Islamische Geschichte und deutsche Islamwissenschaft - Bassam Tibi - E-Book

Islamische Geschichte und deutsche Islamwissenschaft E-Book

Bassam Tibi

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Beschreibung

Fragen zum Islam sind in der politischen Debatte und im europäischen Alltag gegenwärtiger und drängender denn je. Zwar erfreut sich die deutsche Islamwissenschaft mitsamt ihren Untergliederungen in Arabistik, Turkologie, Iranistik etc. unter dem politischen Einfluss der islamischen Migration nach Europa einer zunehmenden Bedeutung durch die Gewährung immenser Drittmittel; sie ist jedoch seit ihren Anfängen in ideologischen Sichtweisen gefangen, aus denen sie sich bis heute nicht befreit hat. Die deutsche Islamwissenschaft ging vom Stereotyp des homo islamicus aus, einem starren kulturellen Image des Anderen, des Fremden, der in den rassistischen Anfängen unter Carl Heinrich Becker als unterlegener Untermensch gezeichnet und im gegenwärtigen anderen Extrem als ausschließlich positiv und in einer sogenannten Kultur der Ambiguität lebend betrachtet wird. Beide Sichtweisen, Verteufelung wie Verherrlichung des vermeintlichen homo islamicus, sind Schöpfungen der deutschen Islamwissenschaft, die mehr mit den deutschen Wissenschaftlern als mit ihrem Forschungsgegenstand zu tun haben und in der Folge wenig zu einem wirklichen Verständnis der islamischen Zivilisation beitragen. Ein solches erfordert neben einer ideologiefreien Herangehensweise insbesondere auch die Betrachtung der islamischen Geschichte im Rahmen einer historischen Sozialwissenschaft. Islamforschung muss mehr sein als eine Auseinandersetzung mit Theologie und Philologie, und kolonialistische Sichtweisen auf Muslime – gleich, ob negativ oder positiv – sind weder wissenschaftlich noch sinnvoll. Tibi fordert daher nicht weniger als einen Paradigmenwechsel in der Auseinandersetzung mit der islamischen Zivilisation: Zum einen eine vollständige Entkolonialisierung, zum anderen methodisch und inhaltlich das Anwenden historisch-sozialwissenschaftlicher und religionskritischer Analysen, die nicht den Anderen unzulässig auf sein ewigwährendes Anderssein festlegen, sondern Wandel miteinbeziehen. Tibis augenöffnende Analyse ist aktueller denn je und taucht viele Ereignisse des Tagesgeschehens in ein ganz anderes Licht. So betrachtet er in einem ausführlichen Schlusskapitel auch die gegenwärtigen Migrationsbewegungen aus dem islamischen Raum in einem welthistorischen Kontext.

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Seitenzahl: 501

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ibidem-Verlag, Stuttgart

Der Autor:

Bassam Tibi wurde 1944 in Damaskus in die aristokratische Aschraf-Familie Banu al-Tibi geboren und durchlief dort eine streng islamische Erziehung bis 1962, als er nach Deutschland kam, wo er in Frankfurt bei Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Iring Fetscher studierte und auch promovierte. Die Habilitation erfolgte in Hamburg. Mit 28 Jahren wurde er auf eine Professur für Internationale Beziehungen an der Universität Göttingen berufen, wo er die Islamologie begründete und bis zu seiner Emeritierung 2009 lehrte. Parallel zu Göttingen hatte Tibi zwischen 1979 und 2016 insgesamt 19 Gastprofessuren auf allen fünf Kontinenten inne, deren jüngste 2016 (als Cleveland B. Dodge Professor) an der American University of Cairo war. 1982 begann seine Harvard-Karriere in verschiedenen Funktionen, zuletzt 1998–2000 als Bosch Research Professor. Dazu kommen Fellowships in Princeton, Ann Arbor / Michigan, Berkeley, Yale und zum Schluss, 2005–2010, als Andrew D. White Professor-at-Large an der Cornell University. In Afrika lehrte Tibi u.a. in Dakar / Senegal, Yaoundé / Kamerun und Khartum / Sudan. In Asien lehrte er in Jakarta und Singapur. Davor hatte er zwei Gastprofessuren an der Bilkent University in Ankara inne. Im Jahre 2016 teilte Bundespräsident a. D. Horst Köhler Tibi mit, dass er »einstimmig und mit Freude« für sieben Jahre zum Mitglied der Deutschen Nationalstiftung zur Pflege der deutschen Identität gewählt worden ist. Bassam Tibi ist Träger des Bundesverdienstkreuzes 1. Klasse und Autor von 30 Büchern in deutscher Sprache (übersetzt in 16 Sprachen) und weiteren elf Büchern, die er in englischer Sprache schrieb, zuletzt Islamism and Islam (2012) bei Yale University Press und The Sharia State. Arab Spring and Democratization (2013) bei Routledge, London und New York.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einleitung 2017

Von der klassischen Geschichte des Islam als Weltzivilisation zur Zeitgeschichte des Islamismus: Welche Disziplin befasst sich damit?

1. Islamische Geschichte gehört nach der internationalen Forschung zur Weltgeschichte, nicht aber zur deutschen Geschichtswis­sen­schaft. Warum? Wird dieses Desiderat durch die deutsche Islamwissenschaft behoben?

2. Die islamwissenschaftliche Orientalisierung des Islam: Muslime brauchen nach deutscher Sicht weder Aufklärung noch Reformation, denn sie haben ihre »Kultur der Ambiguität« sowie ihre »Scharia-Geisteskultur«. Stimmt das?

3. Mittelalterliche islamische Aufklärung vs. Islamische fiqh-Orthodoxie; ihr Untergang und die Krise der islamischen Zivilisation im Kontext der Universalität der kulturellen Moderne

4. Das Ziel: Von der Philologie und vom Orientalismus der deutschen Islamwissenschaft zu einem zweifachen Paradigmenwechsel: Erstens eine entkolonialisierte, ideologiefreie und religionskritische Islamforschung und zweitens eine historisch-sozialwissenschaftlichen Islamologie

5. Der Islamismus in der islamischen Zeitgeschichte in der Spannung zwischen der sozialwissenschaftlichen Erklärung der Islamologie und dem djahl der deutschen Islamwissenschaft

Kapitel I

Der Islam als Gegenstand der Geschichtswissenschaft. Abriss der islamischen Geschichte

Islamische Historie, ihre Epochen und die Geschichtswissenschaft

Religionsstiftung und Geschichtsbeginn

Die Epochen islamischer Geschichtsschreibung

Höhepunkte der islamischen Zivilisation und innerislamische Kriege

Der islamische Universalismus und das Kalifat als die göttliche Ordnung des Islam

Periodisierung der islamischen Geschichte

Sakrales und Weltliches in der islamischen Geschichte. Die religiöse Legitimation politischer Herrschaft

Araber und Nicht-Araber in der islamischen Geschichte

Die geschichtliche Umkehrung: Von der islamischen zur europäischen Herausforderung

Die Abschaffung des Kalifats und die Folgen

Vom Kalifat zur modernen Nation

Erste Konklusion: Einheit und Vielfalt in der islamischen Geschichte. Lokal-kulturelle und gesamt-zivilisatorische Identitäten

Zweite Konklusion: Was westliche Historiker nicht verstehen! Die Spannung zwischen religiösen Vorschriften und historischen Realitäten im Islam

Schluss: Lehren aus der islamischen Geschichte für die Deutung der Gegenwart

Kapitel II

Geschichte zwischen Krieg und Frieden. Der islamische Djihad und das Projekt islamischer Expansion

Zwischen Orientalisierung und Glorifizierung islamischer Kriegsgeschichte

Islamische Geschichte, ja, aber kein historischer Universalismus

Krieg, Djihad und islamische Welteroberung als Mittel zur Verbreitung des Islam

Innerislamische Kriege: Die Riddah- und Fitna-Kriege

Innerislamische Kriege zwischen den arabischen Stämmen / Qaba’il und den nicht-arabischen muslimischen Völkern / Schu’ub

Ethnizität in der islamischen Geschichte

Vom Djihad-Krieg zur Defensive – Von der islamischen Welteroberung zur Neubestimmung des Djihad als antikolonialer Widerstand. Eine historische Bilanz, aber kein Ende der Geschichte

Kapitel III

Die islamische Zivilisation – eine geschichtliche oder eine »rassenpsychologische« Erscheinung?

Die zentralen Fragen – und der Geist, der dahinter steht

Die Wahrnehmung der islamischen Geschichte

Das europäisch-deutsche Islam-Bild

Für ein neues Verständnis der islamischen Geschichte: Der benötigte Paradigmenwechsel

Die Anfänge: Die islamische Religionsstiftung

Islamologie als Wirtschafts- und Sozialgeschichte

Die islamische Geschichte und Europa: Zwischen Bedrohung und Faszination

Steht ein Wandel an? Plädoyer für eine entkolonialisierte Geschichtswissenschaft

Kapitel IV

Die Orientalismus-Debatte. Warum ist die islamische Zivilisation an der deutschen Universität Gegenstand der philologischen Islamkunde und nicht der Geschichtswissenschaft?

Die islamische Geschichte und die europäische Ideologie vom homo islamicus

Die Vorgeschichte

Von der Aufklärung zum rassenpsychologischen Orientalismus

Orientalismus an der deutschen Universität

Vorrang der Geschichte oder der Philologie?

Größe und Grenzen der deutschen Islam-Studien

Die Beschäftigung mit dem Islam ist keine schöngeistige Bildung

Was ist die Alternative zur Geschichte als Disziplin? Wie werden Islamkunde und Orientalistik betrieben?

Die Provokation! Edward Said, die islamische Geschichte und die europäischen Orientalisten: Der Orientalismus als eine okzidentale Sichtweise des Orients

Philologie und Geschichte im Lichte von Maxime Rodinsons Plädoyer für »La fin de l’Orientalisme«

Die islamische Geschichte in der deutschen Orientalistik / Islamwissenschaft

Von anderen lernen! Der amerikanische Area-Studies-Approach als neuer Ansatz für die Islam-Studien

Schlussfolgerungen. Entkolonisation der Islam-Studien: Von der Orientalistik zur historisch-sozialwissenschaftlichen Islamologie

Kapitel V

Das 21. Jahrhundert und die islamische Hidjra-Migration als Zeitgeschichte der Völkerwanderung in den Westen. Ist das »the end of history« oder ihre Rückkehr im Gewand islamischer Geschichte in die postbipolare Weltpolitik?

