Intuitiv Malen - Thomas Lüchinger - E-Book

Intuitiv Malen E-Book

Thomas Lüchinger

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Beschreibung

Jeder Mensch ist kreativ und ein Schöpfer. Kreativität ist ein grundlegender Aspekt des Menschseins. Jeden Tag sind wir kreativ. Dabei geht es nicht einfach um das Hervorbringen künstlerischer Produkte. Dieses Buch ist eine Einladung an alle, sich ihrer aktiven Teilhabe im ständigen Schöpfungsprozess bewusst zu werden. So wie Bäume Blüten, Blätter und Früchte bringen, erschaffen Menschen 'Kunstwerke'. Beim Intuitiven Malen geht es darum, unsere empfänglichen Antennen zu sensibilisieren. Wir üben dabei eine Seinsweise, die uns erlaubt mit unverfälschtem, unschuldigen Blick zu empfangen, und uns von der Fülle unserer kreativen Quelle führen zu lassen. Das Buch eignet sich sowohl zur kreativen Inspiration von Gruppen, als auch für Einzelpersonen.

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Seitenzahl: 192

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Ich suche nicht – ich finde.

Suchen, das ist Ausgehen von alten

Beständen und ein Finden-Wollen

von bereits Bekanntem im Neuen.

Finden, das ist das völlig Neue!

Das Neue auch in der Bewegung.

Alle Wege sind offen, und was

gefunden wird, ist unbekannt.

Es ist ein heiliges Abenteuer!

Die Ungewissheit solcher Wagnisse

können eigentlich nur jene auf sich nehmen,

die sich im Ungeborgenen geborgen

wissen – die in die Unwissenheit

geführt werden – die sich im Dunkeln

einem unsichtbaren Stern überlassen –

die sich vom Ziele ziehen lassen und

nicht menschlich beschränkt und eingeengt

das Ziel bestimmen.

Dieses Offensein für jede neue Erkenntnis

im Innen und Aussen, das ist das Wesenhafte

des modernen Menschen, der in aller

Angst des Loslassens doch die

Gnade des Gehaltenseins im Offenwerden

neuer Möglichkeiten erfährt.

Pablo Picasso

INHALT

Einführung

Philosophie und Methode Den Intellektualismus sprengen

Kreatives Potenzial fördern

Der Raum

Was heisst Intuition?

Die kathartische Wirkung des Malens und die Rolle des Begleiters

Wichtige Punkte für Leitende im Umgang mit Menschen in Malgruppen

Erste Schritte

Entspannungsübung: Atmen und Wahrnehmen

Fantasiereise (Imagination) als Malimpuls

Das Bild wachsen lassen

Dialog mit dem Bild

Die inneren Kritiker-Stimmen

In die Tiefe der Spuren sehen: Was will geboren werden?

