Von Damaskus in die deutsche Ghurba - Bassam Tibi - E-Book

Von Damaskus in die deutsche Ghurba E-Book

Bassam Tibi

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Beschreibung

Bassam Tibi, Erfolgsautor und einstiger Star-Experte im deutschen Fernsehen sowie Begründer des Begriffes Leitkultur, legt seine lange erwartete Autobiographie vor – in der Art eines Berichts über eine Weltreise. Tibis Weltreise erfolgte nach der Abreise von Damaskus 1962 in der islamischen Tradition des Strebens nach Wissen (Talab al-'Ilm) und umfasste bis 2010 fünf Kontinente, in denen er gelehrt und geforscht hat. Sein kulturell hybrides Leben ist in dieser Art einzigartig: Er durchlief gleich drei Sozialisationsmuster in unterschiedlichen Zivilisationen: der islamischen, der europäischen und der nordamerikanischen. Tibis Autobiografie verweist im Titel auf seine wichtigste Reise, die nach Deutschland, die sein Leben grundsätzlich veränderte: Von Damaskus in die deutsche Ghurba. Sein Studium in der Frankfurter Schule war entscheidend; dabei durchlebte er den Wandel vom Glauben zum Denken. Um 1970 veränderte sich zudem sein Status vom Studenten zum Flüchtling. Er strebte in der Folge echte Zugehörigkeit zu Deutschland an, als Citoyen, scheiterte aber regelmäßig an der Tatsache, dass Deutschland zwar ein Migrations-, aber keineswegs ein Integrationsland ist. Das wiederum trieb Tibi unter anderem zur mehrmaligen Flucht in die weite Welt – und so wurden die Probleme um Migration und Integration zum zentralen Thema seines Lebens und auch dieses Buches. Tibi erfuhr, dass er zwar in Deutschland promovieren, sich habilitieren und Professor werden sowie eine brillante akademische Laufbahn mit 18 internationalen Gastprofessuren vorweisen kann, dennoch immer Passdeutscher bleibt und nie auf eine echte Integration als Citoyen hoffen kann, der voll akzeptiert ist und ein echtes Zugehörigkeitsgefühl empfinden darf, einen sense of belonging.  Nach vorübergehender Auswanderung in die USA kehrte Bassam Tibi 2010 wieder nach Deutschland zurück – und schloss mit Göttingen als Stadt, Universität und Wahlheimat seinen Frieden. Tibis Autobiografie problematisiert nicht nur hochaktuell die Themen von Migration und Integration, sondern stellt auch ein außerordentliches Dokument deutscher Zeitgeschichte dar. Er erlebte und beobachtete als Zeitgenosse die entscheidenden Entwicklungen im Nachkriegsdeutschland, vom "Fremdarbeiter"-Anwerben über die 68er, die Wiedervereinigung, die deutsche Vergangenheitsbewältigung und nicht zuletzt die Entstehung des ökologischen Zeitgeistes und die Flüchtlingskrise 2015. All dies hat Tibi als Zeitzeuge aus drei Perspektiven beobachtet: vor Ort in Deutschland, als Gastprofessor in den USA und aus der Perspektive der Welt des Islams.

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Inhaltsverzeichnis

Geleitwort von Prof. Dr. Michael Wolffsohn

Vorwort als Lektüre-Anleitung zu Buch und Autor

Ein langer Prolog mit den Fragen: Warum schreibe ich diese Autobiografie? In welchem kulturellen Stil? Was sind meine Themen und welche Relevanz haben sie für Deutsche? (Stand 2019)

Einleitender Essay Vorwurfsvoll und fremdbestimmt nannte man mich »schwer integrierbar« (Die Zeit vom 28. September 2006) Warum? Bin ich ein Muster oder ein Einzelfall?

Erster Teil (Stand 2019) Die vier Fragenkomplexe, die mein Leben 1962–2019 unter Deutschen mehr als ein halbes Jahrhundert lang als Hintergrund begleitet und bestimmt haben

Einführung zum Ersten Teil

Kapitel 1 »Unbequeme Gedanken« über die Spannung in meinem Leben in der deutschen Ghurba / Fremde. Bewundert als »Denker der arabischen Linken« (Prof. H. Sharabi) bzw. »internationally renown thinker« (Prof. A. Malashenkov) einerseits und Objekt der Fremdbestimmung eines ethnisch eingestuften »Syrers mit deutschem Pass« (Graf von der Goltz) andererseits

Kapitel 2 Sind Muslime die neuen Juden? Die Deutschen und die Fremden. Und wie steht es mit ihrem zugewanderten »neuen Antisemitismus«? Warum soll dieser kein deutsches Problem sein?

Kapitel 3 Verdrängte Fragen und deutsche Extreme: Deutschland als Heimat? Welche Identität habe ich als ein Fremder? Was verbindet mich mit Deutschland? Als Fremder erlebe ich den Kontrast zwischen real erlittener Ausgrenzung und der Rhetorik der medial verordneten Fremdeneuphorie

Kapitel 4 Deutschland ohne Leitkultur und »ohne Identität?« »Breaking« deutsche Tabus durch Enttabuisierung der Fragen: Wer sind die Deutschen? Was bedeutet der deutsche Pass? Does Identity matter? Über das Verhältnis der Deutschen zu Religion und Identität und darüber, ob die Religionskritik nicht mehr zur Aufklärung gehört und heute als Islamophobie kontaminiert wird

Kapitel 5 Der sachliche Anlass zu dieser Autobiografie und wie sie entstanden ist: Nachdenken über die Tabuisierung der Verbindung von Migration, Identität und Integration in Europa

Zweiter Teil Die formativen Jahre meines Lebens: Nach Damaskus (1944–1962) folgen die entscheidenden Frankfurter Lehr- und Wanderjahre 1962–1972

Einführung zum Zweiten Teil

Kapitel 6 Der besondere Platz von Frankfurt in meinem Denken und meinem Leben: Frankfurt, je t’aime! Und »Adorno ist mein Held«

Kapitel 7 Deutschland original erlebt: Das Intermezzo in Mannheim unter deutschen Kriegswitwen und der Goethe-Sprachkurs im bayerischen Ebersberg

Kapitel 8 Auf die Euphorie folgt der soziale Abstieg vom Damaszener Aschraf-Aristokraten zum Frankfurter Postarbeiter. Plan B: Statt »Doktor der Ökonomie« nun einfach nur ein Dolmetscher-Student in München

Kapitel 9 Revue meines Lebens in Deutschland in den frühen Sechziger-Jahren: Die Rückkehr von München nach Frankfurt 1964, deutsches Abitur und Beginn des Universitätsstudiums als Lehrjahre in der Frankfurter Schule ab Sommersemester 1965

Dritter Teil Von Frankfurt nach Göttingen 1973 und die erste Lebenskrise. Ein Fremder wird des »Irrlichterns« im deutschen Wissenschaftsbetrieb bezichtigt und sein arabischer Familienname wird zum »Unwort des Jahres« verfemt. Der Hintergrund für den Wunsch: nichts wie weg von Deutschland. Warum und wohin?

Einführung zum Dritten Teil

Kapitel 10 Die Berufung nach Göttingen 1972, revisited im Kontext. Aufstieg und der Fluch der Provinz, dann Beginn der Flucht. Die entscheidenden fünf Stationen und Lebensstufen: Damaskus, Frankfurt, Göttingen, Cambridge / MA, Harvard, Ithaca / NY / Cornell University, und wie steht es mit Kairo?

Kapitel 11 Warum die Flucht aus Deutschland? Der tragische Anfang nach dem Umzug von Frankfurt nach Göttingen. Ein schwerer Beginn mit tiefen traumatischen Wunden, begleitet von der ersten Identitäts- und Lebenskrise: 1975–1978

Kapitel 12 Selbstherrlicher Mythos und Realität. Deutsche »Willkommenskultur« erfahren an fünf unvergesslichen und exemplarisch traumatischen Erlebnissen, dennoch bin ich nicht undankbar!

Conclusio

Vierter Teil (Stand 2019) Die globale Suche nach Anerkennung. Die kulturelle Hybridität bei einer Flucht aus Deutschland im Geiste Ibn Battutas: meine Fluchtrouten in die große Welt

Einführung zum Vierten Teil

Kapitel 13 Auf der Suche nach Heimat und Anerkennung: Ein Leben eines Migranten in vier zivilisatorisch unterschiedlichen Welten: Internationalität als Trost und zugleich Kompensation

Kapitel 14 Fluchtroute I: Mit Kairo beginnt meine Rückkehr zum Islam als Flucht aus Deutschland. Die Wiederaufnahme meines Lebens in der arabischen Welt seit 1979 und seit 1982 (Senegal) und auch generell in der islamischen Zivilisation als Identitätsfindung und als Bezugnahme der Zugehörigkeit

Kapitel 15 Fluchtroute II: Zwei Lebensabschnitte in den USA Harvard und Princeton als mein akademisches Mekka 1982–2000 mit Zwischenstationen in Ann Arbor / Michigan und in Berkeley. Danach beginnt der zweite US-Zeitabschnitt 2003 am Scripps College / California; dann der Wechsel an die Cornell University in Verbindung mit Yale und CAHS 2004-2010 als Abschluss

Anhang: Abschied und Versöhnung (2021)

ibidem-Verlag, Stuttgart

GELEITWORT VON PROF. DR. MICHAEL WOLFFSOHN

Ein »Egomane« sei dieser Bassam Tibi, verbreiten manche markig, giftig auf universitären, politischen und publizistischen Marktplätzen. Auf den ersten Blick scheint es, sie hätten Recht. Ich sage: sie »hätten« Recht, ich sage nicht: sie haben Recht. Man beachte den Konjunktiv. Vorsicht! Welcher Professor, Politiker oder Publizist will, selbst »im Glashaus sitzend, mit Steinen werfen«? »Wer wirft den ersten Stein?« Wer nichts zu sagen hat, spricht nicht und schreibt nicht. Deshalb sprechen und schreiben Professoren viel. Nur Professoren? Keine Sorge, auch Professorinnen.