Völkerwanderungen und der Niedergang von schwächelnden Zivilisationen

Islamische Geschichte, Völkerwanderungen, Aufstieg und Niedergang der Zivilisationen

Das Modell des Römischen Reiches im Lichte der historischen Forschung von Alexander Demandt und David Engels

Völkerwanderungen im welthistorischen Kontext

Ursachen und Folgen der Völkerwanderung

Zwischen Einwanderung und Zuwanderung: Der Umgang mit Völkerwanderungen – Wie sind diese zu steuern?

Nochmals: »The return of Islam« als Rückkehr der islamischen Geschichte der Futuhat-Eroberungen: Die Instrumentalisierung des Multikulturalismus ersetzt den islamischen Djihad-Krieg und ermöglicht eine friedliche Eroberung Europas

VORWORT

Unter Förderung und auch mit Unterstützung von Christian Schön lege ich mit dieser Veröffentlichung das dritte Buchprojekt im ibidem-Ver­lag vor. Dies ist ein Glied in der Kette eines großen, ambitionierten Projektes. Noch zu meinen Lebzeiten will ich mein zwischen 1969 und 2009 entstandenes dreißigbändiges Werk in neuen und erheblich erweiterten Neuausgaben auf den Markt bringen. Im Englischen unterscheidet man zwischen new printing (einem Nachdruck) und new edition (verändert, revidiert und erweitert). Das Neuverlegen meines Werks soll kein new printing, sondern jeweils eine new edition sein. Dies gilt auch für dieses Buch mit dem veränderten Titel: Islamische Geschichte und deutsche Islamwissenschaft. Islamologie und Orientalismus-Debatte, das mit einem ausführlichen Vorwort, einer aus fünf Teilen bestehenden neuen Einleitung und einem neuen Kapitel V erscheint. Die Vorgängerbände dieses groß angelegten Projekts waren bisher, erstens, Europa ohne Identität. Europäisierung oder Islamisierung? (2016) und, zweitens, Islamische Zuwanderung und ihre Folgen (2017).

Beim Erscheinen dieses Buches bin ich 73 Jahre alt, physisch und psychisch gesund und daher voller Hoffnung, dass ich lang genug lebe, um mindestens die Hälfte meiner Werke als Neuausgaben im ibidem-Verlag herausbringen zu können.

Auch wenn es bei manchen nicht gut ankommen mag, bitte ich meine Leser, es mir nachzusehen, wenn ich mit einer bissigen Bemerkung beginne: Deutsch und international sind nicht deckungsgleich. Konkret heißt dies, vorsichtig formuliert, dass das, was in der großen Welt als Standard anerkannt wird, nicht immer auch für Deutschland Geltung genießt. Nach der Befreiung von der Exklusivität der Nazi-Barbarei hat Deutschland begonnen, sich für die große Welt zu öffnen und sich hierbei zu verwestlichen, um sich den internationalen Standards anzupassen. Dies geschah leider, ohne sich von einer Altlast zu befreien, nämlich die Neigung und Tradition der Sonderwege loszuwerden. Ein Beispiel hierfür ist die Art und Weise, wie Deutsche den Islam und Geschichte wahrnehmen. Die angestrebte Internationalität trifft hier mitnichten auf die deutsche Geschichtswissenschaft zu. Das ist eine wissenschaftliche und keine voreingenom­me­ne Aussage, weil ich an einer deutschen Universität Geschichtswissenschaft studiert und an zahlreichen Universitäten auf allen fünf Kontinenten gelehrt habe, den Unterschied also kenne. Hierbei vergleiche ich und weiß, wovon ich spreche. Schließlich gehört Comparative Politics zum Handwerk des Faches, das ich im Hauptfach Politikwissenschaft studiert habe. Auch international orientierte deutsche Wissenschaftler wie Baber Johansen teilen diese Auffassung, wie noch gezeigt wird.

In Fortsetzung des, wie schon erwähnt, gemeinsam mit meinem neuen Verleger Christian Schön verfolgten Projektes, mein vergriffenes, von totalitär gesinnten Meinungsmachern nach Kräften politisch unterdrücktes dreißigbändiges Werk in deutscher Sprache neu zu beleben und Neuausgaben hiervon zu veröffentlichen, lege ich mit dieser Neuausgabe mein zuerst 2001 erschienenes Buch über islamische Geschichte in einer erweiterten Fassung vor, die ich im Folgenden erläutern möchte. Der Inhalt des vor­liegenden Buches ist folgender: Im Rahmen einer seit Jahrzehnten geführten wissenschaftlichen Kritik gleicher­ma­ßen an der deutschen Islamwissenschaft und an der deutschen Geschichtswissenschaft habe ich ein neues Paradigma für die Islamforschung entfaltet; es liegt der Disziplin der Islamologie zugrunde, von der ich beanspruche ihr Begründer zu sein. Diesen Anspruch habe ich durch die Publikation von drei Buchtrilogien, die zwischen 1981 und 2012 erschienen sind, untermauert. Auf billige Polemiken dazu durch Gegner wie beispielsweise den Katholiken Hans Küng lasse ich mich nicht ein. Zwei Features charakterisieren dieses Paradigma und die neue Disziplin. Diese sind:

1. Die Islamologie ist eine entkolonialisierte Disziplin, aber doch frei von antieuropäischer Ideologie des tiers mondisme, die die Postcolonial Studies dominiert.

2. Islamologie ist – anders als Islamwissenschaft – keine Philologie islamischer Skriptur, auch keine traditionelle Kulturwissenschaft.

Mit anderen Worten: Die historisch-sozial­wis­sen­schaftliche Islamologie ist weder eurozentrisch blind und abwertend gegenüber den »people without history« (Eric Wolf), so wie es die deutsche Geisteswissenschaft ist, noch ist sie deskriptiv-narrativ bzw. schriftgläubig, wie es die deutsche Islamwissenschaft ist. Die in dem vorliegenden Buch fortentwickelte Islamologie lehnt sich an Max Webers Verbindung von Geschichts- und Sozialwissenschaft an, also an den Approach, der in der amerikanischen Historical Sociology maßgeblich ist, den ich mir zu eigen mache.

An historischem Material deutet dieses Buch die islamische Geschichte im Rahmen des Konfliktes zwischen zwei konträren Islam-Bestimmungen. Im Mittelalter fand ein Konflikt als ein Kampf zwischen dem an Ibn Ruschd / Averroës orientierten falsafa-Islam des Rationalismus und der fiqh-Orthodoxie statt. In unserer Gegenwart findet ein ähnlicher Konflikt zwischen dem seit Ali Abdulraziq 1925 existierenden Enlightened Muslim Thought und dem totalitären Islamismus statt. Der zeitgenössische Aufklärungsislam (vgl. Abdou Filali Ansary, The Sources of Enlightened Muslim Thought, in dem Buch Islam and Democracy in the Middle East von 2003) trennt in einer Vernunftorientierung zwischen Religion und Politik, wohingegen der Islamismus eben auf der gegenteiligen Deutung fußt, der Islam sei din wa daula / Einheit von Religion und Politik. Beide angeführten historischen Konflikte der alten Geschichte und der Zeitgeschichte sind innerislamisch und somit eine nur innerislamisch zu bewältigende Angelegenheit. Es ist befremdlich, wenn in einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) preisgekrönten Buch des Islamwissenschaftlers Thomas Bauer beide Konflikte, die die islamische Geschichte in unterschiedlichen Epochen, vom 9. Jahrhundert bis in die Gegenwart, entscheidend bestimmen, schlicht verleugnet werden. Mit diesem Unsinn in einem Buch, das den Untertitel Eine andere Geschichte des Islams trägt, werde ich mich exemplarisch in dieser neuen Einleitung mehrfach auseinandersetzen, um die Spannung zwischen Islamwissenschaft und Islamologie zu veranschaulichen.

Der mittelalterliche, von der deutschen Islamwissenschaft verleugnete Konflikt zwischen falsafa-Rationalismus und fiqh-Orthodoxie steht in den Abschnitten 1–3 im Mittelpunkt. Danach stelle ich im vierten Abschnitt mein islamologisches Paradigma auf. Darauf folgt im abschließenden Abschnitt 5 der Einleitung die Zeitgeschichte, die von zwei Wesenszügen gekennzeichnet ist:

Der erste Wesenszug ist der Aufstieg des Islamismus, der den Verlauf der islamischen Zeitgeschichte stark prägt. Der zweite Wesenszug bezieht sich darauf, dass der Islamismus zusammen mit den islamischen Zuwanderern nach Europa kommt und besonders als Diaspora-Islam der Paral­lel­ge­sell­schaf­ten als gated communities einflussreich wird. Dieser Prozess der islamischen Zuwanderung geht einher mit einer gescheiterten Integration. Diese Entwicklung ist älter als die Flüchtlingskrise von 2015/16, wie Lorenzo Vidino in seinem Buch The Muslim Brotherhood in the West (2010) und Gilles Kepel in seinem Buch Allah im Westen (1996) darlegen. Dieser Gegenstand ist der Inhalt des neuen Kapitels V über islamische Völkerwanderung nach Europa.

Bis heute ist die deutsche Geschichtswissenschaft deutsch-national geblieben, und wenn sie sich öffnet, dann tut sie dies nur für Europa. Dies sagt auch ein deutscher Professor der Islamwissenschaft, der der FU in Berlin nach Harvard entflohen ist, wo er heute lehrt: Baber Johansen, den ich bereits erwähnt habe. Ich bitte die Leser, die zweite Seite von Kapitel I oben zu konsultieren, wo Originalzitate eines Forschungspapiers von Prof. Johansen zu diesem Thema angeführt werden (vgl. S. 84). Aus diesem Grunde wird die islamische Geschichte in der deutschen Geschichtswissenschaft nicht als ein Gegenstand anerkannt, und somit gehört der Islam nicht zur deutschen Geschichtswissenschaft. Das ist eine wertneutrale, rein faktische Feststellung eines bestehenden Sachverhalts.

Kann die deutsche Islamwissenschaft diesen Mangel ausgleichen? Nein, denn die deutsche Islamwissenschaft ist eine Philologie und keine Geschichtswissenschaft, auch wenn mancher Islamwissenschaftler hobbyartig ohne Professionalität Bücher mit dem Wort »Geschichte« im Titel oder Untertitel veröffentlicht.

