Internationale Beziehungen - Christian Tuschhoff - E-Book

Internationale Beziehungen E-Book

Christian Tuschhoff

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Beschreibung

Dieses Buch führt in Internationale Beziehungen als Teilgebiet der Politikwissenschaft ein. Es vermittelt Grundwissen und trainiert die analytischen Fähigkeiten. Es erläutert anschaulich und verständlich die wesentlichen Grundbegriffe Internationaler Beziehungen. Neben einer Übersicht über Theorien und deren analytische Anwendung stehen Kernfragen im Zentrum: Die Beantwortung der Fragen beginnt jeweils mit einem konkreten Einzelfall, Ereignis oder Erlebnis, aus dem die gesellschaftliche Relevanz der Kernfrage hervorgeht. Zu den behandelten Kernfragen gehören die Ursachen und Folgen von Krieg und Frieden, Armut und Reichtum, Handels- und Finanzkrisen, die Entstehung und Einhaltung von Menschenrechten sowie Ursachen und Folgen von Migration und Umweltverschmutzung. Die Beantwortung folgt einem einheitlichen Analyseschema, das somit eingeübt wird. Es beruht auf dem Zusammenwirken von Interessen, Institutionen und Interaktionen. Studierende lernen hierdurch, das Musterhafte an Internationalen Beziehungen zu erkennen, zu erforschen und zu erklären. Analytische Fähigkeiten werden durch Lernkontrollfragen und Übungen erworben, die flexibel einzeln, in Gruppen oder in ganzen Seminaren durchgeführt werden können. Ziel ist, sich schnell in ein neues Forschungsgebiet einzuarbeiten und sich dort zu orientieren. Das Buch eignet sich besonders als Begleittext für Vorlesungen und Seminare in Bachelor-Studiengängen. Studierende werden einerseits auf Prüfungen im Haupt- und Nebenfach vorbereitet und andererseits zu eigenständigem Forschen für Seminar- und B.A.-Arbeiten angeleitet.

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utb 4335

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Christian Tuschhoff

Internationale Beziehungen

UVK Verlagsgesellschaft mbH • Konstanz mit UVK/Lucius • München

Zum Autor:

Christian Tuschhoff lehrt als Privatdozent Internationale Beziehungen an der Freien Universität Berlin. Zuvor arbeitete er u.a. an der Harvard University (Cambridge, MA), der Emory University (Atlanta, GA), den Universitäten Frankfurt/Main und Mainz sowie als Gastdozent an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin, der Waseda University, Tokyo und dem Staatlichen Institut für Internationale Beziehungen (MGIMO) in Moskau.

Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 2015

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Einbandmotiv: © JWMD – fotolia / © AndreasBaba – fotolia

Lektorat: Verena Artz, Bonn

Satz und Layout: Claudia Wild, Konstanz

UVK Verlagsgesellschaft mbH

Schützenstr. 24 · D-78462 Konstanz

Tel.: 07531-9053-0 · Fax 07531-9053-98

www.uvk.de

UTB-Band Nr. 4335

ISBN eBook 978-3-8463-4335-7

eBook-Herstellung und Auslieferung:Brockhaus Commission, Kornwestheimwww.brocom.de

Inhalt

Vorwort

1 Was sind Internationale Beziehungen?

1.1 Der Gegenstand Internationale Beziehungen

1.2 Rätsel und ihre Lösungen

1.3 Der Analyserahmen: Interessen, Interaktionen, Institutionen

2 Großtheorien Internationaler Beziehungen

2.1 Neorealismus

2.2 Institutionalismus

2.3 Liberalismus

2.4 Konstruktivismus

3 Krieg und Frieden – Verteilungskonkurrenz und -konflikt

3.1 Friedliche Streitbeilegung oder Krieg?

3.1.1 Verteilungskonflikte als Kriegsursache

3.1.2 Interaktionsprobleme als Kriegsursache

3.1.3 Mangelnde Glaubwürdigkeit und Nicht-Einhaltung als Kriegsursachen

3.2 Geographische Verteilung von Kriegen

3.3 Kriegsverhinderung und friedliche Konfliktregelung

3.4 »Alte« und »neue« Kriegsformen

3.4.1 Innerstaatliche oder Bürgerkriege

3.4.2 Terrorismus

4 Der demokratische Frieden — ein Januskopf

4.1 Die Klärung der konzeptionellen Grundlagen: Demokratie und Krieg

4.2 Erklärungen für die dyadische Variante

4.2.1 Rationalistische und institutionalistische Erklärungen

4.2.2 konstruktivistische Erklärungen

4.3 Die Debatte über die monadische Variante

4.4 Politische Praxis und Antinomien des demokratischen Friedens

5 Internationale Handelspolitik — Wohlstand durch Effizienzgewinn

5.1 Freihandel: Wohlstandsgewinn durch Arbeitsteilung und Austausch

5.2 Worauf spezialisieren sich einzelne Länder?

5.3 Hürden für den internationalen Freihandel

5.3.1 Sicherheitspolitische Hindernisse

5.3.2 Innenpolitische Hindernisse

5.3.2.1 Innenpolitische Institutionen und Handelspolitik

5.3.2.2 Durchsetzungskraft von Interessengruppen

5.4 Strategische Interaktion von Staaten

6 Internationale Finanzbeziehungen und Interdependenz

6.1 Internationale Finanzbeziehungen als Kooperation

6.1.1 Konflikte über die Verteilung der Kooperationsgewinne

6.1.2 Direktinvestitionen im Ausland

6.2 Konflikte in internationalen Finanzbeziehungen

6.2.1 Internationale Interdependenz

6.2.2 Innenpolitische Verteilungskonflikte

6.2.3 Internationales Krisenmanagement und der IWF

6.3 Beispiele internationaler Finanz- und Schuldenkrisen

6.3.1 Schuldenkrise in Lateinamerika

6.3.2 Finanzkrise in Südostasien

6.3.2 Weltfinanzkrise

7 Ursachen für Armut und Reichtum in der Welt – Geographie vs. Demokratie

7.1 Armut, Hunger und Unterernährung

7.2 Ursachen für Unterentwicklung und verschiedene Entwicklungspfade

7.2.1 Geographie und klimatische Bedingungen

7.2.2 Innenpolitik, Infrastruktur und öffentliche Güter

7.2.3 Das Erbe des Kolonialismus

7.2.4 Gute Regierungsführung: einschließende vs. ausbeuterische Institutionen

7.2.5 Voreingenommenheit internationaler Organisationen

7.3 Entwicklungsstrategien

7.3.1 Importsubstitution

7.3.2 Exportorientierte Industrialisierung

7.3.3 Die Wirksamkeit von Entwicklungszusammenarbeit

8 Migration — Kooperationsversagen auf unterschiedlichen Analyseebenen

8.1 Was ist Migration?

8.2 Interessen und Konflikte

8.3 Migration als Kooperationsproblem Internationaler Beziehungen

8.3.1 Verteilungsprobleme und mangelnde Rechtsordnung

8.3.2 Asymmetrie und Lastenteilung

8.3.2.1 Kooperation innerhalb der EU

8.3.2.2 Globale Kooperation zum Schutz von Flüchtlingen

9 Menschenrechte — Nicht-Einhaltung von internationalen Normen

9.1 Was sind Menschenrechte?

9.2 Warum werden internationale Vereinbarungen über Menschenrechte abgeschlossen?

9.3 Warum halten Staaten Menschenrechte ein oder verletzten sie?

10 Internationale Umweltpolitik — Probleme kollektiven Handelns

10.1 Was ist internationale Umweltpolitik?

10.2 Aufmerksamkeit: Welche Umweltprobleme gelangen auf die Tagesordnung?

10.3 Erfolge und Misserfolge in der internationalen Umweltpolitik

10.4 Kooperationshindernisse beim Klimaschutz

10.5 Politische Durchsetzungskraft von Umweltsündern

10.6 Kooperationskatalysatoren

10.6.1 Institutionen

10.6.2 Führungskraft und Vorbildfunktion

11 Die Welt von morgen: Konkurrierende Theorien und Visionen Internationaler Beziehungen

11.1 Beschreibungen der internationalen Beziehungen in den Großtheorien

11.1.1 Neorealismus: Staatenwelt im Machtkampf um Sicherheit

11.1.2 Institutionalismus: Kooperationsprobleme bei der Selbstregierung zwischen Staaten

11.1.3 Liberalismus: Konflikt und Kooperation zwischen innenpolitisch geprägten Interessen

11.1.4 Konstruktivismus: Welt aus unterschiedlichen Ideen, Normen und Identitäten

11.1.5 Theorie als Anleitung empirischer Analyse

11.2 Internationale Beziehungen: Gegenwärtige Debatten und Trends

11.2.1 Globalisierung vs. Wettbewerb

11.2.2 »Ende der Geschichte« vs. Zivilisationskonflikte

11.2.3 Staatlichkeit, Staatszerfall und Governance

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Glossar

Namens- und Sachregister

Abbildungs- und Tabellenverzeichnis

Abb. 1.1 Unterschiede: Harmonie, Kooperation, Konflikt

Abb. 2.1 Relative und absolute Verteilung von Kooperationsgewinnen

Abb. 2.2 Distanz als Kooperationshindernis

Abb. 2.3 Abstraktionsebenen von Theoriedebatten

Abb. 2.4 Lebenszyklus von Normen

Abb. 3.1 Krieg vs. Verhandlung

Abb. 3.2 Kriege nach Region

Abb. 3.3 Typen bewaffneter Konflikte

Abb. 4.1 Das Modell des Selektorats

Abb. 5.1 Anteil des Exports an der wirtschaftlichenGesamtleistung ausgewählter Länder (% des BIP)

Abb. 5.2 Anzahl der existierenden regionalen Freihandelsabkommen

Abb. 6.1 Ausländische Direktinvestitionen von Industrieund Entwicklungsländern 1980–2012 (in Mio. US$)

Abb. 6.2 Inländische Bankkredite ausgewählter Ländergruppen 2012 (in % BIP)

Abb. 7.1 Veränderung globaler Armut (Bevölkerungsanteile in %)

Abb. 7.2 Armut 2010 nach Weltregionen (in %)

Abb. 8.1 Migration nach Motiv und Rechtsstellung der Betroffenen

Abb. 9.1 Spiralmodell zur Entstehung und Fortentwicklung von Menschenrechten

Abb. 9.2 Beachtung elementarer Menschenrechte in Weltregionen

Tab. 4.1 Konfliktverhalten politisch relevanter Dyaden zwischen Staaten, 1946–1986

Tab. 7.1 Weltbevölkerung 2012 gruppiert nach volkswirtschaftlicher Leistung

Tab. 7.2 Unterernährung nach Weltregionen

Tab. 7.3 Stimmrechte im Gouverneursrat des Internationalen Währungsfonds seit 2008 und gemäß der Reform 2010*

Tab. 8.1 Anzahl von Migranten sowie Veränderung über Zeit

Tab. 8.2 Schrittfolge und Kriterien zur Prüfung der Zuständigkeit für die Gewährung von Schutz und Bearbeitung von Asylanträgen (Dublin III)