Wer forscht, erforscht auch sich selbst, auch wenn er über sein Forschungsgebiet schon mehr als andere weiß. Deshalb forschen Chinesen häufiger über China als Nicht-Chinesen, Juden öfter als Nicht-Juden über Juden, Deutsche über Deutsche, Muslime – wie Bassam Tibi – über die islamische Welt. Verwerflich? Aufdringlich?

Bassam Tibi stellt sich offen möglicher Kritik. Er weicht nicht aus. »Hier bin ich«, ich kann auch anders.

Geprägt wurde Bassam Tibi von der Frankfurter Schule. Wer nicht weiß, vermutet: Horkheimer, Adorno, Habermas, auch Mitscherlich und Iring Fetscher. Gut gedacht, Leser, denn bei ihnen hatte er Sozialwissenschaften und Philosophie studiert. Das veränderte sein Denken und Leben. Nach seinem Studium konnte er wegen seiner Opposition zum syrischen Regime nicht mehr in seine Heimat Damaskus zurückkehren.

Bis Tibi achtzehn war, bis zu seinem Abitur, wuchs Tibi in Damaskus als sunnitischer Muslim und syrischer Araber auf, als Angehöriger – meine Formulierung – des syrischen Adels, der »Banu al-Tibi«. Seinen Orient der Kinder- und Jugendjahre sieht Tibi nun als Erwachsener aus der Perspektive des Okzidents. Er kennt beide Welten. Sein Blickfeld, Bewusstsein und schließlich Sein hat sich erweitert und somit geändert. Frei nach Goethe im West-östlichen Divan:

Nicht nur Gottes, sondern auch Tibis ist der Orient,Tibis ist der Okzident.

Auch ohne nach göttlichen Goetheʼschen Sternen zu greifen: Welcher europäische Wissenschaftler kann von sich behaupten, durch sein Leben, Lernen und Denken in der Welt des Morgen- und Abendlandes beheimatet zu sein?

Seine »reformerische Islam-Deutung« kennzeichnet »den Tibi«. Er lehnt den Islam nicht ab, er will ihn reformieren. Er sieht, kennt, denkt – will ändern. Was und wie er ändern möchte, entwickelt er argumentativ, nicht agitatorisch. Und er will den Islam europäisieren, das Partikulare also universalisieren, nicht liquidieren.

Kann diese Offenheit »egomanisch« sein? Nein, sie ist ganz einfach ehrlich. Tibi verdeckt und versteckt nicht, er verklärt nicht, er erklärt, und er erklärt auch sich selbst, damit wir wissen, wer und was uns als Leser erwartet. Danke, Bassam.

Doch, kontern X und Y, er ist ein sich aufblasender Egomane: »Place und name dropping, unerträglich«, stöhnen sie. Tatsächlich: Namen, Namen, Namen; Große, Bekannte, Bedeutende. Orte, Orte, Orte. Bassam Tibi scheint die Gabe der Ubiquität, also der Allgegenwärtigkeit, zu besitzen. An allen Orten und Zentren der Gelehrten und Gelehrsamkeit scheint er gewesen zu sein, gelernt und gelehrt zu haben. Wie die von Goethes Kommentar beglückten (?) Offiziere nach der verlorenen Kanonade von Valmy am 20. September 1792 kann, so scheint es, Bassam Tibi siegreich melden: »Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen.« Achtzehn Gastprofessuren, unzählige Vorlesungen und Vorträge an Top-Universitäten.

Ich höre: »Klappern gehört zum Handwerk«. Ich frage zurück: Wird jeder klappernde Handwerker oder Professor an die besten der besten Universitäten gerufen und geladen? Auf Kollegenneid ist Verlass. Tibi veröffentlicht in drei Sprachen: Deutsch natürlich, Englisch und Arabisch. Wie viele Fachkollegen können Vergleichbares bieten? Wer kann ihn überbieten?

Neid ist alltäglich, nicht menschlich, doch sehr menschelnd und hart erarbeitet. Das hat nicht nur Bassam Tibi erfahren müssen.

Kritik an Bassam Tibi ist nicht selten, freilich nicht immer wissenschaftlich bestimmt, sondern durch Vorurteile geprägt. Von »Rassismus« würde ich nur bei seltenen Ausnahmen sprechen, die ganz genau von Fall zu Fall begutachtet werden müssten, um Pauschalfehlurteile zu vermeiden. Bassam Tibi vereint in sich Orient und Okzident, während große Teile seiner westlichen, besonders deutschen Umwelt – ich sage es absichtlich scheinbar tautologisch – okzidental geblieben ist und sich dem Orient nicht wirklich geöffnet hat; weder im Herzen noch im Kopf.

Womit wir vom Mikrokosmos Tibi beim Makrokosmos Deutschland wären, der Integration in Deutschland. Bassam Tibi ist integriert, große Teile seiner deutschen Umwelt haben Außerdeutsches weder in ihr Denken noch gar in ihr Sein integriert.

Bassam Tibi hat es auf den Punkt gebracht: »Im Deutschen unterscheidet man zwischen ‚Sache‘ und ‚Person‘. Die Adjektive hierzu sind ‚sachlich‘ und ‚persönlich‘; beide schließen einander im Deutschen aus. Wenn es um die ‚Sache‘ geht, bleibt kein Raum für den Menschen als eine Person, und das, was als nur ‚persönlich‘ dargestellt, ja in vielen Fällen verleumdet wird, steht im Widerspruch zum ‚Sachlichen‘. Das ist eine deutsche Denkart, die mir in meinem Leben in Deutschland seit 1962 unendliche Male vorgehalten und empfohlen worden ist; doch ich meine, sie muss nicht für alle Menschen gelten. Schließlich gibt es auch die unterschiedlichsten Kulturen, und in unserer Zeit der Zivilisationskonflikte ist die Anerkennung des kulturellen Pluralismus ein Element des Friedens.

Bassam Tibi hält uns den Spiegel vor. An ihm können wir messen, wie vermessen die Selbsteinschätzung auch gerade derjenigen ist, die sich für die Vorhut neudeutscher Aufklärung und Toleranz halten. Könnte es sein – ich frage im Konjunktiv – könnte es ein, dass diese vermeintliche intellektuell-ethische Avantgarde Deutschlands Toleranz und Integration lieber paternalistisch gewährt als partnerschaftlich praktiziert, Toleranz von oben nach unten statt von gleich zu gleich?

Dass ein zweifellos hochkultivierter, der deutschen Sprache wie ein bestgebildeter Deutscher mächtiger, integrationswilliger und ins deutsche Wissenschaftssystem integrierter deutsch-muslimischer Staatsbürger syrischer Herkunft sich nicht wirklich von der Mehrheitsgesellschaft angenommen fühlt, sollte selbstkritisches Nachdenken bei »deutsch Deutschen« ganz allgemein und bei deutsch-deutschen Akademikern im Besonderen auslösen.

»Subjektive Wahrnehmung! Wahrnehmung, nichts als Wahrnehmung«, rufen nun manche, und Hartgesottenere brüllen jargonesisch ge- und verbildet: »Perzeption«. Wahrnehmung. Mag sein. Doch diese subjektive Wahrnehmung ist Bassam Tibis Wirklichkeit. Sie war so niederschmetternd, dass er regelrecht die Flucht aus Deutschland ergriff. Nur um seine Beamtenpflichten zu erfüllen, kam er von 1979 bis 2010 für maximal fünf bis sechs Monate pro Jahr an »seine« Göttinger Alma Mater, die ihm nicht nur Kollegen regelrecht zur Hölle machten. Willkommenskultur sieht anders aus. Gilt sie nur denen, die hierher kommen und »etwas wollen« – und nicht für solche Neudeutschen wie Bassam Tibi, die Deutschland und den Deutschen »viel geben« möchten, nicht zuletzt, im übertragenen Sinne, sich selbst? Gerade diejenigen Deutschen, Akademiker oder nicht, die sich selbst zu Weltbürgern mit offenem Herzen und Verstand stilisieren, sollten in diesem Buch besonders auf Tibis »Integrations«erfahrungen achten. Vielleicht, hoffentlich, bewirkt Tibi damit bei jenen Lesern mehr Selbstkritik als Selbststilisierung?

Bassam Tibi ist kein Einzelfall, er personifiziert ein Paradigma. Das Paradigma des mustergültig akkulturierten und doch nicht assimilierten deutschen Staatsbürgers ausländischer Herkunft. Er ist und kann Deutsch bestens und hat dennoch manche Herkunftseigenheiten ebenso wenig aufgegeben wie sich selbst. Er hat sein erstes, ausländisches Ich um das zweite, inländisch-deutsche erweitert. Er ist durch diese Akkulturation gewachsen, nicht geschrumpft. Er sieht mit vier Augen, nicht mit zwei; er hört mit vier Ohren und fühlt mit zwei Seelen. »Zwei Herzen wohnen, ach«, in seiner Brust.

»Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust.« Faust, Erster Teil. Deutscher als diese deutsche Dichtung ist nichts, ergo ist der akkulturierte, doch nicht assimilierte Inländer ausländischer Herkunft tiefdeutsch und Teil deutscher Hochkultur, Vorbild neudeutscher Leitkultur als Weltkultur.

Tibis Liebe zu Deutschland, seine Integrationsfähigkeit und -willigkeit, seine beispielhafte Akkulturation ohne (!) Selbstaufgabe wurde von vielen Deutschen brüsk und rüde, offen oder verdeckt zurückgewiesen. So jedenfalls sieht er es. Wer Tibis Sicht verwirft, werfe zuerst einen Blick auf sich selbst und frage sich: Ist mein Integrationskonzept wirklich richtig? Alle amtlich, wissenschaftlich, gesellschaftlich und medial hinausposaunten, vermeintlich axiomatischen Voraussetzungen gelungener Integration erfüllt Bassam Tibi, nicht zuletzt das perfekte Beherrschen der deutschen Sprache. Trotzdem (oder gerade deshalb?) wird er zurückgewiesen. Ihm und seinesgleichen kann und muss man eben nicht paternalistisch, von oben herab, sondern auf Augenhöhe begegnen. Und hier hört die Gemütlichkeit der Willkommenskultur auf.

