Investigatives Recherchieren - Johannes Ludwig - E-Book

Investigatives Recherchieren E-Book

Johannes Ludwig

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Beschreibung

Investigativ arbeitende Journalisten müssen regelmäßig Widerstände überwinden, um ihre öffentliche Kontrollfunktion wahrnehmen zu können. Das notwendige Know-how hierfür vermittelt dieses Fachbuch – wissenschaftlich fundiert und anhand zahlreicher Fallbeispiele von aufgedeckten Affären. Johannes Ludwig beschreibt z. B., wie man sich mithilfe von Organigrammen oder Ablaufplänen in komplexe Organisationen wie Unternehmen, Parteien oder Ministerien 'hineindenken' kann, um Schwachstellen aufzudecken oder Informanten zu finden. Oder wie man mit 'hot docs' und brisanten Daten umgeht. Informanten, die Insiderwissen an Journalisten weitergeben, spielen eine zentrale Rolle. Zu ihnen gilt es, ein persönliches Vertrauensverhältnis aufzubauen und sie vor der Öffentlichkeit oder der Staatsanwaltschaft zu schützen. Die dritte Auflage ist kompakter, wurde aber um die Themen Leaking-Plattformen, Whistleblower und sichere Kommunikation im NSA-Zeitalter erweitert. Das Buch wird ergänzt und aktualisiert durch die Website "investigativ.org". Es enthält außerdem Links zu den rund 100 couragierten Recherchen und Reportagen, die das Dokumentationszentrum "ansTageslicht" gesammelt und ausgewertet hat.

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Johannes Ludwig, Prof. Dr., lehrt an der Fakultät Design, Medien und Information an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg. Er hat vorher für Presse, Hörfunk und Fernsehen (Die Zeit, Wirtschaftswoche, Deutschlandradio, Spiegel-TV) gearbeitet und war in der journalistischen Weiterbildung tätig. Ludwig ist Initiator von www.ansTageslicht.de und www.informanten.org.

Inhalt

Vorwort

1

 

Investigatives Recherchieren – zwischen Präzision und Sensation

1.1

 

Was alles kann Journalismus sein und was ist investigativer Journalismus?

1.2

 

Kriterien für »investigativen Journalismus«

1.3

 

Ausgangspunkte und Anstöße für Recherchen

1.4

 

Aktualität und Themenkarriere

2

 

Grundsätzliche Herangehensweisen

2.1

 

Wirklichkeiten und ihre Konstruktion

2.2

 

Neugier, Misstrauen und Respektlosigkeit

2.3

 

Misstrauen gegenüber der Justiz

2.4

 

Phantasie und Kreativität: Das Unmögliche für möglich halten.

2.5

 

Mitdenken, vorausdenken, querdenken

2.6

 

Interessen und Instrumentalisierung

3

 

Recherchestrategien

3.1

 

Unverzichtbare Arbeitspraktiken

3.1.1

 

Recherchen: am Telefon und vor Ort

3.1.2

 

Archivierung von Informationen

3.1.3

 

Recherche- und Rekonstruktionshilfen

3.2

 

Einkreisen: von außen nach innen, von unten nach oben

3.3

 

Sukzessive Suche nach der Wirklichkeit(skonstruktion)

3.3.1

 

Der ›Je-mehr-man-bereits-weiß‹ -Vorteil

3.3.2

 

Tiefstapeln gegenüber Dritten

3.3.3

 

Die ›Wissen-ohne-Beleg‹ -Situation

3.3.4

 

Systematischer Check aller denkbaren Möglichkeiten

3.4

 

Gesprächspsychologie und -organisation

3.5

 

Auf der Suche nach Zeugen und Belegen

3.5.1

 

Eindenken in die »Betriebssysteme« von Systemen

3.5.2

 

Interessenidentitäten und ›Verbündete‹

3.5.3

 

Parlamentarische Untersuchungsausschüsse

3.6

 

Follow-up-Strategien

3.7

 

Die verdeckte Recherche: undercover

3.7.1

 

Problemlage

3.7.2

 

Unterschiedliche Fallsituationen

3.7.3

 

Undercover: Stand der aktuellen Rechtsprechung

3.7.4

 

Sonderfall: versteckte Kamera

3.8

 

In der Höhle des Löwen

3.8.1

 

Rechtslage und journalistische Sorgfaltspflicht

3.8.2

 

Journalistische Kriterien

4

 

Quellen und Informationen

4.1

 

Klassische Informationssuche und Rechercherecht

4.2

 

Informationssuche im Internet/World Wide Web

4.2.1

 

Zur journalistischen Zuverlässigkeit des Internets

4.2.2

 

Zur Leistungsfähigkeit von Suchmaschinen

4.2.3

 

Nutzung von Wikipedia u. ä. Quellen

4.2.4

 

Nutzung von Leaking-Plattformen à la Wikileaks

4.3

 

Datenjournalismus und Ähnliches

4.4

 

Informationsfreiheitsgesetze

4.5

 

Gutachter und Experten: Anerkannte, Selbsternannte und Verkannte

4.6

 

Quellen und Informationen im Detail:

www.investigativ.org

5

 

Informanten

5.1

 

Leaks: Systeme und Informanten

5.2

 

Typologie von Informanten

5.3

 

Informantenschutz – rechtlich gesehen

5.3.1

 

Aussageverweigerungs- bzw. Zeugnisverweigerungsrecht

5.3.2

 

Verbreitung rechtswidrig erlangter Informationen

5.3.3

 

Beschlagnahme- und Durchsuchungsverbot

5.3.4

 

Schwachstellen: Abhören, Lauschangriff und nachrichtendienstliche Methoden.

5.4

 

Leaking-Plattformen und anonyme Informanten

5.5

 

Journalistischer Informantenschutz: Vertrauen und klare Absprachen

5.5.1

 

Der ›Workflow‹ zwischen Journalist und Informant

5.5.2

 

Informant und/oder Whistleblower

6

 

›Hot Docs‹, sensible Daten und (ge)sicher(t)e Kommunikation

6.1

 

Sicherungsmaßnahmen und Archivierung

6.2

 

Säubern

6.3

 

Umgang mit ›hot Docs‹ und brisanten Daten

6.4

 

Trotz NSA & BND: (ge) sicher(t)e Kommunikation und Informationslogistik

6.4.1

 

Kommunikation mit dem PC: Sicherungsmaßnahmen

6.4.2

 

(Ge)Sicher(t)e Informationslogistik

6.4.3

 

Telefonieren und andere Arten der akustischen und sonstigen Signalübertragung

7

 

Reale Arbeitsbedingungen und investigative Arbeitsmöglichkeiten

7.1

 

Individuelle Spezialisierung & Know-how

7.2

 

Arbeitsteilung und Spezialisierung: kreatives Teamwork

7.3

 

Kooperationen mit Kollegen

7.3.1

 

Notwendige Absprachen

7.3.2

 

Sich gegenseitig die Bälle zuspielen

7.3.3

 

Selten genutzte Kooperationen

7.4

 

Dranbleiben: mit langem Atem und Engagement

Abkürzungen

Literatur

Index

Vorwort zur 3. Auflage

Auch wenn der Buchtitel abgeändert und der Umfang von ehemals knapp 440 Seiten auf rd. 250 reduziert wurde, hat die dritte Auflage von »Investigativer Journalismus: Recherchestrategien – Quellen – Informanten« (Titel der 1. Auflage) keinerlei inhaltliche Einschränkung erfahren. Im Gegenteil: Neben der Berücksichtigung relevanter Entwicklungen der neueren Zeit sind viele weitere Aspekte zu diesem Thema hinzugekommen. Allerdings im Kontext eines erweiterten Konzepts: einer noch stärkeren Verzahnung zwischen den Inhalten dieser 3. Auflage und den Informationen und Hinweisen, die auf der zu diesem Buch gehörenden Website www.investigativ.org ausgelagert wurden.

So ist das Ganze arbeitsteilig angelegt: Das Buch konzentriert sich mehr auf grundsätzliche Überlegungen und Vorgehensweisen. Auf der Website www.investigativ.org, die dem veränderten Buchtitel angepasst wurde (vormals www.recherchieren.org), finden sich vor allem die auf die tägliche Anwendungspraxis bezogenen Informationen, insbesondere jene des vierten Kapitels, in dem es um ganz konkrete Quellen und Informationsressourcen geht. Außerdem weitere Beispiele zu den im Buch angesprochenen Stichworten.