Tab. 10.1 Profile für Umwelt politik

Tab. 11.1 Regierungsformen in Internationalen Beziehungen bei variierender Staatlichkeit

Vorwort

Dieses Buch ist das Ergebnis der Erfahrungen aus meiner langjährigen Lehrtätigkeit im Fach Internationale Beziehungen im In- und Ausland. Diese Tätigkeit begann an der Freien Universität Berlin, an der ich bis heute unterrichte. Sie führte aber auch über viele andere Stationen einschließlich der Kennedy School of Government, Harvard University, der Emory University, der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, der Johann-Wolfgang-von-Goethe Universität Frankfurt, der Alice-Salomon-Hochschule Berlin sowie in geringerem Ausmaß der Waseda University Tokio und der MGIMO University in Moskau. Unterrichten — das haben mich diese Erfahrungen gelehrt — ist weit mehr als der Vortrag desselben Lehrstoffes gegebenenfalls in verschiedenen Sprachen. Unterrichten heute bedeutet Kommunikation mit einer außergewöhnlich großen Vielfalt von Studierenden, deren Bedürfnisse sich nicht nur von Land zu Land, sondern auch über Generationen hinweg erheblich unterscheiden können. Unterrichten ist ein dynamischer Prozess, der verlangt, dass der Lehrende sich jeweils rasch auf die unterschiedlichsten Vorkenntnisse, Bedürfnisse, Sichtweisen und Fragen von Studierenden einstellt. Wer als Lehrender einen Unterrichtsraum betritt, sollte sich auf eines gefasst machen: Überraschungen und Unberechenbarkeit. Keine noch so detailliert geplante Vorlesung oder Seminarsitzung verläuft wie erwartet. Die Welt der akademischen Lehre ist wie die Welt der Internationalen Beziehungen: Gerade wenn man sich entspannt zurückgelehnt hat und denkt, alles verläuft in geordneten Bahnen, passiert etwas Unvorhergesehenes und häufig Verstörendes. Der Unterricht einer immer stärker internationalisierten Studentenschaft gleicht der Vielfalt und den Überraschungen, die Internationale Beziehungen als Teildisziplin der Politikwissenschaft einerseits und als gelebte Realität andererseits bereithalten.

Studierende mögen das gelegentlich als verstörend empfinden: Überraschungen und Unberechenbarkeiten untergraben nicht nur unser Wissen, sondern auch unsere Fähigkeit, uns in einer komplexen Welt orientieren, d. h. zurechtfinden zu können. Noch ärgerlicher: wie kann man eigentlich eine gute Klausur oder eine Hausarbeit schreiben, um mit einer guten Note belohnt zu werden, die eine von vielen Voraussetzungen für eine bessere Zukunft ist? Der bedenklich hohe Anteil von Studienabbrechern in den neuen Studiengängen nach der Bologna-Reform weist darauf hin, dass viele mit dieser Herausforderung nicht zurechtkommen.

Dennoch bleibe ich dabei: Internationale Beziehungen sind wie das Unterrichten in akademischen Einrichtungen — eine Entdeckungsreise. Überraschungen und Unberechenbarkeiten sind zwar sicherlich eine große Herausforderung für alle Beteiligten; sie sind aber gleichzeitig auch eine einzigartige Gelegenheit, Neues zu erfahren sowie sich selbst fortzubilden und weiterzuentwickeln. Herausforderungen und Gelegenheiten halten sich die Waage.

Mir kommt es mit dem vorliegenden Buch darauf an, diese Waage zugunsten von Gelegenheiten zu senken. Seine Leser — seien es Studierende, Lehrende, Journalisten, Experten, politische Praktiker oder andere Interessierte — werden mit auf eine Entdeckungsreise genommen: Was ist das Rätselhafte in Internationalen Beziehungen und wie kann man es auf eine verständliche und nachvollziehbare Weise vermitteln? Mehr noch: Der Leser wird mit einem Rüstzeug befähigt, sich selbst in der komplexen Welt internationaler Beziehungen zu orientieren, Rätsel zu lösen und selbständig auf Überraschendes zu reagieren. Von einem – mit diesem Buch gelegten – soliden Fundament aus können die anstehenden Herausforderungen der akademischen Leistungsüberprüfung einerseits und der selbständigen Forschung im Teilgebiet Internationalen Beziehungen andererseits bewältigt werden. Daher hilft dieses Buch nicht nur beim Erarbeiten von Wissen über Internationale Beziehungen, sondern auch bei der akademischen Reifung und Befähigung.

Eine solche Reifung zum selbständigen Umgang mit den Herausforderungen ist notwendig, weil sich der Gegenstand Internationale Beziehungen selbst dynamisch und rasant fortentwickelt. Früher sahen Politikwissenschaftler vor allem ein Staatensystem, dessen Akteure ihre Beziehungen untereinander regelten. Heute ist dieses System einer Vielfalt von Akteuren gewichen, die ungemein komplexe Beziehungen zueinander pflegen, deren Regieren extrem vielfältig und unübersichtlich geworden ist (Kap. 11.2.3). Früher galt das Prinzip der Souveränität, mit dem eine Trennung von Innenpolitik und äußeren Angelegenheiten vereinfacht wurde. Heute heben die neuen Fragen Internationaler Beziehungen wie neue Kriege, Finanzkrisen, Menschenrechte, Umweltschutz, Migration, Religion, Ethnizität, Demokratie oder Recht diese Trennung auf. Früher befassten sich Internationale Beziehungen mit den Spannungen zwischen der Staatenwelt und der stark fragmentierten Welt von Märkten. Heute rücken die Spannungen zwischen Staat und Gesellschaft und Fragen von Autorität und Legitimität internationaler Beziehungen ins Blickfeld (Barnett/ Sikkink 2010; Schimmelfennig 2013: 36–9).

Dieser Unterschied kommt schon im Cover dieses Buches zum Ausdruck: Der Globus im Vordergrund mit seinen Kontinenten verweist auf eine Staatenwelt, deren Grenzen sich jedoch schon so weit aufgelöst haben, dass sie nicht mehr kenntlich sind. Hinter dieser Welt kommen eine ganze Reihe von Problemen zum Vorschein wie Menschenrechte, Entwicklung, Migration, Handel, Finanzen oder bewaffnete Konflikte.

Diese neuen Herausforderungen des Gegenstandes Internationale Beziehungen erfordern auch einen neuen Zugang bei der Vermittlung. Früher wurde danach gestrebt, die Gesamtheit Internationaler Beziehungen — damals Internationale Politik genannt — möglichst umfassend und auf einheitliche Weise zu beschreiben und zu erklären. Dieser Weg ist heute von der ungeheuren Komplexität internationaler Beziehungen verstellt. Daher muss es darum gehen, den gesamten Gegenstand in kleinere Bestandteile zu zerlegen, die der Beschreibung und Erklärung eher zugänglich sind. Diese Bestandteile werden hier »Rätsel« genannt. Jedes Kapitel beschäftigt sich mit einem Rätsel. Es beginnt meistens mit einer Erzählung, die einen aktuellen Bezug herstellen, ein Problem aufzeigen und damit die gesellschaftliche Relevanz des Rätsels unter Beweis stellen soll. Die folgende Auflösung der Rätsel durch Beschreibung und Erklärung folgt einem einheitlichen Schema: Interessen, Institutionen und Interaktionen stehen mit unterschiedlichem Schwerpunkt im Zentrum der Untersuchung. Auf diese Weise durchstößt dieses Buch die auf dem Umschlag abgebildete Weltkugel der alten Staatenwelt und dringt zur systematischen Analyse der sich dahinter verbergenden Probleme moderner internationaler Beziehungen vor. Bei der Wahl dieser Vorgehensweise hat das sehr beliebte und erfolgreiche Buch World Politics Pate gestanden (Frieden/Lake/Schultz 2012), das ich in einschlägigen Lehrveranstaltungen in Deutschland benutzt habe. Es stieß bei den Studierenden auf eine derart positive Resonanz, dass ich mich entschloss, mich von diesem Vorbild inspirieren zu lassen.

Selbstverständlich konnten nicht alle Rätsel Internationaler Beziehungen in dieses Buch aufgenommen, geschweige denn erschöpfend behandelt werden. Die getroffene Auswahl ist dennoch nicht zufällig. Sie folgt vielmehr den Kriterien gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Relevanz. Bei der gesellschaftlichen Relevanz ließ ich mich von den Erfahrungen leiten, welche einzelnen Fragen Studierende besonders interessieren, d. h. worüber sie gerne Hausarbeiten, B. A.-Arbeiten oder Masterarbeiten schrei ben oder Referate halten. Mit Blick auf die wissenschaftliche Relevanz wählte ich die Rätsel aus, die das Fachgebiet in einem weiteren Sinne repräsentieren können. Sie stehen für die breiteren Themen Sicherheit, Wohlfahrt und aktuelle Fragen. Auf die an einigen deutschen Universitäten institutionalisierte Aufteilung Internationaler Beziehungen in Internationale Sicherheit einerseits und Internationale Politische Ökonomie andererseits habe ich bewusst verzichtet. Denn die Theoriedebatte des Faches greift mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung auf beide Teilbereiche zu. Es ist deshalb allein für das Theorieverständnis wichtig, auch Kenntnisse über die empirischen Sachverhalte zu vermitteln, von denen die Theoriebildung mit gespeist wird.

Zusätzlich dienen die einzelnen Kapitel auch der exemplarischen Darstellung rätselübergreifender Probleme Internationaler Beziehungen wie z. B. Verteilungsfragen, kollektives Handeln, Interdependenz oder Nicht-Einhaltung von Vereinbarungen. Wo immer möglich wurde dies bereits in den Kapitelüberschriften deutlich gemacht. Dann bezieht sich der vordere Teil der Kapitelüberschrift auf ein spezifisches empirisches Rätsel, während der hintere Teil anzeigt, welches rätselübergreifende Problem in diesem Kapitel exemplarisch behandelt wird. Damit die kapitelübergreifende Bedeutung dieser Fragen auch im Kontext anderer Kapitel deutlich wird, wurden jeweils Querverweise auf die einschlägigen Kapitel eingefügt, um Redundanz zu vermeiden.

Die verschiedenen Lesergruppen werden von den die gesamte Buchreihe kennzeichnenden Merkmalen profitieren und sich diese zunutze machen können, je nachdem, ob sie das Buch zum Zweck der Wissensbeschaffung oder -vermittlung, der Prüfungsvorbereitung, der Lehrvorbereitung, der schnellen Information oder zum Verschaffen eines Überblickes nutzen wollen. Hierzu sind die Kapitelbeschreibungen, die Zusammenfassungen oder Zwischenfazits, die kompakte Informationsvermittlung oder die sonstige Hervorhebung zentraler Aussagen sowie Abbildungen oder Tabellen besonders geeignet. Überschriften, Marginalien, Querverweise, Glossar (auch im Internet frei zugänglich) und ein ausführlicher Index sind als Leitsystem gedacht, damit Leser sich teils gut und schnell orientieren, teils zeitsparend Information finden und/oder Lernstoff wiederholen können.