Bilder entstehen lassen – Gemeinsam Gesichter malen

Alles hat seinen Ort und seine Zeit

Sich eine Pause von den eigenen Vorstellungen gönnen

Dreißig Impulse zum intuitiven Malen

Jetzt ist Malzeit

Gewahr sein

Das Tun die Führung übernehmen lassen

Malen Sie Ihre Gefühle

Akzeptieren

Die Aufmerksamkeit auf den Körper richten

Wo „Unfälle“ zu Chancen werden

Mit Metaphern spielen

Details malen

Innere Stimmen

Vom Keimling zur Blüte

Begegnung mit dem inneren Kind

Muster erkennen – Gewohnheiten durchbrechen

Radikale Lebendigkeit

Vom Umgang mit Widerstand und Körpersymptomen

Ängsten begegnen

Das spielende Kind – Vom Perfektionismus zum Vertrauen

Eine Übung in die Langsamkeit

Die Schönheit des Rohen

Vertrauen gewinnen

Im Dialog mit Spuren und Figuren

Die Körperlandschaft

Sich freuen und genießen

Groll

Bewegungen des Glücks

Der Kompost und die Rose sind eins

Wünsche und Ziele

Sich selbst als Farbe erleben

Das Gefäß füllen

Den Boden fühlen

Mein Zentrum

Ich bin da

Perioden des Fließens – Perioden des Stockens

Ein nährendes Objekt

Enthusiasmus entwickeln

Empfangen

Der Dialog der Hände

Mein Körper tanzt – der Tanz des Malens

Dem Körper danken

Innere Schönheitspflege

Malerfahrungen in den Alltag integrieren

Im Inneren des Baums

Sich selbst als Tier wahrnehmen

Eine Skulptur

Das Spiegelbild

Meeresstrand

Ein Bild zum Abschluss bringen

Bilder spielerisch reflektieren – Ein Märchen schreiben

Das Elfengedicht

Eine Text-Collage entsteht

Wichtige Hinweise zur Begleitung von Malenden

Wir halten inne, um einfach da zu sein,

um mit der Welt und mit uns selbst zu sein.

Wenn wir fähig zum Innehalten sind, beginnen wir zu sehen.

Und wenn wir sehen können, verstehen wir auch.

Thich Nhat Hanh

EINFÜHRUNG

Kreativität ist eine große und aufregende Kraft. Menschen, die lernen, mit dieser Kraft umzugehen, öffnen sich damit sowohl in persönlicher als auch in beruflicher Hinsicht den Zugang zu mehr Lebendigkeit. Die Entwicklung von Kreativität kann gleichsam als Verringerung von identitäts-bedrohenden Kräften und Destruktivität betrachtet werden.

Die westliche Kultur ist von Fragmentierung geprägt. Unser privates wie berufliches Dasein ist in viele verschiedene Rollen aufgeteilt, die wir kaum noch auf einen gemeinsamen Nenner bringen können. Wir selbst sind fragmentiert und sehnen uns in unserem Alltag nach mehr Authentizität und Sinn. Doch oft wissen wir nicht, wie wir Arbeit und Privates, unsere eigenen Ansprüche und diejenigen anderer, zu größerer Zufriedenheit vereinen können. Die Gefühle von mangelnder Authentizität und Leere treiben manche dazu, andere zu idealisieren oder zu kritisieren. Auf der anderen Seite veranlassen sie Menschen aber auch immer wieder zur Suche nach dem Selbst mit Hilfe von Therapien und Kursen. Die häufigen Bemühungen, dabei Sicherheiten durch Fertigkeiten zu erlangen, scheinen mir auf dieser Suche allerdings nur bedingt hilfreich. Letztlich sind sie, was die Suche nach dem Selbst und die Sehnsucht nach Authentizität anbelangen, zum Scheitern verurteilt.

Ein Weg zu mehr Authentizität

Dieses Buch basiert auf der Überzeugung, dass mit der Entwicklung von Kreativität der Abbau von Fragmentierung einhergeht. Die seit Menschengedenken bestehende Tradition von Kunst und Malerei bietet uns dazu Mittel und Möglichkeiten.

Das künstlerische Schaffen, worum es in diesem Buch geht, ist jedoch nicht eine Sache von Begabung oder technischen Fertigkeiten. Es bedeutet nichts weiter, als den Weg zu beschreiten, die in uns allen schlummernde kreative Quelle zu wecken. Das Ziel dieses Weges ist es letztlich, mit künstlerischen Mitteln immer wieder die Frage nach dem eigenen Potenzial und dem Selbst zu stellen.

Künstlerisches Schaffen im Sinn von intuitivem Malen bedeutet zunächst, den Kopf von den vielen persönlichen und gesellschaftlichen Vorstellungen von Kunst und künstlerischem Tun zu leeren und dann durch Malen zu sich geführt zu werden – achtsam auf das Innen und Außen konzentriert. Das Malen an sich könnte im Sinne Freuds als „Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten“ verstanden werden. Bereichert mit der Praxis aufmerksamer Anwesenheit verbindet sich Denken mit Gewahrsein zur Möglichkeit, emotionale Erfahrungen intensiv zu durchleben, sie durch Bewegung, Formung und Spuren zu „formulieren“, um damit – über den künstlerischen Akt – der eigenen Wahrheit entgegen zu wachsen. Das braucht Mut, Disziplin und die Bereitschaft, Risiken einzugehen.