Und noch häufiger als in den beiden Vorgängerauflagen wird auf weitere Fallbeispiele verwiesen, die im Rahmen eines parallelen Projekts rekonstruiert wurden und in aller Ausführlichkeit online nachzulesen sind: die über 100 Geschichten des »DokZentrums ansTageslicht.de«, einem Hochschulprojekt in Hamburg, angesiedelt zwischen Wissenschaft und Praxis. Dazu gehören auch die mit dem »Wächterpreis der Tagespresse« ausgezeichneten Geschichten, die dort seit 2003 dokumentiert sind. Alles zu finden unter der zentralen Domain www.ansTageslicht.de.

Inzwischen haben sowohl dieses Buch als auch das DokZentrum ansTageslicht.de einen ersten Schritt in die Internationalität getan. Unter www.poisk-faktov.org ist die zweite (umfangreichere) Buchversion in russischer Sprache online gegangen, finanziert von der »Medienstiftung Hamburg. Schleswig-Holstein«. Dort finden sich auch die ersten Geschichten und Themen von www.ansTageslicht.de in Russisch. Den ersten Schritt auf die ›rechte‹ Seite der Landkarte zu gehen, fanden wir wichtiger, als uns zuerst ins Angelsächsische (›links‹) zu begeben.

In der Themensetzung hat sich nichts geändert. Es geht um die in freiheitlich organisierten Ländern anerkannte Watchdog-Funktion der Presse für funktionierende demokratische Politikkulturen. Hier zu Lande spricht man auch von der »öffentlichen Aufgabe« der Medien. Jene aber kann nur wahrgenommen werden, wenn es genügend mediale »Öffentlichkeitsarbeiter« gibt, die ihren Job ernsthaft betreiben (können). Und das bedeutet vor allem zweierlei: professionelles Engagement und Know-how auf der einen Seite, entsprechende Arbeitsbedingungen auf der anderen.

Das vorliegende Buch beschäftigt sich vor allem mit der journalistischen Dimension. Indirekt aber auch mit der Ebene von Organisation und Management, weil es klarmacht, wie unvoreingenommenes und konsequentes Recherchieren funktioniert und welchen Aufwand es bedeutet. Denn »investigativer«, also »untersuchender« oder auch »hartnäckig recherchierender« Journalismus, der sich nicht mit oberflächlichen Erklärungen und offiziellen Statements begnügt, sondern hinter die Kulissen schauen will, arbeitet unter erschwerten Bedingungen: gegen Barrieren und Widerstände.

Diese Art von medialem Job ist keine hohe Kunst, sondern Handwerk. Und das lässt sich erlernen. Dazu wollen dieses Buch und die Websites einen Beitrag leisten – als ›Lehrwerk‹, in dem die wichtigsten Arbeitsweisen erklärt werden: grundsätzliche Herangehensweisen und Recherchestrategien, Erschließung und konkrete Nutzung von Quellen, Umgang mit Informanten sowie mögliche Themenfelder.

Gegen die Interessen der Großen und Mächtigen zu arbeiten, bedeutet gleichzeitig immer auch eine Gratwanderung zwischen dem, was rechtlich möglich ist und was nicht (mehr) bzw. was juristisch gesehen nicht mehr vertretbar erscheint, auch wenn es aus anderen Gründen geboten wäre. Aus diesem Grund hat mein Kollege, der bekannte Medienrechtler Prof. Dr. Udo Branahl, die Lektionen auf ihre presserechtlichen Aspekte hin abgeklopft. Alles andere geht auf meine eigene Kappe, wobei mein Know-how im investigativen Metier aus eigener und langjähriger Erfahrung stammt.

Nichts ist vollkommen und nichts könnte nicht noch besser werden. Deshalb sind Kritik und Verbesserungsvorschläge jederzeit willkommen. Adressen finden sich auf den beiden Websites www.investigativ.org sowie www.ansTageslicht.de.

Hamburg und Berlin im April 2014 Johannes Ludwig

1 Investigatives Recherchieren – zwischen Präzision und Sensation

Das Einstiegskapitel wird sich mit einigen grundsätzlichen Überlegungen befassen: 1) Was alles ist Journalismus und was bedeutet »investigativer« Journalismus, 2) was sind die Kriterien und Kennzeichen für diese Art von recherchierendem Journalismus, 3) wo und wie können solche Geschichten ihren Anfang nehmen und 4) wie definiert sich in diesem Genre »Aktualität«?

1.1 Was alles kann Journalismus sein und was ist investigativer Journalismus?

Journalismus und journalistische Tätigkeit kann vieles sein:

Unterhaltung im weitesten Sinne, egal ob Unterhaltungs- oder Talkshow, Ratespiel oder Sport, z. B. eine Fußballübertragung

Bildung und Wissensvermittlung von interessanten und/oder nützlichen Zusammenhängen des Lebens, egal ob Wissenschaftsjournalismus oder Hintergründiges zu einem historischen oder politischen Thema

Weitergabe von Informationen und aktuellen Nachrichten

das Moderieren von Diskussionen, Gesprächen und Themen, die für viele, selten alle von Interesse und/oder Bedeutung sind.

All diese Arten von journalistischer Informationsvermittlung machen weltweit den allergrößten Teil journalistischer Betätigungen aus: über 99 %. Der kleine Rest, der übrig bleibt, bezieht sich auf das, was nur sehr wenige machen:

Kritisches Hinterfragen all der Dinge, die auf den ersten Blick plausibel oder zutreffend erscheinen, und eigene intensive Recherchen dazu.

Dieses Buch beschäftigt sich ausschließlich mit dem letzten Aspekt.

Egal, was man journalistisch macht: Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, diesen Job zu machen. Dies sei an der Gegensätzlichkeit journalistischer Berichterstattung erläutert – anhand einer sogenannten Polarfallanalyse, die völlig gegensätzliche Fälle einzufangen geeignet ist. Zwischen den gegensätzlichen und extremen realen Fallbeispielen liegen – erfahrungsgemäß – die am häufigsten vorkommenden Lebenssituationen.

Diese unterschiedlichen Fälle journalistischer Berichterstattung werden zunächst nach ihrer Zielsetzung und ihrem Selbstverständnis (Abb. 1), dann nach ihrer Quellennutzung und ihrem Arbeits- und Rechercheaufwand sowie ihrer Akzeptanz seitens jener klassifiziert, über die recherchiert und veröffentlicht wird (Abb. 2).

Abb. 1: Bandbreite journalistischer Berichterstattung

»Hofberichterstattung«, die Übernahme von z. B. Pressemeldungen 1:1 oder das Schön- oder »Hochschreiben« (im Gegensatz zum »Runterschreiben«) ist kein Privileg früherer Zeiten – Verlautbarungsjournalismus ist auch heute vielfach gang und gäbe. Beispiel: Die TV-Berichterstattung über den gefallenen Radprofi Jan ULLRICH bis zum Jahr 2007 durch den ehemaligen ARD-Sportkoordinator Hagen BOßDORF, der ULLRICHs Buch »Ganz oder gar nicht« verfasst hatte. Als erste Dopingvorwürfe bei der Tour de France auftauchten, hatte Sportjournalist BOßDORF das so abgetan: »Sagt die Telekom, es gibt keinen Dopingfall, dann gibt es auch keinen Dopingfall für die ARD.« Umgekehrt hatten SPIEGEL-Redakteure Indizien und Belege ausgegraben – sie hatten nach der (verborgenen) Wahrheit gesucht, die nicht öffentlich wahrgenommene Realität des flächendeckenden Dopens im Radsport thematisiert. ULLRICH wurde letztlich des Dopings überführt (mehr unter www.ansTageslicht.de/Ullrich). Inzwischen hat die ARD hinzugelernt: Jetzt ›leistet‹ sie sich einen Spezialisten, den (Anti-)Doping-Journalisten Hajo SEPPELT.