Unter muslimisch-deutschen Vorzeichen ähnelt Tibis Schicksal dem der deutschen und europäischen Juden vor dem sechsmillionenfachen Judenmorden. Doch nicht allein deshalb zählt er zu den seltenen echten Judenfreunden der muslimischen Welt.

Das Schicksal der damaligen Juden erwartet Tibi gottlob nicht, aber seine Bilanz ist erschreckend genug. Man kann Menschen psychisch vernichten (schlimm) oder physisch (schlimmer) oder sowohl physisch als auch psychisch (am schlimmsten). Schlimm ist schlimm genug. Es ist zu hoffen, dass Bassam Tibis Autobiografie selbstverliebte Deutsche aufrüttelt und Selbstkritik auslöst. Wahrscheinlich ist das nicht. Sie werden sich wohl eher weiter darum bemühen, die Welt an ihrem neudeutsch hypermoralischen Wesen genesen zu lassen. Die anderen Leser werden an Tibis Wesen dankbar erkennen, dass natürlich auch Muslime einsatzfreudige Demokraten sowie tolerante, vorurteilsfreie, deutsche Weltbürger sein oder werden können.

München, im Sommer 2019

Michael Wolffsohn

 

VORWORT ALS LEKTÜRE-ANLEITUNG ZU BUCH UND AUTOR

Mit diesem Buch lege ich meine Lebensgeschichte als Syrer in der deutschen Fremde (arabisch ghurba) vor. Ich begann im November 2013 daran zu arbeiten und schloss es 2020 unter den bedrohlichen Bedingungen des tödlichen Corona-Virus ab. Als Wissenschaftler und auch als Betroffener kenne ich zwei Arten von Viren: biologisch und figurativ. Ich habe Angst vor beiden. Ein Virus wie Corona tötet physisch, aber ein figuratives Virus, das den Ruf einer öffentlichen Person, wie mir, beschädigt, tötet durch Rufmord. An meinem Lebensabend in Deutschland bin ich ein Opfer dieses Rufmordes. Ich habe mich nach langer Überlegung dazu entschieden, diese Geschichte mit einem SOS-Notruf an europäisch und weltoffen denkende Deutsche zu verbinden.

Das zentrale Thema meiner Lebensgeschichte als Flüchtling und als Migrant aus Syrien ist – so wie im Buchtitel angeführt – »die Fremde« und in diesem Zusammenhang »Integration« im US-amerikanischen Verständnis von sense of belonging als Zugehörigkeit. Gegen Rassisten versichere ich, dass ich – obwohl Orientale – die sachlich-wissenschaftliche Arbeitsweise beherrsche und dies in einem mehrsprachigen Werk unter Beweis gestellt habe. Aber im vorliegenden Buch will ich erzählen, keine Bücher (wenn auch mit wenigen Ausnahmen) zitieren, sondern Songs anführen, die meine Belange in dieser Lebensgeschichte illustrieren. Weil meine Lebensgeschichte in Deutschland eine solche der gescheiterten Integration – durch fehlende Identität und Anerkennung – in die deutsche Gesellschaft ist, lässt sie sich am Besten – mit einem sad song vergleichbar – mit dem Beatles-Song HeyJude mit den Worten »take a sad song and make it better« darstellen. Genau das will ich tun. Ich lasse mir nicht vorwerfen, wie es eine unsympathische »deutsche« (im Sinne Adornos) Welt-Journalistin tat, ich würde lamentieren, nein dies tue ich nicht. Mein Ziel ist dies: An meiner Lebensgeschichte in Deutschland will ich erzählerisch die Tatsache erörtern, warum es der deutschen Aufnahmegesellschaft misslingt uns Fremde als citoyens eines demokratischen, nicht-ethnischen Gemeinwesens zu integrieren. Ich erzähle meine traurige Geschichte mit der Intention to make it better.

Dies setzt aber Empathie – wie die von Michael Wolffsohn in seinem Geleitwort – voraus. Im zitierten Song ermutigen uns die Beatles in ihrem statistisch erfolgreichsten Song (als Single 7,5 Millionen Mal verkauft), to let it into your heart, das ist auch in Bezug auf meine Geschichte wichtig. Denn nur erst dann you can start to make it better.

Weil ich aus Erfahrung weiß, dass es Leute gibt, die lesen, nicht um den Autor und seine Botschaft zu verstehen, sondern um ihn zu diffamieren und deshalb nur Versatzstücke aus dem Text heraussuchen, muss ich mich schützen. Ich möchte nicht vom Kreise der gesinnungschristlichen Moralisten, der Linksgrünen, der Islamisten und der orthodoxen Muslime aus der »Mufti-Welt« (so Ernst Bloch) gelesen werden. Noch resoluter möchte ich Abstand von den Rechten nehmen, die meine Aussagen instrumentalisierend fälschen. Ich hoffe auf Leser mit Empathie und Offenheit, die auch widersprechen dürfen, ohne die Intention aufzugeben, mich zu verstehen; ihnen singe ich aus dem Beatles-Song We can work it out folgenden Satz: »life is very short, and there is no time for fussing and fighting«. In meinem Alter habe ich keine Lust auf »streiten« im deutschen Sinne von Zanken. Es gibt keine Zeit zu verlieren, wenn es um die Integration von Fremden, wie mir, in Deutschland geht. Darum wird es in der vorliegenden Autobiografie gehen.

Bei der Anführung des sad song von den Beatles schrieb ich, dass meine gescheiterte Integration, die kein Einzelfall ist, eine traurige Geschichte ist, aber diese Aussage gilt nicht für mein Leben in Deutschland und erst recht nicht für mein gesamtes Leben. Ich werde im Folgenden argumentieren, dass ich ein sehr erfülltes Leben hatte, das ich über Deutschland hinaus auf fünf Kontinenten verbrachte. Dieses Buch berichtet hierüber und ich will es im Folgenden nicht nur vorstellen. Ich möchte als Anleitung auch Empfehlungen unterbreiten wie die Lektüre gestaltet werden kann.

Bücher zu schreiben ist eine Leidenschaft, die mich seit meiner Jugend begleitet. Ich war immer politisch interessiert und bin vielleicht deshalb Politikwissenschaftler geworden. Im Jahre 1960 verfolgte ich als 16jähriger Schüler als Anhänger von Patrice Lumumba die Kongo-Krise und schrieb das Manuskript eines leider verschollenen, arabisch-sprachigen Buches hierüber. Zwei Jahre danach kam ich zum Studium nach Deutschland und 9 Jahre nach meinem Kongo-Buch veröffentlichte ich das deutsche Buch Die arabische Linke. Ich kann ohne Bücher nicht leben, aber diese Autobiografie wird mein letztes Original-Buch sein, denn hiernach werde ich nur Neuausgaben meines vergriffenen Werkes veröffentlichen. Meine Denk- und Schreibsprachen, in der Reihenfolge des Erlernens, sind Arabisch, Französisch, Englisch und Deutsch. Ich war 1995 und 1998 lehrender Professor an der Bilkent University in Ankara, das reichte aber nicht, um die türkische Sprache zu lernen. Auf Deutsch veröffentlichte ich zwischen 1969 und 2019 original 31 Bücher und zwölf Bücher auf Englisch in den USA.

Jene, die nicht nur Bücher lesen, sondern auch wissen, wie diese entstehen, verrät alleine der Arbeitszeitraum durch einen erfahrenen Autor an dieser Autobiografie, von 2013 bis 2020, wie schwierig es war diese zu schrieben – und noch mehr – zu einem Abschluss zu bringen. Bis auf meine Ideengeschichte des Islam Der wahre Imam (1996), an der ich zehn Jahre arbeitete, benötigte ich für all meine anderen Bücher maximal zwei Jahre. Diese Autobiografie ist nicht über mein gesamtes Leben, sondern, wie der Buchtitel es verrät, nur über ein Leben in der Fremde / ghurba. Ich musste stets neu formulieren, ergänzen, differenzieren, revidieren etc., sodass sogar mein wohlwollender Verleger die Geduld beinahe verlor und zeitweise das ganze Projekt in Frage stellte. Aber es gelang.

Beim Schreiben dieser Zeilen blicke ich als ein 76jähriger Migrant auf ein sehr reiches und erfülltes Leben zurück. An meinem Lebensabend erkenne ich, dass ich ein kulturell vielfältiges, emotional sowie intellektuell, also auch erotisch und wissenschaftlich, sehr erlebnisreiches Leben hatte, das wert ist in einer Autobiografie festgehalten und erzählt zu werden. Oben steht wieviel ich mehrsprachig zu Papier brachte (neben hunderten von Fachabhandlungen, Essays und Artikeln), aber im Alter neige ich dazu Songs zu singen, statt Bücher zu zitieren.

Mein Leben ist nicht nur deshalb erfüllt, weil ich »traveled each and every highway« – so Frank Sinatra – sondern auch »but more, much more than this / I did it my way«. Ich kenne nicht nur fünf Kontinente dieser Welt und die Vielfalt ihrer Kulturen, sondern auch die kulturelle und persönliche Standhaftigkeit eines Menschen in meiner Person, der sagt und schreibt was er denkt: »to say all the things he truly feels / And not the words of one who kneels / The record shows, I took the blows / but I did it my way«. Ich gehe lieber ins Gefängnis oder ins Exil als mich zu beugen, sei es gegenüber der faschistischen Diktatur der schiitisch-alawitischen, orientalischen Despotie in meiner Heimat Syrien oder gegenüber dem totalitären Zeitgeist von Linken und Gesinnungschristen in der deutschen ghurba / Fremde. I do it my way: so schreibe ich in dieser Lebensgeschichte, was ich denke und nicht was andere von mir erwarten. Hierfür zahle ich jeden Preis.

Erzählenswert in meiner Lebensgeschichte ist nicht nur die kulturelle Vielfalt meiner Erlebnisse, sondern auch und vor allem die Beobachtung des Pendelns der Deutschen, unter denen ich als Fremder lebe, zwischen den Extremen des Pro vs. Contra, sei dies in der Islamfeindlichkeit der AfD konfrontiert mit der Islamophilie der Linken und Gesinnungschristen, sei es generell in dem Extrem der Anfeindung der Fremden versus deutsche Flüchtlingsromantik. Dies beobachtet zu haben, ist ein Problem in meiner Lebensgeschichte unter Deutschen. Nochmals: Ich spreche hierüber frei, my way und verschweige meine Verachtung für die Vertreter beider deutscher Extreme nicht.