Die Lernkontrollfragen dienen nicht ausschließlich der Rekapitulation. Sie sollen vielmehr die Leser zu selbständigem und kritischem Weiterdenken oder sogar zu eigenständigem Forschen anregen. In Seminaren können einige auch zu Übungen und/oder zur Gruppenarbeit genutzt werden. Die weiterführenden Literaturhinweise leisten denjenigen eine erste Hilfestellung, die eigenständig forschen wollen. Hier findet man einerseits Überblicke zu Forschungsständen und andererseits Hinweise auf richtungsweisende Forschungsarbeiten. Einige eigenen sich darüber hinaus für kurze Übungen etwa in Kleingruppen während des universitären oder schulischen Unterrichts.

Ich hätte dieses Buch weder geschrieben noch schrei ben können, wenn mich nicht zahllose Studenten im In- und Ausland in vielen Lehrveranstaltungen ermutigt oder auch nachdrücklich aufgefordert hätten, ihnen selbst komplexe und schwierige Sachverhalte verständlich und nachvollziehbar zu erläutern. Dafür gebührt ihnen mein großer Dank. Sie haben mir gezeigt, dass sie sich sehr für die Teildisziplin Internationale Beziehungen interessieren, aber einen fachspezifischen Jargon ablehnen und nicht verstehen, warum sie einen solchen erwerben müssen. Ich habe dies als Appell verstanden, dass die moderne Wissenschaftsgesellschaft demokratisiert werden muss, indem neue, kommunikative Möglichkeiten der Beteiligung an wissenschaftlichen Debatten geschaffen werden. Dieser Herausforderung stelle ich mich mit diesem Buch ausdrücklich. Gleichzeitig verbinde ich meinen Versuch, ein verständliches Buch vorzulegen, mit meinem eigenen Appell an die Studierenden und andere Leser: Legen Sie bei der Buchlektüre und Beschäftigung mit Fragen Internationaler Beziehungen Ihre Fähigkeit zu kritischem Selbstzweifel an den Tag. Die Möglichkeit, sich an wissenschaftlichen Debatten zu beteiligen, erfordert auch, sich häufig von vorgefertigten Urteilen und Meinungen zu trennen und sich auf neue Erkenntnisse einzulassen, wenn die Argumente plausibel sind. Diese wichtige Erfahrung machen alle Akademiker jeden Tag.

Viele weitere Personen haben sich um dieses Buch verdient gemacht, denn ich verdanke meinen akademischen Lehrern, Kollegen und Freunden zahllose wissenschaftliche wie didaktische Hinweise und Anregungen, die ich hier verarbeiten konnte. Stellvertretend und besonders herzlich möchte ich mich jedoch bei Sven-Eric Fikentscher bedanken, der sich die Mühe gemacht hat, viele Kapitel sehr detailliert und kritisch zu lesen. Seine Kommentare und Hinweise waren ungemein wertvoll und haben dieses Buch entscheidend verbessert. Alle noch enthaltenen und kritikwürdigen Schwächen habe ich jedoch allein zu verantworten.

Verena Artz ist es zu verdanken, dass ich mich überhaupt entschloss, meine Lehrerfahrung in Internationalen Beziehungen in die Form eines Lehrbuchs zu gießen. Sie hat mich geduldig und anhaltend dazu überredet und mir damit den Plan schmackhaft gemacht. Darüber hinaus nahm sie es auf sich, das gesamte Buch als Lektorin zu betreuen und meine Gemütsschwankungen während des Entstehungsprozesses stoisch zu ertragen. Ihr professioneller Umgang und Ratschlag waren eine große Stütze. Mit überzeugender Akribie hat sie jeden Satz und jedes Wort überprüft und damit Aussagekraft und Verständlichkeit des Buches ganz entscheidend verbessert. Schließlich hat sich Sonja Rothländer von der UVK Verlagsgesellschaft große Verdienste um die Entstehung dieses Buches erworben. Sie hat den gesamten Produktionsprozess fürsorglich und kompetent koordiniert.

Die Anstrengung aller Beteiligten hat sich dann gelohnt, wenn die Leser Nutzen aus diesem Buch ziehen, Kenntnisse gewinnen, Freude am Forschen oder Lehren finden und ihre eigenen Fähigkeiten ausbauen können. Dazu wünsche ich allen jeden erdenklichen und verdienten Erfolg.

Berlin, im November 2014

Christian Tuschhoff

1 | Was sind Internationale Beziehungen?

Inhalt

Dieses Kapitel erläutert die Kernbestandteile der Teildisziplin Internationale Beziehungen. Dazu gehören zum einen insbesondere der Gegenstand; die Betroffenheit aller Bürger; die Unmöglichkeit, viele Probleme internationaler Beziehungen intuitiv zu verstehen und damit die Rätsel dieser politikwissenschaftlichen Teildisziplin; dazu gehören zudem wichtige Konzepte, wie Akteure und Interessen, Prozesse und Interaktionen, Strukturen und Institutionen, sowie die verschiedenen Analyseebenen.

1.1 Der Gegenstand Internationale Beziehungen

1.2 Rätsel und ihre Lösungen

1.3 Der Analyserahmen: Interessen, Interaktionen, Institutionen

Edward Snowdon, ein amerikanischer Computerspezialist, arbeitete zunächst für die Central Intelligence Agency (CIA) und dann für das Beratungsunternehmen Booz, Allen, Hamilton an Projekten für die amerikanische National Security Agency (NSA). In Zusammenarbeit mit Journalisten verschiedener Medien machte er öffentlich bekannt, in welchem Ausmaß die NSA Kommunikationsdaten von Bürgern aller Länder sammelte, speicherte und bei konkreten Verdachtsmomenten systematisch auswertete. Er beging bewusst Geheimnisverrat in den USA und floh zunächst nach Hongkong, bevor er nach Russland weiterreiste. In verschiedenen Ländern bat er um politisches Asyl. Die meisten Länder, einschließlich westeuropäischer, wiesen seinen Antrag jedoch ab. Bolivien bot Snowden Asyl an. Daraufhin musste der bolivianische Präsident Evo Morales, der zu dieser Zeit gerade in Russland weilte, seinen Heimflug von Moskau in Wien unterbrechen. Verschiedene Länder hatten dem Präsidenten die Überflugerlaubnis verweigert. Sie vermuteten, Morales verhelfe Snowden zur Flucht. Darüber hinaus wurde bekannt, dass auch französische und britische Geheimdienste große Datenmengen sammelten und speicherten. Im weiteren Verlauf der Ereignisse geriet insbesondere die Bundesregierung in Erklärungsnot. Was wusste sie von der Massenspeicherung von Kommunikationsdaten deutscher Bürger durch einen amerikanischen Nachrichtendienst? Arbeiteten deutsche Behörden gar mit amerikanischen in dieser Sache zusammen? Warum kann die Regierung die Daten ihrer Bürger nicht vor unberechtigtem Zugriff schützen?

1.1 |Der Gegenstand Internationale Beziehungen

Gegenstand

Viele wesentliche Aspekte Internationaler Beziehungen werden von dieser kurzen Episode um Edward Snowden angesprochen: Die wichtigen Akteure in diesen Beziehungen sind Staaten. Sie können miteinander kooperieren, indem sie z. B. Überflugrechte über ihr Territorium verweigern. Viele westeuropäische Staaten sandten damit eine klare Botschaft an Snowden: Versuche nicht über unser Territorium vor den USA zu fliehen. Sie können aber auch Konflikte riskieren, wie hier Bolivien, das Snowden Asyl anbot und dabei den Unmut der mächtigen USA in Kauf nahm. In Internationalen Beziehungen geht es um Sicherheit. Die USA sahen ihre Sicherheit durch den Geheimnisverrats Snowdens erheblich beeinträchtigt. Es geht aber auch um mehr: Im Fall Snowden stand die Frage im Raum, ob ihm das Menschenrecht auf Asyl zuerkannt werden kann oder aufgrund von Menschenrechtsregeln sogar zugestanden werden muss. Noch ein Aspekt kommt hinzu: Die Spionagetätigkeit der Geheimdienste legt nahe, dass Firmen vieler Länder ein wirtschaftlicher Schaden entstanden sein könnte, weil ihre Firmengeheimnisse möglicherweise ausgespäht wurden. Damit sind Firmen oder Einzelpersonen wie Snowden ebenfalls Akteure in internationalen Beziehungen.

Definition

Internationale Beziehungen

Internationale Beziehungen sind eine Teildisziplin der Politikwissenschaft. Sie befasst sich mit der Gesamtheit der Interaktion von Akteuren, die an grenzüberschreitenden Aktivitäten beteiligt sind, und mit den formellen oder informellen Institutionen, die grenzüberschreitende Handlungen regeln. Es ist gebräuchlich, Internationale Beziehungen großzuschreiben, wenn damit die Teildisziplin der Politikwissenschaft gemeint ist, und kleinzuschreiben, wenn der konkrete Gegenstand — Interaktionen und Aktivitäten — angesprochen wird.

Betroffenheit von IB

An dieser kurzen Episode über Edward Snowden wird außerdem deutlich, in welch hohem Maß alle Bürger von internationalen Beziehungen betroffen sind. Damit sind im weitesten Sinne alle Beziehungen gemeint, die nationale Grenzen überschreiten. Wenn Bürger die globale Bühne betreten, indem sie beispielsweise das Internet nutzen, geben sie unbewusst und ungefragt jede Menge Informationen über sich preis. Sie verlieren damit die Kontrolle über ihre informationelle Identität. Auch Regierungen können den Schutz der Daten ihrer Bürger nur noch ungenügend gewährleisten. Staaten können allein ihr eigenes Territorium kontrollieren und schützen. Bei Problemen außerhalb ihrer Reichweite sind sie auf die Zusammenarbeit anderer Staaten angewiesen. Internationale Beziehungen sind also wichtig, weil alle Bürger heutzutage von ihnen vielfältig betroffen sind. Sie können z. B. Opfer werden von Terroranschlägen, deren Ursache in anderen Ländern oder Regionen zu suchen sind; sie können ihren Arbeitsplatz verlieren, weil die Industrie in andere Länder abwandert und den heimischen Markt von dort aus beliefert, sofern ein Freihandelsabkommen besteht; oder sie können wegen ihrer politischen oder religiösen Anschauungen im Heimatland verfolgt werden und deshalb auswandern. Aufgrund dieser und vielen weiteren Möglichkeiten sind alle Bürger von internationalen Beziehungen betroffen.

Information kompakt

Warum studiert man Internationale Beziehungen?