»Verlautbarungsjournalismus« bedeutet weniger Arbeit und Aufwand als Recherchieren – auch aus diesem Grund findet kritisches Hinterfragen nicht sooft statt wie die Nutzung bequem zugänglicher Quellen (Abb. 2). Zwischen diesen beiden polaren Fällen liegen all die Recherche- und Berichterstattungssituationen, die unser Mediensystem vor allem prägen. Z. B. Journalismus, der sich vorrangig auf »allgemein zugängliche Quellen« stützt:

Abb. 2: Bandbreite journalistischer Berichterstattung und (unterschiedliche) Quellennutzung

»Allgemein zugängliche Quellen« sind all die Dinge, an die man ohne Probleme und Arbeitsaufwand herankommen kann: Zeitungen, Bücher in Bibliotheken, Pressemitteilungen usw. Hier hat aber der technische Fortschritt vieles verändert – inzwischen zählen auch alle Informationen dazu, die online verfügbar sind. Bleibt man bei dieser Definition, würden auch geheime Dokumente auf sogenannten Leaking-Plattformen dazurechnen.

Die Nutzung von nicht nur »allgemein zugänglichen Quellen« (siehe Kapitel 4.6) bedeutet, dass man darüber hinaus selbst Informationen einholt und Nachfragen stellt, um beispielsweise die Informationen aus den rein »allgemein zugänglichen Quellen« zu ergänzen oder aufzustocken – Recherchieren light sozusagen.

Das Nutzen von nicht ohne weiteres nutzbaren Quellen (siehe Kapitel 4.6) bedeutet bereits echtes Recherchieren. Also Informationen zu organisieren, was mit hohem Aufwand, z. B. an Zeit verbunden ist, aber auch schon die Kenntnis von Recherchemethoden voraussetzt.

Will man Quellen nutzen, die eigentlich nicht für die Öffentlichkeit und deswegen auch nicht für Journalisten vorgesehen sind, also Quellen, die deswegen auch offiziell gar nicht zugänglich oder teilweise sogar gesperrt sind, dann befindet man sich bereits beim harten Recherchieren, dem sogenannten »investigativen« Journalismus. Viele Einblicke in Realitäten und Zusammenhänge, von denen man sonst nichts wissen würde, können nur auf diese Weise journalistisch organisiert werden.

Parallel dazu steigt der Arbeitsaufwand, der auch ein zunehmendes Maß an Recherchetechniken voraussetzt.

Und ebenfalls parallel zu dieser Skalierung läuft auch die Akzeptanz seitens derer, die Gegenstand bzw. das Objekt von Recherchen (OdR) sind:

Abb. 3: Bandbreite journalistischer Berichterstattung, Quellennutzung und Akzeptanz der Betroffenen (OdR)

Aus diesem Grund können journalistische Barrieren, die kritische Berichterstattung erschweren oder verhindern sollen, unterschiedlich aufgestellt sein, wie in der nächsten Abbildung angedeutet. In totalitären Staaten, in denen Zensur und keine Pressefreiheit herrscht, beginnen Barrieren sehr früh zu greifen. Zugelassen und akzeptiert wird nur die Nutzung allgemein zugänglicher Quellen. Wer darüber hinaus bereits mit anderen Quellen arbeitet, macht sich bei den Mächtigen schnell unbeliebt (vgl. Abb. 4):

Abb. 4: Bandbreite journalistischer Berichterstattung, Quellennutzung und Barrieren in totalitären Staaten

Anders in freiheitlich organisierten Gesellschaftssystemen. Politisch gesetzte Barrieren beginnen erst spät, Faktische noch später: Je ausgefeilter die Recherchetechniken und je größer die Spielräume, die sich mittels Kreativität erschließen lassen, umso breiter und tiefergehend fallen auch die realen Recherchemöglichkeiten aus – ohne Leib und Leben zu riskieren:

Abb. 5: Bandbreite journalistischer Berichterstattung, Quellennutzung und Barrieren in freiheitlich organisierten Staaten

Solche Barrieren können unterschiedlichen Ursprungs sein:

eingeschränkte Wahrnehmung beim Journalisten selbst, z. B. durch Stress und Arbeitsroutinen bedingt, Stichwort Tunnelblick. Darum geht es in

Kapitel 2

.

Maßnahmen der Gegenseite: z. B. eine Mauer des Schweigens oder der Einsatz von Nebelkerzen zwecks Ablenkung oder Irreführung. Darüber wird im dritten Kapitel zu sprechen sein.

Vorsprung der Gegenseite bei den Informationen, sprich dem Herrschaftswissen, das es zu knacken gilt – siehe ebenfalls Kapitel Nummer 3.

Juristische Barrieren wie Androhung von gerichtlichen Maßnahmen oder vorhandene rechtliche Grenzen: z. B. die vielen Geheimnisse, die unser bundesdeutsches Gesellschaftssystem prägen oder Persönlichkeitsrechte. Auf derlei – potenzielle – Barrieren gehen wir mehrfach ein.

»Barrieren« meint Widerstände. Widerstand bedeutet nicht, dass es nicht ginge. Es bedeutet nur, dass es schwieriger und/oder aufwendiger wird. Und genau hier beginnt investigatives Recherchieren, wenn man es vom Ziel und dem damit verbundenen Aufwand her betrachtet: Das Durchbohren gesperrter bzw. nach außen hin abgeschotteter Lebenswelten und Realitäten gestaltet sich mühsam. Hier setzt aber auch dieses Buch an.

1.2 Kriterien für »investigativen Journalismus«

Fasst man bisherige Definitionsansätze zusammen (z. B. REDELFS 1996: 26 ff; HALLER 2000: 124 ff; van EIJK 2005: 12 ff; LUDWIG 2005: 122 ff; CARIO 2006: 23 ff; Investigative Reporters and Editors unter www.ire.org: »About us« )und bindet man vorhandene Überlegungen aus dem Wissenschaftsbereich und praktische Erfahrungswerte zusammen, so lässt sich investigativer Journalismus bzw. investigatives Recherchieren – zunächst – anhand von drei harten Kriterien festmachen. Das Wort »investigativ« entstammt dabei dem Angelsächsischen, wobei »investigation« für Untersuchung, Erforschung, Nachforschung oder auch Ermittlung steht. Diese Begrifflichkeit wird beispielsweise in den USA von parlamentarischen Untersuchungsgremien, vom FBI und auch im wissenschaftlichen Bereich benutzt. Im deutschen Duden ist dieses Wort seit 1999 gelistet (DUDEN 1999).

1) Die Themen, die aufgegriffen werden, zeichnen sich durch soziale (politische, gesellschaftliche) Relevanz aus. Dies ergibt sich aus der öffentlichen Aufgabe« der Medien. Diese öffentliche Bedeutung ist regelmäßig Kriterium für gerichtliche Instanzen, wenn es um die Abwägung zwischen »öffentlichem Interesse« und Persönlichkeitsrechten geht.

Die Bedeutung sogenannter Enthüllungen für den öffentlichen Diskurs und Meinungsbildungsprozess begründet den Unterschied zwischen aufdeckendem und politisch und/oder gesellschaftlich engagiertem Investigativjournalismus versus mehr voyeuristischem, human interest-orientiertem oder Home Story-basiertem Sensationsjournalismus. Aus dieser Perspektive ergibt sich auch der potenzielle Themenkanon investigativer Enthüllungen: Missmanagement, Amtsmissbrauch und Selbstbedienung an Stelle von Effizienz und Fairness; Filz und Klüngelwirtschaft statt Wettbewerb, Qualität und permanente Innovation; Bestechung und flächendeckende Korruption, die nicht nur marktwirtschaftliche Mechanismen verdrängen, sondern auch verhängnisvolle Folgen für technischen und sozialen Fortschritt nach sich ziehen; individuelle Durchsetzung von Eigeninteressen auf Kosten der Allgemeinheit, von Schwächeren oder Minderheiten; unbemerkte Verstöße gegen allgemeingültige oder gesellschaftlich vereinbarte und seitens der Mehrheit akzeptierte Spielregeln; Betrug, Ignoranz und Interessenskonflikte jedweder Art, die Auswirkungen auf andere, d. h. vermeintlich Unbeteiligte haben, stehen ganz oben auf der Agenda.