Entstehung und Hintergrund

Dieses Buch mit dem Untertitel Wege zur Kreativität ist eine Fortsetzung des Buches Intuitiv zeichnen – Sehen mit allen Sinnen (Zytglogge Werkbuch). Ähnlich dem ersten Band ist auch dieser keine theoretische Abhandlung und kein Lehrgang zum Malen. Vielmehr wurden die Gedanken bzw. Impulse und Anregungen zur Entwicklung persönlicher Bilder und alle hier gemachten Vorschläge und Übungen in meiner jahrelangen Praxis gründlich erprobt. Die vorliegenden Texte sind aus der künstlerischen Arbeit mit Menschen entstanden, die sich auf die Suche gemacht haben, ihre Kreativität und damit mehr Befriedigung in ihrem Leben zu finden. Die Begründung und Legitimation für diese Arbeitsweise wird deshalb nicht aus der Theorie abgeleitet, sondern ausschließlich aus der Praxis.

„Intuitiv Malen“ wird seit einigen Jahren als Kurs an verschiedenen Hoch- und Fachhochschulen zur Förderung des künstlerischen Ausdrucks durchgeführt, einerseits spezifisch zur Ausbildung von Kunst- und Maltherapeuten, andererseits zur kreativen Entwicklung vieler TeilnehmerInnen aus den unterschiedlichsten Berufsgruppen. Ziel dieser Kurse ist nicht die Vermittlung gestalterischer Fertigkeiten oder das Erlernen therapeutischer Methoden. Ziel ist allein die persönliche Entwicklung – unterstützt und erweckt durch Malen. Viele Malende kommen ohne künstlerische Vorkenntnisse zum intuitiven Malen. Sie kommen, um malen zu lernen, und entdecken dabei, dass Malen nicht primär das Beherrschen von Fertigkeiten bedeutet, sondern die Steigerung der Authentizität. Die einzige Voraussetzung ist demnach die Bereitschaft, sich ganz auf diesen Prozess einzulassen.

Aufbau

Das erste Kapitel beinhaltet einige theoretische Hintergründe und Überlegungen zum intuitiven Malen und stellt die Malwerkzeuge und die Arbeitsweise des intuitiven Malens vor. Im zweiten Kapitel geht es darum, die gemachten Erkenntnisse immer wieder anzuwenden, zu vertiefen und die Bilder entstehen zu lassen, indem die Malenden sich mit ihren Grenzen und ihrer Kreativität auseinander setzen.

Bei der Zusammenstellung handelt es sich um eine Sammlung von Impulsen, Einladungen gleich, sich selbst mit den Mitteln des Malens auf eine Entdeckungsreise zu begeben.

Das Buch kann als Orientierungshilfe benützt werden, sei dies für die individuelle Arbeit oder zur Anleitung anderer Menschen in einer Malgruppe. Grundsätzlich sind alle Übungen sowohl für junge als auch ältere Menschen geeignet. Bei der Durchführung sollte man sie jedoch dem Alter der Gruppe anpassen. Die Malanregungen basieren immer auf einer Entspannungsübung, die mit einer Imagination (Fantasiereise) verbunden ist. Erlebnisse aus der Imagination können unmittelbar in das darauf folgende Malen einfließen. Es geht dabei jedoch in keiner Weise darum, Malende unter Druck zu setzen, diese inneren imaginierten Bilder zu illustrieren. Denn jegliche Elemente und Empfindungen aus dem inneren Erleben, die in das Malen einfließen – ob bewusst oder unbewusst –, können auf dem Weg zur Entwicklung von Kreativität förderlich sein.