Alle sind gewollt oder ungewollt von internationalen Beziehungen betroffen. Die negativen Seiten – z. B. Krieg, Armut, Menschenrechtsverletzungen – beängstigen. Gleichzeitig kann man die positiven Seiten – z. B. Reisefreiheit, wirtschaftliche Möglichkeiten, Verbesserung der Umwelt – auch zum eigenen Vorteil nutzen. Internationale Beziehungen ermöglichen den Bürgern nicht nur ungeahnte Möglichkeiten zur Verwirklichung ihrer materiellen und immateriellen Bedürfnisse im Ausland, sondern schaffen solche Möglichkeiten auch zu Hause. Das genaue Verständnis von Ursachen und Wirkungen internationaler Beziehungen ermöglicht es, eine bessere Welt zu schaffen.

Konflikt und Kooperation

Die Geschichte von Edward Snowden zeigt aber auch, dass man in Internationalen Beziehungen untersucht, ob und unter welchen Bedingungen Menschen miteinander auskommen, Konflikte austragen oder gar Gewalt anwenden. Die Teildisziplin Internationale Beziehungen hilft damit die komplexe Landschaft jenseits von territorialen Grenzen zu verstehen, in denen einerseits vielfältig kooperiert wird, andererseits Konflikte bis hin zur Gewaltanwendung ausgetragen werden.

1.2 |Rätsel und ihre Lösungen

Diese Einführung in Internationale Beziehungen wendet sich den wichtigsten Rätseln zu, die von der Disziplin behandelt werden. Dabei werden Rätsel definiert als Beobachtungen von Realität, die nicht intuitiv verstanden und/ oder erklärt werden können. Es ist z. B. rätselhaft, warum Staaten oder Gruppen von Menschen Krieg führen, obwohl sie dadurch großes Blutvergießen und unvorstellbares Leid verursachen. Warum tragen die Akteure ihre Konflikte nicht auf friedliche Weise aus? Bei anderen Rätseln gilt es zu verstehen, warum es so große Unterschiede in der Welt gibt. In Westeuropa oder Nordamerika herrscht großer Reichtum und Wohlstand. Die dort lebenden Menschen sind weitgehend gesund und können sich selbst verwirklichen. Dagegen leben viele Menschen in Afrika in großer Armut. Ihr Tagesgeschäft ist es, das eigene Leben und das ihrer Familien notdürftig zu sichern. Viele – auch Kinder – verlieren diesen täglichen Kampf, sind krank oder schwach ohne Aussicht auf Besserung. Warum sind derart gravierende Unterschiede zwischen den verschiedenen Gesellschaften möglich, die sich doch einen gemeinsamen Planeten teilen?

Dieses Buch spürt diesen auf den ersten Blick unverständlichen Rätseln Internationaler Beziehungen nach und präsentiert die Erklärungen, die die Politikwissenschaft bislang erarbeitet hat.

Überblick

Die Rätsel dieses Buches

Warum führen Staaten und/oder gesellschaftliche Gruppen auch noch im 21. Jahrhundert Krieg gegeneinander? (Kap. 3)

Warum führen demokratische Staaten Krieg gegen Diktaturen, aber nicht gegen andere Demokratien? (Kap. 4)

Warum gibt es so viele Handelsschranken zwischen Staaten, obwohl Wirtschaftswissenschaftler ganz überwiegend sagen, dies habe Nachteile für alle? (Kap. 5)

Warum gibt es so häufig Finanzkrisen, in denen viel Wohlstand vernichtet wird, den man zur Bekämpfung gemeinsamer Probleme (Armut, Umweltschutz, Menschenrechte) besser einsetzen könnte? (Kap. 6)

Warum sind manche Gesellschaften so enorm reich, während andere in Armutsproblemen versinken? (Kap. 7)

Warum verstärken Staaten ihre Grenzen gegen den Ansturm von Migranten statt eine weltweite gemeinsame Migrationspolitik zu vereinbaren? (Kap. 8)

Warum halten sich manche Staaten und Gesellschaften an international vereinbarte Menschenrechte, während andere diese universellen Rechte mit Füßen treten? (Kap. 9)

Warum ist es fast unmöglich, gemeinsam die großen internationalen Umweltprobleme zu lösen? (Kap. 10)

Theorie

Die Disziplin Internationale Beziehungen will zunächst natürlich direkt Antworten auf diese Fragen geben. Sie geht aber noch einen entscheidenden Schritt weiter: Sie bietet einen Satz verschiedener Theorien an, mit denen die unterschiedlichen Rätsel gelöst werden könnten. Dies schließt auch solche Rätsel ein, die in diesem Buch aus Platzgründen nicht behandelt werden konnten..

Definition

Theorie

Eine Theorie ist ein widerspruchsfreier Satz von Aussagen, mit dem ein interessierendes Phänomen erklärt werden kann. Eine Theorie identifiziert die spezifischen Ursachen, die jene Beobachtungen hervorrufen, die erklärt werden sollen. Sie zeigt außerdem, auf welche Weise verschiedene Ursachen zusammenwirken, um das beobachtete Ergebnis zu erzeugen. Theorien beschreiben, identifizieren Ursache und Wirkung, machen Vorhersagen und bieten Lösungskonzepte an. Zu diesen Zwecken vereinfachen Theorien die extrem komplexe Realität, indem sie den Blick auf das wirklich Wichtige lenken. Es ist deshalb nicht überraschend, dass Theorien nicht für jeden Einzelfall eine Erklärung anbieten können.

1.3 |Der Analyserahmen: Interessen, Interaktionen, Institutionen

In den Internationalen Beziehungen werden ähnliche Arten des analytischen Zugriffs benutzt, die jedoch unterschiedlich bezeichnet werden. Frieden/Lake/Schultz (2012) schlugen die Begriffe Interessen, Interaktionen und Institutionen vor.

Definitionen

Interessen, Interaktionen, Institutionen

Interessen stellen diejenigen Ziele dar, die politische Akteure durch politisches Handeln erreichen wollen. Zu deren Ordnung legen sie häufig Rangfolgen politischer Ergebnisse an, die aus ihren Entscheidungen und den Interaktionen mit anderen Akteuren folgen sollen. Diese Rangordnungen werden Präferenzen genannt.

Unter Interaktionen versteht man die möglichen und tatsächlichen Kombinationen der Entscheidungen von zwei oder mehr beteiligten Akteuren, die zu einem politischen Ergebnis führen.

Institutionen sind Regeln im weitesten Sinn, die in einer sozialen Gemeinschaft geteilt werden. Im engeren Sinn umfassen Institutionen auch formale internationale Organisationen. Diese Regeln können explizit niedergeschrieben worden sein oder aber einfach auf Gewohnheit beruhen. Institutionen lenken die Präferenzen der Akteure und beeinflussen ihre Interaktionen, in dem sie diesen eine regelgerechte Richtung geben.

Analytisches Vorgehen

Akteure und Interessen

Prozesse und Interaktionen

Andere Lehrbuchautoren benutzen die grundlegenden Konzepte »Akteure« statt Interessen; »Prozesse« statt Interaktionen und »Strukturen« statt Institutionen. Unabhängig davon, welche begrifflichen Bezeichnungen unterschiedliche Autoren benutzen, ist die gedankliche Vorgehensweise bei der Untersuchung internationaler Beziehungen immer gleich: Im ersten Schritt werden die beteiligten Akteure identifiziert. Dabei wird auch ermittelt, welche Interessen diese Akteure verfolgen und in welche Präferenzfolge sie gebracht werden können. Auf diese Weise erkennt man auch die Entscheidungsmöglichkeiten (auch Optionen genannt), über welche die einzelnen Akteure verfügen. Im zweiten Schritt werden die verschiedenen Optionen der einzelnen Akteure miteinander kombiniert, so dass mögliche (d. h. denkbare) Interaktionen entstehen, die spezifische politische Ergebnisse hervorbringen. Konflikt, Kooperation und Harmonie (Keohane 1984; 1989) sind die drei prinzipiell möglichen Ergebnisse aus Interaktionen (vgl. Abb. 1.1.).

Definitionen

Konflikt, Kooperation, Harmonie

Konflikte sind eine Interessen- oder Willenskonkurrenz zwischen zwei oder mehreren Akteuren.

Von Kooperation spricht man dann, wenn die beteiligten Akteure jeweils eine Politikanpassung vornehmen, die wechselseitig zu einer höheren Kompatibilität der Interessen führt.

Harmonie besteht, wenn zwischen Akteuren keine Interessens- oder Willenskonkurrenz auftritt oder wenn nicht an Bedingungen gebundene politische Maßnahmen einer Seite zu einer höheren Kompatibilität der Interessen führen (vgl. Abb. 1.1).

Diese denkbaren Interaktionsergebnisse wirken außerdem auf die Entscheidungsauswahl der Akteure zurück, weil Akteure sich bemühen, die Interaktionsergebnisse vorherzusehen (antizipieren) und schon in ihre Präferenzen einfließen lassen, die im ersten Schritt der Untersuchung erfasst wurden. Im dritten Schritt wird analysiert, welchen Institutionen sich die beteiligten Akteure verbunden fühlen bzw. unterworfen sind. Die Institutionen können sich erheblich unterscheiden, je nachdem in welchem Politikfeld die Akteure handeln. In einigen Politikfeldern, z. B. Handelspolitik (Kap. 5), gibt es engmaschige Regelwerke, denen sich viele Akteure unterworfen haben. Die Welthandelsorganisation (WTO) stellt zusätzlich ein Schiedsgerichtsverfahren bereit für den Fall, dass Regeln gebrochen werden. Dann können Akteure dieses Verfahren nutzen, um die geltenden Normen gegen Regelverletzer durchzusetzen. In anderen Politikfeldern, z. B. Terrorismus oder Bürgerkriegen (Kap. 3.4), gibt es zwar auch Normen, z. B. das humanitäre Völkerrecht, aber diese sind weit weniger verbindlich oder präzise als im Bereich der Handelspolitik.1 Außerdem gibt es kaum wirksame, etablierte Verfahren, mit denen sie gegen Regelverletzer durchgesetzt werden könnten.

Abb. 1.1 |Unterschiede: Harmonie, Kooperation, Konflikt

Quelle: Keohane (1984: 53).

Strukturen und Institutionen

Wenn man die Interessen von Akteuren, ihre Interaktionen und die Institutionen identifiziert und mit Blick auf die eigene Forschungsfrage untersucht, sollte man weiter beachten, dass es verschiedene Analyseebenen gibt, auf denen man Akteure, Interaktionen und Institutionen finden kann (Waltz 1954; 1979).

Information kompakt

Analyseebenen im Teilgebiet Internationale Beziehungen

System: erfasst die Eigenschaften des internationalen Systems und die Interessen und Handlungen von Staaten als den Hauptakteuren.

Staat und Innenpolitik: erfasst die Eigenschaften der Staaten (z. B. Demokratie oder Diktatur; parlamentarisches oder präsidentielles Regierungssystem) und die relevanten Akteure in Staat und Gesellschaft sowie alle relevanten innerstaatlichen Institutionen. Solche Akteure sind z. B. politische Parteien oder Interessengruppen.

Individuum: erfasst die Eigenschaften, Interessen und Handlungen relevanter Individuen. Eine Eigenschaft wäre z. B., ob eine Person eher risikobereit oder risikoscheu ist oder ob die Person viele komplexe Informationen verarbeiten kann oder über eine eher eingeschränkte Informationsverarbeitungskapazität verfügt.

