Kinder im Autismus-Spektrum verstehen und unterstützen - Ulrike Funke - E-Book

Kinder im Autismus-Spektrum verstehen und unterstützen E-Book

Ulrike Funke

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Beschreibung

Menschen im Autismus-Spektrum haben eine ganz besondere Wahrnehmung. Sie erleben viele Situationen und Impulse im Alltag "anders" und zeigen folglich andere oder auch besondere Reaktionen. Über- und Unterempfindlichkeiten sowie zusätzlich eine vorwiegend isolierte Wahrnehmungsverarbeitung erschweren die Beobachtungs- und die Imitationsfähigkeiten, das Lernen und besonders das tägliche Miteinander. Im Buch werden beobachtbare Aktivitäten und Regulationsmechanismen von Kindern im Autismus-Spektrum erläutert, deren Bedeutungen erklärt und darauf aufbauend Hilfe- und Antwortmöglichkeiten gegeben. Die Angebote haben dabei stets das Ziel, die Lebensqualität der Familien zu verbessern und ein freudvolles und entspanntes Miteinander von Menschen mit und ohne Autismus zu ermöglichen. !Wie können Eltern den besonderen Herausforderungen im Tagesablauf begegnen? !Welche Spiele und Beschäftigungsangebote bereichern den Familienzusammenhalt? !Wie können Kommunikation und Sprache gefördert werden? !Welche Strategien erleichtern Körperpflege, Zahnpflege, Essenssituation und Arztbesuch? !Welche Hilfen ermöglichen Teilhabe im Kindergarten, in der Schule oder in der Tageseinrichtung? Das Buch möchte Eltern und Begleitenden helfen, betroffene Kinder besser zu verstehen. Dabei ist nicht eine vorwiegende Reizvermeidung das Ziel sein, sondern das Anbieten von individuell passenden Impulsen, Stimulationen (Stimmings), die in fordernden und überfordernden Situationen unterstützen. Mithilfe dieser gezielten körperlichen Regulationen sollen Bindung und Beziehung intensiviert, Entwicklung ermöglicht und vor allem Wohlbefinden, Lebensqualität und Lebensfreude verbessert werden.

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Die Autorin

Ulrike Funke schloss ihre Ausbildung zu Logopädin 1996 in Heidelberg mit dem Staatsexamen ab und eröffnete zwei Jahre später ihre eigene logopädische Praxis. Ihr Klientel umfasst Kinder mit besonderem Förderbedarf (kognitiven und körperlichen Beeinträchtigungen), Therapie von Kindern mit Ess- und Trinkstörungen, mit starken Verhaltensauffälligkeiten sowie typischen Verhaltensmustern aus dem Autismus-Spektrum. Mithilfe zahlreicher Fortbildungen bildete sie sich zur Autismus-Therapeutin weiter und entwickelte das Therapiekonzept Komm!ASS®, das sie seit 2012 in regelmäßigen Fortbildungen lehrt. Ziel des Konzeptes ist es, den Kindern die Freude an der Interaktion und am kommunikativen Austausch zu vermitteln. 2017 gründete sie in der Nähe von Heidelberg das Autismuszentrum Komm!ASS® (heute »Autismuszentrum Bergstraße«) und leitete dies mehrere Jahre. Autismus, Wahrnehmung, Interaktion und Kommunikation sind seit Jahren Schwerpunkt ihrer Arbeit und Ausgangspunkt für vielfältige Projekte. Heute ist besonders das Verstehen der besonderen Wahrnehmung von Menschen aus dem Spektrum Inhalt ihrer Arbeit.

Im Kohlhammer Verlag ist von Ulrike Funke bereits erschienen: Interaktion und Kommunikation bei Autismus-Spektrum-Störung (Februar 2020) Weitere Infos unter: www.fobi-komm-ass.de oder www.ulrike-funke.de

Ulrike Funke

Kinder im Autismus-Spektrum verstehen und unterstützen

Ein Wahrnehmungswegweiser für Eltern und Begleitende

Verlag W. Kohlhammer

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Illustriert mit Zeichnungen von Ulrike Funke und Yvonne Fabian

 

 

 

 

 

1. Auflage 2023

 

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

 

Print:

ISBN 978-3-17-041826-4

 

E-Book-Formate:

pdf:        ISBN 978-3-17-041827-1

epub:     ISBN 978-3-17-041828-8

Geleitwort

Von Gee Vero

Liebe Leserin, lieber Leser,

Autismus ist (m)eine andere Wahrnehmung und genau dort, bei dieser Wahrnehmung, liegen viele der Gründe, die letztendlich zu (m)einem autistischen Sein führen. Wahrnehmung ist immer subjektiv. Obwohl wir Menschen ganz viel gemeinsam haben, unterscheiden wir uns erheblich darin, wie wir die Welt um uns herum wahrnehmen. Unsere Wahrnehmung ist die einzige Realität, die wir kennen. Es ist unsere Wahrnehmung, auf die wir mit unserem Verhalten reagieren. Bei nicht-autistischen Menschen scheint sich die Wahrnehmung entweder zu gleichen oder es gelingt ihnen, ihr Verhalten trotz Unterschieden aufeinander abzustimmen oder anzupassen. Autistischen Menschen gelingt dies nicht so gut oder auch gar nicht. Je mehr Leistung und Anpassung die Gesellschaft verlangt, desto mehr fallen AutistInnen auf und desto schneller geraten sie in ein Abseits, in dem sie gar nicht stehen wollen. Autistische Menschen und ihre andere, ganz besondere Wahrnehmung zu verstehen, wird vielleicht gar nicht möglich sein. Keiner von uns kann einem anderen Menschen seine Wahrnehmung so erklären, dass dieser sie wirklich verstehen und kennen kann. Wenn ich Ihnen sage, dass ich Orange schön finde, dann wissen Sie nur, dass ich Orange schön finde. Aber Sie werden nie wissen, wie sich schön für mich anfühlt. Geschweige denn, wie es sich für mich anfühlt, wenn ich genau diese Farbe sehe. Selbst dann, wenn Sie alles über Farben und speziell Orange wissen, wird Ihnen meine Wahrnehmung verborgen bleiben. Und schön gibt es auch nicht. Es gibt auch kein gutes Buch, aber Sie können ein Buch gut finden. Das ist Ansichtssache, sprich Wahrnehmung.