Sämtliche hier beschriebenen Übungen wurden in verschiedenen Zusammenhängen und in den unterschiedlichsten Konstellationen überprüft, und die Methode wurde anhand der gemachten Erfahrungen immer weiter verfeinert. Da sich auf dem Weg des Malens gewisse Erfahrungen wiederholt einstellen – so zum Beispiel die Begegnung mit Zweifel und Verunsicherung –, kommen diese Fragen auch mehrfach in unterschiedlichen Zusammenhängen vor. Die Auseinandersetzung mit inneren Widerständen ist denn auch eines der wichtigsten Themen auf dem Weg zu mehr Kreativität. Wiederholungen sind deshalb bewusst nicht vermieden worden. Vielmehr stellen sie im Buch immer wieder neue Möglichkeiten dar, sich insistierender Fragen in Variationen anzunehmen.

Es wurde einerseits der Versuch unternommen, eine aufbauende Struktur im Sinne eines möglichen Prozessverlaufs zu schaffen, andererseits lassen sich die Impulse und Texte auch ganz losgelöst als Anregungen benutzen.

Beim Zusammentragen der Übungen habe ich festgestellt, wie wichtig mir all jene Lehrerinnen und Lehrer waren, die nichts mit meiner orthodoxen Schulbildung zu tun hatten. Sie alle haben mich im Laufe der letzten Jahre dazu eingeladen, nicht nur in mein eigenes Selbst und unsere Kultur, sondern auch tiefer in fremde Kulturen und Psychologien einzudringen. Was all diese Erfahrungen miteinander verbindet, ist das Innehalten, die Konzentration und das In-die-Tiefe-Sehen. Dafür möchte ich mich bei ihnen bedanken. Das Innehalten wurde zur Basis für meine Arbeit und steht im Dienste einer vertieften Erforschung des Alltagsbewusstseins. In all den Jahren, in denen ich mit Menschen in künstlerischen Lehr- und Lernprozessen arbeitete, wurde offensichtlich, dass viele von ihnen unerfüllte Wünsche, Hoffnungen oder Frustrationen bezüglich ihrer Kreativität in sich trugen. Mit Hilfe der Möglichkeiten der Kunst habe ich versucht, einen Weg zu finden, sich dieser Wünsche und Frustrationen in einer Weise anzunehmen, dass sie schließlich in künstlerischen Ausdruck, in Kreativität und in das Erleben von Sinn münden.

Ich bedanke mich bei allen Malenden sowie den Studierenden der Pädagogischen Hochschule Zug, die sich auf diese Reise begeben haben, indem sie sich auf meine Anregungen einließen. Aus dieser intuitiven Malweise wurden nicht nur den Malenden große Geschenke zuteil (die sie sich selber machten), sondern ganz besonders auch mir, der ich Zeuge sein durfte von faszinierenden Durchbrüchen nach Phasen von Zweifel und Verunsicherung. Offenheit für Verwandlung ist das Thema, nicht die Herstellung von Bildern. Um diese brauchen wir uns gar nicht zu kümmern, sie sind das Geschenk, das wir von der Reise mitbringen.

Ein besonderer Dank geht an Aviva Gold. Sie hat mich mit ihrem Buch "Painting from the source" dazu angeregt, meine Erfahrungen mit dem Intuitiven Malen mit andern zu teilen. Es brauchte viel Geduld und Einfühlungsvermögen, um eine Struktur zu finden, die von den Leserinnen und Lesern im Sinne eines aufbauenden Prozesses nachvollzogen werden kann. Danken möchte ich in diesem Zusammenhang allen, die mich mit wertvollen Anregungen, ihrer Kreativität und ihrem Einfühlungsvermögen unterstützt haben.

Thomas Lüchinger

I PHILOSOPHIE UND METHODE

DEN INTELLEKTUALISMUS SPRENGEN

Erwachsene bezeichnen sich bei der Frage, ob sie malen können, oft als fantasielos. Unsere Fantasie ist jedoch nicht impotent, solange wir nicht tot sind; wir sind nur ein wenig vom Weg abgekommen. Schalten Sie beim Malen den verneinenden Intellekt aus, und heißen Sie das Unbewusste als Freund willkommen. Es wird Sie an jenen Ort führen, den Sie sich nicht haben träumen lassen, und hervorbringen, was in Ihrem Inneren liegt.