Mögliche Erklärungen für nicht intuitiv verstehbare Sachverhalte kann man auf allen drei Ebenen finden.2 Es lohnt sich deshalb die oben genannten drei Schritte der Untersuchung auf allen drei Analyseebenen durchzuführen.

Zusammenfassung

Die Teildisziplin Internationale Beziehungen beschäftigt sich mit grenzüberschreitenden Interaktionen von Akteuren. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit diesen Interaktionen ist wesentlich, weil unsere eigenen Handlungen Wirkung auf andere Akteure ausüben und weil wir selbst von den Handlungen anderer Akteure betroffen sind. Als Ergebnisse von Interaktionen können Harmonie, Kooperation oder Konflikt entstehen. Die Ursachen dieser Ergebnisse findet man auf drei verschiedenen Analyseebenen: dem internationalen System, dem Staat bzw. der Innenpolitik und/oder dem Individuum.

Lernkontrollfragen

1.Was versteht man unter einer Theorie?

2.Wie unterscheiden sich Harmonie, Kooperation und Konflikt?

3.Wie kann man internationale Beziehungen von Innenpolitik abgrenzen, wenn ihre Ursachen teils in der Innenpolitik liegen?

4.Was ist der Unterschied zwischen »internationalen Beziehungen« und »Internationalen Beziehungen«?

Weiterführende Literatur

Carlsnaes, Walter/Risse, Thomas/Simmons, Beth A., Hrsg., (2013), Handbook of International Relations, E-Book, London, UK: Sage Publications.

Katzenstein, Peter J./Keohane, Robert O./Krasner, Stephen D. (1998), ›International Organization and the Study of World Politics‹, International Organization, 52(4): 645–686.

List, Martin (2006), Internationale Politik studieren. Eine Einführung, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Reus-Smit, Christian/Snidal, Duncan, Hrsg., (2010), The Oxford Handbook of International Relations, Oxford, UK: Oxford University Press.

Schimmelfennig, Frank (2013), Internationale Politik, 3. Aufl., E-Book, Paderborn; München; Wien; Zürich: Schöningh.

2 |Großtheorien Internationaler Beziehungen

Inhalt

In diesem Kapitel werden die verschiedenen Großtheorien Internationaler Beziehungen dargestellt. Dabei liegt der Schwerpunkt einerseits auf ihren zentralen Annahmen und andererseits auf den wichtigsten Aussagen zu Konflikt und Kooperation.

2.1 Neorealismus

2.2 Institutionalismus

2.3 Liberalismus

2.4 Konstruktivismus

In Indien wurde jahrhundertelang geglaubt, ein großer Elefant trage die Erde auf seinem Rücken. Eines Tages kamen junge Brahmanen zum Oberbrahmanen und fragten: »Worauf steht denn eigentlich der Elefant?». Der Oberbrahmane stutzte und bat seine jungen Schüler am nächsten Tag wiederzukommen, dann werde er ihnen die richtige Antwort geben. Am folgenden Tag versammelten sich die jungen Brahmanen und warteten voller Ungeduld auf den Oberbrahmanen. Der trat gemessenen Schrittes auf, hob beide Arme in die Höhe und verkündete: »Der Elefant, der die Erde trägt, steht auf einer Riesenschildkröte.« Beeindruckt von so viel Weisheit und Kenntnis schlichen die jungen Brahmanen von dannen. Die Frage, worauf steht die Riesenschildkröte, kam ihnen nicht in den Sinn. Der Oberbrahmane hatte ihre Welt wieder in Ordnung gebracht.3

Großtheorien

Unser Wissen — auch in der Politikwissenschaft — beruht auf Annahmen, die, wie in dem vorstehenden Beispiel, von Zeit zu Zeit kritisch hinterfragt werden. Diese zweifelnde Kritik führt zu neuen Fundamenten in Form einer neuen Großtheorie. Diese gilt so lange, bis zweifelnde Kritik zu ihrer Ablösung und einer neuen Großtheorie führt. Großtheorien sind also Sätze von widerspruchsfreien Aussagen, die eine plausible Erklärung für weltliche Phänomene liefern. In der Teildisziplin Internationale Beziehungen hat es trotz wechselseitiger teils heftiger Kritik keine Großtheorie vermocht, die Konkurrenz nachhaltig zu verdrängen. Auf welchen Annahmen Internationale Beziehungen letztendlich beruhen, ist unter Theoretikern höchst umstritten.4

Internationale Beziehungen

Kernbegriffe der empirischen Analyse

Das Ziel einer empirischen Analyse ist, diejenigen Ursachen zu identifizieren, die mit möglichst hoher Wahrscheinlichkeit die vermutete Wirkung erzeugen.

Untersuchung (Analyse): Dies ist die Aktivität der Forscher, die das Ziel verfolgt, einen Zusammenhang zwischen vermuteten Ursachen und vermuteten Wirkungen herzustellen und nachzuweisen, dass dieser Zusammenhang mit hoher Wahrscheinlichkeit besteht.

Ursache: Darunter versteht man diejenige Vermutung unter mehreren, die sich aufgrund der Untersuchung als allein oder in Kombination mit anderen als eigentlich wirkungsmächtig herausstellt.

Wirkung: Dies ist das beobachtete und beschriebene Ergebnis, das eine oder mehrere Ursachen mit möglichst hoher Wahrscheinlichkeit hervorbringen; die Wirkung soll erklärt werden.

Erklärung: Darunter versteht man den Nachweis, dass eine oder mehrere Ursachen tatsächlich eine Wirkung erzeugen und dass dieser Zusammenhang mit möglichst hoher Wahrscheinlichkeit empirisch belegt werden konnte, d. h.; Änderungen von Ursachen führen tatsächlich zu Änderungen der Wirkungen.

Auswahl aus Großtheorien

Die beschriebene Vorgehensweise bei der Untersuchung internationaler Beziehungen (Kap. 1) – drei Schritte auf drei Analyseebenen – ist sehr allgemein und identifiziert eine Vielfalt möglicher Erklärungen vieler verschiedener Phänomene. Der Forscher muss sich jedoch häufig auf wenige mögliche Ursachen beschränken, die er für besonders wichtig oder wirksam hält. Die Untersuchung aller möglichen Ursachen würde seine Arbeitskraft überfordern. Es ist deshalb sinnvoll, eine Auswahl zu treffen von denkbaren Ursachen, die Phänomene vermutlich besonders gut erklären könnten und daher der vorrangigen Analyse bedürfen. Bei der Frage, welche Ursachen zur Erklärung bestimmter Wirkungen ausgewählt werden sollen, helfen sogenannte Großtheorien der Internationalen Beziehungen. Wie ein Spotlight in einer Disco beleuchten sie wesentliche Ausschnitte der Wirklichkeit und tauchen andere ins Dunkel. Wenn Forscher solche Theorien zur Auswahl wichtiger Ursachen heranziehen, dann schließen sie sich den Annahmen an, die diesen Großtheorien zugrunde liegen. Diese Annahmen sind in der Literatur eingehend beschrieben und müssen nicht mit viel Aufwand wiederholt werden. Notwendig ist nur, dass man darauf hinweist, welchen Ursache man mit welcher Großtheorie in Verbindung bringt.

Die wichtigsten Annahmen und Aussagen der vier Großtheorien Realismus, Institutionalismus, Liberalismus und Konstruktivismus werden im Folgenden knapp zusammengefasst, weil in weiteren Kapiteln darauf Bezug genommen wird.5 Statt eine dieser Großtheorien zu bevorzugen, wird in diesem Buch die Auffassung vertreten, dass alle einen wichtigen Beitrag zu einem besseren Verständnis von Fragen Internationaler Beziehungen beitragen können.6 Die Auswahlentscheidung obliegt dem Forscher, der eine Untersuchung durchführt. Die von den Großtheorien identifizierten Ursachen können nur mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit Zusammenhänge in internationalen Beziehungen erklären. Dem Anspruch, eine umfassende Erklärung für alle Phänomene Internationaler Beziehungen zu liefern, wird keine Großtheorie gerecht.

2.1 |Neorealismus

Die Ideenwelt des Realismus7 ist reichhaltig und reicht bis zum Philosophen Thucydides (460–400 AC) in der griechischen Antike zurück. Politisch wurde der Realismus während des Kalten Krieges zur einflussreichsten Denkschule. George Kennan, Hans Morgenthau und Henry Kissinger gelten als die wichtigsten Vertreter. Die moderne Politikwissenschaft entwickelte den klassischen Realismus dieser Autoren fort zum Neorealismus. Dessen herausragende Vertreter sind Kenneth N. Waltz; John J. Mearsheimer, Robert Gilpin, Joseph Grieco oder Joanne Gowa. In Deutschland wird er vor allem von Werner Link und Carlo Masala vertreten.

Anarchie

Die Internationalen Beziehungen verdanken der neorealistischen Theorie zwei Schlüsselannahmen.8 Die erste lautet: Das internationale System ist von Anarchie gekennzeichnet.

Dieses Merkmal ist der wesentliche Unterschied zwischen internationalen Beziehungen und der Politik innerhalb von Staaten, denn dort herrscht ein Gewaltmonopol, dem sich die Bürger als Akteure unterordnen müssen. Diese Annahme wird mittlerweile von den allermeisten Autoren geteilt, auch wenn sie sich nicht der realistischen Denkschule zurechnen (Lake 2009: 1–2).

Definition

Anarchie in Internationalen Beziehungen

Unter Anarchie wird nicht Chaos verstanden, sondern die Abwesenheit einer zentralen Autorität, die es vermag, für alle Akteure bindende Regeln zu setzen und gegen Widerstände durchzusetzen. Anarchie ist das Gegenteil von Hierarchie, denn alle Akteure sind im Prinzip ähnlich und einander gleichgestellt. Ähnlich bedeutet, dass sie alle dieselben Funktionen ausüben.

Staaten als Akteure

Die zweite Annahme lautet: Staaten sind die zentralen oder sogar einzigen Akteure in Internationalen Beziehungen. Alle anderen Arten von Akteuren können bei der Forschung vernachlässigt werden. Staaten werden auch nicht (wie z. B. von den Vertretern des Liberalismus; Kap. 2.2.3) weiter nach verschiedenen Akteuren untergliedert.

Selbsthilfe

Von der Anarchie als Merkmal des internationalen Systems geht nun eine ganz erhebliche Wirkung aus: Sie legt die Interessen und Interaktionen der Akteure fest. Denn wenn es keine übergeordnete Autorität gibt, die die Akteure – also Staaten – notfalls voreinander schützen wird, dann müssen diese selbst für ihre Sicherheit – im Extremfall für ihr Überleben – sorgen. Da sie sich auf keine Autorität verlassen können, sind sie auf Selbsthilfe angewiesen. Neorealisten bezeichnen das internationale System deshalb auch als »anarchisches Selbsthilfesystem«.