Ganz anders ist der internationale Standard. Hier trifft man auf Historiker von Weltrang, die als Islam-Historiker an Elite-Universitäten gelehrt und geforscht haben; der größte Name darunter ist Marshall G. S. Hodgson aus Chicago. Seine nach seinem Tod erschienene Aufsatzsammlung trägt den Titel Rethinking World History. Essays on Europe, Islam, and World History (1993). Hodgsons Herausgeber Edmund Burke III. betitelt seine Konklusionen aus dieser Aufsatzsammlung wie folgt: »Islamic history as world history: Marshall G. S. Hodgson and the Venture of Islam.« Das dreibändige Werk TheVenture of Islam ordnet die islamische Geschichte als Teil in die Weltzivilisationsgeschichte ein. Ein solches wis­sen­schaftliches Vorgehen vermisse ich in Deutschland und seiner nicht besonders glaubwürdigen Willkommen­skul­tur gegen­über Fremden, die über verbale Beteuerungen einer selbstgefälligen Gesinnungsethik nicht hinausgeht. Es ist eigenartig, wenn der deutsche Islamwissenschaftler Thomas Bauer in seinem Buch Die Kultur der Ambiguität (2011) mit dem Untertitel Eine andere Geschichte des Islams als Historiker auftritt und die gesamte internationale Forschung zur islamischen Geschichte einschließlich des Werkes von Marshall Hodgson schlicht ignoriert. Was ist das? Ist es das, was Muslime djahl – Ignoranz – nennen?

Zugegebenermaßen: Mein hartes Urteil hängt mit dem deutschen Umgang mit meinem eigenen Buch zur islamischen Geschichte zusammen, das ich hier in einer Neuausgabe vorlege; es erschien erstmals 2001. Doch wurde meine Einladung in die islamische Geschichte gleichermaßen von der deutschen Geschichts- wie auch der Islamwissenschaft schlicht ignoriert. Eine akademische Kultur einer scholarly debate sieht anders aus.

Das Buch wurde sehr gut verkauft bzw. mehrfach nach 9/11 nachgedruckt, ohne dass nur eine einzige Rückmeldung zu dem darin gemachten Vorschlag erfolgte, den Islam in die deutsche Geschichtswissenschaft aufzunehmen. Ich bitte meine Leser, mir zu erlauben, dieses Buch, auf ein verändertes Deutschland hoffend, sowohl in seiner 2001er- wie auch seiner neuen 2017er-Ausgabe wie folgt vorzustellen:

Als studierter Historiker, wenngleich im Nebenfach, lege ich hiermit ein professionelles Geschichtsbuch vor. Bei dem Unternehmen, dieses Buch zu schreiben, diente mir ein großer deutscher Gelehrter als Vorbild: Max Weber – er stellt auf eindrückliche Weise die Verbindung zwischen Sozial- und Geschichtswissenschaft in seinem Werk her. Eine weitere Autorität für mich bei diesem Unternehmen ist der Harvard-Professor Barrington Moore, dessen Vorlesungen ich in Harvard hörte und den ich ausführlich und verbatim im dritten Kapitel zitiere. Max Weber (1864–1920) und Barrington Moore (1913–2005) sind die geistigen Väter der Denkschule der Historical Sociology, die mich bei der Entfaltung meines Paradigmas der Islamologie sehr inspirierten. Die Orientalismus-Debatte umfasst diese Thematik, die ausführlich in Kapitel IV erläutert wird. Kapitel IV endet mit einem Plädoyer für die Islamologie – einem Begriff, der kein Fremdwort für Islamwissenschaft ist, sondern der ein neues historisch-sozialwissenschaftliches Paradigma beschreibt.

Wie schon einleitend angegeben, erscheint die Neuausgabe unter einem veränderten Titel und vereint in sich alte und neue Themen, die ich im Folgenden vorstellen möchte. Die vier alten Themen werden in je einem Kapitel der Ausgabe von 2001 behandelt und lassen sich wie folgt vorstellen:

Das erste Thema lautet: Islam ist nicht nur eine Religion, sondern auch als Zivilisation Gegenstand der Geschichtswissenschaft (vgl. Kapitel I); hierin breche ich eine Lanze für die Aufnahme der islamischen Geschichte in die deutsche Geschichtswissenschaft.

Das zweite Thema behandelt die islamische Expansion mittels des Djihad-Krieges; dieser verfolgte zwei Ziele: Welteroberung und Etablierung eines Globalisierungs­modells, das die Welt im Dar-al-Islam (Haus des Islam, meinend die Territorialität der islamischen Zivilisation) vereinigen will. Globalisierung ist also kein neuer Begriff, der mit der westlichen Expansion einhergeht, denn das islamische Globalisierungsmodell ist viel älter, es beginnt im 7. Jahrhundert mit dem Ziel, die Welt zu islamisieren. Das ist die Thematik von Kapitel II, worin sowohl innere als auch äußere Kriege im Islam erläutert werden. En passant: Ich bin ein Muslim, glaube jedoch nicht an die Doktrin der Islamisierung der Welt.

Das dritte Thema betrifft die Problematisierung der Einordnung der Muslime als »Rasse« durch den Begründer der deutschen Islamwissenschaft Carl Heinrich Becker (1876–1933). Dem widerspreche ich heftig und nehme schon hier zwei Themen vorweg, die in der Einleitung noch ausführlicher vertieft werden: Einmal der Bedarf an Entkolonialisierung der Islam-Forschung und zum anderen an einem Paradig­men­wechsel. Dass Muslime eine »Rasse« seien, wird nicht nur von konservativen Rassisten wie C. H. Becker, sondern sogar auch von heutigen linken Eiferern unterstellt. Diese bieten Muslimen ihren Schutz im »Kampf gegen Rassismus und Islamophobie«. Wir Muslime bilden doch keine Rasse! Es gibt schwarzafrikanische Muslime im Senegal und blonde Muslime in Bosnien. Beide gehören zur Umma, die doch keine Rasse ist. Vorurteile gegen Muslime sind schlimm, aber sie sind kein Rassismus. Ich halte diese Feststellung gegen die gegenwärtige Verwirrung der politischen Kultur Deutschlands für sehr wichtig.

Das vierte Thema reflektiert die von Edward Said (1935–2003) ausgelöste Orientalismuskritik, die sich zu der berühmten Orientalismus-Debatte entwickelte. Diese Kritik war anfangs berechtigt, aber durch die Mutationen, die die Debatte durchmachte, wurde die Orientalismuskritk zu einem Kuriosum.

Die fünf neuen Themen der Einleitung von 2017 sind folgende:

Erstens die Wiederaufnahme der Diskussion, dass der Islam zur Weltgeschichte und somit zur Geschichtswissenschaft gehört. Dann folgt zweitens die Debatte über Islam und Aufklärung; drittens eine Auseinandersetzung mit den Behauptungen von Islamwissenschaftlern, dass Muslime keine Aufklärung benötigten, eben weil sie ihre »Kultur der Ambiguität« hätten; viertens die Vorstellung der Islamologie als eine Alternative zur Islamwissenschaft; dann fünftens und abschließend: Islam und Zeitgeschichte. Hier wird die nach über dreißigjähriger Forschung elaborierte These vertreten, dass der Islamismus das Hauptmerkmal unserer Zeit ist. Ich behaupte darin, dass die Islamwissenschaft dieses Phänomen mit ihrer Philologie nicht erklären kann, wohingegen die Islamologie dazu in der Lage ist. Diese genannten alten und neuen Themen sind so miteinander verzahnt, dass sie die inhaltliche Einheit des Buches in seinen Fassungen von 2001 und 2017 untermauern.

Nach dieser Buchpräsentation hoffe ich, dass die Neuausgabe des vorliegenden Geschichtsbuches eine Debatte auslöst, die der Ausgabe von 2001 verweigert wurde. Aber Deutschland hat sich seitdem verändert. Ich bin zwar kein Pessimist, aber doch realistisch genug, nicht zu glauben, dass der Paradigmenwechsel, für den ich eintrete, noch in den Rest meiner Lebenszeit fällt. Ich liefere hierfür folgende Begründung für meinen Realismus: Aus meiner Forschung für das 1985 teilweise in Harvard entstandene, aber auf Deutsch geschriebene Buch Der Islam und das Problem der kulturellen Bewältigung sozialen Wandels (erschien bei Suhrkamp; die neu konzipierte US-Ausgabe Islam and the Cultural Accommodation of Social Change erschien 1990 in Boulder / Colorado, Westview Press) weiß ich, dass kultureller Wandel viel langsamer als sozialer Wandel vonstattengeht. Diese individuelle Forschung über die Spannung zwischen Cultural Change and Social Change setzte ich 20 Jahre später innerhalb von TheCulture Matter Research Project (CMRP) an der Fletcher School for Diplomacy in den USA fort. Ich war Mitglied des dortigen Forschungsteams und bin Mitautor des zweibändigen Werks Developing Cultures (2006 in London und New York erschienen, Routledge).

Mit diesen Vorkenntnissen halte ich fest: Deutschland stellt keine Ausnahme dar, wenn es um die Kluft zwischen Cultural und Social Change geht. Das Land verändert sich rasant seit der Gründung seiner Republik, aber seine politische Kultur bleibt 2017 so stehen, wie Theodor W. Adorno sie in seinem Aufsatz Auf die Frage: Was ist deutsch? und Helmuth Plessner in seinem Buch Die verspätete Nation beschrieben haben. Dies erdrückt mich als Migrant. Die Spannung zwischen dem rapiden sozialen Wandel und einem im Vergleich dazu sehr langsamen kulturellen Wandel, welcher Werte- und Einstellungsveränderungen (attitudinal change) einschließt, ist enorm.

Dem US-Brauch des Acknowledgment folgend, habe ich bei diesem ibidem-Buch folgenden drei Personen sehr herzlich zu danken, ohne deren Unterstützung diese Veröffentlichung nicht möglich gewesen wäre. Zuerst ist Christian Schön zu nennen, der neues Leben in meine in meinen Büchern verkörperte wissenschaftliche Seele durch seine bereits gewürdigte Förderung bringt. Dann kommt Tom Pflicke, der mein wissenschaftlicher Partner bei der Anfertigung aller drei ibidem-Bücher 2016–2017 war; er hat nicht nur meine handschriftlichen Vorlagen in eine exzellente Manuskriptform gebracht, sondern stets und unermüdlich geholfen, wichtige stilistische Verbesserungen vorzunehmen und forschungsbezogene Anregungen zu geben. Nicht zuletzt kommt meine Frau Ursula, die seit mehr als vierzig Jahren mein Leben in Deutschland auf allen Ebenen begleitet, an meiner Seite kämpft und mich nach jeder erlittenen Verletzung vor pauschalen Urteilen über die Deutschen schützt; auch von ihr weiß ich, dass es anständige Deutsche gibt, die ihre Vernunft und Seele für meine »unbequemen Gedanken« öffnen und meine Bücher lesen. Auf diese deutschen Leser hoffe ich.

