigkeiten führen zu neuen Belastungen

10.3 Bildung des Selbstbewusstseins und der Selbstwirksamkeit

10.3.1 Aktive Abwehr

10.3.2 Aktives gemeinsames Spiel

10.3.3 Bedürfnisbefriedigung – das eigene Wohl steht im Fokus

10.3.4 Provokation

10.3.5 Schauspiel

10.3.6 Explorations- und Entdeckerphase

10.3.7 Besondere Konfliktsituationen bei der Identitätsentwicklung

10.4 Therapiedauer

11 Ergänzungen für Therapeuten

11.1 Die ersten Stunden für den Therapeuten

11.2 Multi-Tasking für Therapeuten

11.3 Therapeutenrituale

11.4 Emotionale Therapiearbeit

11.5 Belastende Therapiearbeit

Nachwort

Literaturverzeichnis

Anhang

Befundbogen

Stichwortverzeichnis

 

 

Vorwort

 

 

 

Kinder mit Autismus-Spektrum-Störung – Kinder, die mir am Herzen liegen.

Seit Beginn meiner logopädischen Arbeit faszinieren mich Kinder, die besondere Hilfe und Aufmerksamkeit brauchen. Kinder, die nicht oder nur eingeschränkt interagieren und kommunizieren.

Besonders Kinder mit Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) wurden mit der Zeit zunehmend Mittelpunkt meiner Arbeit. 2009 schrieb ich mich bei Autismus Deutschland e. V. zur Fortbildung »Autismus-Therapeut/in« ein. In den nächsten Jahren erweiterte ich mein Wissen über Ursachen, Erscheinungsbild und Therapiemethoden ständig und glich dieses Wissen in den Therapien mit meinen Beobachtungen und Erfahrungen ab.

»Komm! Wir machen das«

Mit der Zeit spürte ich immer deutlicher, dass ich viele Dinge anders wahrnahm, anders interpretierte und auch anders mit den Kindern umging, als es vorwiegend empfohlen wird. Die positiven Veränderungen im Verhalten der Kinder und die Verbesserung ihrer Fähigkeiten bestärkten mich jedoch in meiner Arbeit. Ich entwickelte eine ganz »eigene« Art der Therapie: Komm!ASS®. »Komm« steht zum einen für Kommunikation, zum anderen für »Komm her!«, »Komm mit!« oder »Komm, wir machen das zusammen!«

2011 begann ich meine Erfahrungen in Form von praxisinternen Fortbildungen an Kollegen weiterzugeben. Seit 2012 biete ich Fortbildungen und Vorträge für Logopäden, Ergotherapeuten und alle weiteren Menschen an, die mit Menschen mit Autismus leben oder arbeiten. Die Anfragen kommen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Jede Diskussion, Anregung und auch Kritik waren immer wieder Anstoß, differenzierter hinzuschauen und somit das Konzept weiterzuentwickeln.

Zielgruppe

Komm!ASS® wurde für Menschen mit Autismus entwickelt, aber auch andere Personengruppen können davon profitieren:

•  Menschen mit Syndromen, bei denen ebenfalls eine Wahrnehmungs- und Verarbeitungsstörung vorliegt (z. B. Down-Syndrom, Fetales-Alkohol-Syndrom, ADS/ADHS).

•  Menschen, welche eine funktionelle Behinderung eines Sinnesbereichs aufweisen, benötigen multimodale Therapiekonzepte um die anderen Systeme optimal nutzen und verknüpfen zu können (Personen mit schwergradigen Hör- oder Sehstörungen, körperlichen Behinderungen usw.).

•  Menschen mit eingeschränkter Konzentrationsspanne und/oder Regulationsmöglichkeiten brauchen körperorientierte Hilfen um bessere Lernerfolge zu erzielen.

•  Menschen mit Mutismus und weiteren isolierten Interaktionsstörungen zeigen mithilfe dieser Therapie ein gestärktes Selbstbewusstsein sowie besonders in Stresssituationen ein flexibleres Reaktionsvermögen. So kann es gelingen, ihre kommunikativen Fähigkeiten zu erweitern.

Mittlerweile sind wir ein großes Team, das den Wunsch hat, Kindern und Eltern zu helfen und unsere Erkenntnisse weiterzutragen – dies ist der Motor für unsere tägliche Arbeit. Mit jedem Kind, jedem Betroffenen lernen wir das Spektrum Autismus besser zu verstehen. Wir sehen die vorhandenen Stärken und auch die Schwierigkeiten der Kinder und erkennen viele der daraus resultierenden Verhaltensweisen.

Autismus ist kein Rätsel

Wir tauschen uns intensiv mit Eltern, Betreuern und Therapeuten aus. Autismus ist für uns kein unlösbares Rätsel und auch kein Blick in eine »andere« Welt. Das Verhalten der Kinder ist eine notwendige Reaktion ihrer veränderten Wahrnehmung und der besonderen Verarbeitung.

Ich möchte Sie einladen, sich auf diese andere Sichtweise, auf neue Therapiemöglichkeiten und ein intensives Miteinander mit Menschen aus dem Autismus-Spektrum einzulassen.