Um autistische Menschen verstehen zu können, müssen Sie Wahrnehmung(en) verstehen. Und um Wahrnehmung zu verstehen, brauchen Sie dieses Buch. Das ist jedenfalls meine Wahrnehmung. Ich bin selbst autistisch und habe einen autistischen Sohn. Ich beschäftige mich seit meiner Diagnose intensiv mit dem Thema Wahrnehmung. Einen solchen Wahrnehmungswegweiser habe ich mir schon lange gewünscht. Ulrike Funke gelingt es, das große und komplexe Thema Wahrnehmung anhand gut strukturierter Kapitel zu den einzelnen Wahrnehmungsbereichen für jede Leserin und jeden Leser (be)greifbar zu machen. Damit leistet sie einen entscheidenden Beitrag für das Verständnis von Autismus und autistischen Menschen. Dank einer Vielzahl von Fallbeispielen und Zitaten autistischer Menschen gelingt Ulrike Funke der wirklich schwierige Spagat zwischen Autismus, einer besonderen Wahrnehmung und Wahrnehmungsverarbeitung und dem Autismus des Einzelnen. In diesem Buch stehen der autistische Mensch und seine Bedürfnisse im Vordergrund. Liebe Leserin, lieber Leser, mit diesem Buch bekommen Sie einen Werkzeugkoffer an die Hand, den sie je nach Bedarf und Situation individuell bestücken können. Sie werden mit allen Werkzeugen vertraut gemacht und können so die dringend benötigten Brücken bauen, die autistischen Kindern den Schritt zur Teilhabe ermöglichen können. Egal, ob als Eltern, BetreuerInnen, LehrerInnen, TherapeutInnen – dieses Buch ist ein Muss für alle die, die autistische Kinder ein Stück weit auf ihrem Weg begleiten und in ihrem anderen Sein verstehen und unterstützen möchten. Auch das ist nur meine Wahrnehmung, aber ich bin mir sicher, dass Sie mir nach der Lektüre des Buches mit ganzem Herzen zustimmen werden.

Herzlichst

Ihre Gee Vero

Inhalt

Geleitwort

Vorwort

Herzlichen Dank!

1         Einführung

1.1      Was ist Autismus?

1.2      Jede Wahrnehmung ist einzigartig

1.3      Eine ganz besondere Wahrnehmung

2         Autismus neu begegnen

2.1      Blickpunktwechsel

2.2      Den Wahrnehmungsbesonderheiten begegnen

3         Die Sinnessysteme

3.1      Die vestibuläre Wahrnehmung (Gleichgewicht)

3.2      Die propriozeptive Wahrnehmung (Körperspannung und Bewegung)

3.3      Das viszerale Wahrnehmungssystem (Spüren der inneren Organe)

3.4      Die taktile Wahrnehmung (Tasten und Spüren über die Haut)

3.5      Die thermische Wahrnehmung

3.6      Die Schmerzwahrnehmung

3.7      Die olfaktorische Wahrnehmung (Riechen)

3.8      Die gustatorische Wahrnehmung (Schmecken)

3.9      Die auditive Wahrnehmung (Hören)

3.10    Die visuelle Wahrnehmung (Sehen)

3.11    Fazit zu den Besonderheiten der Sinnessysteme

4         Monowahrnehmung und komplexe Reizverabeitung

4.1      Monowahrnehmug

4.2      Komplexe Wahrnehmungsverarbeitung ermöglichen

5         Den Alltag gestalten

5.1      Alltagssituationen unterstützen, verändern und Neues anbahnen

5.2      Der Tagesablauf

5.3      Freitzeit mit der Familie

5.4      Musikangebote

5.5      Sportangebote

5.6      Lernsituation und Tagesbetreuung

5.7      Fazit zur Alltagsgestaltung

6         Materialbörse

7         Nachwort

Literatur

Vorwort

Eltern von Kindern mit Autismus, Begleitende im Alltag und TherapeutenInnen sehen sich täglich vielen Herausforderungen gegenüber. Besonders in Gesprächen mit Eltern ist häufig zu hören, dass sie ihre Kinder besser verstehen möchten, um in den verschiedenen Situationen »richtig« oder passend zu reagieren und sie zu unterstützen.

Auch für die Betroffenen selbst ist die Erkenntnis, was ihnen den Alltag erleichtert und wie ein positiver Austausch mit dem Gegenüber gelingen kann, oft erst nach vielen Misserfolgen und teils schmerzhaften Erlebnissen möglich. Viele, besonders schwer kognitiv beeinträchtigte Menschen, ziehen sich deshalb in ihrem Alltag zunehmend zurück und vermeiden jegliche Interaktion.