2) Dem investigativen Journalisten, aber auch dem oder den Informanten, die ihn dabei direkt oder indirekt, aktiv oder passiv unterstützen, kommt eine aktive Rolle zu, denn die Recherchearbeit ist (in der Regel) dominanter und aufwändiger als bei anderen journalistischen (Recherche-)Tätigkeiten. Allerdings ist allein der Journalist ›Herr des Verfahrens‹ und allein er entscheidet über Recherchewege, Art und Zeitpunkt der Veröffentlichung.

Informationsbeschaffung gegen die Interessen der ›Gegenseite‹, die kein Interesse an einer irgendeiner ›Hilfestellung‹ haben kann, läuft in der Regel auf ein Puzzlespiel hinaus: Erst nach und nach setzen sich einzelne Informationen aus unterschiedlichen Quellen zu einem Gesamtbild zusammen. Dabei gibt es kleine und größere Helfer, die wichtige oder weniger wichtige Informationen (Informationsbrocken) geben (können) und deren eigene Interessen nicht unbedingt mit jenen der ›Gegenseite‹ identisch oder gegenläufig sein müssen. Auf der anderen Seite gibt es den Fall, bei dem Recherchen (und Veröffentlichungen) vorwiegend auf wenigen, dafür aber qualitativ und/oder quantitativ sehr bedeutsamen (Einzel-)Informanten beruhen. Im Prinzip stellt sich das Ergebnis als ein Zusammenspiel zwischen Journalist und Informant(en) ein, wobei die prozentualen Anteile zwischen beiden, was den aktiven und dominanten Part betrifft, zwischen Null und 100 % variieren können. So kann die Rolle eines Informanten für das Gelingen einer rund recherchierten Geschichte – sagen wir – 95 % und jene des Journalisten 5 % betragen. Dies wäre der Fall, wenn eine Geschichte vorwiegend auf zugesandten und vollständigen Dokumenten beruht.

Es kann sich aber auch umgekehrt verhalten wie bei der Rekonstruktion der später so benannten Watergate-Affäre. Bei der gab es zwar einen Hauptinformanten, der in der Redaktion der Washington Post mit »Deep Throat« pseudonymisiert wurde, die flächendeckende und mosaiksteinchenförmige Informationsbeschaffung wurde aber klar von den beiden Lokalreportern dominiert und vorangetrieben. Obgleich der Informant (fast) alles wusste, wollte er es aber nicht so einfach preisgeben. Er beschränkte seine Rolle vorerst darauf, die mühsam recherchierten Informationen der beiden Reporter zu bestätigen und jene darin zu bestärken, sie seien auf dem richtigen Weg (»Folgt dem Geld«). Wie wir heute wissen, handelte es sich um den stellvertretenden FBI-Chef Mark FELT, der sich 2005 selbst outete.

3) Die Recherchearbeit erfolgt (in der Regel) gegen Widerstände und Barrieren, denn an der Aufdeckung oder Veröffentlichung der Sachverhalte kann die ›Gegenseite‹ kein Interesse haben. Investigative Arbeit bedeutet daher Recherchieren unter erschwerten Bedingungen.

Aus diesem bereits angesprochenen Kriterium ergibt sich eines der zentralen und vor allem typischen Probleme: das des Arbeitsaufwands. Ein weiteres Problem kann damit verbunden sein: potenzielle Grenzüberschreitungen beim Recherchieren bzw. regelmäßige Gratwanderungen zwischen legalem auf der einen und nicht mehr ganz so legalem, aber legitimem Verhalten auf der anderen Seite bei der (notwendigen) Informationsbeschaffung. Wie auch immer: Der Gegendruck, der schon in Form totaler Informationsverweigerung bestehen kann, ist häufig nicht nur bei der Recherchearbeit zu spüren. Auch die Phase der geplanten oder bereits erfolgten Veröffentlichung bietet häufig Ansatzpunkte für die Gegenseite, gezielt z. B. juristischen und/oder finanziellen Druck einzusetzen.

Mit der Recherche ist der journalistisch-investigative Arbeitsprozess (Workflow) nicht zu Ende. Jetzt muss die Geschichte verständlich geschrieben und auch veröffentlicht werden. Der Kriterienkatalog für investigatives Recherchieren lässt sich um drei weitere, dieses Mal ›weichere‹ Kennzeichen erweitern:

4) Ausreichender Aufwand für die Präzision der Darstellung.

Weil man sich schnell in die Nesseln setzen und nicht unbedingt mit gnädigem Wohlwollen der Gegenseite rechnen kann, und weil man von vorneherein der Gegenseite keinerlei Ansatzpunkte für juristische oder sonstige Interventionen bieten sollte, kommt man beim Schreiben nicht umhin, ein Höchstmaß an Sorgfalt, sprich Präzision beim Texten walten zu lassen. Journalisten wurden schon deshalb vor Gericht gezerrt, weil sie die Farbe einer Krawatte oder eines Anzugs unzutreffend beschrieben haben. So etwas mag als lächerliches Detail erscheinen, ist aber justitiabel. Wer Geld, Macht und Gelegenheit hat, unbotmäßige Journalisten auszubremsen, zieht sich gerne auch auf solche Nichtigkeiten zurück.

Faktische und sprachliche Präzision bedeutet im Zweifel mehr Text bzw. mehr Platz, als wenn man über alles hinweghuschen oder elegant-süffisant komponierte Texte runterschreiben kann. Lässt sich eine Geschichte sehr stark personalisieren, so benötigt man im Zweifel weniger Platz, als wenn man sich mit einem Unternehmen oder gar einem ganzen Konzernkonstrukt auseinandersetzt. Z. B. weil man die Namen jedes einzelnen Unternehmens ganz korrekt benennen muss, egal wie lang und/oder umständlich diese sind – nicht nur um diese auseinanderhalten zu können, sondern um sich juristisch nicht angreifbar zu machen.

Will man Kompliziertes auch grafisch verständlicher gestalten, so benötigt auch eine adäquate Illustration entsprechenden Raum. Vom Aufwand ganz zu schweigen, diese erst einmal herzustellen.

5) Verständlichkeit trotz Präzision der Darstellung.

Weil sich intensiv recherchierte Zusammenhänge in der Regel als ziemlich komplex erweisen (viele Namen und viele einzelne Aspekte, die vielfach ineinanderwirken), stellt auch die Präsentation in Form einer verständlichen Schreibe und/oder Visualisierung ein weiteres Kennzeichen dar: Das Komplizierte, Verzweigte und Vernetzte will nicht nur gefällig geschrieben, sondern auch ganz allgemein verständlich aufbereitet sein. Das kann im Einzelfall nicht nur eine (oder auch mehrere) informative Illustration(en) bedeuten, sondern eben auch eine ganz andere Raumaufteilung, ein anders gestaltetes Layout oder im Onlinebereich eine spezifisch angepasste Navigation. Will man alles perfektionieren, muss man nicht nur das optimieren, was die Macher (Rechercheur, Schreiber, Illustrator) im ‚Backend’ für die Leser produzieren, sondern die fertige Geschichte sollte auch im ‚Frontend’ aus der Sicht der Nutzer auf Verständlichkeit und Lesefreundlichkeit (Usability) getestet sein (Beispiele für Infografiken, die Texte in ihrer Verständlichkeit ergänzen: www.spiegel-affaere.de > Galerie > Informative Illustration > Infografiken).

6) Ein langer Atem: Am Thema dranbleiben – ab und an aktualisieren – Langzeitfolgen thematisieren.

Im letzten Schritt kann das sogenannte Dranbleiben ebenfalls ein relevantes Kriterium investigativer (Langzeit-)Arbeit sein. Aus der Wahrnehmungspsychologie, aber auch aus der empirischen Politikwissenschaft wissen wir um das kurze Gedächtnis von Medienrezipienten. Anders ausgedrückt: Die »Vergessensrate« (KIRCHGÄSSNER 1988) ist hoch. Anders gesagt: Die öffentliche Wahrnehmung von komplizierten, aber politisch und/oder sozial bedeutsamen Zusammenhängen gerät schnell wieder in Vergessenheit. Einmal gewonnene Eindrücke und Einschätzungen, die eigentlich auf detaillierter Erinnerung basieren (müssen), verblassen über die Zeit und schwächen damit auch die kollektive kritische Wahrnehmung.