Noch einige Anmerkungen vorab:

Menschen, die mit Personen aus dem Autismus-Spektrum arbeiten oder leben, sollen mit diesem Buch Erklärungen und Hilfen bekommen, um die Betroffenen besser verstehen und unterstützen zu können.

Komm!ASS® erleben

Dieses Buch kann jedoch nur einen Teil unserer Überzeugungen und der praktischen Arbeit von Komm!ASS® vermitteln. Falls Sie Komm!ASS® erleben möchten, darf ich Sie einladen, eine unserer Fortbildungen zu besuchen oder persönlich mit uns Kontakt aufzunehmen. Hospitationen, Supervisionen und Videos sprechen ihre eigene Sprache und können keine noch so ausführliche Erläuterung ersetzen.

Wir sprechen häufig von dem Kind mit Autismus oder dem Klienten. Die Komm!ASS®-Therapie ist jedoch auch für erwachsene Menschen mit Autismus geeignet. Bei den Übungen und Hilfen ist das sozial-emotionale Entwicklungsalter maßgebend; zusätzlich die sensorischen und motorischen Fähigkeiten, die Kognition, Konzentrationsspanne usw. Zur besseren Lesbarkeit beschränke ich mich in der Ansprache vorwiegend auf unser »Hauptklientel«, dem Kind mit Autismus. Auch wird auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für alle Geschlechter.

Hirschberg, November 2019

Ulrike Funke

 

 

Ganz lieben Dank!

 

 

 

Viele Menschen haben mich auf meinem Weg begleitet und haben deshalb großen Anteil an diesem Konzept.

Einige haben mich (beruflich) besonders inspiriert und unterstützt:

Thomas Leonhardt – Logopäde – der mir in meinem ersten Berufspraktikum die Angst vor dem herausfordernden Verhalten der Kinder genommen hat und das Interesse daran weckte, mit diesen Kindern in Kontakt zu kommen.

Sabine Schreiber – Logopädin – welche mir bei der Arbeit mit Late-Talkern Türen öffnete. Sie hat mir das Therapiekonzept von B. Zollinger vermittelt und gab mir besonders beim Berufseinstieg wichtige Hilfen.

Yvonne, Julia, Lisa, Silke, Johanna, Clarissa, Södje, Mareike, Christine, Melanie … all meine Kolleginnen in der Praxis und im Autismuszentrum. Sie unterstützen mich bei der aktiven Arbeit und ermöglichen mir Zeit für Fortbildungen und Studien. Mithilfe zahlreicher Absprachen zwischen den Therapien motivieren sie mich immer wieder dazu weiterzumachen. Sie sind nach anstrengenden Therapien, nach emotionsgeladenen Gesprächen, vor oder nach Fortbildungen und Kongressen immer für mich da, damit ich all die Informationen und Emotionen besser verstehen und verarbeiten kann. Wir diskutieren und erörtern in Therapiepausen und nach den letzten Patienten Wichtiges und Unwichtiges. Dank Ihnen gelingt es mir, meine Gedanken immer wieder neu zu sortieren und die Kinder mit Autismus stetig besser zu verstehen. Sie ermutigen mich, mich auch der wissenschaftlichen Seite meines Konzeptes zu stellen und sind mir eine große Hilfe bei Veröffentlichungen und Fachartikeln. Besonders Lisa Federkeil und Julia Funke standen mir beim Schreiben dieses Buches immer wieder zur Seite und ergänzen und verbessern mich unermüdlich. Ich bin sehr dankbar für dieses tolle Team!

Danke an den Kohlhammer Verlag für die Möglichkeit dieses Buch zu veröffentlichen und für die Unterstützung durch meine Lektorin.

Herzlichen Dank auch an alle Kinder und ihre Eltern, für das Vertrauen sich auf uns und unsere Arbeit einzulassen. Wir können gemeinsam das Abenteuer Interaktion erleben und zusammen neue Wege gehen. Die Bereitstellung von Fotos und Videomaterialien für Vorträge, Fortbildungen, Veröffentlichungen und zu Forschungszwecken sind unersetzlich. Danke für die unzähligen Erlebnisse und Geschichten.

Und letztendlich »Danke« an meinen Mann Peter, der mich mit seiner ruhigen Art immer wieder erdet, unterstützt und motiviert und der stets an mich glaubt.

 

1        Einführung

 

 

1.1      Was ist Wahrnehmung?

Wahrnehmung ist ein aktiver, selektiver und konstruktiver Prozess. Die Informationen aus dem eigenen Körper und der Umwelt müssen identifiziert, weitergeleitet, koordiniert, anschließend im Gehirn mit bereits gespeicherten Informationen verknüpft und entsprechend darauf reagiert werden.

Dabei erfolgt die Reizaufnahme über die Rezeptoren des spezifischen Sinnesorganes. Diese Reize werden an das Gehirn weitergeleitet und in den jeweiligen Zentren der Großhirnrinde abgespeichert. Das Wahrgenommene wird dann mit bereits erworbenem Wissen verglichen, daraufhin erfolgt die Auswahl sowie Bewertung des Reizes und ggf. die Koordination und Verknüpfung in verschiedenen Gehirnarealen.