An dem Punkt, an dem eine rational erzählte Geschichte zu Ende wäre, gleiten intuitiv Malende heiter hinüber ins Unbekannte. Leitende stellen dabei ihren Verstand, an eigener Kunst-Erfahrung, Anthropologie und Psychologie geschult, in den Dienst der Aufgabe, den hinderlichenIntellektualismus im Malen zu sprengen.

Während Malende die Fantasiewelt der Kindheit wieder entdecken, unterziehen sie die Grundelemente, die ihre Welt zusammenhalten, noch einmal einer Prüfung. Sich nicht um Ergebnisse kümmernd, sondern sich den Bildern hingebend, ohne ihnen mit Worten zu begegnen, lernen sie, das „Denken anzuhalten“. Die Reise in die innere Welt will das Wissen um Kraft und Kreativität unter-stützen und durch Erfahrung bewusst machen.

Wir kennen die eindrücklichen Beispiele der Kunst. Wir haben etwas über Perspektive gelernt, Ausgewogenheit und Komposition. Intuitiv malen ist, als ob wir lernten, alles noch einmal zu entwerfen und zu formen, um das zu sehen, was da ist, und nicht das, wovon wir denken, dass es da sein sollte. Das „einfach Vorhandene“ empfinden wir gegenüber den Beispielen der Kunst und den Ansprüchen des Designs oft als weit unterlegen. Stumpfheit der Kreativität ist nicht etwa die unvermeidliche Folge des Älterwerdens, sondern der Erziehung und unserer Einstellungen.

Normalerweise ist in der Erziehung alles darauf ausgerichtet, Spontaneität zu unterdrücken. Beim intuitiven Malen wollen wir Spontaneität hervorbringen. Inspiration ist nichts Intellektuelles, und man muss nicht vollkommen sein, um sie zu erleben. Vielen Menschen, mit denen ich gearbeitet habe, widerstrebte es anfangs, überhaupt noch etwas zu machen, aus Angst zu versagen. Ihre ersten Einfälle waren nie gut genug. Alles musste korrigiert und ins Glied gebracht werden. Hinter meiner Überzeugung steht die Erfahrung, dass ein Schüler niemals die Erfahrung des Scheiterns machen sollte. Die Befähigung eines Lehrers liegt nach Lao-tse darin, Kenntnisse so darzubieten, dass der Schüler nur erfolgreich sein kann.Wer darüber mehr erfahren will, dem empfehle ich, das Tao-te-king des Lao-tse zu lesen.

Ich musste eine ganz andere Beziehung zu den Malenden aufbauen, als ich sie aus der eigenen Schulbildung kannte. Erst dann konnte ich hoffen, ihre Kreativität zu befreien, die immer dann offenbar wurde, wenn sie spürten, dass sie nicht von mir „erzogen“ wurden.

Die meisten Malenden und Lehrer glauben, dass wir allein mit Hilfe der Vorbilder aus der Kunst malen lernen können. Das ist nur die halbe Wahrheit. Unsere Bilder mögen von Kunst beeinflusst sein, aber zumindest ihr Inhalt sollte von uns selbst stammen. Wir sollten deshalb auch aufhören, Kinder als unreife Erwachsene zu betrachten. Wir müssen die verkümmerten Kinder in den Erwachsenen sehen und dazu beitragen, diese Kinder wieder zu erwecken. Intuitiv Gemaltes mit der darin enthaltenen Kraft und Qualität ist das beste Argument für diese Vorgehensweise. Nicht ein Vortrag über die Vortrefflichkeit der verfochtenen Philosophie oder Lösung, nicht die fortwährende Diskussion über die Bedeutung und Zielrichtung des Gestaltens stellen dessen Bedeutung unter Beweis, sondern das Geschaffene selbst.