Mein Glück, nach einem vorwiegend erfüllten Leben, wird heute gestört. An meinem Lebensabend werde ich durch die Drohung von tödlichen Viren belastet. Es sind, wie gesagt, zwei Arten von Viren, das eine ist biologisch, Corona, das andere ist figurativ, der Rufmord, den Gesinnungschristen und Linke an mir durch Schubladisierung im rechten Spektrum verüben, mit dem ich als Aufklärer, Gesellschaftskritiker und liberaler Muslim nie in meinem Leben zu tun hatte. Die angesprochenen Gesinnungschristen und Pfarrhaus-Grüne treiben mich in meine islamischen Wurzeln. Mit großem Stolz blicke ich auf mein Leben auf fünf Kontinenten im Geiste Ibn Battutas (1304–1378) zurück. Anders als die monokulturellen Menschen der Provinz war Ibn Battuta ein islamischer Kosmopolit und ein Vorbild für mich.

Nun will ich zu der angekündigten Anleitung für die Lektüre übergehen. Diese betrifft: 1) den Charakter dieser Autobiografie sowie ihren Anspruch, ein Muster zu bieten, 2) ihren Kontext, 3) ihre Umwelt und Entstehung, 4) ihren Autor und schließlich 5) Schwerpunkte ihrer Kapitel. Das Buch ist kein Sachbuch, sondern ein literarisches Dokument, in dem die Person der Lebensgeschichte im Mittelpunkt steht, auch wenn dabei Sachprobleme angesprochen und erläutert werden, daher der Themenschwerpunkt »Autor«.

Charakter und Anspruch: Der erste Teil der Anleitung besteht aus der Bitte, diese Lebensgeschichte als eine Erzählung über ein Leben in der Fremde, d.h. in der Diaspora, zu lesen, die zwar individuell ist, dennoch dies beansprucht: Mein Leben in Deutschland ist kein Einzelfall, sondern ein Muster, das eine allgemeine Aussagefähigkeit beansprucht. Meine Probleme mit Deutschland sind zugegebenermaßen persönlicher Natur, aber sie sind zugleich musterhafte Probleme einer Aufnahmegesellschaft, die – vorsichtig ausgedrückt – außer Gesinnungsethik keine Erfahrungen mit dem Umgang mit den Fremden, als den kulturell Anderen hat.

Der Kontext: Dieser ist mein Leben als Damaszener Muslim in einer Gesellschaft, die – so Mary Fulbrook in ihrem Buch German National Identity (1989) – eine »ethnic community or Volksgemeinschaft« ist und eine »immer wieder gestörte Konsolidierung [ihrer] nationalstaatlichen Existenz« – so H. Plessner in Diesseits der Utopie (1966) – als Problem hat. Einer der faszinierendsten deutschen philosophischen Begriffe, die ich gelernt habe ist: »Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigen«. In meinem Beitrag mit der Übersetzung dieses Begriffes mit The Simultaneity of the Unsimultaneity zu dem Harvard-MIT-Projekt Tribes and State Formation in the Middle East (erschienen als Buch bei Berkeley, University of California Press 1990) habe ich diesen Begriff für die Deutung der Gleichzeitigkeit von »Stamm / Nation« als Ungleichzeitigkeit verwendet. Ich möchte diesen Begriff für die Gleichzeitigkeit von ethnischer Gemeinschaft und den 6 Millionen asiatischen Muslimen, zu denen ich gehöre, als nicht-integrierte Bevölkerung Deutschlands verwenden. Ich weiß, bei der Angabe dieses Kontextes betrete ich ein vermintes Gelände. Aber das ist mein Leben in Deutschland und ich weigere mich so zu handeln, wie manche Deutsche es tun: »Augen zu und durch«. Nein, dies tue ich nicht oh no, not me, I do it my way.

Der oben angegebene gesellschaftliche, historisch bedingte Zustand einer Aufnahmegesellschaft von Millionen von Muslimen und anderer Fremden, die mit ihrer Identität im Unklaren ist, bildet den Kontext meiner Lebensgeschichte.

Der libanesische Migrant Ralph Ghadban beschreibt in seinem alarmierenden Buch Arabische Clans. Die unterschätzte Gefahr (2018) die Entstehung krimineller Parallelgesellschaften und behauptet, dass diese Muslime sich nicht integrieren wollen. Im Gegensatz dazu gehöre ich zu den liberalen Muslimen, die sich integrieren wollen, um »deutsch« im Sinne von citoyen zu werden. Aber eine ethnische Volksgemeinschaft kann diesen sense of belonging als Zugehörigkeit nicht bieten. Wer nicht über diesen Kontext als Rahmen für eine Politik der Integration sprechen will, soll lieber schweigen, statt dumm zu moralisieren und laut zu klappern.

Die Umwelt der Entstehung dieser Autobiografie ist eine von tödlichen Viren dominierte deutsche Welt, die mich und meine Seele erdrückt. Ich weiß, das Corona-Virus ist global, es kommt aber aus China und geht vermutlich auf die exotische Esskultur der Chinesen zurück, die allerhand Wildtiere verspeisen. Überall in der Welt darf man hierüber reden und die Financial Times sowie das Wall Street Journal veröffentlichen Artikel hierüber, die zur Ausweisung ihrer Korrespondenten in China führten, aber in Deutschland wird dies als Rassismus und Suche nach Schuld bei den Anderen verfemt. Ich sah die SPD-Umweltministerin im Fernsehen, die behauptete, das Virus sei eine Folge des westlichen Klimaverhaltens. Und schon sind wir beim dritten Thema meiner Autobiografie, bei dem deutschen Zeitgeist und seiner Vorherrschaft in einer Umwelt, in der ich auch lebe.

Deutschland gab mir einen privilegierten Status des Professors, der seine Forschungen, bei Beibehaltung der Bezüge, überall auf der Welt betreiben konnte.

Im vierten Teil dieser Autobiografie beschreibe ich meine Flucht aus Deutschland und mein Leben ab 1982 in Harvard und danach im Pendeln zwischen Yale und Cornell sowie dem Holocaust-Museum in Washington D.C. Ende 2010 kam ich aus Zuneigung zurück nach Deutschland, stand aber überall vor verschlossenen Türen, weil ich als »Islam-Kritiker« eingestuft und als »Rechter« schubladisiert wurde. Gegen Fake News kann man in Deutschland nichts machen. Im Jahr 2012 geriet ich in eine heftige Krise, die mich, im Kampf gegen tödliche, biologische und figurative Viren, dazu bewegte diese Autobiografie zu schreiben. Meine Selbstbestimmung ist »Denker« und »Schriftsteller«. So bin ich eine öffentliche Person, deren Existenz von ihrem Ruf abhängt. Damit ist eine »susceptibility / Anfälligkeit« verbunden, durch Rufmord hingerichtet zu werden. Genau das ist mir in Deutschland widerfahren. Dies ist auch eine Erklärung für die verschlossenen Türen, vor denen ich nach der Rückkehr Ende 2010 aus den USA stand. Auf diese Weise weiß ich, dass es in Deutschland auch figurativ tödliche Viren gibt, lange vor dem tödlichen Corona-Virus. Was ist daran spezifisch? Ich, oder meine Umwelt? Meinte Antwort ist: beide.

Seit meiner Kindheit in Damaskus bin ich ein Rebell. Beim Studium der »kritischen Theorie« bei Theodor W. Adorno fand ich in seinem Begriff »unbequeme Gedanken« Heimat für mein Denken. Das ist das Spezifische an mir. Was ist spezifisch an meiner Umwelt? Ich lebe in einer Gesellschaft, welche ein solches Denken als »Abweichung« ächtet und sie »gereizt zu ahnden« pflegt. In dieser Umwelt, die Adorno in seinem Essay Auf die Frage: Was ist deutsch? beschreibt, habe ich diese Autobiografie geschrieben, als »unbequemer Denker«.

Nun zum Autor. Gewöhnlicherweise erwarten Leser, dass eine Autobiografie das gesamte Leben eines Autors umfasst. In diesem Fall verfahre ich anders. Dieses Buch behandelt nicht die Erinnerungen an meine Kindheit und Jugend. Stattdessen beginne ich mit dem 26. Oktober 1962 als ich Damaskus verließ und über Paris nach Frankfurt flog. Warum? Weil diese Autobiografie von einem Leben in der Immigration, d.h. in der Fremde als Muster berichtet. Ich stelle mich jedoch im Prolog vor.

Die anstehenden vier Themen bzw. Schwerpunkte bilden das Skelett des Prologs und somit ist der Übergang zum Inhalt dieser Autobiografie hergestellt. Wer mehr über mich und über mein Verhältnis zu Deutschland erfahren will, möge gleich mit der Lektüre des folgenden Prologs beginnen.

Ich bin ein kulturell hybrid, d.h. gemischt, in drei Zivilisationen aufgewachsener Mensch: arabo-islamisch in Damaskus, europäisch in Frankfurt und US-amerikanisch in Harvard, Princeton, Yale und Cornell. Im Prolog berichte ich über meinen Stil, der nicht nur erzählerisch ist, sondern es auch verweigert, sich dem »Gendergesang« anzuschließen. Hierfür liefere ich später eine Begründung.

Ich kam 1962 als Student nach Deutschland, mit der Absicht der Rückkehr in die Heimat, wurde 1970 / 1977 zum ersten syrischen Flüchtling, suchte in Deutschland eine Ersatzheimat und scheiterte als ein Bürger im Sinne von citoyen in die Aufnahmegesellschaft eingegliedert zu werden. 1976 bekam ich den deutschen Pass und bekam hierdurch den juristischen Status »Statusbürger«. Ich wollte weit mehr: Integration.