Der vorliegende Ratgeber basiert auf den neueren, wissenschaftlichen Erkenntnissen, dass Autismus-Spektrum-Störungen Besonderheiten der Wahrnehmungs- und Wahrnehmungsverarbeitung sind. Es ist eine umfangreiche Sammlung von beobachtbaren Aktivitäten und Regulationsmechanismen, deren Bedeutung sowie darauf aufbauend Hilfe- und Antwortmöglichkeiten. Die Angebote haben dabei stets das Ziel, die Lebensqualität der Familien zu verbessern und ein freudvolles und entspanntes Miteinander von Menschen mit und ohne Autismus zu ermöglichen.

Das vorliegende Buch kann keine therapeutische Begleitung ersetzen, es soll diese vielmehr unterstützen und idealerweise darin eingebunden werden. Es soll Familien in ihrem Alltag begleiten und in besonders herausfordernden Lebensabschnitten und belastenden Situationen unterstützen. Grundlage für dieses Buch ist das Therapiekonzept Komm!ASS®, welches ich seit vielen Jahren in Fortbildungen und Vorträgen an TherapeutenInnen und Interessierte weitergegebe.

Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Lesen und Verstehen!

 

Herzlichst Ulrike FunkeHirschberg, Herbst 2022

Herzlichen Dank!

Danke an meine Eltern, die es mir vor vielen Jahren ermöglicht haben, den Beruf der Logopädin zu erlernen, welches der erste Schritt auf dieser spannenden Reise war.

Danke an Anke, Julia, Silke, Södje, Frank, … all meine KollegInnen und WegbegleiterInnen in meiner Praxis, im persönlichen Austausch, per E-Mail sowie in den sozialen Medien. Ihr unterstützt und inspiriert mich bei der aktiven Arbeit, damit ich Luft, Energie und Ideen für Fortbildungen, Veröffentlichungen, Studien und neue Projekte habe.

Danke an Dorothee, die zur Zeit an einem Instrument arbeitet, um die Fortschritte der Kinder messbar und somit wissenschaftlich feststellbar zu machen. Danke an Constanze, die mit ihrer Einzelfallstudie, die um Jahre verspätete Entwicklung eines älteren Klienten darstellt und so die Wirksamkeit dieses Ansatzes verdeutlicht.

Danke Yvonne für das Übertragen und Mitgestalten der Zeichnungen, ich war stets aufs Neue erstaunt, was du aus meinen Skizzen gemacht hast. Danke Monika fürs erste Korrekturlesen. Danke an den Kohlhammer Verlag, dass ich dieses praxisnahe Buch veröffentlichen darf und besonders für den Vorschlag des Buchtitels – er ist genau richtig! Danke an meine Lektorin Frau Kastl.

Danke, an alle Kinder, ihre Eltern und Begleitende für das Vertrauen, sich auf mich/uns einzulassen, gemeinsam das Abenteuer Interaktion zu erleben und neue Wege zu gehen. Danke für die Bereitstellung von Fotos und Videomaterialen für Vorträge, Fortbildungen und Forschung. Danke für die unzähligen Erlebnisse und Geschichten, für all die Berichte über Schwierigkeiten und Erfolge, besonders über die Rückmeldungen auf die zum Teil unkonventionellen Stimulationen.

Danke an Gee, mit der ich mich gerade in den vorangegangenen Wochen intensiv austauschen konnte, deine Innen- und Außenansichten in Bezug auf dich und auf deinen Sohn Elijah. Du hast mich noch einmal zusätzlich bestärkt und ich freue mich sehr über deine einleitenden Gedanken.

Und noch einmal und immer wieder einen besonderen »Dank« an meinen Mann Peter, der mich mit seiner ruhigen Art erdet, unterstützt und motiviert; der es mir ermöglicht, ganz viel von dem zu machen, was ich liebe, und der stets an mich glaubt.

1

Einführung

1.1       Was ist Autismus?

Autismus ist eine komplexe und vielgestaltige neurologische Entwicklungsstörung. Häufig bezeichnet man Autismus bzw. Autismus-Spektrum-Störungen auch als Störungen der Informations- und Wahrnehmungsverarbeitung, die sich auf die Entwicklung der sozialen Interaktion, der Kommunikation und des Verhaltensrepertoires auswirken. (Autismus Deutschland, e. V., 2021, Absatz 1)

Das Spektrum Autismus zeigt sich durch eine Vielzahl von Symptomen wie u. a. Auffälligkeiten im sozialen Austausch, einem eingeschränkten Blickkontakt, fehlender gemeinsamer und geteilter Aufmerksamkeit und möglicher Sprachentwicklungsstörung, Auffälligkeiten in der motorischen und sensorischen Entwicklung, wie besonderen Interessen und Aktivitäten, häufiger Abwehr von Berührungsangeboten, selbst- und fremdverletzendem Verhalten sowie Schwierigkeiten bei der Nahrungsaufnahme. Diese und weitere Besonderheiten sind unterschiedlich stark ausprägt und variieren, je nach Tagesform oder Entwicklungsstand.

Die gemeinsame Ursache für das vielfältige Erscheinungsbild Autismus ist eine »andere« Wahrnehmung und Wahrnehmungsverarbeitung. Die vielfältigen (Verhaltens-)Auffälligkeiten sind somit nicht nur verschiedene, beobachtbare Symptome eines Störungsbildes, sondern eine Folge der anderen Wahrnehmung. So zeigt ein Kind zum Beispiel deshalb keinen Blickkontakt und auch keinen wechselseitigen Austausch, da das Ein- und Ausschalten der Lampe, das Spiel mit einem Leuchtkreisel oder auch die eigenen Hände viel spannender sind als das Gesicht des Gegenübers. Ein Kind mit Auffälligkeiten bei der Nahrungsaufnahme nimmt zum Beispiel lieber Steine, anstatt ein Brötchen in den Mund, da diese geschmacklich sowie auch von der Spürinformation intensiver sind als das Gebäck. Die merkwürdig anmutenden Bewegungen, wie ein Flattern der Hände oder ein ständiges Wiegen des Oberkörpers, sind ebenfalls nicht nur ein typisches Merkmal im Autismus, sondern für Betroffene eine gezielte Aktivität, mit der sie versuchen sich zu regulieren, bedingt durch ihre besonderes Körperempfinden. Wenn es gelingt, den Blick auf das unterschiedliche Wahrnehmen und Erleben von Menschen mit und ohne Autismus zu lenken, wird auch ein besseres gegenseitiges Verstehen möglich.