Wenn Lehrende mit einer negativ eingestellten, gelangweilten Gruppe arbeiten, geben sie häufig den Schülern die Schuld und behaupten, diese seien schwer von Begriff oder desinteressiert. Das ist nicht richtig. Wenn die Schüler es nicht schaffen, fordere ich sie auf, mir die Schuld dafür zu geben, und ich sage ihnen, dass das wirklich einleuchtend sei, da ich ja der Fachmann sei. Darüber lachen sie und entkrampfen sich.

Diese Einstellung habe ich vom bekannten Theaterpädagogen Keith Johnstone gelernt, der von sich sagt: „Gäbe ich den Schülern das falsche ‚Material‘, würden sie scheitern; stellte ich ihnen dagegen das richtige Material zur Verfügung, könnten sie ihr Ziel erreichen. Es ist aber wichtig, sich als Lehrer dieser Aufgabe bewusst zu sein, denn nur ein selbstsicherer und erfahrener Mensch gibt sich beim Versagen der anderen die Schuld. Versagen ist dann plötzlich längst nicht mehr so Furcht einflößend. Natürlich wollen sie mich dann auf die Probe stellen; doch ich entschuldige mich tatsächlich bei ihnen, wenn sie nicht vorankommen, und bitte sie, geduldig mit mir zu sein, denn auch ich sei nicht vollkommen.“

Mir scheint, viele Lehrer wollen ihren Schülern beibringen, ihre Angst zu verbergen. Doch von der Angst bleiben immer Spuren – eine gewisse Schwerfälligkeit, Verkrampftheit, ein Mangel an Spontaneität. Ich versuche, die Angst mit einer Methode zu vertreiben, die ich von Thich Nhat Hanh übernommen habe.

Immer wieder wiederhole ich die ersten Arbeitsschritte, um jene mit einzubeziehen, die im Stadium der Angst verblieben sind und deshalb fast keine Fortschritte machen können. Statt Menschen für untalentiert zu halten, können wir sie als angsterfüllt begreifen – und nicht in der Lage, an ihr schlummerndes Potenzial zu glauben – dadurch verändert sich das Verhältnis eines Lehrenden zu den Lernenden völlig.

Es gibt viele Tricks, mit denen Schüler das schmerzliche Erlebnis des Scheiterns vermeiden. Kinder lernen durch Unterricht oft eher, sich um Probleme herumzudrücken statt wie sie Lösungen dafür finden können. Diese „Ich kann es nicht“-Einstellung ist schon fast eine Garantie zu „scheitern“, und alle haben bald genug davon.

Ich lehre Spontaneität. Deshalb sage ich den Malenden, sie dürften nicht versuchen, die Zukunft zu beherrschen oder zu „siegen“, sondern mit leerem Kopf einfach aufmerksam zuschauen.

Wenn sie malen, sollten sie einfach dem folgen, was passiert. Diese Entscheidung, Zukünftiges nicht beherrschen zu wollen, erlaubt es, angstfrei und spontan zu sein.

„Versucht nicht, geistreich oder originell zu sein“, sage ich abwartend, damit das Bild sich aus sich heraus entwickeln kann.

Dennoch sind viele bestrebt, sich an „interessanten“ Ideen festzuklammern. Diese Fixierung hat aber mehr mit dem Erhalten des eigenen Status zu tun als mit dem Entdecken der wahren Kreativität, und der tiefere Grund dafür liegt oft in der Angst, nicht zu genügen, sich mit dem „Unbekannten“ bloßzustellen oder zu wenig originell zu sein und damit nicht genügend beachtet zu werden. In diesem Sinn kann intuitives Malen nicht nur als ein Weg zu mehr Kreativität, sondern auch als ein Weg zur Überwindung von Angst gesehen werden. Das bedingt aber Erfolge aus kleinen Schritten.

KREATIVES POTENZIAL FÖRDERN

Die gestalterische Arbeit mit Menschen vor allem da, wo es um Selbstausdruck geht, führt immer wieder zu ähnlichen Erfahrungen.