1.2      Jede Wahrnehmung ist einzigartig

Wahrnehmung ist individuell

Der Prozess der Wahrnehmungsverarbeitung ist bei jedem Menschen einzigartig und ganz individuell. Wahrnehmung ist eine subjektive Sicht auf die Wirklichkeit und jede Person nimmt diese Wirklichkeit anders und somit ganz besonders wahr.

So können zum Beispiel Berührungen, welche von einer Person bevorzugt werden, bei anderen Schmerzen auslösen. Geräusche oder Musik, welche für den Einen positiv empfunden werden, können für den Anderen unangenehm oder schmerzhaft sein.

Wahrnehmung je nach Tagesform

Die persönliche Wahrnehmung variiert zusätzlich je nach Tagesform. Krankheit, Stress oder auch allgemeines Wohlbefinden wirken sich auf den Prozess und das Ergebnis der Informationsaufnahme, der Bearbeitung und Bewertung von Reizen aus. Bilder, welche an manchen Tagen faszinieren, wirken in anderen Situationen beängstigend. Musik, deren Rhythmus gestern als anregend empfunden wurde, hört und fühlt sich am nächsten Tag vielleicht unangenehm an.

Gut zu wissen: Migräne – eine kurzzeitig veränderte Wahrnehmung

Einige der Autismus-Symptome sind denen einer akuten Migräneattacke ähnlich. Dabei kann es zu einem erhöhten Druckgefühl im Kopf, einer Überreizung des vestibulären Systems, Lichtempfindlichkeit, hohe Geruchs- und Geschmackssensibilität, einer auditiven Überreizung usw. kommen. Viele Reize aus der Umgebung werden kaum wahrgenommen, andere treten besonders intensiv hervor.

Die Betroffenen möchten sich am liebsten in einem dunklen Raum einschließen und erst wieder am Leben teilhaben, wenn die Migräne vorüber ist und der Körper wieder wie gewohnt auf die verschiedenen Reize reagiert. Während der Attacke wird jede Aufgabe, jeder Austausch wenn möglich vermieden. Die stark belastenden (Begleit-)Erscheinungen vergehen im Laufe des Tages bzw. einer Woche und mit ausreichender Erholungszeit. Medikamente können die Schmerzen und Symptome der Migräne lindern.

Erfahrungen prägen die Wahrnehmung

Ob und wie ein Reiz wahrgenommen wird und welche Reaktionen er auslöst, liegt unter anderem daran, wie die jeweiligen Impulse bewusst oder unbewusst gefiltert, verarbeitet und miteinander verknüpft werden. Dieser Prozess ist eng mit bereits erfolgten Erfahrungen und Lernprozessen verbunden sowie der Bewertung, ob ein Reiz bedeutungstragende Informationen beinhaltet, welche weitere Handlungen oder Reaktionen beeinflussen.

1.3      Eine ganz besondere Wahrnehmung

»[Autistische Menschen] nehmen nicht nur viel mehr Reize bewusst wahr als nichtautistische Menschen, sondern reagieren auch anders, weil in ihrem Gehirn ein anderes Modell der Welt entsteht, auf das sie dann mit einem anderen, für die Umgebung unerwarteten Verhalten reagieren.[…] Sie werden mein Verhalten nicht einordnen können und als komisch oder gar abartig empfinden. Dass es innerhalb meines Systems ein korrektes Verhalten ist, spielt keine Rolle mehr« (Vero, 2014, S. 21f.).

Extreme Wahrnehmung

Die sensorische Integrationsleistung und damit die Intensität, mit der Reize gespürt werden, ist bei Menschen mit Autismus im Vergleich zu den Empfindungen von neurotypischen Menschen besonders. Reize werden entweder kaum wahr- oder aufgenommen (Hyposensibilität) oder besonders intensiv gespürt (Hypersensibilität). Abstufungen zwischen den beiden Reizintensitäten sind kaum zu beobachten, sodass entweder eine Überstimulation oder eine Unterstimulation des zentralen Nervensystems vorliegt.

Ob in einer bestimmten Situation eine Über- oder Unterstimulation für einen bestimmten Wahrnehmungsbereich vorliegt, lässt sich selten genau festlegen. Die Beobachtung, bei welchem Reiz mit welcher Intensität eine Reaktion erfolgt, erfordert eine differenzierte Betrachtungs- und Vorgehensweise.

»Bereits seit längerem weiß man, dass Menschen mit autistischen Störungen in allen Sinnessystemen empfindlicher reagieren können oder Wahrnehmungen anders empfinden können als nicht autistische Menschen. […] Es fanden sich statistisch hochsignifikante Unterschiede: Die autistischen Kinder hatten im Durchschnitt eine mehr als doppelt so hohe Überempfindlichkeit. Es traten aber auch doppelt so häufig Unterempfindlichkeiten gegenüber Schmerzen auf« (Jansen & Streit, 2015, S. 221f.).

Scheinbar widersprüchliche Wahrnehmungsbesonderheiten

Es kann sein, dass ein leicht veränderter Reiz (zum Beispiel bei einer Variation der Frequenz) eine andere Reaktion auslöst und diese, bedingt durch die kaum vorhandenen Abstufungen in der Intensität, oft widersprüchlich erscheint.