 

Göttingen, im März 2017

Bassam Tibi

 

EINLEITUNG 2017

Von der klassischen Geschichte des Islam als Weltzivilisation zur Zeitgeschichte des Islamismus: Welche Disziplin befasst sich damit?

Der Hauptgedanke des vorliegenden Buches – gleicher­maßen in seinen von 2001 stammenden wie in den neuen, 2017 verfassten Teilen – lässt sich in der folgenden Formu­lie­rung wiedergeben: Der Islam ist nicht nur eine Religion; er bildet auch seit seiner Entstehung eine Weltzivilisation mit einer eigenen Geschichte, die die Zugehörigkeit zur Geschichtswissenschaft als Lehr- und Forschungs­gegenstand vollumfänglich ver­dient.

Es ist indes eine beschämende Tatsache, dass islamische Geschichte an keinem der Fachbereiche der Geschichtswis­senschaft aller Universitäten der Bundesrepublik Deutschland gelehrt wird. Dies gibt Anlass zur Vermutung, dass islamische Geschichte an deutschen Universitäten nicht den ihr zustehenden Rang hat und deshalb als solche nicht anerkannt wird. Dies kommt, sagen wir es offen, praktisch ihrer Abwertung gleich. Das ist keine Polemik, sondern die Feststellung eines Faktums, das auch der weltoffene deutsche, heute in Harvard lehrende Islamwissenschaftler Baber Johansen hervorhebt, der früher an der Freien Universität Berlin eine Professur innehatte und dann Deutschland den Rücken kehrte. Johansen verließ Deutschland und zog in die weite Welt, zunächst nach Paris, dann in die USA. Ich werde noch in diesem Abschnitt ausführlicher auf seine Argumente eingehen. Johansens Argumente sind nicht auf Deutsch und auch nicht in Deutschland, sondern international in New York erschienen.

1. Islamische Geschichte gehört nach der internationalen Forschung zur Weltgeschichte, nicht aber zur deutschen Geschichtswis­sen­schaft. Warum? Wird dieses Desiderat durch die deutsche Islamwissenschaft behoben?

Die in der Überschrift gestellte Frage bildet in Kombination mit den folgenden die Kernproblematik dieses einleitenden Abschnitts. Es gibt an der deutschen Universität ersatzweise eine wissenschaftliche Disziplin, die deshalb eigenartig anmutet, weil sie Islamwissenschaft heißt. Warum gibt es parallel dazu nicht auch eine Christentumswissenschaft? Diese Frage ist nicht von der Hand zu weisen! Ich möchte mich gleichwohl damit nicht aufhalten und den Fokus meines Gedanken bewahren. So halte ich weiterhin fest, dass die deutsche Islamwissenschaft als Philologie betrieben wird; sie ist weder Theologie noch Geschichtswissenschaft, auch wenn es Islamwissenschaftler gibt, deren Bücher das Wort »Geschichte« im Titel tragen. Mit dieser Feststellung beantworte ich vorläufig die in der Überschrift gestellte Frage auf faktischer Ebene, ob die deutsche Islamwissenschaft den oben beschriebenen Sonderweg behebt, negativ.

Mit den aufgeworfenen Fragen befasse ich mich seit Jahrzehnten als Wissenschaftler, der kulturell als gläubig-sunnitischer Muslim in Damaskus sozialisiert worden ist, jedoch sein gesamtes Studium an einer deutschen Universität absolviert hat. Ich hatte allerdings das Glück, sowohl über den deutschen als auch islamischen Tellerrand dadurch hinausschauen zu können, dass ich die weite Welt auf all ihren fünf Kontinenten in Lehre und Forschung erleben durfte. Dies tat ich international im Rahmen einer vierzigjährigen akademischen Karriere, in deren Verlauf ich 19 Gastprofessuren innehatte – von Berkeley und Harvard in den USA über den Nahen Osten bis nach Kamerun in Westafrika und Jakarta / Indonesien in Südostasien. In diesem erfüllten Leben konnte ich die islamische Geschichte kulturübergreifend zeit- und hautnah (mit-)erleben. Mit diesem Hintergrund wagte ich es, eine akademische, bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt erschienene Monografie unter dem Titel Einladung in die islamische Geschichte zu verfassen, in der ich die Entwicklung des Islam vom siebten Jahrhundert bis heute als eine vollwertige Geschichte einordne.

Als Kenner der vom ethnozentrischen und europäisch-arroganten Ungeist befallenen deutschen Islamwissenschaft hat es mich nicht gewundert, dass kein einziger deutscher Islamwissenschaftler es für angemessen hielt, dieses Buch mit einer Rezension oder auch nur einer kleinen Notiz zur Kenntnis zu nehmen, obwohl es, mehrfach nachgedruckt, in hohen Auflagen verbreitet wurde und hierdurch einen großen Bekanntheitsgrad erlangte. Ein bekannter algerischer Islamwissenschaftler berichtete mir Mitte November 2016 in Wien, wie sehr ich von deutschen Islamwissenschaftlern angefeindet werde, und stellte auf Deutsch die Frage: »Lest Ihr Tibi, bevor Ihr ihn verurteilt?« Im Islam gilt jeder, der nicht liest, als djahil. Ist das mehr deutscher Rassismus und weniger djahl / Ig­noranz gegenüber einem islamischen Wissen­schaft­ler?

Es gehört nicht zu meinem Stil, mit Keulen herumzuwerfen. In Deutschland gibt es eine Inflation negativer, für die Wissenschaft unbrauchbarer Begriffe: von Rassismus über Populismus bis hin zur Islamophobie, deren überwiegend unreflektierte und uninformierte, ja oft falsche Verwendung mich als nach begrifflicher Schärfe und Prägnanz suchenden Wissenschaftler abstößt und veranlasst, andere Begriffe zu suchen. Deshalb bin ich sehr vorsichtig im Umgang mit dem Begriff »Rassismus«. Ich lasse andere über die oben gestellte Frage urteilen, aber ich erlaube es mir, das auf Erfahrung basierende neutrale Urteil zu fällen, dass die deutsche Universität vorrangig eine deutsche Geschichts- und Islamwissenschaft beherbergt, die eine implizite deutsch-ethnische Arroganz gegenüber anderen Kulturkreisen demonstriert und diesen sogar Geschichtlichkeit abspricht. Ein amerikanischer Kollege, Eric Wolf, prägte den Begriff people without history (der sich auch im Titel seines wichtigen Werkes Europe and the People without History [1982] wiederfindet) für eine unerträgliche Sichtweise auf Nichteuropäer, die bis heute noch in der deutschen Wissen­schaft existiert, und zwar in extremer Art und Weise.

Eben über den Tellerrand hinausschauend, also international orientiert, habe ich beobachtet, dass beispielsweise an der Harvard University, an der ich als Höhepunkt meiner akademischen Laufbahn von 1982 bis 2000 gewirkt habe, das Department of History drei große Lehrstühle allein für Islamic History hatte. Aber an über hundert Universitäten in Deutschland gibt es keinen einzigen Lehrstuhl für dieses Fach. Der Begründer der Islamic Studies an der Harvard University, Sir Hamilton Gibb, schrieb das große geschichtswissenschaftliche Werk Studies on the Civilization of Islam (1962). Der große noch lebende Princeton-Historiker Bernard Lewis, der in diesem Jahr 102 Jahre alt wird, veröffentlichte das zweibändige Geschichtswerk Islam (1974). Der bis heute wichtigste geschichtswissenschaftliche Beitrag zur Erforschung des Islam an einer westlichen Universität stammt von dem Historiker Marshall Hodgson (1922–1968). Es ist das dreibändige Werk The Venture of Islam. Conscience and History in a World Civilization (1974, University of Chicago Press). Für unser Thema ist Hodgsons ebenso postum veröffentlichtes Buch Rethinking World History. Essays on Europa, Islam and World History (1993, Cambridge University Press) besonders einschlägig. Der deutsche Islamwissenschaftler Thomas Bauer, den ich später unter die Lupe nehmen werde, veröffentlichte 2011 ein fragwürdiges Buch über den Islam mit dem Untertitel Eine andere Geschichte des Islam, eine Geschichte, in der alle oben genannten Werke ignoriert werden. Das ist deutsche Wissenschaft.

In der deutschen Geschichtswissenschaft gibt es den Begriff Weltgeschichte als Pendant zu World History, allerdings mit einer völlig anderen Bedeutung. Denn die deutsche Weltgeschichte wird an deutschen Universitäten nach wie vor als exklusiv-europäische Geschichte gelehrt und betrieben. Wenn deutsche Historiker über den Tellerrand hinausschauen, dann erweitern sie den Blick ihrer Geschichtswissenschaft auf Osteuropa und Nordamerika, dann ist aber auch schon Schluss. Der große, 1968 verstorbene Geschichtsgelehrte Hodgson dachte anders; er versteht unter World History die Geschichte der gesamten Welt; diese umfasst auch die Islamic History as World History, so seine Formel. Diese Erkenntnis ist der überragende Inhalt des zitierten Buches von Hodgson. Diese Erkenntnis wird aber von deutschen Geschichtswis­senschaftlern nicht anerkannt. Warum?

In diesem Zusammenhang komme ich auf den bereits oben zitieren deutschen Islamwissenschaftler Baber Johansen zurück; er informiert uns über den Grund in einem Forschungspapier, das er für ein Projekt an der University of Calgary anfertigte und das in dem auch von mir mitverfassten Buch Middle Eastern Studies. International Perspectives on the State of the Art (Praeger, New York 1990) erschienen ist; darin schreibt er, an der deutschen Universität sei »der Gegenstand der Weltgeschichte … allein germanische und römische Geschichte, alle anderen Völker waren Objekte der Handlungen von Germanen und Römern«. Nach Johansen gilt in der deutschen Geschichtswissenschaft folgendes: »Die angeführte Art, Geschichtswissenschaft zu betreiben, ist bis zum heutigen Tag an deutschen Universitäten dominant. Bis heute studieren Geschichtsstudenten ausschließlich deutsche, römische und neuerdings angloamerikanische Geschichte.« Barber Johansen schrieb dies 1990, aber es gilt bis heute unverändert; er hielt den Intrigen an der FU Berlin nicht stand, resignierte und verließ Deutschland in Richtung Paris. Von dort wurde er nach Harvard berufen, wo er noch heute lehrt.