Trotz der Suche nach dem eigenen Bild kommt es beim Malen oft nicht zur Identifikation mit dem eigenen Tun. Klischeehafte, vorgeprägte Bildideen nehmen überhand, oder das Malen verbleibt in einer gestisch unverbindlichen Aktion, was selten zu wirklicher Befriedigung führt. Es stellen sich daraus dann die Fragen, wie die Konzentration auf den eigenen Wahrnehmungsprozess verbessert und die Arbeitsatmosphäre intensiviert werden können. Und wir als Leiter oder Lehrerin erreichen, dass die Malenden ihre Kunst als Möglichkeit des Selbstausdruckes erleben, so dass dieser für sie individuell bedeutsam wird. Wie kann ein besserer Zugang zu den in jedem von uns steckenden kreativen Potenzialen gefördert werden?

In der neurophysiologischen Hirnforschung hat man sich in den letzten Jahrzehnten stark mit dem Phänomen unterschiedlicher Denk- und Erkenntnismodi im menschlichen Gehirn beschäftigt. Eines der wichtigsten Forschungsergebnisse ist die Erkenntnis, dass es ein von der Sprache völlig losgelöstes Denken in ganzheitlichen Bildern gibt, das gerade bei kreativen Prozessen eine herausragende Rolle spielt. Man unterscheidet dabei zwischen Bildern von außen und inneren Bildern – dem Bereich der Imagination.

Gemäß der Forschung ist die Imagination eine in der Menschheitsgeschichte erst spät entwickelte Fähigkeit, die unmittelbar an die Entstehung von menschlichem Bewusstsein gekoppelt zu sein scheint. Menschen verfügen also nicht nur über ein verbales Gedächtnis, sondern sind in der Lage, alle Arten von Wahrnehmungen, wie z. B. Gerüche, Töne und Bilder, die vom Beginn des Lebens an durch die Sinnesorgane gespeichert werden, über ein bildhaftes Gedächtnis wieder hervorzubringen.

Damit wird die Symbol- und Bildersprache zu einer Kommunikationsebene, welche die sprachliche überschreitet und ergänzt.

Imagination

Imaginieren ist etwas anderes als Träumen. Imagination ist eine Vorstellungsleistung, eine Denkleistung, eine kognitive Funktion im bewussten Wachzustand. Oft sind diese bewusst wahrgenommenen Bilder affektiv geprägt. Imaginierte Bilder entstehen aber nicht aus der Willenskraft, sondern basieren auf der Grundlage tiefer Entspannung des gesamten Körpers, aus dessen Innerem sie dann aufsteigen. Die Beziehung zwischen Entspannung und Imagination macht es notwendig, dass wir eine entsprechende Methode zur Hinführung an innere Bilder benützen. Deshalb beginnen Imaginationsübungen – oder Fantasiereisen zum Einstieg ins Malen – immer mit einer vorbereitenden Entspannung auf der Basis des achtsamen Atmens und der sorgfältigen Körperwahrnehmung. Es geht darum, zuerst bei sich selbst anzukommen.

Fantasiereise

Fantasiereisen sind eine Möglichkeit, die Tür zur eigenen Innenwelt zu öffnen. Reisen bedeutet hier, sich aufzumachen, sich einzulassen auf Erlebnisse und Wagnisse, die eine innerliche Veränderung ermöglichen.

In der Vorbereitung zum Malen hat sich in meinen Gruppen ein sich immer wiederholender Ablauf – ein festes Ritual – bewährt: Die „Reisenden“ sitzen oder liegen in einer bequemen Position, meist in einem Kreis. Zuerst machen wir eine Atemübung, dann folgt eine Körperentspannungsphase und schließlich die Heranführung an die Fantasiereise.

Aus diesem Erlebnis können die gemalten Bilder direkt abgeleitet werden – sie entstehen daraus.

Tatsächlich dienen die Fantasiereisen aber nicht dazu, konkrete Bildvorstellungen zu entwickeln, die dann gemalt werden sollten. Vielmehr öffnen sie den Zugang zu unserem Vorstellungsvermögen und machen uns auf diese Weise vertraut mit unserem inneren Bilderreichtum.