Gut zu wissen: Ähnliche Reize können zu »scheinbar« gegensätzlichen Reaktionen führen

Im Mundbereich kann der vordere Teil der Zunge eine Hyposensibilität gegenüber Berührungsreizen aufweisen, aufgrund derer die Kinder das Essen regelrecht in den Mund stopfen. Im hinteren Zungenbereich kann jedoch eine Hypersensibilität vorliegen und der Würgereiz wird schon beim Gebrauch der Zahnbürste auf den mittleren oder hinteren Molaren ausgelöst.

Auch auf den gesamten Körper bezogen zeigen sich diese scheinbar widersprüchlichen Reaktionen. Es kann sein, dass Betroffene auf sanfte Berührungen sehr empfindlich reagieren und sie als schmerzhaft wahrnehmen. Andererseits genießen sie starke Impulse, wie bei einer Massage mit dem Igelball oder dem festen Ausstreichen der Haut mithilfe der Fingerknöchel.

Es ist auch möglich, dass das Hören von hohen Tönen wie bei einer hohen Sprechstimme (bereits bei geringer Lautstärke) als unangenehm empfunden wird. Andererseits wird ein tiefer Ton positiv bewertet, wie zum Beispiel das (laute) Brummen eines Motors.

Verstehen und begegnen

In unserem Autismuszentrum erfahren wir jeden Tag, wie anders die Wahrnehmung der betroffenen Kinder im Gegensatz zur Wahrnehmung der neurotypischen Kinder ist. Aber mit jedem Kind, mit jeder intensiven Beobachtung und mithilfe von Beziehung kann es gelingen, ihre Verhaltensweisen besser nachzuvollziehen. So können gezielt Impulse vermieden werden, die eine negative Reaktion bewirken, und es können vor allem Impulse gesetzt werden, die eine freudvolle Begegnung und ein positives Miteinander in Therapie und Alltag ermöglichen.

1.4      Autismus-Spektrum-Störungen

»Autismus ist eine komplexe und vielgestaltige neurologische Entwicklungsstörung. Häufig bezeichnet man Autismus bzw. Autismus-Spektrum-Störungen auch als Störungen der Informations- und Wahrnehmungsverarbeitung, die sich auf die Entwicklung der sozialen Interaktion, der Kommunikation und des Verhaltensrepertoires auswirken« (Autismus Deutschland e. V., 2018, Absatz 1).

Autismus im ICD-11 und DSM-V

Das Wissen, dass Autismus ursächlich eine Wahrnehmungs- bzw. Wahrnehmungsverarbeitungsstörung ist, hat sich erst in den letzten Jahren verbreitet und findet in der neueren Fachliteratur zunehmend Beachtung. Während die ICD-10 die tiefgreifende Entwicklungsstörung noch in »Frühkindlicher Autismus«, »Atypischer Autismus« und »Asperger-Syndrom« unterscheidet, orientiert man sich in der im Juni 2018 vorgestellten Neuauflage ICD-11 für den Bereich der Autismus-Spektrum-Störung an der Einteilung des im Jahr 2013 erschienenen und derzeit gültigen DSM-V:

Frühkindlicher Autismus, Atypischer Autismus und Asperger-Syndrom werden unter dem Begriff Autismus-Spektrum-Störung (ASS) zusammengefasst. Man unterscheidet nun zwischen drei verschiedenen Schweregraden. Die beobachtbaren Symptome werden in zwei Bereiche aufgeteilt. Hier sollen die individuellen Schwierigkeiten der betroffenen Personen differenziert aufgezeigt und stets an den aktuellen Entwicklungsstand angepasst werden.

Wahrnehmung ist Diagnosekriterium

Die Auffälligkeiten im Bereich der Wahrnehmung werden erstmals innerhalb eines Diagnosekriteriums (»Domäne B: Eingeschränkte oder sich wiederholende Muster im Verhalten, den Interessen oder Aktivitäten«) aufgeführt. Sie werden durch den Zusatz ergänzt: »Wenn keine restriktiven, repetitiven Verhaltensweisen/Interessen gezeigt werden, ist die Diagnose einer ASS nach DSM-5 nicht erfüllt«.

Neue Betrachtungen verändern die Therapie

Die Erkenntnis, dass Wahrnehmungsauffälligkeiten wesentliche Symptome einer ASS sind, sollte jedoch nicht nur Konsequenzen in der Diagnostik und in der Beschreibung des Störungsbildes nach sich ziehen, sondern insbesondere auf die Bereiche Therapie und Alltagsgestaltung von Menschen mit Autismus Auswirkungen haben.

»In vielen Einrichtungen für autistische Menschen setzen Therapien weiterhin beim Verhalten autistischer Menschen an. Das Verhalten ändern zu wollen, egal, wie störend es sein mag, macht aber keinen Sinn, denn es ist das richtige Verhalten auf eine andere Wahrnehmung. Wenn ein autistischer Mensch besser in der Gemeinschaft und damit auch im (Arbeits-)Leben zurechtkommen möchte, dann müssen er und seine Umgebung genau das verstehen und dann versuchen, an seinem Modell der Welt, sprich an seiner Wahrnehmung, zu arbeiten« (Theunissen, 2016, S. 113).