1.2       Jede Wahrnehmung ist einzigartig

Informationen über den eigenen Körper und die Umwelt werden mithilfe der Sinnesorgane aufgenommen, an das Gehirn weitergeleitet und dort verarbeitet. Dieser Prozess wird als Wahrnehmung bezeichnet, er ist individuell unterschiedlich und unterliegt zudem großen Schwankungen, je nach aktueller Befindlichkeit und situativen Bedingungen.

Welche Farben werden favorisiert, in welcher Lautstärke ist Musik angenehm? Welche Berührungen lösen ein Wohlbefinden, welche Abwehr oder Schmerz aus? Die Antworten darauf sind sehr unterschiedlich. Es ist möglich, dass der gleiche taktile Reiz bei zwei Menschen ganz andere Reaktionen hervorruft, wie das Spüren von Wolle auf der Haut oder ein Bündchen an einem Shirt. Auch in Bezug auf Gerüche erfolgen Bewertungen oft unterschiedlich: Manche Menschen können den Geruch von Desinfektionsmittel in einem Krankenhaus oder von Zigaretten kaum ertragen, andere nehmen ihn bei gleicher Intensität nicht oder kaum wahr.

Jede Wahrnehmung ist einzigartig! Jeder Mensch hat seine speziellen Vorlieben und Abneigungen. Wir nehmen täglich bewusst oder unbewusst eine Vielzahl von Informationen auf, welche von uns verarbeitet und miteinander verknüpft werden. Ob eine bestimmte Informationen Beachtung findet, ob sie bedeutungstragend ist, welche weitere Handlungen bzw. Reaktionen folgen, ist individuell und hängt unter anderem auch damit zusammen, ob es schon negative oder positive Erfahrungen dazu gibt.

Die Wahrnehmung und Wahrnehmungsverarbeitung kann sich zudem in besonders belastenden Situationen oder in deren Folge nochmals verändern. Während oder kurz nach einer erlebten Krankheit oder bei Migräne-Attacken sind Über- und Unterempfindlichkeiten in Bezug auf (bestimmte) Licht-, Geräusch- oder Berührungsimpulse beobachtbar. Aber auch nach einem Unfall oder auch in Zusammenhang mit weiteren psychischen Erkrankungen wie Depressionen, Traumata oder Borderline-Störungen zeigen sich Wahrnehmungsbesonderheiten. Scheinbar harmlose Stimuli wie ein plötzlich auftretendes Geräusch oder ein bestimmter Geruch werden zu Stressfaktoren und führen zu einer Überlastung der Systeme. Andere Reize aus der Umgebung werden dagegen kaum wahrgenommen, wie eine leichte Berührung oder Zuspruch von außen. Teilweise sind Betroffenen in diesen Situationen auf der Suche nach besonders intensiven und zum Teil selbstverletzenden Impulsen, oder sie vermeiden jeden weiteren Stimulus und verfallen in Passivität. Auslöser und Ausprägung der Wahrnehmungsauffälligkeiten können sich im Laufe der Zeit verändern. Mithilfe von Medikamenten, Psychotherapien und auch Körpertherapien können Erregbarkeit, Häufigkeit und Symptome gelindert werden.

Mit dem Wissen um Unterschiede und Übereinstimmungen in Bezug auf Verarbeitung von Sinnesreizen, je nach situativer, körperlicher sowie neurologischer Besonderheiten in den unterschiedlichen Situationen, könnte sich auch das Verständnis für Menschen mit Autismus verbessern. Die Suche nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden in der Reizverarbeitung soll jedoch nicht die Bedeutung der zum Teil schwerwiegenden Beeinträchtigungen von Menschen mit Autismus abschwächen. Autismus ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, verbunden mit einer lebenslangen anderen, ganz besonderen Wahrnehmung und deren weiteren Verarbeitung.

1.3       Eine ganz besondere Wahrnehmung

Nicht anders geht es autistischen Menschen in ihrem Alltag. Sie nehmen nicht nur viel mehr Reize bewusst wahr als nichtautistische Menschen, sondern reagieren auch anders, weil in ihrem Gehirn ein anderes Modell der Welt entsteht, auf das sie dann mit einem anderen, für die Umgebung unerwarteten Verhalten reagieren. […] Sie werden mein Verhalten nicht einordnen können und als komisch oder gar abartig empfinden. Dass es innerhalb meines Systems ein korrektes Verhalten ist, spielt keine Rolle mehr. (Vero, 2014, S. 20–22)

Auch wenn jeder Mensch individuell wahrnimmt und diese Informationen spezifisch weiterverarbeitet, trifft dies im Besonderen auf Menschen aus dem Autismus-Spektrum zu. Die Unterschiede und das daraus folgende Verhalten führen häufig zu Verwunderung, Unverständnis und auch Unmut. In vielen Situationen sollte in Bezug auf die gezeigten Besonderheiten jedoch deutlich mehr Toleranz und Verständnis gezeigt werden, besonders wenn es dadurch zu keiner weiteren Beeinträchtigung oder Verletzung kommt. Was macht es für einen Unterschied, ob jemand zur Beruhigung auf das Meer und einen Sonnenuntergang blickt oder dem Schleudern der Wäschetrommel zuschaut?