Die Eindrücke und Gefühle aus der Fantasiereise können beim Malen in unmittelbarer Weise nachbzw. wiedererlebt werden. Unsere Kreativität manifestiert sich bereits in einer solchen individuellen Erfahrung und steht in Beziehung zur persönlichen Vorgeschichte. Es geht dabei nicht darum, etwas vollkommen Neues und Unbekanntes zu entdecken, sondern einzig darum, durch diese innere Aktivität das Vertrauen in sich und die eigenen Fähigkeiten zu fördern und damit das gestalterische Handeln anzuregen.

Durch das anschließende Malen wird der Mut gestärkt, nicht nur in der Fantasie zu verweilen, sondern auch im alltäglichen Leben kreativ zu handeln.

Das zeigt sich darin, dass sich meistens schon im Verlaufe von wenigen Wochen das gestalterische Potenzial erweitert und kreative Fähigkeiten entdeckt werden, die bei vielen als verschüttet galten. Das innere Erleben der Bilder sowie die Möglichkeit, seine Wahrnehmungen in möglichst vielen gestalterischen Facetten auszudrücken, erweitern bei den Malenden das Bewusstsein für das ganze Spektrum, das sie als Menschen ausmacht.

Fantasiereisen werden weder verbal besprochen noch werden innere Bilder interpretiert. Die emotionalen Erfahrungen der Reisenden verwirklichen sich beim Malen durch die Bewegungen des Leibes, der sich an die Erlebnisse erinnert. Die Bewegtheit drückt sich dann in Farbe und Form aus. Bilder, die aus den kreativen Quellen, aus dem inneren Erleben gespeist werden, sind im Allgemeinen expressiver, freier und oft kreativer als die sich an Ideen orientierenden Gestaltungen.

DER RAUM

Der Raum, in dem Fantasiereisen durchgeführt werden, ist idealerweise ruhig und genügend groß. Wenn es z. B. eine Geräuschkulisse gibt, kann diese in die Entspannungsübung bzw. in die Fantasiereise einbezogen werden: Nehmen Sie alle Geräusche wahr und beobachten Sie sie. Lassen Sie sie dann weiterziehen und sich nicht von ihnen beeinträchtigen. Störungen innerhalb der Gruppe, z. B. durch Teilnehmende, die später ankommen, sind unangenehmer, weil dadurch Fantasiereisende aus ihrem Bilderleben herausgerissen werden. Solche Störungen sollten deshalb vermieden werden.

Es ist vorteilhaft, wenn der Raum etwas abgedunkelt wird. Natürlich können auch Augenbinden benutzt werden. Wenn Fantasiereisende am Boden liegen, sind außerdem eine Matte und ev. ein kleines Kissen empfehlenswert. Je nach Raumtemperatur mag auch eine Decke ratsam sein.

WAS HEISST INTUITION? Was heisst intuitiv malen?

Intuition, innere Stimme, Offenbarung – das sind alles Namen für ein und dasselbe. Es ist das in uns vorhandene, aber selten bewusst wahrgenommene innere „Wissen“, das unmittelbare Wissen. Beim Malen könnte Intuition als der primäre Impuls bezeichnet werden.

Es ist nicht ganz einfach zu erklären, wie unsere Intuition funktioniert, was sie genau ist. Um es mit einer Negation zu sagen: Alles, was auf Erklärungen und Argumenten beruht, ist nicht Intuition. Doch reicht dies noch nicht aus, um die innere Stimme der Intuition von anderen Gedanken zu unterscheiden. Intuition kann der erste unmittelbare Gedanke sein, der in uns auftaucht, ohne dass wir wissen, woher er kommt.

Bevor intuitives Wissen Form annimmt, ist es bereits da, nur eben noch ungeformt. Der bewusste Gedanke – und somit die Form – ist nicht die Essenz, sondern lediglich die Gestalt dieses inneren Wissens.