Sicherheitsdilemma

Wenn Staaten sich nicht auf eine übergeordnete Regierung mit Polizei und Justiz, die sie notfalls vor anderen Staaten schützt, verlassen können, rückt die Herstellung von Sicherheit an die erste Stelle der Liste staatlicher Interessen. Kein anderes Interesse ist wichtiger. Alle Staaten müssen sich daher ausreichende Kapazitäten verschaffen, um sich gegen die Angriffe anderer Staaten schützen zu können. Zu diesem Zweck werden sie militärisch aufrüsten. Von diesen Aufrüstungsmaßnahmen werden sich aber andere Staaten zwangsweise bedroht fühlen. Denn diese können nicht wissen, ob ein Staat aufrüstet, um sich selbst zu schützen, oder um sie anzugreifen. Da Staaten die Absichten anderer Staaten nicht bekannt sind, besteht die sogenannte Informationsunsicherheit. In dieser Situation müssen Staaten also von der schlimmeren der beiden genannten Möglichkeiten ausgehen. John Herz (1950) sprach vom sogenannten Sicherheitsdilemma: Die Sicherheit des einen Staates ist die Unsicherheit des anderen Staates. Als Reaktion auf die Aufrüstung des einen Staates werden auch andere zur Selbsthilfe schreiten und aufrüsten. So entsteht ein Rüstungswettlauf zwischen Staaten, den Neorealisten auf die Ursache der Anarchie im internationalen System zurückführen. Konflikte zwischen Staaten sind in Internationalen Beziehungen nahezu unvermeidlich.

Relative Gewinne

Aus diesem Grund halten Neorealisten auch die Möglichkeiten von Kooperationen zwischen Staaten für äußerst begrenzt. Das anarchische Selbsthilfesystem zwingt sie dazu, strikt darauf zu achten, dass Kooperation mit anderen nicht zu einem Nachteil für sie selbst wird. Wenn sie eine Kooperation eingehen, muss der gemeinsame Nutzen (Kooperationsgewinn) gleichmäßig auf alle beteiligten Staaten verteilt sein. Diese Bedingung nennt man »relative Gewinne« (Grieco 2006; Waltz 1979). In Abbildung 2.1 links ist diese Bedingung erfüllt, denn alle Staaten A bis E gewinnen 20 % aus einer Kooperation miteinander. Ist, wie in Abbildung 2.1 rechts, diese Bedingung nicht erfüllt, d. h. gibt es die Chance, dass ein oder mehr Staaten größeren Nutzen aus der Kooperation ziehen könnten als andere, dann gehen Staaten diese Kooperation gar nicht erst ein.9 Staaten werden also eher nach Autonomie streben, statt sich in eine Abhängigkeit von anderen Staaten zu begeben. In einem anarchischen Selbsthilfesystem, so die Neorealisten, ist Kooperation sehr schwierig und deshalb selten.

Herausforderung von Hegemonen

Vertreter der neorealistischen Schule sind sich nun uneins, ob Staaten nur den Status quo ihrer machtpolitischen Position im Staatensystem erhalten (defensive Realisten z. B. Waltz) oder ihre Position im Vergleich zu anderen Staaten dauerhaft verbessern wollen (offensive Neorealisten z. B. Mearsheimer). Konflikte mit gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Großmächten entstehen vor allem dann, wenn es zwischen ihnen zu erheblichen Machtverschiebungen kommt. Eine Möglichkeit ist, dass ein Staat seine Position durch einseitige Aufrüstung erheblich verbessert. Auf diese Weise fordert er den Staat heraus, der bislang eine herausgehobene Stellung eingenommen hat.

Abb. 2.1 |Relative und absolute Verteilung von Kooperationsgewinnen

Quelle: eigene Darstellung.

Definition

Hegemon

Ein Staat, der über sehr viel mehr Macht verfügt als andere und deshalb Regeln setzen und deren Einhaltung erzwingen kann, wird Hegemon genannt.

Ein Krieg kann ausbrechen, entweder wenn ein Hegemon einen aufstrebenden Staat in dessen Schranken weisen und seine eigene hegemoniale Stellung bewahren möchte, oder Krieg bricht aus, weil ein aufsteigender Staat den Hegemon vom Sockel stoßen und selbst Hegemon werden möchte. Das dazu einschlägige Forschungsprogramm wird als Machtübergangstheorie (power transition theory) bezeichnet (Levy/Thompson 2010: 44–48). Diese beiden Varianten werden als mögliche Szenarien für die Beziehungen zwischen dem gegenwärtigen Hegemon USA und der aufstrebenden Volksrepublik China gesehen (Wolf 2012; Kap. 3.1.1).

Macht

Für die neorealistische Denkschule steht daher die »Macht« von Staaten im Zentrum der Betrachtung.

Definition

Macht

Unter Macht versteht man zumindest die Ausübung einer der folgenden Möglichkeiten, eigene Ziele auch gegen Widerstand durchzusetzen (Hart 1976):

Lenkung von Ressourcen,

Beherrschung von Akteuren,

Lenkung von Politikergebnissen.

Position im Staatensystem

»Polarität«

Die Ausstattung von Staaten mit Macht – insbesondere mit militärischen Fähigkeiten – bestimmt, welche Position sie im internationalen Staatensystem einnehmen. Während Staaten sich also einerseits im Prinzip einander ähnlich sind, weil sie die gleichen Funktionen ausüben (Waltz 1979: 93), unterscheiden sie sich andererseits mit Blick auf ihre Machtpotentiale sehr. Mehr noch: die Verteilung von Macht auf Staaten zeigt auch die Konfiguration — Neorealisten sprechen von »Polarität« — des gesamten internationalen Systems an. Gibt es einen Staat, der in der Machtausstattung alle anderen weit überragt, spricht man von Unipolarität. Dies ist die Konfiguration des gegenwärtigen internationalen Systems, weil die USA allen anderen Staaten machtpolitisch haushoch überlegen ist. Gibt es zwei ähnlich starke Staaten, so nennt man dies Bipolarität. So bildeten die USA und die Sowjetunion die beiden machtpolitischen Pole im internationalen System während des Kalten Krieges (1945–1990). Findet man mehr als zwei Staaten, die machtpolitisch ähnlich ausgestattet sind, so spricht man von Multipolarität. Diese Konfiguration bestand z. B. im Europa des 19. Jahrhunderts zwischen Großbritannien, Frankreich, Russland, Österreich-Ungarn und Deutschland (Preußen).

Balancing

Bandwagoning

Hegemone und/oder Großmächte zeichnen sich dadurch aus, dass sie selbst für ihre Sicherheit und ihr Überleben sorgen können. Dazu verfügen sie über ausreichend Ressourcen. Kleinere Staaten – und das ist die ganz überwiegende Zahl – sind auch bei allergrößter Anstrengung nicht in der Lage, ihr Überleben ohne fremde Unterstützung sicherzustellen. Selbsthilfe ist für diese Staaten keine erfolgversprechende Strategie, um ihre Sicherheit zu gewährleisten. Sie müssen deshalb zu einer der Selbsthilfe nachgeordneten Strategie — einer zweiten Präferenz — greifen. Hierzu bieten sich ihnen zwei Möglichkeiten: Erstens können sich viele kleinere Staaten zu einer Allianz zusammenschließen, denn mit dem gemeinsamen Machtpotential aller zusammen sind sie viel eher als jeder einzelne in der Lage, die Macht einer Großmacht/eines Hegemons auszubalancieren. Dieses Verhalten bezeichnet man mit dem englischen Wort balancing. Indem sich viele kleine Staaten zu einem Bündnis zusammenschließen, bilden sie einen eigenen machtpolitischen Pol im internationalen System gegen eine oder mehrere Großmächte. Zweitens können sich kleinere Staaten einer Großmacht anschließen und/oder unterordnen, die dann die Sicherheit der Kleinen garantiert. Dieses Verhalten bezeichnet man mit dem englischen Wort als bandwagoning.10 Bei dieser Möglichkeit versprechen sich die kleineren Staaten nicht nur den Schutz durch den Hegemon, sondern sie hoffen auch, dass sie an den Gewinnen des Hegemons in internationalen Beziehungen angemessen beteiligt werden.

Es ist vergleichsweise einfach, das Machtpotential von Staaten grob zu schätzen, um Unterschiede zwischen Hegemonen, Großmächten und kleinen Staaten zu bestimmen. Bei solchen groben Schätzungen spielen üblicherweise die Größe der Bevölkerung, das Bruttoinlandsprodukt und die Größe des staatlichen Territoriums eine wichtige Rolle. Der herausragende Faktor sind aber vor allem die militärischen Fähigkeiten. Um diese zu bestimmen, prüft man zum einen, ob es sich um Kernwaffenstaaten handelt oder nicht. Zum anderen gilt es, die Höhe der Verteidigungsausgaben sowie die Mannschaftsstärke der Streitkräfte zu ermitteln (Pastor 1999). Diese Kennzahlen kann man entweder auf ihren Anteil an den weltweiten Potentialen beziehen oder zwei oder mehr Staaten einander gegenüberstellen.

Messung von Macht

Das Machtpotential von Staaten genauer zu bestimmen als nur grob zu schätzen (Sullivan 1990), ist dagegen schwierig. Dazu müssten viele verschiedene Faktoren von den militärischen Fähigkeiten über wirtschaftliche Kapazitäten bis hin zur Innovationsfähigkeit erfasst und auf einheitliche Maßstäbe gebracht werden, mit denen man verschiedene Staaten beurteilen und vergleichen kann. Noch schwieriger erweist sich die Messung von »weicher Macht« (Nye 2004). Darunter versteht man die Fähigkeit von Staaten, beispielhaft zu wirken, und zwar in dem Sinne, dass andere Staaten dieses Beispiel nachahmen. Dieser von Konstruktivisten bevorzugte Machtbegriff bezieht auch immaterielle Faktoren (s. u.) ein. Neorealisten lehnen ihn eher ab.

Latente vs. tatsächliche Macht

Mearsheimer (2001: Kap. 3) oder Beckley (2011/12) haben sich zumindest bemüht, die Machtpotentiale von Staaten mit Hilfe von materiellen Maßstäben näher zu bestimmen.11 Mearsheimer unterschied dabei zwischen latenter Macht (Wohlstand) und tatsächlicher Macht (militärischen Fähigkeiten). Er legte dar, dass die Messung von Wohlstand unterschiedlich ausfallen müsse, je nachdem, in welcher Geschichtsperiode man sich befinde. Für die Bestimmung von Wohlstand seien also periodenspezifische Faktoren ausschlaggebend. Für die Zeit von 1816 bis 1960 zog er den Anteil jedes Staates an der weltweiten Eisen- und Stahlproduktion ebenso heran wie den Anteil am Energieverbrauch. Für die Machtmessung von 1960 bis heute benutzte er den Anteil der Staaten am Weltbruttosozialprodukt.