Wahrnehmung als Ausgangspunkt

Komm!ASS® stellt einen Therapieansatz dar, der das Erkennen und Verstehen der jeweiligen Wahrnehmung und Wahrnehmungsbesonderheiten und der daraus resultierenden Verhaltensweisen als Ausgangspunkt für jegliche Intervention versteht.

Im Folgenden wird deshalb zunächst auf die verschiedenen Wahrnehmungsbereiche und deren isolierte Verarbeitung eingegangen, damit in der Therapie oder im Alltag eine Verbesserung der Informations- und Wahrnehmungsverarbeitung gelingen kann – auch im Hinblick auf die Möglichkeit eines komplexen und wechselseitigen Zusammenspiels.

 

2        Wahrnehmung und Wahrnehmungsverarbeitung

 

 

Die Reizaufnahme erfolgt über die Sinne. Es wird unterschieden zwischen den Sinnen bzw. Sinnessystemen, welche Informationen über den Körper geben, sowie denen, die Informationen über die Umwelt vermitteln.

Zu den »Basis- bzw. Nahsinnen« gehören folgende Sinnessysteme:

•  das kinästhetische oder propriozeptive Wahrnehmungssystem

•  das vestibuläre Wahrnehmungssystem

•  das taktile Wahrnehmungssystem

Grundlage Basissinne

Gut ausgebildete und integrierte Basissinne bilden die Grundlage für eine gesunde Entwicklung des Kindes und sind bereits wichtige Voraussetzungen für komplexe, höhere Leistungen, die im weiteren Leben erworben werden.

Die Fernsinne bauen zudem auf diesen Erfahrungen und Kenntnissen auf. Sie geben mithilfe des jeweiligen Systems Informationen über die Umwelt. Hier erfolgt die Informationsaufnahme ohne einen direkten Körperkontakt mit dem wahrgenommenen Gegenstand bzw. der Information.

Zu den »Fernsinnen« gehören folgende Sinnessysteme:

•  das gustatorische Wahrnehmungssystem

•  das olfaktorische Wahrnehmungssystem

•  das visuelle Wahrnehmungssystem

•  das auditive Wahrnehmungssystem

Fernsinne erweitern das Wissen

Die Fernsinne verhelfen zu einem Bild von der Umgebung, von Abläufen im Umfeld und von dem, was ggf. als Nächstes passieren könnte.

Störungen dieser Systeme werden als zentrale Wahrnehmungs- und Verarbeitungs- bzw. sensorische Integrationsstörungen bezeichnet. In den folgenden Kapiteln werden die jeweiligen Bereiche mit ihren Auffälligkeiten beschrieben, dann erfolgt eine Beschreibung möglicher Hilfen.

Jeder Mensch ist besonders

Jedoch sind nicht alle »Auffälligkeiten« (besonders isoliert gesehen) auch behandlungsbedürftig. Eine Vielzahl von Verhaltensweisen sind dann einfach nur »anders« und entsprechend sollte den Kindern hier mit Toleranz und Verständnis begegnet werden. Ob das Kind zum Beispiel zur Beruhigung dem Schleudern der Wäschetrommel zuschaut oder ob neurotypische Personen den Wellengang am Meer oder einen Sonnengang betrachten, macht kaum einen Unterschied.

2.1      Das kinästhetische/propriozeptive Wahrnehmungssystem

Den eigenen Körper spüren

Mithilfe der Propriozeptoren werden Informationen aus dem Körperinneren aufgenommen. Die Reizaufnahme erfolgt über das kinästhetische System und liefert Mitteilungen über Muskeln, Sehnen und Gelenke. So kann gespürt werden, wo sich der Körper im Raum befindet, welche Haltung oder Lage er einnimmt, welche Bewegungen bei verschiedenen Körperteilen möglich ist und in welchem Spannungszustand sich die Muskeln und Sehnen befinden, ob der Körper sich bewegt und wenn ja, in welche Richtung. Dies geschieht mithilfe von Stellungssinn, Bewegungssinn, Kraftsinn und Spannungssinn.

Mithilfe des kinästehtischen/propriozeptiven Wahrnehmungssystems ist es möglich zu gehen, zu greifen oder andere Tätigkeiten zu vollziehen. Das Gehirn bekommt zum Beispiel über Reize wie Zug und Druck Informationen über die Stellung des Körpers, ohne die visuelle Kontrolle zu benötigen. Oder es ermöglicht, einen Gegenstand mit der richtigen Kraftdosierung in die Hand zu nehmen, ohne ihn zu zerdrücken.

Körpertonus

Menschen mit Autismus können diese Informationen oft nicht ausreichend wahrnehmen und verarbeiten. Einzelne Körperregionen weisen zusätzlich einen zu geringen Muskeltonus (Hypotonus), andere einen zu starken Muskeltonus (Hypertonus) auf.

»Ohne hinzuschauen wissen Sie genau, wo Ihr Körper den Stuhl oder Boden berührt und wie Ihre Füße stehen. Ich kann das nicht. Meine Körperwahrnehmung ist dafür zu gering. […] Ich muss schauen, um zu wissen, ob und wie ich sitze, wo meine Füße sind und was die Arme machen. In der Schule habe ich nach dem Melden oft vergessen den Arm wieder herunter zu nehmen, weil ich so mit der Antwort (und den vielen anderen Reizen) beschäftigt war. Ich habe ihn einfach vergessen« (Vero, 2014, S. 99).