Anders als deutsche Islamwissenschaftler und Historiker dachte der jung verstorbene US-Islam- und Welthistoriker Hodgson. In seinem bereits erwähnten Werk The Ven­ture of Islam finden wir im Gegensatz zu deutschen Historikern und Islamwissenschaftlern einen weltoffenen Verfasser. Seine auch von Muslimen anerkannte dreibändige Geschichte der islamischen Zivilisation lag im Manuskript unveröffentlicht vor, als Hodgson am 10.06.1968 mit nur 47 Jahren verstarb. Sein großartiges opus magnum The Venture of Islam wurde erst postum veröffentlicht.

Obwohl Hodgson stets von World History spricht, war es ihm klar, und dies schreibt er auch, dass es um global history geht. Nach Hodgsons Tod haben amerikanische Historiker, vor allem Bruce Mazlish, die Global History Group gegründet, zu der auch ich zeitweise gehörte. Mazlish gab 1993 das Buch Conceptualizing Global History mit heraus. Die Gruppe tagte nicht nur in den USA, sondern unter meiner Mitwirkung auch an der Universität Darmstadt.

Das gleich eingangs vorgetragene Argument, der Islam sei nicht nur eine Religion, sondern eine Zivilisation, rechtfertigt die Behandlung der islamischen Geschichte als Zivilisationsgeschichte, wie dies im angeführten Werk Hodgsons geschieht. Besonders für Deutschland ist dies nicht nur deshalb erforderlich, um Wissen über eine andere Zivilisation, die 2 Milliarden Menschen umfasst, zu erlangen; das ist auch innerdeutsch erforderlich, denn hier leben im Jahr 2017 ca. 6,5 Millionen Muslime. Wir hören täglich überbordend und gebetsmühlenartig von einer medialen Islameuphorie den Ruf nach einer Öffnung zum Islam. Einhergehend mit der Steigerung zur Willkommenskultur, verbunden mit dem Verbot der Kritik am Islam, wurde dann das Schlagwort von der »Islamophobie« geprägt. Parallel dazu gibt es eine krasse Ignoranz gegenüber dem Islam und seiner Geschichte. Ich wiederhole es: Eine islamwissenschaftliche Philologie kann eine Geschichtswissenschaft nicht ersetzen.

Vor dem Hintergrund der beschriebenen misslichen Sachlage trete ich in diesem Buch für Folgendes ein:

1. Auf normativer Ebene setze ich mich für eine weltoffene global history ein, die die gleichermaßen ethnozentrische und wissenschaftlich überholte deutsche Weltgeschichte ablöst. Islamische Zivilisationsgeschichte ist ein Teil dieser global history.

2. Über das Normative hinaus ist methodisch ein Paradigmenwechsel erforderlich, der

a) islamische Geschich­te historisch-sozial­wis­sen­schaft­lich be­leuchtet und

b) die Philologie der Texte durch ein Studium der Realität ersetzt oder jene zumindest als Hilfswissen­schaft in den Hintergrund drängt.

Noch in diesem Abschnitt werde ich erklären, was ein Paradigmenwechsel hier tatsächlich bedeutet, und dessen Relevanz für die hier anstehende Thematik erläutern. Zunächst werde ich meine Positionen näher begründen und meine Thesen elaborieren bzw. weiterentwickeln.

Die islamische Geschichte soll auch in Deutschland grundständig zur Geschichtswissenschaft gehören; damit einher muss die Akzeptanz von Religionskritik gehen, die es zu ertragen gilt, weil sie zur Aufklärung gehört. Ich benutze den schroffen Begriff »dumm« für die deutsche mediale Gleichsetzung von Islamkritik und Islamophobie. Islamfeinde sind Fremdenfeinde und keine Religionskritiker des Islam. Ist das klar?

Als Syrer, der in Frankfurt Philosophie studiert hat, weiß ich, dass deutsche Philosophen der Aufklärung die Religionskritik als Teil ihres Denkens einstuften. Warum ist das heute in Deutschland nicht mehr selbstverständlich? Das Christentum zu kritisieren ist zulässig; sogar antisemitische Schmähungen des Judentums werden als Kritik an Israel maskiert und zugelassen, aber jede Kritik am Islam wird als »rechtsradikale Islamophobie« verfemt. Diese deutschen Irrwege sind mir als Aufklärungsmuslim fremd, und ich lehne sie als islamischer Religionskritiker vehement ab.

Drei große Gelehrte haben hierbei mein Verständnis von Religion am Gegenstand des Islam bestimmt. Von meinem Doktorvater, dem politischen Philosophen Iring Fetscher, habe ich gelernt, dass Religionskritik – angefangen bei Rousseau und Feuerbach – zur Aufklärung und zur europäischen Philosophiegeschichte gehört.

Mit Hilfe Ernst Blochs, dem ich das erste Mal im November 1965 in Frankfurt begegnet bin, habe ich anfänglich den arabischen Rationalismus durch sein superbes und für mich bis heute inspirierendes Buch Avicenna und die Aristotelische Linke (1963) kennengelernt, das er mir damals zum Geschenk machte; von ihm habe ich auch gelernt, den islamischen Rationalismus gegen die islamische Orthodoxie der »Mufti-Welt« (Bloch) zu verteidigen. Ignoranten verfemen eine solche Kritik als »Islamophobie«. Ich wiederhole: Im Islam wird ein Ignorant als djahil bezeichnet, was islamisch eine ziemlich tiefe Herabwürdigung meint.

Der dritte Gelehrte, der mich in diesem Kontext beeinflusste, war ein Muslim: Muhsin Mahdi. Er war Professor für Islamische Philosophie an der Harvard University. Für mich war es ein Glück, beim Schreiben meines zentralen Werkes Der wahre Imam als Ideengeschichte des Islam in Harvard von Prof. Mahdi begleitet zu werden (nachzulesen auch im Vorwort zu jenem Buch).

Zur Auseinandersetzung mit der deutschen Islam­wis­senschaft und zum Eintreten für die Aufnahme der islamischen Geschichte in die deutsche Geschichts­wis­senschaft gehört unentbehrlich die Rezeption der Theorie von Thomas Kuhn über Paradigmenwechsel, die er in seinem Buch The Structure of Scientific Revolutions (1962; deutsche Ausgabe 1967: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen) entwarf. Darin wird die Auffassung vertreten, dass eine Wissenschaft, die nicht mehr in der Lage ist, bestimmte Phänomene zu erklären, eines Paradigmenwechsels bedarf. Diese Aussage gilt massiv für die deutsche Islamwissenschaft.

Unter Paradigma versteht Kuhn ein Corpus von Theorien, Methoden, Gedanken und Hypothesen, die den Geist einer Disziplin bestimmen und in der Scientific Community dominieren. Mithilfe eines Paradigmas wird in einer wissenschaftlichen Disziplin versucht, einen Gegenstand zu erklären. Aber: Wenn ein Paradigma die wissenschaftliche Leistung einer plausiblen Erklärung nicht mehr erbringen kann, dann entsteht eine Anomalie. Die Kumulation von Anomalien führt zu einer wissenschaftlichen Krise, die schließlich in einen Paradigmenwechsel mündet. Überholte Paradigmen werden ad acta gelegt und sind nur noch für die Wissenschaftsgeschichte von Belang.

Kuhns wertvolle Theorie wird in der deutschen Öffentlichkeit missverstanden, ja sogar missbraucht; die von ihm geprägte Begrifflichkeit wird dermaßen verhunzt, dass Zeitungen von einem Paradigmenwechsel schon dann sprechen, wenn ein deutscher Politiker seine Meinung ändert. Anders verfahre ich wie folgt: Mit den Begriffen und Methoden der von mir begründeten Islamologie sowie mit dem Kuhn’schen Verständnis von Paradigma und Paradigmenwechsel will ich an meinen Gegenstand sowohl der Islamwissenschaft als auch der Geschichtswissenschaft herangehen.

Nach jahrzehntelanger Islamforschung gelange ich dazu, einen Bedarf an einem Wandel der Islamwissenschaft im Verständnis eines Paradigmenwechsels im Kuhn’schen Sinne festzustellen. Dies erfordert erhebliche Veränderungen in der deutschen wissenschaftlichen Erforschung des Islam und ebenfalls eine kulturelle Öffnung, die mehr bietet als eine nur verbale, gesinnungsethisch geprägte, selbstgefällige Willkommens­kultur zu leisten vermag. Dies gilt auch für die deutsche Geschichtswissenschaft.

Im Folgenden biete ich eine Skizze der deutschen Islam­wissenschaft: Der erste Lehrstuhl für Islamwissenschaft, auf den Carl Heinrich Becker berufen wurde, wurde 1908 am Hamburger Kolonialinstitut eingerichtet. Später, 1916, wechselte dieser Mann zur Berliner Universität, wo die deutsche Islamwissenschaft institutionell unter seiner Führung als Kolonialwissenschaft im Geiste des Rassismus florierte. Ich unterteile die deutsche Beschäftigung mit dem Islam in drei Stufen: 1. Verteufelung des Islam unter C. H. Becker, 2. Verherrlichung des Islam unter Thomas Bauer, 3. Abschaffung der Relevanz des Islam. Letzteres wird nicht von Islamwissenschaftlern, sondern von Marina und Herfried Münkler vertreten: Sie ist Literaturwissenschaftlerin, er ein Politikwissenschaftler, aber sie bestimmen seit der Veröffentlichung ihres Buches Die neuen Deutschen das deutsche Islam-Verständnis. Immerhin haben C. H. Becker und Thomas Bauer den Islam studiert, dem Ehepaar Münkler fehlen die Fachkenntnisse über den Islam. Dennoch maßen sie sich an, sich hierzu zu äußern und vor einer »Islamisierung der Debatte« zu warnen. Im 5. Abschnitt dieser Einleitung werde ich diese drei Stufen näher erläutern.

In der Begrifflichkeit von Thomas Kuhn artikuliert: Die deutsche Islamwissenschaft befindet sich in einer paradigmatischen Krise. Der Ideologiewechsel von C. H. Beckers Verteufelung des Islam zu Thomas Bauers Verherrlichung des Islam ist nicht der Wandel, der benötigt wird, um den Herausforderungen unserer Zeit gewachsen zu sein. Dieser erfordert nicht nur einen Paradigmenwechsel, sondern auch eine geistig-kulturelle Entkolonialisierung. Wie ist dies zu bewerkstelligen?