Abb. 1.1: Jeder Mensch hat seine eigene Wahrnehmung. Für die einen ist der Blick auf die Wellen am Meer entspannend, für die anderen der Blick auf die sich drehende Wäsche in der Waschmaschine.

Die andere Wahrnehmung bezieht sich auf die Aufnahme, die Speicherung und das Einordnen der Impulse und sie unterscheidet sich in fast allen Bereichen von derer neurotypischer Menschen. Dies zeigt sich in einer Überwie auch Untersensibilität in Bezug auf Sinnesreize, in einer zumeist besonders schnellen Erregbarkeit sowie einer eingeschränkten Regulationsfähigkeit, welches sich u. a. in den vielfältigen Autostimulationen zeigt.

Gegensätzliche Empfindungen, ein Fallbeispiel: Julian, 3,5 Jahre, Down-Syndrom

Julians Vater berichtet folgendes: »Es ist jeden Abend ein Drama, wenn Julian ins Bett gehen soll. Er streicht seine Matratze glatt, schaut, dass auch kein Krümel oder Haar darauf zu finden ist, dann legt er sich hin. Ich decke ihn zu und singe ihm sein Schlaflied. Julian klettert anschließend wieder aus dem Bett, kontrolliert nochmals sein Bettlaken, dann bekommt er seinen Gute-Nacht-Kuss. Nun muss ich für ihn das Bettlaken mehrmals glattziehen und fest unter die Matratze stecken, bis es endlich passt. Wenn wir ihm im Winter ein wärmendes Betttuch anbieten, schreit und schimpft er so lange, bis wir wieder sein altes, glattes aufziehen. Auch das Bettinlett selbst darf nicht gewechselt werden, er bemerkt dies sofort. Wenn ich später nachschaue, ob Julian schläft, ist sein Bett oft leer. Er liegt dann eingerollt, mit seiner Bettdecke, im unteren Fach seines Bücherregals. Dabei scheint es ihn nicht zu stören, wenn dort noch ein Auto oder ein Bauklotz liegen. Es scheint, als gelten hier andere Regeln.«

Ein Erklärungsversuch: Julian zeigt in vielen Bereichen eine starke Überempfindlichkeit bezüglich taktiler Reize. Ein weicher und kuscheliger Schlafplatz bietet ihm kaum spezifische Informationen und verunsichern ihn. Auch Krümel im Bett, eine Falte im Betttuch oder die Erbse unter der Matratze lösen ein Unbehagen aus.

Ideen zur Hilfestellung: Eine besonders feste Matratze, ein extra eingebauter Spalt zwischen Bett und Wand oder der Bettkasten können eine klare Information und somit eine entspannende Grundlage für einen guten Schlaf bilden. Aber auch eine kräftige Massage oder das Abrollen mit einer Schaumstoffrolle über den gesamten Körper vermindert eine vorher erhöhte Anspannung und erleichtern somit das Ein- und Durchschlafen.

1.3.1     Hyper- und Hyposensibilität (Über- und Untersensibilität)

Menschen mit Autismus erleben viele Informationen ihres eigenen Körpers und aus der Umwelt entweder besonders intensiv, oder sie nehmen diese wenig bis gar nicht wahr. Bedingt durch die kaum vorhandenen Abstufungen bezeichnen Betroffene ihr Leben deshalb häufig als »Leben in Extremen«.

Je nach sensorischen Besonderheiten, je nach Situationen oder Tagesform wechselt die Wahrnehmung scheinbar von Über- zu Unterempfindlichkeit. In Bezug auf visuelle Informationen wird zum Beispiel Sonnenlicht als zu hell empfunden; anderseits wendet sich das Kind später einem Blinklicht an einem Spielzeug zu, welches intermittierend leuchtet. In Hinblick auf auditive Impulse werden »normale« Alltagsgeräusche, wie Stimmen in einem Raum, schnell als zu laut und somit unangenehm eingestuft; das Martinshorn an einem Rettungswagen fasziniert jedoch, trotz oder gerade wegen der besonderen Lautstärke und wird sogar ganz nah an das Ohr gehalten. Am nächsten Tag oder auch nur kurze Zeit später kann dies wieder ganz anders wahrgenommen werden und die folgenden Reaktionen sind ebenso ganz anders.

Abb. 1.2: Das Mittagessen wird verweigert, mit Ausnahme von einem bestimmten Brei oder dem Lieblingsjoghurt – bei Aufregung oder Langeweile beißt das Kind jedoch vorzugweise in nicht Essbares, wie einen Schuh oder die Lederhandtasche der Mutter.

Es scheint, als führen vergleichbare Reize zu gegensätzlichen Reaktionen. Die Hypersensibilität einerseits und das stringente Einfordern ähnlicher Impulse andererseits ist für Außenstehende nur schwer nachvollziehbar, da sie nicht der eigenen Wahrnehmung und dem eigenen Empfinden entsprechen. In der Folge kommt es zu Missverständnissen, Unmut, negativer Kommunikation und Ausgrenzungen. Im Laufe des Buches werden einige Besonderheiten der Hyper-/Hyposensibilität mithilfe von Fallbeispielen aufgeführt und ergänzend dazu Ideen zur Hilfestellungen erläutert. Denn die Betrachtung der unterschiedlichen Reaktionen kann helfen, Menschen mit Autismus besser zu verstehen. Es zeigt sich, dass zumeist besonders starke, laute und intensive Reize besser zugeordnet und verarbeitet werden als diffuse, unspezifische Informationen. Wenig prägnante Reize, wie »ein bisschen laut«, »ein wenig Geschmack« oder »eine mittlere Sprechstimme« sind bezüglich Fokussierung und Aufnahme weniger eindeutig und werden abgelehnt oder ignoriert. Welche Informationen die Aufmerksamkeit bündeln, ob diese als angenehm eingestuft und gezielt zur Entspannung ausgesucht werden oder zu einer steigenden Anspannung des gesamten Körpers führen, ist individuell und je nach Situation sehr unterschiedlich.