Angesichts des Scheiterns einer Integration im Sinne von Zugehörigkeit, wanderte ich 2006 wirklich aus Deutschland aus. Diese Geschichte steht im vierten Teil und ich möchte sie hier nicht vorwegnehmen, weil dies hier die Anleitungen zur Lektüre ist. Auf den erläuterten Prolog folgt der einleitende Essay, der eine resolute Auseinandersetzung mit der Wochenzeitung Die Zeit enthält. Diese sogenannte »liberale« Zeitung beleidigte mich 2006 vor meiner Auswanderung in die USA im Artikel Schwer integrierbar. Dagegen argumentiere ich im einleitenden Essay, dass mein Leben als Fremder und ein Migrant in Deutschland ein Fall im englischen Sinne von case ist. Beide Texte, Prolog und Essay, empfehle ich im Stück zu lesen. Alles was danach folgt, könnten meine Leser wahlweise mit Hilfe der folgenden Anleitung lesen.

Als Bibliophil, der mit Hilfe der Mutter ab dem dritten Lebensjahr das Lesen anhand des Koran-Textes erlernte, habe ich seitdem tausende und abertausende von Büchern auf Arabisch, Französisch, Englisch und Deutsch gelesen und kenne diese Weisheit: es gibt nur wenige Bücher, die man »von Cover zu Cover« liest. Daher können die folgenden fünfzehn Kapitel unabhängig voneinander gelesen werden und ich möchte bei der Auswahl helfen. Ich beginne erst kursorisch mit den vier Teilen, dann gehe ich über zu einzelnen Kapiteln.

Die Schwerpunkte des Buches und seiner Kapitel: Wenn es zutrifft, dass meine Lebensgeschichte – obwohl individuell – exemplarisch ist, dann ist der erste Teil – aus vier Kapiteln und aus vier Sachproblemen bestehend – der richtige Beginn. Denn mit diesen Problemen werde ich seit dem ersten Tag meines Lebens in Deutschland konfrontiert. Im zweiten Teil gehe ich dazu über, meine Person anhand der ersten zehn Jahre in Deutschland zu erläutern. Es war buchstäblich ein Wunder, dass ein Damaszener Junge, der mit 18 Jahren, ohne Deutsch-Kenntnisse nach Deutschland kam und dann nur zehn Jahre danach mit 28 Jahren einen Ruf auf eine Professur an der angesehensten Universität Norddeutschlands bekommt. Auf diese Erfolgsstory folgen jedoch zehn Horrorjahre, auch von einem verzweifelten Selbstmordversuch begleitet und dann der Wunsch »nichts wie weg von Deutschland«. Diese Horrorjahre sind Gegenstand vom dritten Teil.

Im vierten Teil erläutere ich eine Flucht aus Deutschland in zwei Richtungen: in die Welt des Islam (Kairo, Tunis, Dakar / Senegal) und in die Elite-Universitäten der USA (Harvard, Princeton, Yale und Cornell). Dann geschah mit der Golfkrise 1990 ein persönliches Wunder, durch das ich nach Deutschland, nicht wie in den USA als Star-Professor, sondern als medialer Opinion Leader des ZDF und der FAZ zurückkam. Diesen Prozess und dessen tragikomisches Ende durch Ausgrenzung zeichne ich nach.

Welche der 15 Kapitel empfehle ich besonders? Der erste Teil sollte eigentlich im Stück gelesen werden, weil er Sachprobleme anspricht und anders als die Kapitel der anderen Teile keine Erzählung ist. Aus dem zweiten Teil steht meinem Herzen und meinem Geist Kapitel 6 über Frankfurt je t’aime am nächsten. Die Frankfurter Jahre als Schüler von Adorno, Fetscher und Horkheimer sowie als Vordenker der damaligen Linken über »Dritte Welt« stehen dort im Mittelpunkt. Es waren die besten Jahre meines Lebens in Deutschland. Im diametralen Gegensatz dazu stehen die darauffolgenden Jahre in Göttingen.

Wer starke Nerven und Empathie hat, möge Kapitel 12 im dritten Teil lesen, um zu erfahren, wie brutal der deutsche Wissenschaftsbetrieb sein kann. Danach wird es im vierten Teil fröhlich, jedoch außerhalb Deutschlands in Kairo und in Harvard. Diese Geschichten stehen in den Kapiteln 14 und 15. Ich kenne nicht nur den deutschen Wissenschaftsbetrieb, sondern auch die Medien von innen. Ich möchte in einem SOS-Notruf gemeinsam mit dem großen deutschen Historiker Heinrich A. Winkler aufrufen: »Es gilt den Anfängen zu wehren und es sind längst nicht nur Anfänge, mit denen wir heute zu tun haben.« (FAZ vom 11. November 2019). In den USA sagt man in diesem Kontext I couldn’t agree more.

Nun lade ich zur Lektüre ein, möchte aber zum Abschluss dieser Anleitung ein charakterliches Merkmal dieser Autobiografie anführen und eine Begründung hierfür angeben: Ich kam 1962 als ein in einer anderen Zivilisation sozialisierter Mensch, also als Ausländer, nach Deutschland und habe den Wandel in der Zeitgeschichte dieses Landes, der manchmal radikal war, miterlebt. Ich habe hierbei alle Stufen dieser deutschen Geschichte als Zeitgenosse beobachtet und zwar aus drei Perspektiven:

aus der Perspektive eines Ausländers, der die Sprache der Deutschen perfekt beherrscht, Bücher auf Deutsch schreibt, durch das hautnahe, jahrzehntelange Leben unter den Deutschen sie und ihre Denkweise kennt, in ihre Seele hineinschauen kann und auch fähig ist, ihre Gefühle nachzuvollziehen und so weiter!

aus der Perspektive eines Beobachters, der die Deutschen nicht nur aus dem Leben unter ihnen kennt, sondern sie auch aus anderen Blickwinkeln beobachtet: aus den USA, aus dem Nahen Osten, aus Afrika und Südostasien sowie aus anderen europäischen Ländern. So habe ich die deutsche Wiedervereinigung auch aus den USA, aus Harvard und aus Washington miterlebt, natürlich auch aus Deutschland selbst. Hierbei habe ich erfahren, was die Welt über die Deutschen denkt.

aus der Perspektive des Studenten und des akademischen Lehrers. So kenne ich die 68er Generation der Revolte sowie – als Professor zwischen 1973 und 2009 an einer deutschen Universität – weitere vier Generationen. Der Wandel der Generationen in Deutschland ist weit radikaler als Anderswo.

Mit diesem Hintergrund und unter Heranziehung der vier Problembereiche des ersten Teils dieser Autobiografie beanspruche ich – absolut ohne Hybris – eine Person der deutschen Zeitgeschichte zu sein. Ich habe in meiner Lebensgeschichte die Entwicklung Deutschlands in den letzten Jahrzehnten erlebt und verarbeite dies in dieser Autobiografie. Ich gewähre aufschlussreiche Einblicke in mein Leben und meine Persönlichkeit im Wandel meiner Person in einer sich entwickelnden deutschen Gesellschaft. Somit hat die vorliegende Autobiografie vor allem Bedeutung in Bezug auf Deutschland und die Migration aus der Welt des Islam.

 

Göttingen,Bassam Tibi

 

EIN LANGER PROLOG MIT DEN FRAGEN:WARUM SCHREIBE ICH DIESE AUTOBIOGRAFIE? IN WELCHEM KULTURELLEN STIL?WAS SIND MEINE THEMEN UND WELCHE RELEVANZ HABEN SIE FÜR DEUTSCHE?(STAND 2019)

For what is a man, what has he got?

If not himself, then he has nought

To say the things he truly feels

And not the words of one who kneels

The record shows I took the blows

Faced it all and I stood tall

And did it my way.

Frank Sinatra: My Way

Obwohl ich in Kapitel 5 des ersten Teils über »den sachlichen Anlass zu dieser Autobiografie« schreibe, will ich in diesem Prolog vorerst die in der Überschrift gestellten Fragen beantworten und in meine Lebensgeschichte einführen.

Wichtig ist, dass ich beim Abschluss des Verfassens dieses Prologs das 75. Lebensjahr erreicht habe. Von diesen 75 Jahren habe ich nur 18 in Damaskus gelebt, wo ich in einer Aschraf-(Notabeln-)Familie geboren, aufgewachsen und islamisch sozialisiert wurde. Den Rest meines Lebens nach dieser primären Sozialisation und Charakterbildung verbrachte ich auf einer »Weltreise« – im arabischen Sinne von Ibn Battutas Rihla –, jedoch stets mit Hauptwohnsitz in Deutschland. So habe ich aus vielen Gründen, die in diesem Buch erläutert werden, fast in allen Teilen dieser Welt gelebt – weit mehr als Ibn Battuta (1304–1377). Mit dem Jahr 1979 begann meine Flucht aus Deutschland, entweder in Richtung USA oder in die Welt des Islam.

In dieser Autobiografie erzähle ich meine Lebensgeschichte als die eines syrischen Damaszeners, d.h. als eines Fremden, der unter Deutschen lebt. Ich schreibe in einem orientalischen, repetitiven Erzählstil. In meinem Leben war ich ein international im Nahen Osten, in Europa, den USA, in Afrika und Südostasien sowie Australien wirkender Wissenschaftler. Ich habe Tausende von Büchern in vier Sprachen gelesen sowie 31 Bücher auf Deutsch und 12 auf Englisch verfasst. Aber hier zitiere ich keine Bücher, sondern Oldies, mit denen ich mein Leben und meine Gefühle veranschauliche. Der wichtigste darunter ist Sinatras My Way, weil dieser Song mein Leben exakt wiedergibt, wie das obige Motto zum Ausdruck bringt.

Hier sind wir noch beim Prolog; die Begründung für die Wahl von My Way liefere ich am Ende. Ich antizipiere hier jedoch den Inhalt, dass mein Leben in Deutschland – trotz vieler Highlights wie meiner Ehe mit einer wunderbaren deutschen Frau, Ulla, und der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes Erster Klasse durch Bundespräsident Roman Herzog – kein glückliches Leben war. Ich füge gleich den Satz hinzu: Ich möchte und werde nicht lamentieren, dies versichere ich den Lesern. Ich erzähle meine Geschichte – mit den Beatles: Hey Jude – als sad story to make it better.