Als ein im deutschen Wissenschaftsbetrieb agierender syrisch-muslimischer Migrant, der in seinem Diaspora-Leben vier Jahrzehnte lang unter der ethnozentrischen Über­heblichkeit deutscher Islamwissenschaftler gelitten hat, habe ich in Maxime Rodinson (1915–2004) und seinem Werk mein Vorbild gesehen. Vor allem hat mich sein Buch Islam et capitalisme (1966)inspiriert, dessen deutsche Ausgabe Islam und Kapitalismus ich bei Suhrkamp (stw-Band 584, 1986) mit einer umfangreichen Einleitung besorgt habe, in der ich Rodinsons Gesamtwerk würdige. Rodinson war mit seinen russisch-jüdischen Wurzeln ein genuiner Humanist, ein Gegner des kolonialen Denkens; er legte den Grundstein für die Entkolonialisierung der Islamwissenschaft. Zwar war Rodinson institutionell ein Islamwissenschaftler, inhaltlich und methodisch jedoch nicht. Er ging weit über die engen Grenzen seines Faches hinaus, um es zu bereichern. Sehr richtig bezeichnet ihn Jean-Pierre Digard, der Herausgeber seiner Festschrift, in seinem Text Hommage à Maxime Rodinson als »islamologue de profession«. Die Festschrift trägt den Titel Le cuisinier et le philosophe (1982). Ich stand in ausführlicher Korrespondenz mit Rodinson bis zu seinem Lebensende, wir tauschten in gegenseitigem Respekt unsere Gedanken, Aufsätze und Bücher aus. Darüber hinaus hatten wir 1983 eine erinnerungswürdige mehrstündige Begegnung in Chicago anlässlich des Jahreskongresses der Middle East Studies Association of North America, auf dem Rodinson die Keynote Address hielt. Bei meiner Grundlegung der Islamologie räume ich ein, dass ich dieses Unternehmen als ein Schüler Rodinsons in seinen Fußstapfen durchführe.

Als Rodinson meine deutsche Einleitung zu seinem Buch Islam et capitalisme las, schrieb er mir emotional: »Bassam, Merci pour votre poesie«. In der Tat war Maxime Rodinson für mich ein Leitstern, nicht aber Edward Said. Über Rodinson und Said, die ich persönlich bestens kannte, schreibe ich vieles in den folgenden vier Kapiteln, vor allem im vierten Kapitel über die Orientalismus-Debatte. Zu jener Zeit gab es Thomas Bauer als Islamwissenschaftler auf der Bühne noch nicht (er ist Jahrgang 1961). Es liegt mir fern, den jungen Thomas Bauer in einem Atemzug mit den Giganten Rodinson und Said zu nennen. Nach der Lektüre seines Buches Die Kultur der Ambiguität, das nicht nur den Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft erhielt, sondern zur Bibel der gegenwärtigen deutschen Islamwissenschaft aufstieg, ist eine Auseinandersetzung mit ihm unausweichlich, aber meine Geringschätzung für dieses Buch kann ich nicht verhehlen.

Die Auseinandersetzung beginnt mit der Zerlegung von Bauers Behauptung, Muslime seien freie Menschen gewesen, bis der europäische Kolonialismus in ihr Territorium eindrang, sie unterdrückte und ihrer Freiheit beraubte. Der Westen habe eine »Wahrheitsobsession« und mit dieser habe er den pluralistischen Charakter der islamischen Kultur vernichtet. Bauer nennt sein Buch im Untertitel Eine andere Geschichte des Islam. In der realen Geschichte der islamischen Zivilisation litten Muslime bereits sehr lange unter der Herrschaft orientalischer Despoten, bevor die Kolonisatoren kamen, so dass die Angaben von Thomas Bauer historisch schlicht falsch sind. Er projiziert seine Wunschvorstellung von »Ambiguität« in die islamische Geschichte, deren »Geisteskultur« er auf der Basis von Projektionen sehr idealisiert.

Bauer ist Kulturrelativist, und er trägt seinen Kultur­re­lativismus in den Islam hinein. Nach Bauer hat es weder hegemoniale Koran-Kommentare noch ein dominantes islamisches Denken, sondern mehrere islamische Wahrheiten gegeben; diese hätten »nebeneinander bestehen« können. Für Bauer ist das die islamische »Ambiguitäts-Toleranz«, also eine Art islamischer kulturrelativistischer Multikulturalismus. Welch ein Unsinn! Denn die Realität war von einem religiösen Absolutismus geprägt, der keinerlei Ambiguität in der Dualität von Iman / Glaube und Kufr / Unglauben duldet.

Dies schreibe ich über die unterstellte kulturrelativistische Deutung der islamischen Geschichte als ein Wissenschaftler, der im Islam geboren und aufgewachsen ist; ich habe dazu noch in 22 islamischen Ländern gelebt und geforscht. Insgesamt habe ich 40 Jahre lang die islamische Zivilisation und ihre Ideengeschichte studiert, woraus ein in 16 Sprachen vorliegendes Hauptwerk hervorgegangen ist. In diesem Leben im Islam finde ich nichts, aber auch gar nichts von dem, was Bauer in seinem Buch behauptet. Das ist ein deutsches Buch für deutsche Islamwissenschaftler, weder für uns Muslime noch für Fachhistoriker. Obwohl ich gegen den zur Zeit unerträglich inflationären Gebrauch des Begriffes Rassismus eintrete, erlaube ich mir sehr begründet folgende Feststellung: Ich erlaube keinem deutschen Islam­wis­senschaftler, mir meinen internationalen wis­senschaft­li­chen Rang abzu­spre­chen; wenn genau dies erfolgt, ist von einer – bewusst oder unbewusst erfolgenden – rassistischen Motivation auszu­ge­hen.

Die Liste der zu beanstandenden Mängel fängt schon damit an, dass ein Buch, das den Untertitel Eine andere Geschichte des Islam trägt, die gesamte Geschichtsforschung über den Islam vollständig und ausdrücklich ignoriert. Die Arbeiten von Watt, Rodinson, Gibb, Lewis und vor allem das magistrale Werk von Hodgson bleiben völlig unbeachtet, noch nicht einmal die Namen werden erwähnt oder in der Bibliografie wenigstens formal aufgeführt; diese Werke gibt es für Bauer einfach nicht. Bei der Lektüre sieht man, dass die realhistorische Entwicklung der islamischen Zivilisation weder in dem Thema des Buches noch in seinen Konstruktionen wiederzufinden ist. Man könnte das Buch noch nicht einmal »Geistesgeschichte« nennen; es ist auch keine solche, denn sämtliche großen islamischen Denker der neueren Geschichte, angefangen bei Mohammed Abdu (1949–1905) bis zu al-Afghani (1838–1897), haben keinen Platz in Bauers Geschichte des Islam. Die Denkschule des Enlightened Muslim Thought von Abdulraziq (1888–1966) bis al-Jabri (1935–2010) fehlt vollständig. Was bleibt, sind nur langweilige Ausführungen über Ambiguität, die bis zum Überdruss und ad nauseam repetitiv ausgebreitet werden. Das Buch ist praktisch eine Geschichte der persönlichen Projektionen Thomas Bauers, d.h. seiner Vorstellungen von Ambiguität, die er in die Geschichte des Islam hineinträgt. Er verdammt »die unheilvol­le westliche Verkettung von Ambiguitätsfurcht, Wahrheitsobsession und Universalisierungsehrgeiz«, die nach seiner Auffassung bis heute die westliche Zivilisation charakterisiert. »Sonderweg« ist eine deutsche Krankheit, Bauer wendet diesen Begriff auf den gesamten Westen und seine Moderne an. Was für eine magistrale Leistung! Das Unglück der Muslime besteht nach Bauer darin, dass der Westen den Muslimen seine Moderne aufzwingt und ihnen hierbei ihre »Ambiguität« austreibt. Die Kultur Europas hat auf dem Gebiet der Ambiguität, so Bauer, »nicht allzu viele Leistungen vorzuweisen«. Wenn Bauer die »westliche Moderne [als] ein[en] Sonderweg des Westens« verurteilt, dann disqualifiziert er sich selbst als einer, der nicht versteht, was dies bedeutet.

Mein Urteil nach der Lektüre von Bauers Buch ist, dass es für die Wissenschaft insignifikant ist. Warum halte ich mich damit auf? Die Bedeutung des fragwürdigen Buches besteht lediglich darin, dass es exemplarisch für eine Denkweise der gegenwärtigen Generation junger Islamwissenschaftler in ihrer Wahr­nehmung und Erforschung des Islam steht.

Ich fasse die gesamte Geschichte der deutschen Wahrnehmung des Islam in drei Stufen zusammen, von denen jede durch ein Buch gekennzeichnet ist:

1. Muslime als Rasse: In diesem Rahmen erfolgt eine Verteufelung des Islam durch das zweibändige Buch von C. H. Becker: Islamstudien.

2. Muslime als Träger sexueller Ambiguität, sozusagen bisexuelle Lover: Hier erfolgt eine Umkehrung dieses Orientalismus in eine Verherrlichung des Islam als eine überlegene Kultur der Ambiguität in dem gleichnamigen Buch von Thomas Bauer.

3. »Das hat alles mit dem Islam nichts zu tun.«: Fünf Jahre nach Bauers Buch markieren Marina und Herfried Münkler (beide sind jedoch keine Islamwissenschaftler) mit ihrem Buch Die neuen Deutschen die neue Stufe der deutsche Wahrnehmung des Islam: Der Islam spiele keine wichtige Rolle, und wer Entwicklungen unter Rückgriff auf dem Islam zu erklären versucht, der erntet den Vorwurf, eine »Islamisierung der Debatte« zu betreiben, gehöre also in die rechte »Schmuddelecke«. Die Vorarbeit für diese dritte Stufe lieferte Thomas Bauer selbst, denn sein angeführtes Buch enthält das Kapitel Islamisierung des Islam, womit er genau das verfemt, was die Münklers tun. Die Münklers kennen übrigens auch das Werk von Thomas Bauer nicht, dieser Multikulti-Postmodernismus liegt jedoch in der Luft, als Zeitgeist.