Regelmäßiges ›ins Gedächtnis rufen‹, aufzuzeigen wie eine Geschichte weitergeht, welche Langzeitfolgen sie hat, wie wichtig daher die investigative Arbeit ist, gehört somit ebenfalls zum Job, insbesondere, wenn man eine solche Arbeit auch langfristig sieht und nicht nur auf die kurzfristigen Effekte (im Angelsächsischen: impact) setzt, sondern auch die Langzeitfolgen berücksichtigen möchte (aftermath).

Da der Fokus dieses Buches vorrangig auf die Recherchestufen beim investigativen Journalismus gerichtet ist und weniger auf die Präsentation druckreifer Geschichten, stehen im Blickpunkt aller nachfolgenden Überlegungen vor allem die ersten drei Kriterien. Wie »unerwünscht« solche Enthüllungen regelmäßig seitens derer empfunden werden, über die recherchiert und dann berichtet wird, lässt sich an einigen Beispielen festmachen:

Günter WALLRAFF hat 1969 sein Enthüllungsbuch von vorneherein gleich so benannt: »13 unerwünschte Reportagen«. Und damit eine journalistische Zeitenwende eingeläutet, die Undercover-Recherchen auch hierzulande ›salonfähig‹ machte (mehr unter

www.investigativ.org

, dort unter

Kap. 3.7

).

Die (inzwischen abgetretenen) Politiker Otto Graf von LAMBSDORFF (FDP, ehemals Bundeswirtschaftsminister) sowie Oskar LAFONTAINE (SPD, seinerzeit Ministerpräsident des Saarlandes) hatten eigene Begrifflichkeiten geprägt: LAMBSDORFF sprach von »journalistischen Todesschwadronen« und »Hinrichtungsjournalismus«, LAFONTAINE von »Schweinejournalismus« (mehr unter

www.investigativ.org

:

Kap. 1.2

).

Historisch gesehen befinden sich die letzten beiden in ‚bester Gesellschaft’ eingefleischter Ignoranten: Der in den USA gängige Begriff »Muckraker« (Schmutzaufwühler) geht auf eine Äußerung des US-Präsidenten Theodor ROOSEVELT über den Schriftsteller und Journalisten Upton SINCLAIR zurück – einer der ersten Undercover-Publizisten (mehr unter

www.investigativ.org

: ebd.).

Fast könnte man derlei Auszeichnungen in den Rang eines eigenständigen Kriteriums für investigatives Recherchieren erheben.

1.3 Ausgangspunkte und Anstöße für Recherchen

Wer veröffentlichte Enthüllungsgeschichten daraufhin rekonstruiert, wie und warum sie zu Stande gekommen sind, wird schnell feststellen, dass die Geschichten in ihrer Entstehung unterschiedlicher nicht sein könnten. Zwei polare Situationen lassen sich ausmachen: Merkwürdigkeiten/Ungereimtheiten/Widersprüche (abgekürzt: MUW) auf der einen Seite, konkret(er)e Hinweise und Tipps auf der anderen (vgl. Abb. 6):

Abb. 6: Bandbreite journalistischer Ausgangspunkte: Merkwürdigkeiten, Ungereimtheiten, Widersprüche (MUW) vs. konkrete Tipps

Im ersten Fall entspricht dies strategischem Vorgehen, das mit Nachdenken beginnt. Das Verhältnis zwischen investigativer Eigenarbeit des Journalisten und entscheidenden Informationen durch (externe) Informanten stellt sich – beispielsweise – auf 90 zu 10 %. Im anderen Fall ist es meist mehr dem Zufall geschuldet, dass man mehr oder weniger alle Informationen und notwendigen Unterlagen auf einen Schlag und das gleich von vornherein erhält. Hier dreht sich das Verhältnis um: Der eigene Rechercheanteil kann niedriger liegen als die Bedeutung der entscheidenden Dokumente oder Belege. Beispiele gibt es für alle Situationen:

Eine erster, mehr kommentierender und Fragen stellender Zeitungstext über die seltsame Anwesenheit des (ehemaligen) Sportchefs des Hessischen Rundfunks (hr) auf einer vergleichsweise unbedeutenden Sportveranstaltung, allerdings zusammen mit seiner Frau Gemahlin, Inhaberin einer auch im hr erfolgreichen TV- und Sponsoring-Agentur, löste eine kleine Flut von Zuschriften aus: mit Belegen dafür, dass der Sportchef – über seine Gattin - tatsächlich käuflich war. So kamen mit dem ersten Nachdenken über die MUW die notwendigen Belege zusammen und aus der Geschichte wurde ein handfester Skandal, der 2009 mit Gefängnis für den Betroffenen endete (www.ansTageslicht.de/Emig).

Was dabei »entscheidende« Dokumente bzw. Belege sind, kann unterschiedlich gedeutet werden. Beispiel: der bayerische Justizfall Gustl MOLLATH. Jener war über Jahre in einer psychiatrischen Klinik eingesperrt. Er hatte auf die Schwarzgeldgeschäfte seiner »Ex« aufmerksam gemacht, aber weder die Staatsanwaltschaft, das Gericht noch die Steuerbehörden wollten ihm glauben. Man hielt seine Vorwürfe für ein »paranoides Gedankensystem«. Anders die involvierte HypoVereinsbank; sie hatte die Vorwürfe verifiziert, behielt diese »unerwünschten« Informationen aber für sich – MOLLATH blieb weiter eingekerkert. Nach langen Recherche-Vorarbeiten zweier Whistleblower, die selbst in anderem Zusammenhang in die Bredouille geraten waren, wurde dieser Fall vom TV-Format Report Mainz und den Nürnberger Nachrichten aufgegriffen und thematisiert: Der Skandal blieb auf der lokalen Ebene hängen. Erst als ein Anonymos 2012 den internen »Sonderrevisionsbericht« der HypoVereinsbank nach draußen gab, stieg auf Grund dieses Dokuments, das den letzten Zweifel an MOLLATH’s Vorwürfen ausgeräumt hatte, auch die SZ in die Recherchen und die Berichterstattung mit ein. Folge: Aus dem lokalen Skandal wurde nun eine bundesweit wahrgenommene Justizaffäre mit immer seltsameren Details (mehr zur Themenkarriere unter www.ansTageslicht.de/Mollath).

Bewertet man die recherchemäßigen Leistungsanteile von externen Rechercheuren (2 Whistleblower) und beteiligten Journalisten, so kann man dies mit etwa 50: 50 % ansetzen. Die Geschichte begann mit strategischem Rechercheeinsatz und ging weiter über das ›entscheidende‹ Dokument.

Investigative Geschichten, die ausschließlich oder hauptsächlich auf der Veröffentlichung von erhaltenen Dokumenten oder sonstigen mehr oder weniger veröffentlichungsfähigen Informationen beruhen, sind selten (ältere Beispiele unter www.investigativ.org, Kapitel 1.3). Meist können relevante Dokumente nur Anstoß für weitere Recherchen sein, weil Externe nicht unbedingt den rechtlichen und/oder journalistischen Anforderungskatalog von Recherchegeschichten kennen. Und: Dokumente allein erzählen selten eine ganze Geschichte (siehe auch Kap. 6).

So verhielt es sich auch im Unicef-Spendenskandal 2007: Ein konkreter Hinweis auf ungewöhnlich hohe und v. a. nicht ausgewiesene Provisionen beim Akquirieren von gemeinnützigen Spenden war nur der Auslöser für die weitergehenden Recherchen, die letztlich einen Skandal generierten, der – erst einmal – mit der Aberkennung des wichtigen Spendensiegels für Unicef in Deutschland endete und dadurch letztlich einen Neuanfang ermöglichte (mehr unter www.ansTageslicht.de/Unicef).

Relevante Anstöße kommen aber auch aus vorhandenen Informanten-Netzwerken (siehe dazu Kap. 5). Anstöße dergestalt, dass sich eine – zunächst – vage gehaltene Information und/oder Merkwürdigkeit schnell für die weitere Arbeit abklären lässt. Und: Je journalistisch erfolgreicher, sprich: auch vertrauensvoller eine solche Kooperation zwischen Journalist und Informant einmal funktioniert hat, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass auch auf lange Sicht heiße Insiderinformationen sprudeln (können).