Zur Messung und den Vergleich der militärischen Stärke von Staaten schlug Mearsheimer drei Schritte vor (Mearsheimer 2001: 135–137). Er räumte jedoch ein, dass dies ebenfalls eine schwierige Unternehmung sei. Daher gäbe es keine Untersuchung, in der die militärische Stärke von Staaten systematisch und über längere Zeiträume gemessen worden wäre. Erstens müssten Größe und Qualität von Landstreitkräften bestimmt werden. Jedoch sei die Bestimmung von Qualität nicht einfach. Zweitens müsste untersucht werden, wie sehr Luftstreitkräfte die Bodentruppen unterstützen könnten. Drittens müsste geprüft werden, in welchem Maß große Distanzen zu Wasser oder in der Luft überwunden werden können, damit Streitkräfte am richtigen Ort zum Einsatz gebracht werden könnten. Dieser letzte Schritt erfasst also die Fähigkeit zur Machtprojektion.

Machtverschiebung über Zeit

Wenn es gelingt, diese Schwierigkeiten bei der Bestimmung von Macht zu überwinden; so kann man die relative Macht von Staaten gegenüber anderen Staaten zu einem bestimmten Zeitpunkt feststellen. Aus der Sicht des Neorealismus ist aber fast noch wichtiger, wie sich diese Machtverhältnisse zwischen Staaten über Zeit verändern. Denn der Aufstieg oder Fall von Großmächten sind jeweils kriegsträchtige Entwicklungen. Es zeigt sich, dass die wissenschaftlichen Debatten über Machtverschiebungen, die z. B. Kennedy (1989) mit seinem Werk über den Aufstieg und Fall von Großmächten zwischen 1500 und 2000 ausgelöst hat, vorwiegend entlang der Frage geführt werden, wie man Macht und Machtveränderung eigentlich bestimmen kann (Nye 1990).

Zusammenfassung

Neorealismus

Staaten sind primäre und einheitliche Akteure Internationaler Beziehungen. Ihr vorrangiges Interesse ist Sicherheit, d. h. das eigene Überleben als Staat. Internationale Beziehungen sind von Anarchie gekennzeichnet. Sie zwingt nach Sicherheit strebende Staaten zur Selbsthilfe. Das Streben nach Sicherheit im anarchischen Selbsthilfesystem führt zum Sicherheitsdilemma. Konflikte sind deshalb die häufigsten Politikergebnisse. Kooperation in internationalen Beziehungen ist selten. Sie ist an die Bedingung relativer Gewinne geknüpft: Nur wenn jeder der beteiligten Staaten denselben Gewinn aus der Kooperation zieht wie alle anderen, werden sie sich darauf einlassen.

Machtausstattung von Staaten und Machtverteilung im internationalen System bestimmen, welche Strategien Staaten zur Herstellung von Sicherheit wählen können. Konflikte aufgrund von Machtverschiebungen zwischen Hegemonen und Aufsteigern werden häufig gewaltsam ausgetragen. Kleinere und weniger mächtige Staaten müssen sich entweder für balancing oder bandwagoning entscheiden.

2.2 |Institutionalismus

Ideengeschichtlich knüpft der Institutionalismus an die klassische liberale Volkswirtschaftstheorie an. Adam Smith (1723–1790) und John Stuart Mill (1806–1873) können als Vordenker gelten. Der Institutionalismus reicht jedoch über die Teildisziplin Internationaler Beziehungen hinaus, weil auch in anderen politikwissenschaftlichen Teildisziplinen die Wirksamkeit von Institutionen erforscht wird (Hall/Taylor 1996; March/Olsen 1989; North 1990; Steinmo/Thelen/Longstreth 1992). In den modernen Internationalen Beziehungen sind insbesondere Robert O. Keohane, Joseph S. Nye Jr., Lisa Martin, Kenneth Oye und Arthur A. Stein die wichtigsten Vertreter. In Deutschland wird diese Theorie vor allem von der Tübinger Schule um Volker Rittberger, Andreas Hasenclever, Michael Zürn und Bernhard Zangl sowie von Otto Keck vertreten.

Übereinstimmung der Grundannahmen

Interessenmix

Institutionalisten12 stimmen mit den Neorealisten darin überein, dass Staaten die wichtigsten Akteure in Internationalen Beziehungen sind und dass Anarchie ein wesentliches Merkmal des internationalen Systems ist. Sie teilen jedoch keineswegs die von Neorealisten daraus gezogenen Schlussfolgerungen, dass Staaten vorrangig nach Sicherheit und Überleben streben müssen und dass sie deshalb in einen unauflöslichen Konflikt miteinander geraten. Neben dem Streben nach Sicherheit vereint Staaten aus der Sicht der Institutionalisten auch das Interesse an Wohlstandsmehrung. Es kann vor allem dann erreicht werden, wenn sie miteinander kooperieren. Internationale Beziehungen werden also nicht vorrangig von Konflikten beherrscht, wie Neorealisten behaupten, sondern von einer Mischung aus gemeinsamen und trennenden Interessen. Größerer Wohlstand für alle Staaten ist dann zu erreichen, wenn es zu einer Spezialisierung und Arbeitsteilung zwischen Staaten kommt (Kap. 5.1), aus der jeder einen absoluten Gewinn zieht (vgl. Abb. 2.1, rechts). Es muss allerdings sichergestellt werden, dass Staaten fair miteinander umgehen und nicht versuchen, sich gegenseitig zu übervorteilen. Dem stehen jedoch konkrete Kooperationshindernisse im Weg.

Überblick

Kooperationshindernisse

Betrug, Übervorteilung und Sorglosigkeit sind die Haupthindernisse, die Staaten davon abhalten, Vereinbarungen zu treffen und/oder einzuhalten. Um diese zu überwinden, muss sichergestellt sein, dass

alle Beteiligten einen Nutzen aus einer Kooperation ziehen, d. h. einen absoluten Gewinn (vgl. Abb. 2.1, rechts) erzielen;

alle Beteiligten die Regeln einhalten; wenn einem Staat aus der Regelverletzung Vorteile entstehen könnten, müssen Vorkehrungen für die Überwachung und nötigenfalls Bestrafung getroffen werden;

Vereinbarungen nicht dazu genutzt werden, sorglosen Umgang z. B. mit der gemeinsamen Sicherheit zu pflegen, weil die Risiken von den anderen Vereinbarungspartnern mitgetragen werden. Dieses Kooperationshindernis nennt man mit dem englischen Begriff moral hazard. Ein Beispiel: Ein Staat geht eine Allianz mit anderen ein, weil er militärischen Schutz gegenüber einem Nachbarstaat sucht. Mit dieser Allianz im Rücken fühlt er sich so sicher, dass er den Nachbarstaat ständig provoziert oder sogar selbst angreift. Seine Alliierten werden dadurch unbeabsichtigt in einen Konflikt hineingezogen.

Kooperationsanreize

Schatten der Zukunft

Mit Hilfe der Spieltheorie haben Institutionalisten herausgefunden, dass Akteure nur unter bestimmten Voraussetzungen versuchen, sich gegenseitig zu betrügen oder zu übervorteilen (Axelrod 1988; Oye 1986). Eine dieser Voraussetzungen ist, dass Kooperation nur einmalig stattfindet. Wenn Staaten aber mehrfach miteinander kooperieren, sinkt der Anreiz für einen Betrug, weil man damit rechnen muss, auch die andere Seite könnte die Kooperationsbeziehung zum eigenen Vorteil ausnutzen oder sogar ganz beenden. Auf dieses Weise wäre der durch Betrug erzielte Nutzen geringer als der durch mangelnde Kooperation entstandene Schaden. Übervorteilung und Betrug lohnen sich also dann nicht, wenn Staaten langfristig mit einander kooperieren. Über einer unbefristet angelegten Kooperationsbeziehung liegt also der »Schatten der Zukunft«. Die Beziehung ist so wertvoll, dass man sie nicht leichtfertig einem nur kurzfristig durch Betrug erzielbaren Nutzen opfert.

Linkage

Eine weitere Kooperation fördernde Voraussetzung ist, dass Staaten nicht nur in einem Politikfeld zusammenarbeiten, sondern auf vielen. Je vielfältiger und dichter die wechselseitigen Beziehungen werden, d. h. je höher der Verflechtungsgrad steigt, desto schädlicher ist es, einen Betrugsversuch zu unternehmen. Die Verbindung von Interaktionen in verschiedenen Politikfeldern wird mit dem englischen Wort linkage bezeichnet. Je mehr linkage besteht, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit von Kooperation.

Die kooperationsfördernde Wirkung von linkage kann außerdem dadurch verstärkt werden, dass Staaten eine »wie du mir, so ich dir« Strategie anwenden. Sie besteht darin, dass jede Aktion eines Akteurs mit der gleichen Aktion des anderen Akteurs beantwortet wird. Betrug wird mit Betrug, Kooperation mit Kooperation beantwortet. Auf diese Weise können Staaten lernen, dass Betrug schadet und Kooperation lohnt.

Wirksame Selbstregierung

Kollektiv handeln

In ihren bahnbrechenden Studien fand Elinor Ostrom heraus, dass Individuen tatsächlich in der Lage sind, ohne staatliche Hilfe Lösungen zur Überwindung von Kooperationshindernissen zu finden. Bergbauern in der Schweiz verständigten sich beispielsweise gemeinsam auf Regeln, mit denen die Überweidung gemeinschaftlich genutzter Wiesen wirksam verhindert wurde; Fischer verständigten sich auf Übereinkünfte, mit denen die Überfischung von Meeren verhindert und der natürliche Bestand erhalten werden konnten; in Nepal gelang es den Bürgern, wirksame Regeln für den Wasserverbrauch zu vereinbaren, mit denen dem Wassermangel begegnet wurde. Diese und zahlreiche andere Beispiele, die Ostrom erforschte, zeigen, dass die Betroffenen vor Ort häufig in der Lage sind, ihre Kooperationsprobleme durch Übereinkünfte selbst zu lösen (Cox et al. 2009; Ostrom 1999; 2010a; b). Besonders wichtig ist: Sie sind dabei nicht auf eine übergeordnete Regierung d. h. einen Staat angewiesen. Gesellschaften können auch ohne Regierung kollektiv handeln. Für ihre Arbeiten erhielt Ostrom zusammen mit Oliver Williamson 2009 den Nobelpreis für Ökonomie.

Wenn es Bürgern in ihren lokalen Gemeinden gelingt, Kooperationshindernisse durch Selbstregierung wirksam zu überwinden, können Staaten dies in internationalen Beziehungen nicht auf ähnliche Art und Weise erreichen?13 Wenn dies gelingt, so die institutionalistische Denkschule, stellt Anarchie kein unüberwindliches Hindernis für Kooperation in den internationalen Beziehungen mehr dar. Es kommt lediglich darauf an, den Akteuren dabei zu helfen, die resultierenden Dilemmata zu lösen, d. h. die weiter oben erläuterten Kooperationshindernisse (Überblick) zu überwinden.

Institutionen

Dies kann am besten dadurch erreicht werden, dass gemeinsame Regeln vereinbart und eingehalten werden. Solche Regeln werden »Institutionen« genannt. Institutionen bieten erhebliche Vorteile für Akteure. Der wichtigste Vorteil ist, dass die sogenannten Transaktionskosten gesenkt werden.