Bei meiner Kritik am Wandel der deutschen Islamwissenschaft bzw. der deutschen Wahrnehmung des Islam von einem Extrem ins andere, einem Wandel, der von Vertretern des deutschen Zeitgeistes in einem »Pathos des Absoluten« (Adorno) artikuliert wird, greife ich auf einen deutschen Philosophen (Helmuth Plessner, 1892–1985) und einen französischen Islamwissenschaftler (Maxime Rodin­son) als geistige Mentoren zurück. Plessner bemängelt an den Deutschen, dass sie nicht fähig sind, »ein rechtes Maß zu finden«. Maxime Rodinson vergleicht Edward Said ausdrücklich mit dem stalinistischen Ideologen Schdanow, der die Welt in zwei verfeindete Lager teilte. In seinem Buch La Fascination de l’Islam.(1980, deutsche Ausgabe 1985: Faszination des Islam) schreibt Rodinson: »Gewisse Formulierungen von Edward Said« seien vergleichbar »mit der Doktrin, die der Schdanowschen Theorie von zwei Formen wissenschaftlicher Erkenntnis« entspreche. Nach dieser Logik, die auch die von Thomas Bauer ist, sind – in einem orientalism in reverse – die verfeindeten zwei Lager die islamische Kultur der Ambiguität und die westliche »Fratze« der »Ideologisierung« und »Disambiguisierung« der Welt. So hasserfüllt über den Westen und seine Moderne ist Bauers Buch. Kann man so etwas Wissenschaft nennen? Ich nenne den Übergang vom Rassismus C. H. Beckers zur ideologischen Islamophilie von Thomas Bauer Ideologie­wechsel, aber auf keinen Fall einen Paradigmenwechsel innerhalb der Islamwissenschaft; dieser steht noch aus, ist aber leider auch nicht in Sicht, und ich glaube nicht, dass ich ihn noch erleben werde.

In Bauers Kultur der Ambiguität fällt etwas auf, das auch dem Islamwissenschaftler Michael Kreutz in seinem Buch Zwischen Religion und Politik ins Auge sticht: Die unterstellte sexuelle Ambiguität ist zentral für Bauer. So führt Kreutz an, dass Bauer »in seiner Argumentation« der Homosexualität eine besondere »Aufmerksamkeit widmet«. Bauers Buch enthält das umfangreiche Kapitel 8 (Ambiguität der Lust), worin er den »weitgehend toleranten und gelassenen Umgang mit der mann-männlichen Sexualität« in der islamischen Kultur preist. Als Muslim empöre ich mich über diese Sexualisierung des Islam in Bauers Buch. Bauer zwingt mich, auf mein Leben in Damaskus zurückzugreifen, um die soeben zitierte Stelle aus dem Kapitel Ambiguität der Lust zu widerlegen. Aus meinem 18 Jahre langen Leben in Damaskus kann ich nur sexuelle Repression bezeugen. Ich weiß aus diesem Leben, aber auch durch meine Aufenthalte in 22 anderen islamischen Ländern, dass die »mann-männliche Sexualität« nur als Ausweg bzw. als Ersatz für Heterosexualität in einer Kultur der sexuellen Repression dient. Das ist gar keine »Kultur der Ambiguität«. In islamischen Ländern werden Männer, die miteinander sexuell verkehren, verfemt und diskriminiert. Es reicht, einen Mann mit den Begriffen »manyuk« bzw. »tobschi« zu verfemen, um seinen Ruf zu ruinieren mit dem Resultat, ihn von der sozialen Umwelt auszugrenzen. Was ist daran »weitgehend tolerant und gelassen«?

Frank Griffel, ein Anhänger Bauers, hat das zitierte Denken durch seinen Artikel in der Süddeutschen Zeitung vom 28./29.05.2016 popularisiert und salonfähig gemacht. Ich widerspreche beiden und weise ihre pro-islamistische Deutung der Misere zurück, die die Ideologie der Opferrolle der Muslime untermauert und die sie mit ihrer professoralen Autorität verbreiten. Verantwortungsbewusste Muslime denken anders. Ich widerspreche der islamwissenschaftlichen Deutung vom vermeintlichen »Unglück Westen« als Erklä­rung dafür, dass Muslime heute als Opfer der westlichen Zivilisation und ihrer Moderne angesehen werden, heftig; ich tue dies unter Bezugnahme auf die Autorität eines großen Muslims, nämlich al-Afghanis. Dieser große islamische Denker des 19. Jahrhunderts war mit dieser schon damals existierenden Psychologie der Selbstviktimisierung der Muslime vertraut. Er machte deutlich, dass Muslime hierdurch von ihrem eigenen Anteil an der Misere ablenken.

In einem Essay schrieb Afghani: »Kolonialismus bedeutet die Herrschaft von Völkern, die stark sind und über Wissen verfügen, über andere Völker, die schwach und von djahl / Ignoranz gekennzeichnet sind.« Das arabo-islamische Wort djahl / Ignoranz dient, wie oben bereits ausgeführt, zur Beschimpfung der Ungläubigen, die kein Wissen haben und nicht lesen, was andere schreiben. Afghani hielt den Muslimen vor, dass sie nicht kolonialisiert worden wären, wenn sie eine auf Wissen basierende, starke, florierende Zivilisation gehabt hätten, so wie dies im Hoch-Islam der Fall war, als Muslime dominant waren. Klar ist: Afghani wollte die Muslime stärken, nicht demoralisieren oder einschüchtern. Deshalb hat er den Begriff des Djihad mit der Bedeutung Antikolonialismus neu gedeutet (vgl. die Übersetzung der Afghani-Schriften in dem von Nikki Keddie herausgegebenen Buch An Islamic Response to Imperialism [1968]). Zu diesem Djihad gehört der Erwerb von Wissen. Afghani wollte nicht die Gefahr des Kolonialismus herunterspielen, sondern vielmehr den Muslimen als djahils, also Unwissenden, den Spiegel vorhalten und ihre Neigung zum Selbstmitleid abweisen. Nach dieser Denkweise Afghanis sind die Muslime Opfer ihrer eigenen djahl, nicht des Westens. Afghanis Name gehört zu der langen Liste von bedeutenden Denkern – gleich ob islamischen oder westlichen –, die in Bauers Buch Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islam fehlen. Wenn das kein djahl ist, was dann?

Ich komme nun langsam zum Abschluss dieses Abschnitts und nochmals auf Maxime Rodinson zurück; er war einer der führenden, allerdings geistesoffenen und undogmatischen Marxisten Frankreichs und deshalb eindeutig antikolonial eingestellt; deshalb sympathisierte er politisch mit der Intention Saids, die Islamwissenschaft zu entkolonialisieren. Im Gegensatz zu Said und seinen Anhängern war Rodinson jedoch ein seriöser Wissenschaftler; er hat unterschieden zwischen politischen Zielen und wissenschaftlicher Methodologie. Ohne die Begrifflichkeit von Thomas Kuhn zu kennen bzw. zu verwenden, schreibt er in seinem Buch La Fascination de l’Islam von 1980, dass der Orientalismus der Islamwissenschaft nicht allein durch eine »option ideologique« überwunden werden kann. Denn wir benötigen »recherche économique et sociale, l’orientation sociologique«. Nichts davon liefern Bauer und Griffel. Aber solche Recherche und Forschung ist eine Voraussetzung für ein Ende des Orientalismus, das nicht ideologisch, sondern wissenschaftlich verstanden wird als »la fin de l’hégémonie de la philologie«. Dieses Ziel erfordert nach Rodinson eine wissenschaftliche Anstrengung und nicht eine »manichäische Verteufelung« – weder der Muslime noch der westlichen Islamwissenschaft. Deshalb lehnt Rodinson die einfältige, ja primitive »diabolisation manichéenne« ab, die Said und in dessen Fußstapfen Bauer und Griffel betreiben.

Die Orientalismus-Debatte, die unten in Kapitel IV rekonstruiert wird, Saids Philippika einer »diabolisation manichéenne« und, last but not least, das, was Bauer und Griffel stellvertretend für die heutige Islamwissenschaft tun, sind zentral für unser Thema. Vorab wiederhole ich: Das ist ein Ideologiewechsel, aber kein Paradigmenwechsel. 17 Jahre nach der Begegnung mit Rodinson in Chicago 1993 traf ich in derselben Stadt wiederum aus Anlass des MESA-Kongresses Edward Said. Vor 2000 Hörern fragte ich Said mit Bezug auf Rodinson, ob er denn nicht der Ansicht sei, dass ein Ende des Orientalismus nicht allein durch einen Ideologiewechsel in der Islamwissenschaft (»option idéologique«), sondern vielmehr und viel entscheidender durch einen Paradigmenwechsel, verstanden als »la fin de l’hégémonie de la philologie«, bewerkstelligt werden müsse. Der Literaturwissenschaftler Edward Said verstand meine metho­do­logische Frage eindeutig nicht! Und ich möchte keinen Kommentar hinzufügen, bis auf diesen Bericht über meine Beziehung zu Edward Said. Wir begegneten uns erstmals 1971 in Boston, als er mich, den 26 Jahre alten, frisch promovierten Syrer dazu einlud, auf dem Jahreskongress der Arab-American University Graduates (AAUG), neben Sadiq al-Azm (1934–2016) und Jacques Berque (1910–1995) aufzutreten. Damals waren Said und al-Azm noch Freunde. Nachdem al-Azm seinen Aufsatz Orientalism and Orientalism in Reverse veröffentlichte, war die Freundschaft beendet. Die soeben angeführte erste Begegnung mit Said schloss die Ver­öffentlichung meines Vortrages in Boston in seinem Buch The Arabs Today. Alternatives for Tomorrow (1973) ein. Damals war Said zwar ein selbstbewusster, aber doch bescheidener und sympathischer Mensch, den ich in mein Herz aufnahm. Das war er später nicht mehr.

Drei Jahrzehnte später traf ich Edward Said zum letzten Mal im November 2000, also drei Jahre vor seinem Tod, in Chicago. Da war Said ein anderer Mensch. Ihm wurde von ca. 2000 Teilnehmern des Jahreskongresses der Middle East Studies Association of North America wie einem Heiligen gehuldigt. Das trug dazu bei, dass ihm der Ruhm auffällig zu Kopfe stieg.