Aber nicht nur Insiderinfos, auch schlichte Pressemeldungen können Anstoß sein, bestimmte Informationen und/oder Vorgänge kritisch zu hinterfragen: So kann aus einer Systemrecherche (vgl. Kap. 3.5.1) schnell eine investigative Recherche mit entsprechenden Ergebnissen werden – Beispiel www.ansTageslicht.de/Notfallrettung: Eine ›normale‹ Pressemitteilung wurde Auslöser für weitergehende journalistische Ermittlungen, die mit der Erkenntnis endeten, dass die sogenannte Hilfsfrist (Zeitspanne zwischen erstem Nothilfe-Anruf und Eintreffen eines Rettungswagens) in der Landeshauptstadt Stuttgart deshalb so lang und im bundesdeutschen Vergleich so schlecht liegt, weil das Deutsche Rote Kreuz dort wie ein Monopolist – politisch ungestört – agieren kann.

Und selbst eine belanglose Meldung aus dem Jahr 2011 des Amtsgerichts Rheinbach, nach der sich auf Grund des § 24 des Verschollenheitsgesetzes eine namentlich benannte Person »im Zimmer 207« einzufinden habe, andernfalls sie »für tot erklärt« würde, kann einen investigativen Krimi nach sich ziehen: Z. B. über eine seit 16 Jahren vermisste Frau, die – laut Polizei und Staatsanwaltschaft – mit ihrem Liebhaber durchgebrannt sei, tatsächlich aber ermordet wurde. Dies hat schließlich – in mühsamer Arbeit – ein Redakteur recherchiert: www.ansTageslicht.de/Vermisst. Die analytische Genese dieser Geschichte: ein Zufallsfund, der strategisch ausgewertet wurde.

So lässt sich zusammenfassend sagen, dass Anstöße und Ausgangspunkte für investigative Geschichten

in der ganzen Spannbreite zwischen Merkwürdigkeiten, Ungereimtheiten und Widersprüchen versus konkreten Hinweisen und Tipps liegen,

wobei die erste Variante mehr strategischem Vorgehen entspricht, die andere eher durch Zufall begründet ist.

Strategie und Methodik sind letztlich aber auch bei zufallsgenerierten Anstößen angesagt, wenn man diese erfolgreich zu Ende bringen möchte.

Strategie und Zufall können natürlich auch zusammen auftauchen und sich gegenseitig ergänzen.

»Zufall« lässt sich – in gewissem Umfang – sogar generieren, wenn man an »Kommissar Zufall« denkt (siehe dazu unter

Kap. 3.1.1

;

3.3.4

).

Entscheidend ist, dass man Chancen, egal wie sie sich zu Beginn darstellen, auch nutzt.

1.4 Aktualität und Themenkarriere

Beides verhält sich bei investigativen Geschichten ganz anders als bei der (all)täglichen Berichterstattung. Weil

Hinweise oft erst spät nach den eigentlichen Vorfällen erfolgen,

Merkwürdigkeiten, Ungereimtheiten und Widersprüche nicht auf Anhieb auffallen,

Recherchen erst danach einsetzen können

und diese dann meist aufwendig und vor allem langwierig sind,

können die Zeitpunkte zwischen dem originären Ereignis und einer Veröffentlichung oft weit auseinander liegen. Aktualität wird bei investigativen Geschichten vorrangig durch den typischen Workflow bestimmt: In der Regel durch den Zeitpunkt der (ersten) Veröffentlichung.

Eine allgemein wahrgenommene Aktualität oder jene, über die Chefredakteure, CvDs oder Ressortleiter entscheiden, kann sich indes weiter hinauszögern. Weil bei derlei Themen oder Geschichten die ‚amtliche’ oder sonstige Aufarbeitung erst nach einer (ersten) Veröffentlichung einsetzt, können weitere Zeitspannen vergehen, bis andere Medien einen solchen Sachverhalt zur Kenntnis nehmen. In der Regel sind es dann die reichweitenstarken Medien, die für eine breite öffentliche Wahrnehmung, sprich für die Themenkarriere sorgen, die dann in einen öffentlichen Diskurs münden kann. Beispielsweise wie bei der Watergate-Affäre, die 1972 begann, aber erst Anfang 1973 in den Blickpunkt einer breiten Öffentlichkeit geriet, als das Fernsehen Bilder von den Einbrechern vor Gericht über den Bildschirm flimmern ließ (siehe www.investigativ.org: Kap. 1.4). Oder wie in dem bereits skizzierten Justizfall Gustl MOLLATH, der erst nach sechs Jahren nach der Einweisung in die Psychiatrie zu einem bundesweit beachteten Skandal wurde (zur Themenkarriere: www.ansTageslicht.de/Mollath).

Abb. 7 gibt einen Überblick über unterschiedliche Zeitspannen, die zwischen dem eigentlichen Vorgang und der letzten ›Aufarbeitung‹ liegen können. Die Spanne bewegt sich zwischen 2 und über 30 Jahren. Aktualität und Themenkarrieren im investigativen Journalismus folgen eigenen Gesetzen.

Abb. 7: Spezifische Aktualität(en) und Themenkarriere(n) bei investigativen Geschichten

2 Grundsätzliche Herangehensweisen

Gegen Widerstände unerwünschte Informationen zu rekonstruieren und journalistisch zu verarbeiten, betrifft nicht nur rein technisch-handwerkliche Fragen, sondern vor allem auch eine bestimmte ›geistig‹-innerliche Einstellung, konkret eine spezifische journalistische ›Denke‹, die man sich antrainieren kann (bzw. muss). Drei Dinge stehen dabei im Vordergrund: 1) Man darf sich nicht ablenken, blenden oder den Blick verstellen lassen. Das bedeutet konkret, dass man 2) grundsätzlich alles hinterfragen (können) muss und 3) sollte man sich klarmachen, dass auch das eigentlich Unmögliche letztendlich doch möglich sein kann. Um diese drei Probleme geht es hier. Danach können aus diesen grundsätzlichen Überlegungen generelle Recherchestrategien und konkrete Vorgehensweisen in Kapitel 3 entwickelt werden.

2.1 Wirklichkeiten und ihre Konstruktion

»Was nicht sein kann, das nicht sein darf.« Oder auch: Was nicht sein darf, das nicht sein kann! Dieses Zitat, das der Schriftsteller Christian MORGENSTERN im Jahre 1910 seinem kritischen Protagonisten »Palmström« in den Mund gelegt hatte, und das – neben einer lateinischen Fassung (»Quod volumus credimus libenter«) – auch als geflügeltes Wort zirkuliert, bringt einen ersten Teil des Problems auf den Punkt: Dass man nämlich allzu häufig Dinge als gegeben akzeptiert oder glaubt – bewusst oder auch unbewusst, weil es entweder alle so machen und/oder weil man es so gewohnt ist. Bzw. daran gewöhnt wurde, beispielsweise durch die eigene Sozialisation in Familie und Schule, im Arbeitsumfeld oder einfach auch nur deshalb, weil man über bestimmte Dinge noch nie ›gestolpert‹ ist, weil sie allzu selbstverständlich erscheinen.

Zeitknappheit, Stress oder auch einfach nur Routine sind weitere Faktoren, die gewohnten und/oder üblichen Sichtweisen Vorschub leisten und dadurch einen genaueren Blick darauf bzw. dahinter trüben (können). Natürlich spielen auch ›ideologische‹ Voreinstellungen eine Rolle, seien sie politisch oder religiös begründet. Ebenso versperren eingeübte Normen oder Wertvorstellungen einen ungetrübten bzw. absolut offenen Blick.

All das kann – und zwar noch vor Beginn der eigentlichen Recherche – eine erste potenzielle Barriere für eine eingeschränkte Wahrnehmung sein. Die Folge: Bestimmte Dinge werden schlichtweg übersehen – beispielsweise die Frage, ob das, was man möglicherweise ganz allgemein als Erklärung oder auch konkret als Antwort auf irgendeine Nachfrage angeboten bekommt, nur deshalb so ›ist‹, weil es aufgrund irgendeines vermeintlichen Zwanges einfach so sein ›muss‹ (bzw. soll), wie es ist – sozusagen als sprachliche Umkehrung oder logische Folgerung zu dem, was und wie es MORGENSTERN formuliert hatte.