Abb. 1.3 Leise Geräusche, wie das Ticken einer Uhr, führen teilweise zu einem deutlichen Unbehagen – andere laute Geräusche, wie beim Schlagzeugspiel, nutzt das Kind zur Entspannung.

Gegensätzliche Empfindungen, ein Fallbeispiel: Pia, 5,5 Jahre, Autismus

Pia ist ständig in Bewegung, dabei ist ihr gesamter Körper stark angespannt. Überschießende Bewegungen, Schlagen, Trampeln, Hüpfen und flatternde Armbewegungen sind häufig beobachtbar. Es gibt nur wenige Momente, in denen sie zur Ruhe kommt, dann wechselt ihr Muskeltonus zu vorwiegend hypoton. Sie legt sich lang auf den Boden, lehnt sich beim Laufen gegen die Wand oder sucht Halt bei ihrer Mutter auf dem Arm. In diesen Situationen scheint es, als würde Pia jegliche Bewegungen vermeiden, ihre Aktivitäten sind stark verlangsamt, für jede Veränderung der Körperposition benötigt sie eine besondere Aufmerksamkeit. Nach einiger Zeit wird Pia wieder aktiver, dann jedoch erneut in Form der Hypertonie. Teilweise erfolgt die Umkehr vom einen in den anderen Spannungszustand innerhalb kürzester Zeit.

Nur in der Reittherapie, wenn Pia auf dem Pferd sitzt, ist ihre Körperspannung ausgeglichen, die Körperhaltung ist aufrecht, die Bewegungen sind flüssiger. Erst einige Stunden nach der Therapie steigt Pias Anspannung wieder an, und sie zeigt die oben beschriebenen Bewegungen.

Ein Erklärungsversuch: Eine eutone (ausgeglichene) Körperspannung ist für Pia kaum möglich. Eine leichte Anspannung der Muskulatur, ein vorsichtiger Zug oder Druck gelingen kaum. Sie kann iher Muskulatur nur stark anspannen oder kaum aktivieren. Die Übergänge sind dabei abrupt, auch bedingt durch die Erschöpfung. So sind gezielte Bewegungen nur bei ausreichender Motivation und über eine kurze Zeitspanne möglich. Besonders vielfältiges Lernen und eine ausgeglichene Kommunikation sind jedoch weder in Überaktivität noch bei Passivität möglich.

Ideen zur Hilfestellung: Bewegungsangebote, in denen Pia ihre Muskulatur und ihren Körper gut spüren kann, können ihr helfen, Spannungen und Bewegungen gezielter und bewusster zu beeinflussen. Reittherapie, Schwimmen oder Springen auf dem Trampolin sollten im Alltag und in der Therapie immer wieder angeboten werden.

Das häufige »Zuviel« an unangenehmen oder diffusen Reizen, aber auch das »Zuwenig« an guten, beruhigenden Impulsen führt bei Menschen mit Autismus zu einer zumeist erhöhten Anspannung und einer starken Erregbarkeit in ihrem Alltag. Dies verstärkt sich nochmals in komplexen, unstrukturierten und unvorhersehbaren Situationen, in denen unter anderem mehrere Wahrnehmungsbereiche und -impulse miteinander verknüpft werden müssen, wie zum Beispiel in der Interaktion. Erregung und somit auch der Körpertonus steigen hier nochmals an.

1.3.2     Hypertonie und Hypotonus – Erregbarkeit und Regulation

Das Gehirn mit seinem zentralen Nervensystem steuert eine Vielzahl an Körperprozessen. Einige können gezielt beeinflusst werden, auf andere haben wir keinen Zugriff. Herzschlag, Blutdruck, Schweißabsonderung oder die Tätigkeiten des Verdauungstraktes werden vom autonomen Nervensystem gesteuert. In besonders herausfordernden Situationen reagiert der Körper des Menschen mit verschiedenen, sich bedingenden Prozessen. Dabei hat das autonome oder vegetative Nervensystem, welches aus Sympathikus und Parasympathikus besteht, eine besondere Bedeutung.

Wenn Gefahr droht, wird das sympathische System aktiviert, damit der Körper mit Flucht oder Kampf auf die bedrohliche Situation reagieren kann. Dazu wird unter anderem Adrenalin (ein Stresshormon) ausgeschüttet: Das Herz schlägt schneller, die Atmung verkürzt sich, jetzt kann vermehrt Blut in die Arme und Beine transportiert werden, um für die anstehenden Aktivitäten Sauerstoff und Energie zur Verfügung zu haben. Die zusätzliche Ausschüttung von Cortisol (ein weiteres Stresshormon) sorgt dafür, dass verschiedene notwendige Stoffwechselvorgänge aktiviert werden, damit der Körper ausreichend Energie zur Verfügung gestellt bekommt. Bei einem weiteren Anstieg der Erregung zeigen sich zusätzliche Körpersignale, wie eine Veränderung der Pupillengröße, aber auch vermehrtes Schwitzen, mögliches Zittern oder gar Erstarren. Körperfunktionen, die in diesem Überlebensmechanismus unwichtig sind, werden heruntergefahren, dazu gehören z. B. die Verdauung und das Immunsystem. Die gesteigerte Aktivität des Erregungssystems und somit des Sympathikus verändert auch die Wahrnehmung. Die Fokussierung auf eine mögliche Gefahr verstärkt sich, einzelne visuelle oder auditive Informationen werden intensiver wahrgenommen sowie schneller verarbeitet. Das Nervensystem ist in dieser Notsituation voll ausgelastet.