Dieses Jahr des Abschlusses dieser Autobiografie, 2019, ist jedoch ein außerordentliches Jahr der Erfüllung von Wünschen und Träumen. Im Untertitel dieser Autobiografie, mit den Worten: Migration und Integration, veranschaulicht am Beispiel meines Lebens, gebe ich meine Wünsche in Bezug auf Deutschland wieder. 2019 häuften sich die Glücksmomente dermaßen, dass ich meine Frau Ulla manchmal fragte – die Worte des Songs von Sarah Vaughan It’s magic verwendend – »why do I tell myself / These things that happen / Are all really true«. Denn 2019 erlebte ich in Serie nur das, was Rod Stewart – und andere – im berühmten klassischen Song singt: »Blue skies smiling at me / Nothing but blue skies do I see«. Das ist einfach unglaublich. Das Glück kam aus zwei europäischen Ländern, den Niederlanden und Österreich, aber zweimal – ausnahmsweise – auch aus Deutschland.

Gleich im zweiten Monat des Jahres 2019 organisierte die juristische Fakultät der niederländischen, traditionsreichen Universität von Leiden, wo die europäische Tradition von Freiheit und Toleranz seit dem 16. Jahrhundert gepflegt wird, das Bassam-Tibi-Symposium (21. Februar; vgl. dazu Anhang II in der Neuausgabe 2019 meines Buch Basler Unbequeme Gedanken). Ein Tag lang wurden Referate zur Würdigung meines Lebens und meines Werkes gehalten. Parallel zum Symposium wurde die niederländische Ausgabe (2019) meines 2012 bei Yale University Press erschienenen Buches Islamism and Islam vorgestellt. Ein Monat danach verkündete das deutsche Vordenker-Forum die Entscheidung seiner Jury, mich zum »Vordenker 2019« ausgewählt zu haben. Die Feier der Preisverleihung wird an meiner Alma Mater, der Goethe-Universität zu Frankfurt, erfolgen. Die FAZ hat hierüber unter der Überschrift Bassam Tibi wird Vordenker 2019 berichtet und die Begründung der Jury in ihrer Ausgabe vom 6. Mai 2019 ausführlich zitiert. Für mich ist die Anerkennung meiner Aufklärung über die Gefahren für Europa, die durch die Zuwanderung nicht integrationswilliger Muslime entstehen, so wichtig, dass ich den FAZ-Bericht am Ende des Prologs ausführlich zitieren möchte. Ebenso wichtig ist für mich die Tatsache, dass ich meine Vorwarnungen als Vordenker auch mit einer Vision eines modernen Euro-Islams verbinde. Der Hinweis der FAZ auf meine akademischen und publizistischen Werke, in denen ich in der Diskussion um Zuwanderung und Integration alles weit voraus denke, ehrt mich sehr.

Darauf folgte noch eine weitere Ehrung als Anerkennung meiner Person und meiner Arbeit: Das österreichische Parlament, das seit 1998 alljährlich einen Gedenktag im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus durchführt, lud mich ein, als Gastredner in der Wiener Hofburg über den neuen Antisemitismus zu sprechen. Auf der Internetseite des ORF steht dazu folgendes:

»Das alljährliche Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus durch das österreichische Parlament hat heute eine deutliche neue Richtung genommen: Verantwortlich dafür war Hauptredner Bassam Tibi, der in der Hofburg in Wien von Antisemitismus im Islam, aber auch ‚von Links‘ sprach und vor einem neuen Holocaust im Nahen Osten durch den Iran warnte. ‚[…] man [muss] gegen alle Formen des Antisemitismus sein‘, sagte er [Tibi] vor den Spitzenrepräsentanten der Republik mit Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) an der Spitze.«

Nach der Beendigung der Gastrede kam Bundeskanzler Kurz auf mich zu, schüttelte mir herzlich die Hand, gratulierte mir und wünschte Kontakt zu und ein Gespräch mit mir.

Einen Monat zuvor feierte ich meinen 75. Geburtstag. Buchstäblich kein einziger deutscher Professor gratulierte, aber Bundespräsident a. D. Horst Köhler gratulierte mir in seiner Eigenschaft als Präsident der von Helmut Schmidt gegründeten Deutschen Nationalstiftung am 4. April mit diesen Worten: »Gerne möchte ich diese Gelegenheit auch dazu nutzen, Ihnen meinen Dank für Ihre engagierte Teilnahme an den wichtigen gesellschaftlichen Debatten unserer Zeit auszusprechen.« Mich machte er dann – als Autor des Buches Basler Unbequeme Gedanken (2018, Neuausgabe 2019) – mit den folgenden Worten sehr glücklich. »Ihr wacher Blick und Ihr Mut, auch unbequem zu sein, sind erfrischend.«

Mit einem Land, in dem mir ein amtierender Bundespräsident das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse verleiht – Roman Herzog 1995 – und ein Altbundespräsident mich mit der zitierten Anerkennung zum Geburtstag beglückwünscht – Horst Köhler 2019 –, kann ich mich identifizieren. Nicht aber mit einem Bundespräsidenten, der den islamischen Antisemitismus kleinredet und sogar der totalitären Mullahkratie des Iran zu ihrem 40-jährigen Bestehen gratuliert. Dies tut Herr Steinmeier. Deutschland macht mich glücklich, wenn sein Vordenker-Forum mich mit der zitierten Begründung zum »Vordenker 2019« wählt und mir dazu den Preis an meiner allerliebsten deutschen Universität – sozusagen meiner akademischen Heimat – verleiht: in Frankfurt (vgl. dazu Kapitel 6).

Ich beende dieses Aperçu über einen weiteren Song von Frank Sinatra, nämlich It Was a Very Good Year. Sinatra zählt bei diesem Song die Jahre seines Lebens auf und fügt jeweils »It was a very good year« hinzu. Dann endet der Song so: »But now the days are short / I’m in the autumn of the year / And now I think of my life as vintage wine«. Ich tue dies auch und passe den Text mit den Worten «When I was 75 / It was a very good year / And now I think of my life as vintage wine« auf mein Leben an. Ich möchte meine Leser daran beteiligen.

Zusätzlich zu den in der Überschrift gestellten Fragen werfe ich noch diese auf: Warum maße ich es mir an, dieses Buch überhaupt zu schreiben? Bin ich übergeschnappt? Mit etwas weniger deutlichen Worten unterstellte mir dies der Cheflektor eines großen deutschen Verlages. Dieser meinte, aus einer Machtposition heraus redend, ich überschätzte mich als »nicht genug bekannter Autor«, wenn ich dem deutschen Leser die Lektüre meiner Lebensgeschichte zumuten würde. Meine Antwort lautet: Ich tue dies mit der gut gemeinten Absicht, eine Art Botschaft im Sinne von »Message« zum Umgang mit Fremden zu übermitteln.

Der Versuch, die gestellten Fragen zu beantworten, erfolgt mit dieser Überzeugung: Diese Autobiografie dürfte anders sein als das angeführte Bassam-Tibi-Symposium an der Universität Leiden. Denn die rund 250 Studenten und Dutzende Professoren kamen zu dem Symposium aus Interesse an meiner Person. Aber meine Lebensgeschichte als die eines in Deutschland lebenden Fremdens ist nicht nur eine persönliche Geschichte, sondern ein »Fall« (kein »Einzelfall«, vgl. das Interview mit mir in Wien Einzelfall ist das hässlichste deutsche Wort überhaupt, Die Presse vom 11. Februar 2019) und daher für jeden demokratischen Bürger dieser Republik von Interesse. Meine lebensgeschichtlichen Erfahrungen sind eher ein »case« im Sinne von Fallbeispiel, und zwar für den deutschen Widerspruch in der Gleichzeitigkeit von rhetorischer »Willkommenskultur« und faktischer Ausgrenzung. Meine Lebensgeschichte an der deutschen Universität ist auch ein Fallbeispiel für gescheiterte Integration. Das Resultat sind meine in den Kapiteln 14 und 15 unternommenen Fluchtversuche »Weg von Deutschland«. Meine Lebensgeschichte dürfte für jeden Deutschen von Interesse sein, auch für diejenigen, die mit mir nichts am Hut haben. In meiner Autobiografie werde ich das deutsche Unbehagen an der Normalität (so Rüdiger Safranski in: Romantik. Eine deutsche Affäre, 2009), im Umgang mit uns Fremden pendelnd zwischen den Extremen der Verteufelung und Verherrlichung, und die entsprechenden deutschen Weltbilder erläutern. Der französische jüdische Philosoph Alain Finkielkraut hat in einem Interview die linke deutsche Romantisierung islamischer, vorwiegend antisemitischer Flüchtlinge mit diesen Worten kritisiert: »Die Deutschen wollten sich damit freikaufen und endlich ein moralisch tadelloses Volk werden. […] Die Deutschen mögen ein schlechtes Gewissen haben, aber nicht auf Kosten der Juden.« (DieWelt vom 20. Februar 2019).

In meiner Autobiografie werde ich mich mit diesen deutschen Widersprüchen befassen und ohne Akzeptanz einer aufgezwungenen Eigenzensur klare Worte hierüber finden!

Mein Leben in Deutschland, von 1962 bis Abschluss dieser Autobiografie 2019, lässt sich am besten mit dem englischen Begriff »mixed bag« darstellen. Im Alter von 75 Jahren fühle ich das, was Frank Sinatra in seinem für meine eigene Einstellung vorbildlichen Song My Way singt: »Iʼve laughed and cried« / »Ich habe aus Freude gelacht und aus Trauer geweint«. Deutschland hat in meinem Leben Anteil an beiden. Es ist kein Widerspruch zu sagen: Ich bin Deutschland für vieles dankbar, aber zugleich war es ein großer Fehler, nach meiner Promotion in diesem Land zu bleiben. Warum?

Die entsprechende Geschichte erzähle ich orientalisch, also auf eine Art und Weise (zur Bedeutung dessen siehe weiter unten), die dem deutschen Leser fremd erscheinen mag. Ich habe diesen nachträglich in Amsterdam und Leiden angefertigten Prolog (Februar 2019) geschrieben, nicht nur um mich vorzustellen, sondern auch, um meinen orientalischen Schreibstil zu erklären, zu rechtfertigen und um interkulturelles Verständnis dafür zu bitten.