Neben diesen mentalen Barrieren und solchen, die sich aus der Routine ergeben, die ja nichts anderes verkörpert als ein antrainierter Mechanismus zum Zwecke der Zeitersparnis, damit man nicht nach Alternativen suchen muss (was genau deshalb den Blick verstellen kann), kommt eine weitere Gruppe von Wahrnehmungsschranken hinzu. Es sind dies ganz ›normale‹ Wahrnehmungsfilter. Sie sind im Vergleich zu den beiden anderen Typen am einfachsten zu managen.

»Man sieht vor lauter Wald die Bäume nicht« lautet zum Beispiel eine altbekannte Umschreibung für einen Sachverhalt, den man auch so skizzieren könnte: Man ist (bereits) zu stark in ein Problem involviert und deshalb außer Stande, auf die einfachste Lösung zu kommen. Oder: Es fehlt die ausreichende kritische Distanz zu einem Sachverhalt, weshalb man für eine nüchterne Analyse einen unbelasteten Dritten holen muss.

Ein ganz anderes Beispiel betrifft das, was Psychologen mit »kognitiver Dissonanz« bezeichnen: Eine getroffene Entscheidung oder Handlung, die man später als fehlerhaft erkennt, wird nicht revidiert (was oft nicht geht), sondern man sucht und reflektiert stattdessen alle Argumente, die das Vergangene nachträglich rechtfertigen; alles andere wird ausgeblendet, weil man mit einer solchen inneren Dissonanz nicht ruhig schlafen könnte. Sich etwas »Schönreden« könnte man dazu auch plakativer sagen.

All dies wirkt sich in einem größeren Zusammenhang aus, was Kommunikationswissenschaftler und Wahrnehmungspsychologen als »Wirklichkeitskonstruktion« bezeichnen: Eine objektive Wahrheit bzw. Wirklichkeit kann es logischerweise schon deshalb nicht geben, weil alles vermeintlich Objektive immer nur subjektiv-individuell wahrgenommen wird und sich auch nur so als Abbild einer empfundenen ›Wirklichkeit‹ im Kopf zu einer eigenen Wirklichkeit(swahrnehmung) zusammensetzt. Da dies bei (fast) jedem unterschiedlich geschieht, existieren letztlich so viele Meinungen über Gott und die Welt, wie es wahrnehmende Menschen gibt. Und deshalb kann es auch keine einheitliche Meinung oder Einschätzung geben, sondern nur viele (im Detail unterschiedliche) Konstruktionen von Wirklichkeit.

Diese unterschiedlichen Arten von Mechanismen der selektiven Wahrnehmung und individuellen Wirklichkeitskonstruktion wirken sich für IR-Journalisten potenziell auf allen vier relevanten Ebenen der Rechercheproduktion aus.

Zunächst auf der eigenen. Man muss sich regelmäßig immer wieder aufs Neue bewusst machen, dass Wahrnehmung immer nur subjektiv begriffen werden kann und dass man sich häufig genug in der eigenen Konstruktion der Wirklichkeit verfangen kann. Dieses Bewusstsein kann und sollte man trainieren. Beispielsweise dadurch, indem man sich immer wieder dieses Problem vor Augen hält und sich dabei nicht nur auf das eigene Urteilsvermögen verlässt. Nicht zuletzt aus diesem Grund ist es sinnvoll, bei komplizierten Geschichten oder solchen, die zunächst unrealistisch klingen (mögen), einen unvorbelasteten, aber engagierten Gesprächspartner als eine Art externes Korrektiv mit ins Boot zu holen. Und wenn es der eigene, aber nicht vorbelastete Lebenspartner ist. Ein (vorurteils-)freier und nüchterner Kopf setzt einen (vorurteils-)freien und ungetrübten Blick voraus.

Die zweite Ebene betrifft die Informanten. Auch hier muss man sich darüber im Klaren sein, dass Gleiches bei dieser wichtigen Gruppe von Akteuren abläuft. Konkret muss man nicht nur die Informationen, sondern vor allem auch die Intentionen von Informanten auf solche mentalen, routinebedingten oder sonstigen subjektiven Wahrnehmungsfilter hinterfragen. Informanten leben häufig in einer ganz anderen Welt, sehen die Dinge und vor allem auch den Problemdruck, der sie zum Informanten macht, nur aus ihrem Blick. Nur wer im Stande ist, die dort subjektiv gefilterte Sicht der Dinge um die Filterwirkungen zu bereinigen, ohne dabei den Informanten zu ›verletzen‹ bzw. ohne ihm das Gefühl zu vermitteln, als würde man ihn nicht (mehr) ernst nehmen, kann die erhältlichen Informationen für eigene Zwecke nutzbar machen. Ausführlich dazu in Kapitel 5.

Die dritte Ebene ist jene der Entscheider über die investigative Story, also die Chefredakteure, Herausgeber bzw. redaktionellen Manager oder auch der jeweilige Rechtssyndikus. Wie man (möglicherweise) eine abgelehnte Geschichte bzw. eine erste Hypothese, die erst noch recherchiert werden soll, doch noch zum Laufen bringen kann, wird Gegenstand der Überlegungen im 3. Kapitel über Kooperationen sein. Hier soll der Hinweis genügen, dass man auch auf der Ebene der ›Abnehmer‹ bzw. Entscheider mit ähnlichen Reaktionsmustern rechnen muss. Insbesondere, weil sich diese Ebene häufig genug mit der letzten, der vierten Ebene verzahnt.

Diese letzte Ebene wird nämlich durch die Rezipienten repräsentiert und die Zuschauer oder Leser sind jene, die den Medienmanagern in der Regel näher stehen als die Journalisten: Die einen kosten Geld, die anderen bringen Geld. Natürlich ist auch dies eine verzerrte Wahrnehmung: Ohne die Investitionen in Manpower oder redaktionelle Inhalte kann es keine Mediennutzer geben. Andererseits sind Kosten (bzw. Journalisten) schneller abgebaut, als dass die Masse der Rezipienten auf eine solche Qualitätsverringerung mit geringerer Nachfrage, sprich Einnahmeausfällen für das Unternehmen reagieren würde. Entsprechend prägt dies die ›Denke‹ der Entscheider. Wenn die Mehrheit der Rezipienten bestimmte Sichtweisen der Dinge oder einer Story nicht akzeptiert, weil es ihnen – aus welchen Gründen auch immer – gegen den Strich geht, oder der Chefredakteur dies im Vorhinein zu wissen glaubt, verwandelt sich das, was nicht sein kann, weil es nicht sein darf, in eine endgültige Blockade für eine Story um.

Für den investigativ arbeitenden Journalisten verbleibt somit als steuerbares Aktivitätsfeld die eigene Handlungsebene und die der relevanten ›Mitarbeiter‹, nämlich jene der potenziellen Informanten. Und die sollte man nach allen Regeln der Kunst auch nutzen. Denn häufig liegen Ansatzpunkte, über die man mit unvorbelastetem und kritisch geschärftem Blick eigentlich stolpern müsste, zum Greifen nah. Zumindest um in einer ersten Plausibilitätsrecherche zu prüfen, ob es Sinn macht, am Ball zu bleiben.

Im Folgenden geht es zunächst einmal nur darum, sich für die potenziellen Herausforderungen des investigativen Recherchierens (bzw. Sehens von Widersprüchen und Ungereimtheiten) auf eine spezifische, weil notwendige innerliche Einstellung einzulassen.

2.2 Neugier, Misstrauen und Respektlosigkeit

Die Voraussetzungen für die oben skizzierte notwendige Mentalität, die man sich als intensiv recherchierender Journalist antrainieren sollte, lassen sich just mit diesen drei Eigenschaften in der Überschrift umschreiben. Neugier ist im Prinzip eine grundsätzliche Arbeitseinstellung von Journalisten. Man spricht auch von »hungrig« sein. Auch Misstrauen gegenüber allen Informationen, Erklärungen oder Antworten ist schon aus Gründen des Gegencheckens bei der Recherche angesagt. Die journalistische Sorgfaltspflicht setzt ohnehin potenzielle Zweifel bzw. die Überprüfung von zugetragenen oder recherchierten Informationen voraus.