Andere scheinbar unwichtige oder ablenkende Informationen werden nicht oder nur stark verlangsamt weitergeleitet. Das Schmerzempfinden ist in diesen Situationen deutlich herabgesetzt, um einen möglichen Kampf oder eine Flucht nicht zu beeinträchtigen; auch Hunger-, Durst- oder Sättigungsgefühl sind vermindert. Multimodale Fähigkeiten können in diesen Situationen nicht oder nur eingeschränkt abgerufen werden. Lernen ist deshalb in diesen Situationen ebenfalls kaum möglich und findet höchstens im Rückblick, mit etwas Abstand, statt. Erst dann können einzelne Informationen (ein-)geordnet, miteinander verglichen und bewertet werden.

Wenn die Erregung sich wieder verringert bzw. auch in entspannten und wohltuenden Situationen wird das parasympathische System aktiv, zusätzlich beeinflussbar von den Glückshormonen, wie dem Serotonin. Mithilfe von gezielten Atem- oder Bewegungsübungen und somit durch Aktivierung des Parasympathikus kann eine Entspannung gezielt unterstützt und gleichzeitig der Gegenspieler, der Symphatikus, gehemmt werden. Die Atmung und der Herzschlag werden ruhiger, die Blutgefäße weiten sich, was teils als Kribbeln oder Wärmegefühl spürbar ist. Die Muskelspannung in den Extremitäten nimmt ab, sodass das Blut nun wieder für die Verdauung von Nahrung und zur Stabilisierung des Immunsystems zur Verfügung gestellt werden kann. Die Wahrnehmung verändert sich dahingehend, dass eigene körperliche Bedürfnisse wieder gespürt werden können, wie Hunger, Durst, der Wunsch nach (langsamer) Bewegung oder Pausen. Verschiedene Außenreize werden wahr- und aufgenommen, wie das Singen der Vögel, eine sanfte Berührung oder Zuspruch des Gegenübers. Mehrere Informationen können miteinander verglichen und verknüpft werden, logisches Denken sowie Lernen sind wieder möglich.

Damit es zu keiner dauerhaften Überlastung von körperlichen und neuronalen Funktionen kommt, ist ein Gleichgewicht zwischen Anspannung und Entspannung notwendig. Lernen und Weiterentwicklung sind nur möglich, wenn sich Aktivität und Erholung abwechseln. Deshalb ist besonders in herausfordernden Situationen, in einem turbulenten Alltag das gezielte und regelmäßige Anwenden von Entspannungstechniken hilfreich. Im medizinischen, psychischen, wie auch im pädagogischen Bereich findet diese Erkenntnis zunehmend Beachtung und wird unterstützend angewandt.

Für Menschen mit Autismus, deren Wahrnehmung bereits »besonders« ist, sind die beschriebenen Veränderungen im Erregungszustand nochmals bedeutender. Eine Aktivierung des Sympathikus erfolgt bereits frühzeitig, für Außenstehende bei scheinbar nur geringen Anforderungen: Das bereits verminderte Körpergefühl verschlechtert sich nochmals, objektives und besonnenes Handeln sind, auch wenn dies vorher in ausgesuchten Situationen abrufbar war, nicht mehr möglich. Ein Kontakt nach außen, um Hilfen oder beruhigende Worte anzunehmen, findet nicht (mehr) statt. Hält die Bedrohung über einen längeren Zeitraum an oder steigt die Anspannung weiter, führt dies zu einem Overload oder Meltdown, welcher sich durch Schreien, Toben, Selbst- oder Fremdverletzungen oder auch in Form einer völligen Regungslosigkeit, einer Art Körperstarre, zeigt. Die Verbindung zwischen negativ, wie auch positiv erregenden Stimulationen in Bezug auf Beziehungsfähigkeit, dem Lernen oder auch einer Übererregung und einem möglichen Meltdown werden in Abbildung 1.4 aufgezeigt.

Um die oft dauerhaft erhöhte Anspannung zu regulieren, um einen Overload und besonders einen Meltdown zu verhindern, sollten gezielte Wechsel zwischen An- und Entspannung möglich werden. Für Menschen mit Autismus sind die bekannten Entspannungstechniken dazu jedoch nur bedingt einsetzbar. Durch das bereits verminderte Körperempfinden und die vorhandene Hyper-/Hyposensibilität können die meisten Übungen entweder nicht wie gewünscht durchgeführt werden, mögliche Veränderun-

Abb. 1.4: Schema zu Stimulation, Reizsetzung und möglichen Reaktionen

gen werden nicht wahrgenommen oder aber als unangenehm eingestuft und folgend abgelehnt.

Die Angebote könnten jedoch so umgestaltet werden, dass diese für Menschen mit Autismus (positiv) spürbar sind. Schwingen auf einem Trampolin, ein von rechts nach links Drehen des Oberkörpers auf einem Drehstuhl oder ein Liegen, bäuchlings auf einem Pezziball, führen zu einer Mobilisation der inneren Organe, zu einer Vertiefung der Atmung und regen damit das parasympathische System an. Viele Erkenntnisse aus dem Bereich vestibuläre, viszerale und propriozeptive Wahrnehmung in den Kapiteln 3.1 bis 3.3 eignen sich zur Erstellung eines individuellen Bewegungs- und Entspannungsprogramms (Kap. 3.1–3.3).