»Ich habe erst verstanden, wieso die Leute immer behaupten, ich würde beim Abschied verkehrt herum winken, als ich mich eines Tages in einem großen Spiegel sah. Da begriff ich, dass ich mir beim Winken selbst auf Wiedersehen sagte!« (Higashida, 2018, S. 51).

2.1.1     Mögliche Symptome bei einer Störung des propriozeptiven Wahrnehmungssystems

Überschießende Bewegungen um den Körper zu spüren

Folgendes Verhalten ist bei vorwiegender Hyposensibilität zu beobachten:

•  Schlagen, treten, anrempeln, fallen lassen auf/gegen/von Tischkanten, Zimmerwände(n), weitere(n) Begrenzung(en) und auch Personen; dies geschieht mit den Händen, den Füßen, dem Kopf oder dem gesamten Körper.

•  Häufiges Hüpfen oder Herunterspringen von Erhöhungen um u. a. den gesamten Oberkörper sowie Becken- und Bauchraum besser zu spüren

•  Zähneknirschen oder -klappern, Beißen in die eigene Hand oder in einen Gegenstand, das ruckartige Werfen des Kopfes nach hinten, starker Druck mit dem Kinn gegen einen Widerstand usw. bieten Informationen im Bereich der Schultern, des Nackens und für den Kiefer.

•  Den Kopf nach unten hängen lassen, um ihn durch den erhöhten Blutdruck spüren zu können

•  Flattern der Hände und der Arme, Kreisen der Handgelenke, Überstrecken einzelner Körperteile oder des gesamten Körpers; was eine besondere Information in Bezug auf Sehnen und Gelenke bietet

•  Zehenspitzengang, um die Spannung im Körper und besonders in den Fußgelenken zu erhöhen

Gezielte und flüssige Bewegungen einzelner Körperteile sind kaum möglich. Greifen und etwas Hineinstecken, Ziehen und Drücken, Richtung und Ziel können nicht ausreichend aufeinander abstimmt werden. Dies führt zu folgenden Auffälligkeiten:

•  Steck-, Stapel- und Drehspiele werden nicht gespielt.

•  Kaum differenzierte Fingerbewegungen, z. B. fehlender Pinzettengriff

•  Das Anheben von Gegenständen wird vermieden.

•  Kein »Hand geben«

•  Werfen oder Fangen erscheinen ungelenk oder sind nicht möglich.

•  Verschiedene Bewegungsabläufe benötigen die gesamte Konzentration.

Passivität als Schutz

Folgendes Verhalten ist bei vorwiegender Hypersensibilität zu beachten:

•  Schon kaum spürbare, tiefenstimulierende Reize können Unbehagen oder Schmerz auslösen.

•  Jegliche Bewegung wird vermieden.

•  Deutlicher Bewegungsunmut; Bewegungen werden nur minimal und verlangsamt ausgeführt.

•  Einzelne Körperteile werden nicht in Bewegung gebracht; der gesamte Körper geht in Aktion oder führt diese an, ein Ausstrecken der Hände oder Arme ist nicht isoliert möglich.

Gut zu wissen: Hilfen zur Sauberkeitserziehung

Auch die Sauberkeitserziehung zeigt sich bei Kindern mit Autismus oft deutlich verzögert. Unter anderen bedingt durch die veränderte Körperwahrnehmung wird auch der Druck von Darm und Blase »anders« gespürt. So kann es sein, dass dieser Druck als angenehm empfunden wird und die Kinder deshalb den Toilettengang vermeiden. Vielleicht wird dieser Reiz nicht gespürt, so dass die Kinder die Sauberkeit nicht erlernen.

Zur Einleitung der Sauberkeitserziehung muss das Kind seinen Körper (besser) spüren. Übungen zur Verbesserung der propriozeptiven und der taktilen Wahrnehmung zeigen sich hierbei zielführend. Eine entspannte Umgebung hilft zusätzlich, dass es den Kindern leichter fällt, »Druck« gezielt abzulassen. Eine Stütze unter den Füßen knickt den Oberkörper leicht ab und entspannt den unteren Rücken. Eine Massage, welche den Tonus nochmals verringert, könnte ebenfalls helfen.

(Symbol-)Spiele, aber auch Bücher können die Bedeutung dieser Fähigkeit zudem kognitiv und spielerisch in den Fokus rücken und zusätzlich anstoßen.