Bei investigativen Recherchen ist dies alles virulenter. So muss das Maß an Neugier schon deshalb größer sein, weil die Barrieren, die es beim Recherchieren und – genau genommen bereits vorher – beim Sehen von Ungereimtheiten oder Widersprüchen zu überspringen gilt, höher gesetzt sind als im Normalfall des journalistischen Katz- und Maus-Spiels. Gleiches gilt für die misstrauische Grundeinstellung. Jene, die an der Offenlegung bestimmter Dinge kein Interesse haben (können) und deshalb alles tun und unterlassen (müssen), was die Enthüllung verhindern könnte, greifen im Zweifel zu härteren und unfeinen Mitteln, um ihre Ziele zu erreichen: Unvollständige oder falsche Informationen; aus dem Zusammenhang gerissene Erklärungen; Dokumente, die aufgrund ihrer Einseitigkeit missverständlich klingen bzw. irreführen können oder müssen; eidesstattliche Versicherungen, die nicht der Wahrheit entsprechen oder sonstige faustdicke Lügen sind Dinge, die beim investigativen Recherchieren schnell zum journalistischen Normalfall werden. Mit anderen Worten: Das Maß an Ob-struktion, Irreführung und Täuschung, auf das man sich einstellen muss, ist ungleich größer als bei der sonstigen Recherchearbeit. Entsprechend kritischer und schärfer muss der eigene Blick ausfallen – muss die Bereitschaft wachsen, dem gegenzuhalten. Einhundertprozentige Neugier und Misstrauen in Reinkultur sind daher adäquate Grundeinstellungen, auf denen man eine zielgerichtete Recherchearbeit aufbauen kann.

Wenn man diese beiden Arbeitseigenschaften, Neugier und Misstrauen, kultiviert, erwächst daraus recht schnell ein weiteres Arbeitsphänomen, das man als Respektlosigkeit bezeichnen könnte. Und zwar Respektlosigkeit gegenüber Gott und der Welt. Respektlosigkeit in dem Sinne, dass man sich von niemandem blenden lässt – ungeachtet von Amt und Funktion, Würde, Bekanntheits- oder Beliebtheitsgrad.

Beispiele: Die beiden Watergate-Reporter hatten es 1972 anfänglich mit Kriminellen, mit Einbrechern, also mit üblicher Kundschaft zu tun. Nach und nach kamen weitere Personen mit ins Spiel: Personen aus dubiosem, aber amtlichen Milieu wie z. B. dem CIA. Dann weitete sich der Kreis der Akteure auf die politische Ebene aus: Zunächst war es das von Partei und Staat unabhängig erscheinende »Komitee zur Wiederwahl des Präsidenten«. Danach geriet das politische und zuletzt das administrative Umfeld des Präsidenten ins Visier: das Weiße Haus. Zuletzt endeten die Recherchen, die bei Einbrechern begonnen hatten, beim Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika höchstpersönlich. Heute würden einem die Namen Klaus ZUMWINKEL (ehemaliger Post-Chef und »Manager des Jahres 2003«), Karl-Theodor zu GUTTENBERG (vormals Verteidigungs- und Lieblingsminister der BILD-Zeitung bis 2011), Christian WULFF (Bundespräsident bis 2012 und ehemals lange Liebling von BILD), die Sportidole Lance ARMSTRONG (www.ansTageslicht.de/Armstrong) und Jan ULLRICH (www.ansTageslicht.de/Ullrich) oder Uli HOENEß und andere einfallen.

Ohne konsequentes Negieren von sonst gesellschaftlich gezogenen und akzeptierten Grenzen, etwa jener, dass man das Wort eines (ehemaligen) Justizministers oder gar eines Präsidenten nicht anzuzweifeln wagt, wären beispielsweise die Watergate-Recherchen schnell am Ende gewesen. Denn im medialen Normalfall wirken die in der öffentlichen Wahrnehmung akzeptierten und mit bestimmten Bedeutungsinhalten versehenen offiziellen Ämter, amtlichen oder politischen Funktionen oder der Bekanntheits- bzw. Beliebtheitsgrad von Personen oder Institutionen als wirkungsvolle Problemwahrnehmungsbarriere und deshalb eben auch oft als Schranken für erste Recherchen. Umgekehrt muss man sich klar vor Augen halten, dass dieses Phänomen von der Gegenseite ebenso bewusst kalkuliert und inszeniert wird. Um Dinge, die man auf keinen Fall publik werden lassen will, in der medialen Aufmerksamkeit und öffentlichen Wahrnehmung möglichst als über alle Zweifel erhaben erscheinen zu lassen, bedient man sich just solcher Wahrnehmungsfilter: Die einen schmücken sich mit bekannten Persönlichkeiten oder hohen Würdenträgern – etwa mittels eines Postens im Aufsichtsrat. Andere umgeben sich mit teuren und bekannten Rechtsanwälten, an die sich keiner herantraut und wieder andere binden potenzielle Konkurrenten, Neider oder Kritiker, die Medien irgendwelche Informationen geben könnten, gleich mit einem (gut dotierten) Beratervertrag an sich. All dies lässt sich auf journalistischer Seite nur mit einem gerüttelten (Mindest-)Maß an Neugier, Misstrauen und Respektlosigkeit sowie der Einsicht überwinden, dass nicht alles so sein muss, wie es ist. Oder anders gesagt: mit der Erkenntnis, dass vieles so ist, weil es dafür – seitens anderer – handfeste Gründe bzw. Interessen gibt. Und genau die gilt es zu hinterfragen.

2.3 Misstrauen gegenüber der Justiz

Dass beispielsweise im politischen Bereich mit der Wahrheit regelmäßig lax umgegangen wird, weil man auf die Vergesslichkeit setzt oder dass gleich gelogen wird, jedenfalls solange, wie einem Politiker dies nicht nachgewiesen werden kann, ist man schon fast gewohnt. Dass aber auch die Ebene der Justiz ein Hort der Unwahrheit, sprich der Lügen ist, macht man sich weit weniger klar. Dies hat Folgen. Z. B. für die öffentliche Wahrnehmung. Und für die journalistische Arbeit.

Unser Justizsystem besteht aus mehreren Bausteinen: Gerichte bzw. Gerichtswesen (zu den Gerichtsbarkeiten siehe www.investigativ.org, Kap. 2.3), Rechtsanwälte, Staatsanwaltschaft.

Rechtsanwälte sind Vertreter der klagenden bzw. verklagten Parteien. Sie sind damit Lobbyisten ihrer Mandanten. Über die Redlichkeit und Ehrlichkeit dessen, was sie vorbringen, ist damit praktisch schon alles gesagt.

Staatsanwälte sind verbeamtete ›Rechtsanwälte‹ der staatlichen Macht, die dessen Interessen wahren und nachgehen sollen: v. a. die Strafverfolgung strafrechtsbewehrter Tatbestände. Da die Hierarchie zwischen Staatsanwaltschaft und Politik (Justizminister) ziemlich flach ist, sind nicht nur die Berichtswege von unten nach oben kurz und effizient, sondern auch umgekehrt die politischen Signale von oben nach unten (mehr unter www.investigativ.org, Kap. 4.6.2).

(Verbeamtete) Richter sind grundsätzlich unabhängig. Ihr Job besteht nicht darin, Gerechtigkeit walten zu lassen (»Was ist Gerechtigkeit?«), sondern ein Urteil zu fällen. Im Strafrecht meist ein Urteil, bei Großverfahren, insbesondere wenn es um wirtschaftliche Fragen (bzw. Interessen geht), gerne auch einen sogenannten Deal. Im Zivilrecht lieben Richter Vergleiche zwischen den Parteien, denn damit haben sie die wenigste Arbeit: Sie müssen keine Begründung schreiben, sich nicht dezidiert vorher in die Rechtslage einarbeiten, keine anderen Urteile zitieren. Und auch im internen Ranking richterlicher Leistungsnachweise werden Vergleiche höher bewertet als Urteile, die gut begründet in übergeordneten Instanzen unumstößlich sind.

Vor allem zwei Gerichtsebenen muss man unterscheiden, was die Konstruktion der in Urteilen abgebildeten (angeblichen) Wirklichkeiten anbelangt: Strafprozesse und Zivilverfahren.

Im Strafprozess