Zusätzlich hilft jede freudvolle Begegnung, jedes laute Lachen bei der Bildung der Glückshormone, wie Serotonin und Dopamin, und verringert somit auch die gesamtkörperliche Anspannung. Wenn langfristig zudem eine Verbesserung der eigenen Körperwahrnehmung gelingt, könnten auch weitere Übungen anwendbar sein. Zum Beispiel die geführten Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung bei der »Muskelrelaxation nach Jacobsen«, entsprechend der hyper-/hposensiblen Wahrnehmung von Menschen mit Autismus. Aber auch kraftvolle Yoga-Sequenzen oder Bewegungsabläufe aus dem Qigong können den Körper mobilisieren und gleichzeitig Anspannung verringern.

Gut zu wissen: Der Vagusnerv

Der Vagusnerv gehört dem parasympathischen System an. Er ist der längste Nerv, welcher im Gehirn ansetzt und vom Auge, am Kehlkopf vorbei, durch den gesamten Oberkörper verläuft. Er ist mit den meisten Organen unmittelbar verbunden. Er kontrolliert unter anderem den Blutzucker, die Atmung, die Herzfrequenz, die Ausschüttung von Verdauungssäften und Tränenflüssigkeit.

Um diesen Zustand [von sozialer Zugewandtheit] zu erreichen, müssen wir uns sicher fühlen, es darf keinen Grund zur Bewältigung oder Vermeidung einer Bedrohung von außen durch Kampf oder Flucht geben, und wir müssen körperlich gesund sein. […] Der vordere Vagus-Ast fördert gemeinsam mit den anderen vier dazugehörigen Hirnnerven Ruhe und Erholung und er stellt sicher, dass die physiologischen Voraussetzungen für eine optimale körperliche und seelische Gesundheit, Freundschaft, gemeinsames Arbeiten, gegenseitige Unterstützung, die Eltern-Kind-Bindung und liebevolle Beziehungen gegeben sind. (Rosenberg, 2018, S. 87)

Mithilfe von verschiedenen Impulsen kann der Vagusnerv gezielt aktiviert werden und somit Entspannung ermöglichen. Empfohlene Übungen sind Dreh- und Dehnungsübungen für Kopf- und Halswirbelsäule, (Druck-)Massagen im Bereich der Augen und der gesamten mimischen Muskulatur, Aktivierung des Kehlkopfes und der beteiligten Muskulatur (u. a. durch lautes Tönen und Singen), Dehn- und Mobilisierungsübungen für die inneren Organe, besonders des Zwerchfells.

Bei stark wahrnehmungsbeeinträchtigten Menschen sind häufig entsprechende Autostimulationen zu beobachten: Das Eindrücken des Augapfels, Druck oder Klopfen gegen Kinn, Kehlkopf sowie der Brust, teilweise mit gleichzeitigem Tönen oder lautes Rufen oder Lachen. All diese Aktivitäten könnten auf eine direkte Anregung des Nervus Vagus und somit des parasympathischen Systems hindeuten. Für die Betroffenen wäre das gezeigte Verhalten somit eine gezielte Regulationsmöglichkeit. Ein Verbot dieser Stimuli oder eine körperliche Fixierung, um diese zu unterbinden, sollte deshalb unbedingt vermieden werden.

Ziel sollte vielmehr eine Lenkung und Begleitung dieser Aktivitäten sein, sodass die Regulationsmechanismen aufrecht erhalten werden können, jedoch ohne zu verletzen und zugleich als positiver Austausch erlebbar. Dazu bieten sich Vibrationsmassagen im Gesichtsbereich an, den Bereich um das Auge eingeschlossen, im Hals und Brustraum sowie Aktivitäten, welche intensiv das Zwerchfell aktivieren (wie lautes Lachen, gemeinsames Brummen und Tönen, Hüpfen oder Stampfen). Angebotene Variationen der Angebote vermindern den Gewöhnungseffekt (Habituation) und sind deshalb auch bei geringerer Intensität wirksam.

Um Menschen mit Autismus im Alltag zu begleiten und zu unterstützen, sind einerseits Impulse nötig, welche die bereitgestellte Energie (Hypertonus) abbauen und das Entspannungssystem direkt unterstützen. Andererseits sollten passende Aktivierungen erfolgen, um eine zu geringe Spannung (Hypotonus) aufzubauen. Betroffene zeigen mit den beobachtbaren Autostimulationen eben diese Interventionen, mit dem Ziel einer ausgeglicheneren Körperspannung.

1.3.3     Stimming, Autostimulationen

Wenn der Alltag stets anstrengender, verwirrender und (teils) nicht mehr zu bewältigen scheint, steigt die Anspannung im Körper an. Um dieser entgegenzuwirken, benötigen Betroffene wiederholende und oft gleichbleibende Handlungen, das Stimming oder auch die Autostimulation. Es dient der Regulation von Stresssymptomatik, kann jedoch auch Aufnahme und Verarbeitung der verschiedenen Sinnesreize verbessern.

Monotone Handlungen und Stereotypien sind weit mehr als nur Kennzeichen der Autismus Diagnose. Es sind Handlungen, die Betroffenen helfen, Stress abzubauen und einer Reizüberflutung entgegenzuwirken. Sie sollten entsprechend wahrgenommen werden und Beachtung finden. (Miller, 2020, S. 49)