Ehe ich mich als Hauptperson dieser Lebensgeschichte eines Fremden in Deutschland vorstelle, ist es mir wichtig, – wiederum orientalisch – eine Geschichte zu erzählen, aber zuvor folgende Erklärung zu bieten: Ich bin ein hybrid – kulturell gemischt – sozialisierter Mensch, orientalisch, d.h. arabo-islamisch, deutsch-europäisch und nordamerikanisch. Im Orient lernte ich, mit der Erzählung einer Geschichte einen Umstand zu erklären bzw. eine Frage indirekt zu beantworten – nicht eiskalt-westlich direkt, sondern assoziativ. Meine Geschichte hat sowohl mit mir als einem islamisch-syrischen Migranten als auch mit der Zu- (nicht Ein-)wanderung von Menschen aus meiner Zivilisation – auch aus Syrien – nach Europa, vorrangig jedoch in das Land der sogenannten Willkommenskultur und der »Romantik als Unbehagen an der Normalität« (so Rüdiger Safranski) zu tun, nämlich mit Deutschland. Dieses ist ein Zu-, aber kein Einwanderungsland. Den Untershied erkläre ich in meinem Buch Islamische Zuwanderung und ihre Folgen.

In der Silvesternacht 2015/2016 haben arabisch-islamische Zuwanderer Hunderte von Frauen belästigt, missbraucht und in einigen Fällen sogar vergewaltigt. Dies veranlasste die Frauenrechtlerin Alice Schwarzer, Mitstreiter zu mobilisieren, um gemeinsam das Buch Der Schock. Die Silvesternacht von Köln zu verfassen, das bei Kiepenheuer & Witsch 2016 erschienen ist. Bewusst suchte Schwarzer orientalische Muslime aus, zu denen ich als Syrer gehöre, eben weil wir keine Angst vor Personen haben, die – obwohl oft »blond« – uns des Rassismus bezichtigen. Ich, die Türkin Necla Kelek und der Algerier Kamel Daoud reagieren auf solch dumme linke Sprüche wie den gebetsmühlenartig wiederholten Vorwurf der Islamophobie mit unserer orientalischen Verachtung. Das Buch von Schwarzer gilt in Deutschland als »umstritten«. In einer ekelerregenden FAZ-Rezension wurde Schwarzer dümmlich unterstellt, sie nutze die Silvesternacht, um auf die öffentliche Bühne zurückzukehren. In den USA habe ich gelernt, auf solche Dummheit so zu reagieren: They’ll never get it. Doch will ich in dieser Autobiografie geduldig versuchen, den Menschen meiner Wahlheimat, den Deutschen, die vielen Facetten der islamischen Migration nach Europa am Gegenstand meiner Lebensgeschichte zu erklären.

Scheinbar war ich mit dieser Erzählung erfolgreich, sonst wäre ich nicht mit der Begründung, ich hätte die Probleme der »Zuwanderung nicht integrationswilliger Muslime« früh erkannt (FAZ vom 05. Juni 2019), zum »Vordenker 2019« gewählt worden. Ich bitte um aufmerksame Lektüre – in der Hoffnung, verstanden zu werden, beispielsweise wenn ich folgende Geschichte erzähle, die für das Verständnis dieses Buches sowie seines Autors zentral ist:

Als Schwarzer mich nach der Kölner Silvesternacht darum bat, zu ihrem Autorenteam hinzuzustoßen, war ich inmitten einer mit seelischen und körperlichen Schmerzen verbundenen Lebens- und Identitätskrise, die sehr viel mit Deutschland zu tun hat, wie ich in den Kapiteln 1–5 erzähle. Parallel dazu schrieb ich – ohne einen Verleger zu haben – an meiner Lebensgeschichte. Nachdem das Buch Der Schock erschienen war, bat ich Alice Schwarzer, bei dem Cheflektor, der unser Buch betreut hatte, anzufragen, ob er auch meine Autobiografie veröffentlichen würde; seine Antwort war eine der vielen Klatschen, die ich in meinem Leben in Deutschland erlitten habe, und lautete: Ich sei weder als Autor wichtig noch bekannt genug, um eine Autobiografie zu veröffentlichen. Diese Klatsche war kein – nach der beliebten deutschen Art des Herunterspielens von Übeln – »Einzelfall«, sondern typische Umgangsform mit uns Fremden: Sowohl im Bösen (wie der Silvesternacht) als auch im Guten (»Zuwanderer sind eine Bereicherung«). Ich wiederhole: In Wien sagte ich der überregionalen Zeitung Die Presse: Einzelfall ist das hässlichste deutsche Wort überhaupt (11. Februar 2019). Dazu stehe ich.

Ein anderes hässliches deutsches Phänomen ist der Rassismus-Vorwurf an Kritiker. Die Syrerin Laila Mirzo – Autorin des Buches Nur ein schlechter Muslim ist ein guter Muslim (2018) – fragt in ihrem NZZ-Artikel Frauenfeindlicher Islam: Wir Frauen müssen wieder aufstehen: »Bin ich eine Rassistin […]?«, eben weil sie in der NZZ dazu aufruft, »[…] nicht vor dem frauenfeindlichen Islam zu kuschen« und drei Jahre danach (16. Februar 2019) an die Kölner Silvesternacht erinnert. Hierfür gab es viele weitere, aktuelle Fälle, die kein »Einzelfall« sind.

Im Verlaufe des Kiepenheuer-&-Witsch-Klatsche des Jahres 2016 trat der kleine Verlag ibidem, dessen Chef meine »Ausgrenzung« in Deutschland (vgl. den Abschnitt hierüber im Folgenden einleitenden Essay) beobachtete, an mich heran und bot an, mein vergriffenes – und ebenso wie meine Person – ausgegrenztes Werk in Neuausgaben zu veröffentlichen. Die Kontraste zwischen Kiepenheuer & Witsch und ibidem gehören zu dem »mixed bag« meines Lebens in Deutschland. Zwischen 2016 und 2018 veröffentlichte ibidem mit Erfolg drei Neuausgaben von drei zentralen Werken sowie eine Sammlung meiner im Schweizer Exil in der Basler Zeitung erschienenen Artikel als Buch unter dem Titel Basler Unbequeme Gedanken (2018, Neuausgabe 2019). Der Begriff »unbequeme Gedanken« stammt von Theodor W. Adorno und geht auf seinen Aufsatz Auf die Frage: Was ist Deutsch? zurück, in welchem er mit der deutschen Sitte und Unart, »jede Abweichung gereizt zu ahnden«, ins Gericht geht. Kritische Gedanken, so, wie sie in dieser Autobiografie formuliert werden, gelten in Deutschland als Abweichung, d.h., sie werden als »unbequeme Gedanken« geächtet; für die Urheber – so Adorno – wird eine »innere Zensurinstanz« angemahnt; das Äußern unbequemer Gedanken wird »gereizt geahndet«.

Nach dieser auf mein Leben in Deutschland bezogenen Geschichte komme ich nun dazu, mich kurz und knapp vorzustellen; Einzelheiten sind in den folgenden zwanzig Kapiteln zu finden. Hier will ich nur den Fokus dieser Autobiografie, nämlich mein Leben in der ghurba, der Fremde, erläutern.

Ich stamme aus einer sehr vermögenden Aschraf- / Aristokraten-Familie aus Damaskus, deren Familiengeschichte zugleich auch Teil der Stadtgeschichte ist. 1962 kam ich als Achtzehnjähriger mit den Mitteln meiner Eltern zum Studium nach Frankfurt. Als meine sunnitische Familie von dem seit 1970 in Syrien herrschenden, barbarisch-totalitären Alawiten-Assad-Clan vollständig enteignet wurde und ich kein Geld mehr von meinen Eltern für Studium und Lebensunterhalt bekam, wandte ich mich nicht als Flüchtling an den deutschen Sozialstaat, um ihn zu melken, sondern zog es aus Stolz vor, jede einzelne Mark für Lebensunterhalt und Studium als Werkstudent selbst zu verdienen. So haben meine syrischen Eltern in Damaskus mich erzogen: rechtschaffen!

Auch das Stipendium, das ich 1967 von der deutschen Friedrich-Ebert-Stiftung (FES), also letztlich aus öffentlichen Mitteln erhielt, denn die FES erhält ihre Zuwendungen vom deutschen Steuerzahler, zahlte ich auf Heller und Pfennig zurück – sogar mit 5% Zinsen.

Die Zäsur in meinem Leben in Deutschland, nach der Verwandlung meines Status von dem eines Studenten zu dem eines Flüchtlings und Migranten aus Syrien, spiegelt sich in meiner Identität wider und konfrontiert mich mit der Frage: Wer bin ich? Zu welchen Gemeinwesen gehöre ich? Das ist das zentrale Thema der vorliegenden Autobiografie, das fast auf jeder Seite angesprochen wird. Dies tue ich nicht nur, weil ich authentisch im orientalischen, repetitiven Erzählstil schreibe, sondern auch, weil es sich um Probleme handelt, die mich plagen und mir oft den Schlaf rauben. Ich bin kein Einzelfall.

Meine Herkunft aus Syrien gelangt erst im Kontext des dortigen Krieges, der keineswegs ein Bürgerkrieg ist (zu diesem Thema vgl. den Syrien-Teil in meinem ibidem-Buch: Basler Unbequeme Gedanken, Teil 3), in das Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit; denn seit 2011 und seit der Öffnung der deutschen Grenzen ab 2015 kommen Syrer massenhaft nach Deutschland. Seither kamen– mit anschließender Familienzusammenführung – weit mehr als eine Million Syrer. Dazu gehören Syrer, die besser dort geblieben wären, wie beispielsweise die Jugendbanden von Damaskus und Aleppo, polygame Analphabeten-Familien mit ihren Harems (vgl. unten; mit Beispielen), mit denen ich nicht in Zusammenhang gebracht werden möchte. Beispiele für Polygamie: Die Welt hat in einem Artikel über Polygamie unter syrischen Flüchtlingen – Vielehen in Deutschland – strafbar, aber geduldet (28. Januar 2018) – von einem Syrer in Montabaur berichtet, der 2016 »mit vier Frauen und 23 Kindern in die pfälzische Gemeinde Montabaur kam«. Spiegel Online berichtete im Februar 2019 von einem anderen Syrer, der mit drei Frauen, eine davon nur 13 Jahre alt (die Vierte ist unterwegs), in einem Haus bei Hamburg auf Kosten der Steuerzahler lebt. In der Bild-Reportage vom 8. Mai 2019 So lebe ich mit 3 Frauen und 13 Kindern – ich füge hinzu: auf Kosten der Steuerzahler – wird ein weiteres Beispiel – kein Einzelfall – angeführt. Das sind keine »Einzelfälle«, und es ist kein »Populismus«, wenn ich empört sage, dass ich nicht deshalb Steuern zahle, um diese Harem-Familien mitzufinanzieren. 20% bis 30% der arabischen Flüchtlinge in Berlin leben in Polygamie.