Exkurs

Transaktionskosten

Transaktionskosten sind ein Begriff aus den Wirtschaftswissenschaften. Sie entstehen, wenn zwei oder mehr Akteure ein Geschäft abschließen. Wer z. B. einen Handyvertrag mit einem Mobilfunkanbieter abschließt, muss glaubhaft machen, dass er die monatlichen Rechnungen bezahlen wird. Der Mobilfunkanbieter überprüft die Kreditwürdigkeit des Handykäufers jedoch nicht selbst, weil das sehr aufwendig wäre. Vielmehr nutzt er dafür z. B. die Schutzgemeinschaft für allgemeine Kreditsicherung (Schufa). Die Schufa sammelt Informationen über die Kreditwürdigkeit nahezu aller Bürger in Deutschland. Ihr Urteil zur Kreditwürdigkeit stellt sie Banken und Firmen gegen Gebühr zur Verfügung.

Diese Gebühren sind wichtige Transaktionskosten beim Abschluss etwa eines Handyvertrages, um zu unserem Beispiel zurückzukommen. Sie sind weitaus geringer, als wenn Mobilfunkanbieter die Kreditwürdigkeit jedes einzelnen Kunden selbst überprüfen müssten. In diesem Fall würden die Kosten für Handyverträge in erheblichem Maße steigen. Viele Bürger könnten sich keine Handys mehr leisten. Transaktionskosten wurden also dadurch gesenkt, dass man die Beurteilung von Kreditwürdigkeit gewissermaßen in eine Hand — die Schufa — gelegt hat. Auf diese Weise werden Handyverträge für weit mehr Kunden bezahlbar als ohne Schufa. Sowohl Handykäufer als auch Mobilfunkanbieter profitieren deshalb davon, dass sehr viel mehr Geschäfte abgeschlossen werden, weil Transaktionskosten ge senkt wurden. Zusammengerechnet bilden diese Vorteile auf beiden Seiten den Wohlfahrtsgewinn aus der Kooperation.

Transaktionskosten fallen natürlich auch in internationalen Beziehungen an. Man denke z. B. daran, dass die eigene Währung umgetauscht werden muss, wenn man im Ausland einkaufen will, weil sie dort nicht als Zahlungsmittel für Transaktionen akzeptiert wird. Die Umtauschgebühren stellen also Transaktionskosten dar. Wer sie nicht bezahlen möchte, kann im Ausland nicht einkaufen. Hinzu kommt, dass die Berechnung von Umtauschkursen aufwendig ist. Dies erschwert den Preisvergleich von Waren, die nicht in der eigenen Währung ausgezeichnet sind. Auch diese Mühen können als Transaktionskosten bezeichnet werden. Auch hier gilt: Wenn Bürger die Übernahme von Transaktionskosten scheuen, kommt kein Geschäft zustande. Der Kunde bekommt keine Ware, der Verkäufer kein Geld; weniger Geschäft bedeutet einen Wohlfahrtsverlust für alle.

Die gemeinsame Währung Euro ist z. B. vor allem deshalb wohlstandsfördernd, weil die Transaktionskosten für Geschäfte im gesamten Euroraum erheblich gesenkt werden. Man muss weder Geld in eine andere Währung umtauschen und dafür Gebühren entrichten, noch entsteht ein Aufwand beim Preisvergleich. Vielmehr besteht Preistransparenz.

Internationale Organisationen

In internationalen Beziehungen wird die Überwachung der Regeleinhaltung oftmals in die Hände von internationalen Organisationen gelegt. Sie überwachen, ob Staaten vereinbarte Regeln einhalten oder nicht. So prüft z. B. die Internationale Energieagentur (IAEO), ob Staaten die aus dem Vertrag über die Nicht-Verbreitung von Kernwaffen (Kernwaffensperrvertrag) resultierenden Verpflichtungen erfüllen; das Sekretariat der United Nations Framework Convention on Climate Change (UNFCCC) sammelt und veröffentlicht Informationen, in welchem Maße die Vertragspartner die Auflagen des Kyoto-Protokolls erfüllen; die Europäische Kommission ist beauftragt, die Einhaltung der Verträge durch die Mitgliedstaaten zu überwachen. Dadurch, dass internationale Organisationen mit der Überwachung betraut sind, werden Transaktionskosten erheblich gesenkt, denn andernfalls müssten alle Vertragsstaaten jeden anderen Vertragsstaat selbst überwachen – eine sehr teure Angelegenheit.

Zusammenfassung

Institutionalismus

Institutionen verändern das Verhalten von Staaten in Richtung Kooperation dadurch, dass sie deren Kosten-Nutzen-Kalkül verändern. Die Kosten von Kooperation werden geringer und ihr Nutzen steigt. Auf diese Weise helfen Institutionen Staaten dabei, Kooperationshindernisse zu überwinden. Daher wird die kooperationshemmende Wirkung der Anarchie in internationalen Beziehungen beschränkt. Institutionen wirken jedoch nur kooperationsfördernd, wenn eine Mischung von gemeinsamen und trennenden Interessen besteht. Wenn Staaten keine gemeinsamen Interessen haben, also keine Interessenüberschneidung besteht, spricht man von Nullsummen-Situationen. In diesen Situationen ist der Gewinn eines Akteurs der Verlust eines anderen Akteurs mit gleichem Betrag. Kooperation wird verhindert.

2.3 |Liberalismus

Ideengeschichtlich knüpft der Liberalismus an liberale Philosophen wie John Locke (1632–1704) oder Immanuel Kant (1724–1804) an. In wirtschaftswissenschaftlicher Hinsicht kann auch David Ricardo (1772–1823) als Vordenker gelten. Ungeachtet der einzelnen Varianten des Liberalismus teilen alle liberale Philosophen und Politikwissenschaftler einen Kerngedanken, der sie sowohl vom Neorealismus als auch vom Institutionalismus unterscheidet: Das Verhalten von Staaten hängt maßgeblich von einer Vielzahl innenpolitischer Faktoren ab, ohne deren Berücksichtigung es nicht verstanden werden kann (Peters 2007). Staaten können also nicht — wie Neorealisten und Institutionalisten annehmen — als eine Einheit, als einheitlicher Akteur, verstanden werden. Vielmehr werden Bedürfnisse von Individuen und Gruppen der Gesellschaft in einem Willensbildungsprozess zu Präferenzen eines Staates verarbeitet, die die Regierung dann nach außen vertritt (Moravcsik 2010).

Demokratischer Frieden

Aber welche innenpolitischen Faktoren kommen dabei in Betracht? Zwei Strömungen des Liberalismus geben darauf eine unterschiedliche Antwort. Die erste folgt Immanuel Kants Schrift »Zum Ewigen Frieden«, die Michael Doyle (1996) wieder aufgegriffen hat. Er gab damit den Anstoß zu einem großen und international weitverzweigten Forschungsprogramm Internationaler Beziehungen. Dessen zentrale Annahme ist, dass das nach außen gerichtete Verhalten von Staaten maßgeblich davon abhängt, ob das politische System eine Demokratie oder eine autoritär regierte Diktatur ist. Daraus wurde die Theorie des demokratischen Friedens entwickelt. Bruce Russett, und John R. Oneal gehören zu den wichtigsten Forschern auf diesem Feld. Für Deutschland sind vor allem die Arbeiten von Ernst O. Czempiel, Anna Geis, Harald Müller oder das Forschungsprojekt zur parlamentarischen Kontrolle von Streitkräften an der Universität Düsseldorf unter der Leitung von Hartwig Hummel und Stefan Marschall zu nennen. Wegen seiner grundsätzlichen Bedeutung für Internationale Beziehungen ist diesem Forschungszweig des Liberalismus ein eigenes Kapitel gewidmet (Kap. 4), so dass hier nicht näher darauf eingegangen wird.

Einfluss innenpolitischer Akteure

Die zweite Strömung des Liberalismus wird maßgeblich von der Außenpolitikforschung geprägt (Hudson 2005; 2007). Das außenpolitische Verhalten von Staaten beruht dieser Strömung zufolge weniger auf Merkmalen des politischen Systems, sondern vor allem auf dem Einfluss innenpolitischer Akteure. In den modernen Internationalen Beziehungen vertreten vor allem Andrew Moravcsik, Robert D. Putnam oder Helen V. Milner diese Strömung. In Deutschland sind es insbesondere Helga Haftendorn, Hanns W. Maull und Wolfgang Muno.

Akteurstypen

Liberale Forscher beziehen eine breite Spanne von Akteurstypen in ihre Analysen mit ein. Dazu gehören sowohl staatliche als auch gesellschaftliche Akteure. Die staatlichen Akteure können weiter unterteilt werden in z. B. Exekutive und Legislative, Ministerien, Verwaltungseinrichtungen oder Behörden mit regionaler oder kommunaler Zuständigkeit. Die politischen Parteien und die Medien werden häufig als Akteurstyp begriffen, der zwischen Staat und Gesellschaft steht und beide Bereiche verbindet.

Organisationsgrad und Strategiefähigkeit

Gesellschaftliche Akteure sind in erster Linie Interessengruppen und Lobbyisten, die sich nach Organisationsgrad und Strategiefähigkeit unterscheiden. Der Organisationsgrad gibt an, zu welchem Anteil eine gesellschaftliche Gruppe, z. B. Arbeitnehmer oder Arbeitgeber, in einer Interessengruppe organisiert ist. Strategiefähigkeit beschreibt die Durchsetzungsfähigkeit einer Interessengruppe im politischen Willensbildungsprozess (Streeck 1992; Thelen 2012). Zu den gesellschaftlichen Akteuren gehören zudem weitere Verbände und Vereine, die am Willensbildungsprozess teilnehmen, sowie soziale Bewegungen und schließlich die öffentliche Meinung.

Willensbildung

Andrew Moravcsik vertrat die These, dass Regierungen in ihrer Außenpolitik jeweils diejenige Position verträten, die sich im innenpolitischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess durchsetzen konnte (Moravcsik 1993; 1997). In seinen empirischen Arbeiten zeigte er, wie die jeweils durchsetzungsfähigsten Interessen die Regierungen der größeren europäischen Staaten dazu brachten, die Europäischen Gemeinschaften zu gründen und die europäische Integration bis hin zur Bildung der Europäischen Union durch Vertragsreformen zu vertiefen (Moravcsik 1991; 1998; Moravcsik/Nicolaidis 1999). Er sah allerdings keine Möglichkeit, diese Durchsetzungsfähigkeit allgemein zu bestimmen. Sie müsse vielmehr für jede außenpolitische Einzelfrage empirisch festgestellt werden.

Spektrum von Positionen

Um allgemeine theoretische Aussagen jenseits des Einzelfalls zu ermöglichen, ordnete Robert Putnam (1988) die Positionen von Staaten auf einem gemeinsamen räumlichen Spektrum an. Er wollte zwei Fragen beantworten:

1.