Abb. 2.1: Den eigenen Körper spüren

2.1.2     Praktische Tipps: Übungen zur Verbesserung

Reize anbieten, welche die kinästhetische Wahrnehmung verbessern

Keine Angst vor Berührungen

1.  Druck auf die Gelenke, zum Beispiel durch gemeinsames Hüpfen durch den Raum oder durch Stimulationen mit Druck/Stoß auf die Fußsohle oder über das Kniegelenk in Richtung Becken; Druck/Stoß auf die Handflächen oder den Ellenbogen und somit Stimulierung der Schulter

2.  Zug auf die Gelenke, zum Beispiel durch Hängen an Stangen; gezielte Mobilisation durch den Therapeuten; Heben von schweren Gegenständen; Bewegungsspiele wie »Engelchen flieg«, »Hoppe-hoppe Reiter«

3.  Massagen oder weitere starke Stimulationen, mit viel Druck ausgeführt, die den ganzen Körper in Bewegung bringen (Abklopfen mit Kissen oder Rolle oder das Kind liegt unter einer Matte, auf welche die Impulse gegeben werden)

4.  Gebärden, ausgeführt mit starken Impulsen und weitreichenden Bewegungen (Kap. 7)

5.  Vielfältige Bewegungsmöglichkeiten schaffen: auf dem Spielplatz, im Turnraum oder in der Natur

6.  Vielfältige Spürinformationen auch im Kindergarten und in der Schule schaffen: Druckmassagen im Unterricht, festes »Trampeln« der Füße auf den Boden

7.  Vielfältige Sportangebote schaffen: Tanzen, Reiten, Boxen, Trampolin

Vielfältige Bewegungsangebote anbieten

8.  Alltagsabläufe und Bewegungen verändern, so dass das Kind sich dabei besonders spüren kann: Beim An- und Ausziehen die Handlung mit festem Körperkontakt begleiten, beim Duschen die Spürinformationen durch festes Halten verändern

9.  Möglichkeiten zum Spüren im eigenen Zuhause schaffen: ein »Spalt« zwischen Bett oder Schrank und Wand

Vielfältige Impulse beim Schwimmen

10.  Schwimmen und Wasserspiele: Wasser bietet bei Bewegung unterschiedliche Impulse für Gelenke und Muskeln und verändert durch den Auftrieb das Eigengewicht des Körpers »Neben der veränderten Atmung werden Herz- Kreislauf angeregt, die Haut vielfältig stimuliert (Temperatur, Streicheln, Druck), und bei der kleinsten Bewegung entstehen vestibuläre, propriozeptive und kinästhetische Reize« (Cherek, o. J., S. 4.).

2.2      Das vestibuläre Wahrnehmungssystem

Bei der vestibulären Wahrnehmung erfolgt die Aufnahme der Informationen über die Gleichgewichts- und Gravitationsrezeptoren. Das vestibuläre System sitzt im Innenohr und ermöglicht es Gleichgewicht und Körperhaltung zu wahren. Eine isolierte Betrachtung des Systems ist vor allem bei der vestibulären Wahrnehmung besonders unzureichend, da das Zusammenspiel mit den anderen Bereichen hier besonders vielfältig ist.

»Probleme mit dem Gleichgewichtssinn wirken sich [nämlich] auf sämtliche anderen Funktionen aus« (Goddard Blythe, 2005, S. 103).

»Lange bevor das Gehirn visuelle und auditive Reize verarbeitet, nimmt es Gleichgewichtsreize wahr und reagiert darauf. Diese vestibuläre Aktivität ist einer der Bausteine, auf den später die Entwicklung des Sehens und Hörens aufbauen kann« (Ayres, 2016, S. 89).

2.2.1    Mögliche Symptome bei einer Störung des vestibulären Wahrnehmungssystems

Folgendes Verhalten ist bei vorwiegender Hyposensibilität zu beobachten:

•  Vestibuläre Reize bzw. Impulse werden verstärkt gesucht.

•  Häufiges selbststimulierendes Wiegen und Schaukeln des Oberkörpers

•  Schaukeln/«Kippeln« mit dem Stuhl

•  Das Kind liebt es hochgenommen oder hochgeworfen zu werden – »Engelchen flieg« und »Reitspiele« werden häufig eingefordert.

•  Trampolin, Schaukel oder Karussell werden intensiv genutzt; ein Aufhören ist kaum möglich.

Auch nächtlicher Bewegungsdrang

•  Ständiger Bewegungsdrang der Kinder

•  Plötzliches Aufstehen, häufiges Wechseln in den Zehenspitzengang, drehen um die eigene Achse oder schnelle (Wechsel-)Bewegungen des gesamten Körpers bzw. des Kopfes

•  Häufiger Kopfstand

Passivität ist keine »Faulheit«

Folgendes Verhalten ist bei vorwiegender Hypersensibilität zu beobachten:

•  Schon geringe vestibuläre Reize lösen Unbehagen oder Panik aus.

•  Lageveränderungen werden vermieden: Wenn das Kind eine Position eingenommen hat, verharrt es darin über einen längeren Zeitraum. Schon als Säugling reagieren die Kinder mit Schreien oder sich Versteifen, wenn sie hochgenommen werden oder wenn sie auf dem Arm leicht geschaukelt werden.

•  Die meisten Körperbewegungen werden vermieden oder nur langsam ausgeführt: die Kinder kommen spät oder nicht in Bewegung, kaum Robben und Krabbeln, spätes Laufen.

•  Bewegungsangebote wie Trampolin, Schaukel oder Rutsche werden abgelehnt.

•  Übelkeit und Erbrechen beim Autofahren oder auch beim Fernsehen (auch bewegte Bilder stellen einen starken vestibulären Reiz dar).