2004, ein Jahr nach Saids Tod, war ich Gast auf der Feier 50 Years Islamic Studies at Harvard am Center for Middle Eastern Studies der Harvard University. Ich hatte damals, 2004 / 2005, einen Jahresvertag als Visiting Scholar inne nach einer Karriere von 1982–2000 in Harvard, jedoch an einem anderen Institut, nämlich an dem Center for International Affairs (CfIA). Bei der genannten Feier fand eine Art Said-Kult statt, die ich nicht nur übertrieben, sondern geradezu unerträglich und abstoßend fand. Ich fasste damals den Mut und regte in einem Diskussionsbeitrag an, dass wir auch das wissenschaftlich-kritische Denken auf Saids Werk anwenden sollten, und führte expressis verbis die Kritik von Sadiq al-Azm an, nämlich die des orientalism in reverse. Mir wurde danach in einer Art, die man in den USA »un-American« nennt, das Wort abgeschnitten und bis zum Ende der Feier nicht mehr erteilt. Das veranlasste mich dazu, das oben angeführte Appointment am Center for Middle Eastern Studies vorzeitig zu beenden und einen Ruf auf eine Gastprofessur der National University of Singapore (NUS) im Januar 2005 anzunehmen. Die NUS gilt in Südostasien als »Harvard of South East Asia«. Ich arbeitete damals an einer Neuausgabe meines Harvard-Buches von 2001: Islam between Culture and Politics. Diese Arbeit setzte ich 2005 in Singapur fort und veröffentlichte sie im selben Jahr mit Sponsorschaft des Centers for International Affairs der Harvard University, also aus Protest nicht im Center for Middle Eastern Studies. Diese Geschichte, die keine persönliche ist, kann der Leser in allen Details in meinem Buch The Sharia State von 2013 nachlesen. Die Geschichte ist deshalb nicht persönlich, weil sie den Geist des Saidismus als Schdanowismus betrifft, der heute international die Middle East and Islamic Studies beherrscht und mit Thomas Bauer Deutschland erreicht hat. Bauer ist dermaßen arrogant, dass er noch nicht einmal Edward Said zitiert, obwohl er auf allen Ebenen als Saidist argumentiert.

Ich möchte das Thema Edward Said mit einem Bericht über eine Begegnung mit ihm im Oktober 1986 an der Columbia University in New York beenden. Bei einem Empfang versuchte ich damals, die Spannung zwischen Edward Said und Sadiq al-Azm durch Vermittlung zu lockern. Said hat mich sehr grob mit der Bemerkung abgewiesen, wie ich dazu käme, eine Person zu verteidigen, die »sakhif / dumm« sei. Daraufhin wendete ich mich ab und lief mit der Überzeugung davon, dass man mit Egomanen nicht rational reden kann.

Auf Basis des bisher Ausgeführten halte ich als eine Art Konklusion fest, dass die islamische Zivilisation in 21. Jahrhundert herausgefordert ist, ihre Probleme selbst zu bewältigen und sich nicht in eine antiwestliche Opferrolle zu verkriechen. Die Orientalismus-Debatte war nur Ablenkung. Es ist eine Schande, dass in Deutschland kein großer islamischer Denker der Gegenwart den Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft bekommt, sondern ein Deutscher, der als Vormund der Muslime spricht, sie aber nicht versteht. Der Preis wird für ein hochideologisches Buch vergeben, das ich nicht als substanziellen wissenschaftlichen Beitrag einstufe. Als Aufklärungs-Muslim behaupte ich, das größte Unglück der Muslime ist ihre Mentalität der Selbstviktimisierung, es ist nicht der Westen. Die Krise der islamischen Zivilisation ist also hausgemacht, und sie kann und muss allein von den Muslimen selbst bewältigt werden.

In aller Kürze halte ich fest: Mein Anliegen, eine Aufnahme des Islam in die Geschichtswissenschaft zu erreichen, ist schon eine Kampfansage sowohl gegen die Islamwissenschaft als auch gegen die philologische und deutsch-paternalistische Disziplin, die statt Forschungsaufgaben zu erfüllen sowohl Deutsche als auch Muslime mit Ideologie und kruden Ideologiewechseln abspeist. Daher steht nicht nur ein Paradigmenwechsel an, sondern auch Ideologiekritik.

2. Die islamwissenschaftliche Orientalisierung des Islam: Muslime brauchen nach deutscher Sicht weder Aufklärung noch Reformation, denn sie haben ihre »Kultur der Ambiguität« sowie ihre »Scharia-Geisteskultur«. Stimmt das?

Der vorangegangene Abschnitt bot einen Abriss der zentralen Problematik dieses Buches, der mit einem engagierten Einsatz für die Anerkennung des Gebiets islamische Geschichte in die deutsche Geschichts­wissen­schaft erfolgte. Dies hat zu folgender Erkenntnis geführt: Sowohl in der deutschen Islamwissenschaft als auch in der deutschen Geschichtswissenschaft ist ein Paradigmenwechsel dringend erforderlich, d.h., die Islamwissenschaft muss Islamologie und die deutsche Geschichtswissenschaft Global History werden. Wenn dies gelänge, könnte die deutsche Geschichtswissenschaft nicht nur Anschluss an internationale Standards erlangen, sondern auch real und nicht nur verbal und heuchlerisch Respekt für die islamische Zivilisation zeigen.

Es geht hier um eine wissenschaftliche Thematik, aber ich verschweige nicht, dass ich seit 1993, dem Erscheinen meines Bestsellers Die Verschwörung, Publikumsbücher und keine Fachbücher im strengen Sinne mehr in deutscher Sprache schreibe, so wie ich dies in den 1970er- und 1980er-Jahren getan habe. Aus entsprechender Erfahrung verlor ich jede Motivation, nur Bücher in kleinen Auflagen für deutsche Professoren zu schreiben. Stattdessen veröffentliche ich seit 1990 meine Fachbücher in den USA bei amerikanischen Universitätsverlagen, zuletzt bei Yale University Press. In den USA gibt es ein größeres Lesepublikum für Fachbücher als in Deutschland. Der Anspruch, allgemein verständlich deutsche Publikumsbücher zu schreiben, gilt auch für das vorliegende Buch über islamische Geschichte. Natürlich halte ich mich an internationale Wissenschaftsstandards, formuliere jedoch allgemein verständlich, in der Hoffnung, durch Erweiterung des Leserkreises eine politische Wirkung zu entfalten.

Einsteigend möchte ich anführen, dass es ein trauriger Fakt ist, dass manch ein Zeitungsartikel mehr Einfluss hat und für mehr Wirbel sorgt, als es je eine wissenschaftliche Buch­mono­grafie leisten könnte. So war der Islamwissenschaftler Thomas Bauer bis 2016 eine unbekannte Größe – auch für mich. Erst durch einen Zeitungsartikel in der Süddeutschen Zeitung (28./29.05.2016) von Frank Griffel, der ebenfalls Islamwissenschaftler und ein Fan von Bauer ist, hat Bauer diesen Bekanntheitsgrad erlangt. Eine große Zeitung und die provokative These, wonach der Islam weder Reformation noch Aufklärung benötige, sorgten für ausreichend Wirbel. Auch ich bin auf Thomas Bauer und sein Buch erst durch diesen SZ-Artikel aufmerksam geworden. Nach dreimonatigem Hin und Her von Mai bis August 2016 gelang es mir, das Feuilleton der SZ zu überzeugen, meinen Widerspruch gegen Griffel und Bauer im Artikel Die Erleuchteten(SZ vom 09.08.2016) zu veröffentlichen. Ich nehme diesen Disput hier wieder auf.

Im ersten Schritt oben in Abschnitt 1 war mein Ziel die Aufwertung der islamischen Geschichte zu einem Gegenstand der deutschen Geschichtswissenschaft. Hier will ich mit Rückgriff auf die mittelalterliche rationalistische Philosophie im Islam von al-Farabi (872–950) und Avicenna (980–1037) bis zu Averroës (1126–1198) und Ibn Khaldun (1332–1406) einen weiteren Schritt unternehmen; gegen die jüngere Islamwissenschaft will ich argumentieren, dass es eine islamische Aufklärung gegeben hat, die von der fiqh-Orthodoxie erstickt worden ist. Das ist islamische Ideengeschichte. In seinem für muslimische Aufklärer unzumutbaren Buch glaubt Thomas Bauer, auf fünf Zeilen und ohne Beweise einen drei Jahrhunderte dauernden weltanschaulichen Krieg zwischen fiqh-Orthodoxie und islamischem Rationalismus wegzaubern zu können. Nicht nur ich, auch Marshall Hodgson spricht in seiner bereits erwähnten meisterhaften dreibändigen Geschichte des Islam (The Venture of Islam, Bd. 3, S. 350f.) von der Orthodoxie als Synonym für »Sharia-mindedness« und behandelt den falsafa-Rationalismus im selben Band als entgegengesetzte Richtung (Kapitel V, S. 410ff.). Bauer, der dieses Werk ignoriert, scheint nicht nur hierüber nichts zu wissen, er weist auch die Spannung zwischen Scharia und Falsafa ohne Begründung zurück. Im Folgenden möchte ich diesen Unsinn der deutschen Islamwissenschaft unter die Lupe nehmen.

Ehe ich in das angegebene Unternehmen einsteige, möchte ich mich von der Orientalismus-Kritik der postkolonialen deutschen Islamwissenschaft und ihrem Ursprung, dem Saidismus, abgrenzen. Die geistige Abgrenzung kann leicht erfolgen, wenn meine Leser die Feststellung verstehen, dass Edward Said innerhalb der Logik des Orientalismus bleibt, wenn er, wie Sadiq J. al-Azm ihm vorwirft, einen orientalism in reverse liefert und, wie Rodinson sehr schön sagte, »eine diabolisation manichéenne« betreibt. Eben das will ich nicht tun, weil ich dann auf das Niveau von Bauer und Griffel herabsänke. Statt zu behaupten, der Islam benötige keine Aufklärung und keine Reformation, weil er eine »Kultur der Ambiguität« habe, und statt darin zu verfallen, den Orientalismus umzukehren, verlasse ich den Boden der ideologischen Dispute, gehe zur Realität über und stelle fest: Es gab in der islamischen Geschichte Aufklärer auf dem Niveau Immanuel Kants, die sich bereits Jahrhunderte vor ihm für das Primat der Vernunft einsetzten.

Gehen wir nochmals zur Quelle des Disputs, also zum Buch Orientalism (1978) von Edward Said. Dieses hat, wie Maxime Rodinson in seinem Buch La fascination de l’Islam (1980) neutral feststellt, etwas »comme un traumatisme« ausgelöst, also eine traumatisierende Erschütterung, die zu jener Zeit erforderlich war. Said hat eine unbarmherzige Abrechnung mit den Islamwissenschaften vorgenommen und europäische Orientalisten bezichtigt, den Orient zum bloßen Diener der europäischen Kultur herabzusetzen. Wie Sadiq al-Azm – ein Syrer mit Ph.D. der Yale University, Professor in Damaskus und Träger der Goethe-Medaille – schreibt, hat Said jedoch nur eine »Umkehrung des Orientalismus« (orientalism in reverse) betrieben, d.h., er bleibt der Logik des Orientalismus verhaftet und kehrt ihn lediglich um. Dies tun auch heutige deutsche Islamwissenschaftler, die für ihre geistigen Väter sühnen, indem sie Said folgen; beide sind gleichsam Manichäisten. Dies weise ich im Folgenden noch nach.