Abb. 2.2: Beim Schaukeln zielgerichtete Aufgaben bewältigen können

2.2.2     Praktische Tipps: Übungen zur Verbesserung

Reize anbieten, welche die vestibuläre Wahrnehmung verbessern

Balanceübungen

•  Schaukeln in verschiedenen Grundpositionen und in verschiedene Richtungen: sitzend, stehend oder auf dem Bauch bzw. Rücken liegend; vorwärts, rückwärts und seitlich, mit teilweise schnellem Anhalten oder Richtungsänderungen; bäuchlings auf einem Pezziball vor- und zurückrollen

•  Balancieren auf Bänken und Wackelbrett; Sitzen auf dem Wackelkissen

•  Drehen in der Affenschaukel bzw. auf dem Drehstuhl oder »Kreisel« spielen, um die eigene Achse drehen; Rollübungen auf der Matte oder seitlich, einen Hang herunterrollen; Purzelbaum

•  Springen auf dem Trampolin, wippen, rutschen und hüpfen

2.3      Das taktile Wahrnehmungssystem

Kontakt zur Außenwelt

Die Haut ist das Sinnesorgan für die taktile Wahrnehmung. Hier befinden sich Rezeptoren, welche die verschiedenen taktilen Informationen aufnehmen: Berührung, Temperatur, Druck, Oberflächenbeschaffenheit und Schmerz.

Über die Haut und mithilfe von taktilen Reizen begreift das Kind sich als körperliches Wesen. Es spürt die Haut als eigene Begrenzung und als Möglichkeit zum Kontakt zu seiner Umwelt. Berührungen sind wichtig für die sinnvolle Erfassung der Umgebung und besonders in den ersten Lebensmonaten die erste Möglichkeit um Beziehung aufzubauen.

»Viele autistische Menschen berichten, dass es für sie unangenehm ist, berührt zu werden. Dies gilt insbesondere für leichte, sanfte und unerwartete Berührungen, die oft wie ein Schmerz erlebt werden. Auch Händeschütteln ist häufig unangenehm. Berührungen in Form eines festen Händedrucks bzw. einer festen Umarmung können dagegen, vor allem dann, wenn sie erwartet und gewollt werden, durchaus als angenehm erlebt werden« (Tebartz van Elst, 2018, S. 80f).

2.3.1     Mögliche Symptome bei einer Störung des taktilen Wahrnehmungssystems

Folgendes Verhalten ist bei vorwiegender Hyposensibilität zu beobachten:

•  Impulse über die Haut werden nicht gespürt.

•  Bei Stürzen oder Anstoßen erfolgt kein Schmerzimpuls und das entsprechende Weinen oder Schreien bleibt aus.

Kämpfen statt Kuscheln

•  Häufiges Treten oder festes Andrücken des Körpers gegen Wände und Begrenzungen

•  Verkriechen in Zimmerecken, Schränken oder unter Teppichen

•  Ausziehen der Kleidung, u. a. der Strümpfe, um Oberflächen und Strukturen intensiver spüren zu können (den glatten Boden, die rauen Steine oder den Kies) oder um thermische Impulse zu erhalten (kalte Fliesen und Fensterscheiben)

•  Treten, Schlagen oder intensives Festklammern als Kontakt zu anderen Menschen

•  Selbstverletzende Verhaltensweisen wie Beißen, Kratzen und Kopfschlagen um sich zu spüren und sich regulieren zu können (Kap. 2.9 und Kap. 5.1.5)

Folgendes Verhalten ist bei vorwiegender Hypersensibilität zu beobachten:

•  Impulse über die Haut werden sehr intensiv wahrgenommen.

Die liebevolle Umarmung wird zum Schmerzauslöser

•  Schon ein geringer oder sanfter Körperkontakt, ein leichter Händedruck oder ein Streicheln werden nicht toleriert, können schmerzhaft sein.

•  Gegenstände werden nicht angefasst oder festgehalten.

•  Socken, Schuhe, Strumpfhosen, Mützen werden ausgezogen, da der Druck als unangenehm empfunden wird.

•  Es werden nur einige, bestimmte Stoffe und Oberflächen toleriert (»Lieblingshose« oder »Lieblingsshirt«).

•  Nähte, Bündchen und Reißverschlüsse verwirren zusätzlich.

•  Bedingt durch eine thermische Überempfindlichkeit wird warme Kleidung abgelehnt.

Alltagsabläufe werden zu regelrechten Kämpfen

•  Schwierigkeiten beim Haarewaschen, da der Wasserstrahl (Druck oder Temperatur) unangenehm ist.

•  Schwierigkeiten beim Haarekämmen oder -schneiden, da Berührungen der Kopfhaut, der Haare bzw. Haarwurzeln einen Schmerzimpuls auslösen.

Fallbeispiel: Julian, 3 Jahre, ASS

Im letzten September wehrte Julian sich immer vehement, wenn es ein windiger Tag war und seine Mutter mit ihm nach draußen gehen wollte. Es dauerte etwas, bis wir herausfanden, dass Julian bei einem Spaziergang ein Blatt auf den Kopf gefallen war. Nun hatte er Angst, dass der Wind nochmals ein Blatt auf seinen Kopf wehen würde und ihn damit wieder »verletzen« könnte.

Fallbeispiel: Andre, 5 Jahre, ASS