Hätte mein Vater in Damaskus je auch nur erwogen, eine zweite Ehe zu schließen, hätte die Familie meiner Mutter ihre Tochter prompt über Nacht zu sich geholt. Polygamie in Syrien ist nicht Sache der Religion, sondern der sozialen Klasse.

Wenn ich meine Geschichte in Deutschland mit der der genannten Syrer vergleiche, kann ich schon an dieser Stelle konkludieren: Trotz ihrer von Michael Wolffsohn als »moralisierende Wortwasserfälle« bezeichneten Fremden-Romantik werden die Deutschen die neuen Zuwanderer – Herfried Münkler nennt sie, so auch der Titel seines Buches, völlig weltfremd DieneuenDeutschen – niemals integrieren können.

Die Endfassung dieses Prologs fertigte ich genau am 4. April 2019 in Binz auf Rügen, wo ich mit meiner sehr geliebten deutschen Frau und Lebenspartnerin, Ulla / Ursula, die mich seit viereinhalb Jahrzehnten begleitet, den Anbruch meines neuen, 76. Lebensjahres zelebrierte. Nicht nur bringt diese deutsche Frau Ulla Leben und Glück in mein Leben als ein Fremder in Deutschland; auch schützt sie mich vor Ressentiments. Denn am 4. April 2019 war ich zugleich traurig, ja sogar sehr traurig darüber, dass kein einziger – buchstäblich kein Einziger – deutscher Professor aus dem deutschen Wissenschaftsbetrieb, dem ich von 1973 bis zur Emeritierung 2009 gedient habe (dieses Verb habe ich bewusst ausgesucht), mir zu diesem Tag gratulierte. Ähnlich war es am 4. April 2014, als ich 70 Jahre alt wurde. Als ausländischer Professor an einer deutschen Universität bin ich mit der deutschen akademischen Sitte vertraut, dass verdiente Professoren zu runden Geburtstagen gefeiert werden, ich erfahre jedoch nun lebensgeschichtlich, dass diese Sitte nicht für Ausländer wie mich gilt, selbst dann nicht – so in meinem Falle –, wenn diese einen deutschen Pass (ein deutscher Staatsbürger und ein Deutscher sind unterschiedliche Kategorien) besitzen und ein umfangreiches Werk vorgelegt haben. Mein Werk in deutscher Sprache umfasst 31 Bände, die internationale Anerkennung – aber wenig davon in Deutschland – genießen. Ich bin ein Mensch, der mit Gefühlen der Wut und der Verletztheit in Bezug auf diese deutsche Missachtung eines fremden Gelehrten aus Syrien reagiert. Aber die wunderbare deutsche Frau Ulla schützt mich vor Ressentiments – ich wiederhole es in Dankbarkeit.

Anders ist es in den USA, wo ich parallel zu meiner Professur in Göttingen in den Jahren 1982–2010 eine sowohl erfolgreiche als auch inklusive akademische Laufbahn hatte. In diesen Jahren veröffentlichte ich in den USA auf Englisch 12 Monografien und Dutzende Aufsätze in Fachzeitschriften und Enzyklopädien. Auf der Basis dieser Leistung genieße ich dort eine Anerkennung, die ich in Deutschland vermisse. Ich erinnere meine Leser daran, dass »Anerkennung« neben Heimat und Identität zu meinen Themen gehört. Diese ist auch eine der Grundlagen der Integration.

Meine Enttäuschung über den deutschen Wissenschaftsbetrieb möchte ich jedoch schon hier vor jeglicher Schwarz-Weiß-Malerei schützen, indem ich nun wiederholt einen Glückwunschbrief von Altbundespräsident Horst Köhler mit seiner Zustimmung zitiere, der mir zum 4. April 2019 in seiner Eigenschaft als Senatspräsident der Deutschen Nationalstiftung (gegründet von Altkanzler Helmut Schmidt 1993 – vgl. dazu den Abschnitt im einleitenden Essay) einen Glückwunsch zukommen ließ, um mir – so steht es darin – »zu Ihrem halbrunden Geburtstag […] von Herzen« zu gratulieren. Das ist das schönste Geburtstagsgeschenk von einem Bundespräsidenten – auch wenn a.D. Einen Passus im angeführten Brief möchte ich wiederholt zitieren: »Ihr wacher Blick und Ihr Mut, auch unbequem zu sein, sind erfrischend.« Das Wort »unbequem« gehört zum Titel meines 2018 erschienenen Buchs Basler Unbequeme Gedanken. Nach Adorno gilt es in Deutschland in der Regel, diese »als Abweichung gereizt zu ahnden«. Dies habe ich am eigenen Leib erlebt.

Nach dieser wiederholten Zitierung verspreche ich gleich einleitend, das Orientalische an mir, soweit ich kann, zu bändigen und nicht alles zu Papier zu bringen, was ich fühle, bitte jedoch darum, meine Ehrlichkeit und Offenheit für diese meine Autobiografie zuzulassen. Denn gerade in dieser persönlichen Lebensgeschichte geht es darum – mit dem Erkenntnisinteresse »to make it better« (so ein Vers eines Beatles-Songs – zu den Songs in diesem Buch noch mehr unten) –, dass ein Fremder den Deutschen vermittelt, wie es ihm unter ihnen ergeht und welche Gefühle und Erfahrungen er in einem Zeitraum von über einem halben Jahrhundert in Deutschland gemacht hat.

In der Schweiz, aus meinem Basler Exil, veröffentlichte ich in den Jahren 2016–18 dreißig Essays in der Basler Zeitung. Der letzte hiervon, BaZ 30, trägt den Titel Der Zerfall der politischen Kultur in Deutschland. Dieser Zerfall – parallel zum Fehlen einer »Debating Culture« (ich behalte sehr bewusst den Original-Oxford-Ausdruck bei) – resultiert aus der zu bedauernden Polarisierung und Vergiftung der politischen Atmosphäre der vergangenen Jahre. Ich werde mehr dazu im Anschluss an meinen jüdischen Frankfurter Lehrer Theodor W. Adorno – auch dazu, was »deutsch« daran ist – noch in diesem Prolog sagen. Hier geht es mir auf den einleitenden Seiten darum, mich (politisch korrekt formuliert) vor »Missverständnissen« – und unzensiert – vor ideologischen Diffamierungen zu schützen. Es gibt deutsche Personen, die auf allen Ebenen monokulturell bleiben, aber im Kontrast dazu »diversity« predigen. Diese haben mir in der Vergangenheit mehrfach »Profilierungssucht« vorgeworfen, weil ich stets über meine internationalen Erfahrungen spreche. Vor diesen Leuten muss ich mich schützen und weise die Dummheit, das alles sei ein »Einzelfall«, schon hier zurück. Mehr dazu biete ich jedoch erst in dem einleitenden Essay.

In diesem Prolog will ich persönlich und sachlich – die Kombination beider Arten des Vortrags ist in meiner Kultur möglich – erklären, warum ich mit diesem Buch den deutschen Lesern, die nach demokratischem Verständnis meine »Landsleute« sein sollen, meine Lebensgeschichte vorlege und in welchem Stil ich diese schreibe. Ich bitte diese Leser, Geduld mit mir zu haben, Empathie aufzubringen und meinen Text mit einem »open mind« aufmerksam zu lesen. Es ist kein Ausdruck des Snobismus, englisches, arabisches und französisches Vokabular zu verwenden, weil diese Begriffe zu den Weltsprachen gehören – und von mir als einem hybrid (arabisch-islamisch, deutsch-europäisch und nordamerikanisch) sozialisierten Menschen entsprechend eingesetzt werden; diese multilinguale Vorgehensweise ist daher legitim.

Ehe ich zu meinem Stil, um dessen Anerkennung im Namen von »diversity« / Vielfalt ich bitte, und zu »deutsch-kritischen« (ich bin als Muslim auch »Islam-Kritiker«) Reflexionen übergehe, möchte ich dieses ehrliche Bekenntnis ablegen: Die Tatsache, dass ich als ein 75-Jähriger Syrer aus Damaskus diese Autobiografie in deutscher Sprache schreibe, können meine Leser als eine Liebeserklärung verstehen. Denn ich hätte diesen Text in meiner Muttersprache, Arabisch, oder auf Englisch oder Französisch schreiben können, also in Sprachen, in denen ich in den vergangenen 50 Jahren dachte und veröffentlichte. Ich traf aber diese Wahl bewusst. Ich wiederhole meine Bitte, dies als Ausdruck der Zuneigung zu verstehen.

Ich kam am 26. Oktober 1962 nach Deutschland. Deutsch habe ich in Mannheim und am Goethe-Institut in Ebersberg / Bayern gelernt (vgl. Kapitel 7). Zuvor konnte ich außer meiner Muttersprache nur Englisch und Französisch. Zu den Highlights, ja zum größten Glück meines Lebens gehört das Studium in Frankfurt bei Theodor W. Adorno. Von ihm habe ich die Liebe zur deutschen Sprache übernommen. In seinem Aufsatz Auf die Frage: Was ist deutsch? antwortet er auf die Frage, warum er nach der Flucht aus Deutschland 1933 und nach der Befreiung von der NS-Hitler-Barbarei zurückkam, mit den Worten: »Das ist die Sprache«. Aber Adorno verschweigt nicht, was er an Deutschland nicht mag, ja sogar verabscheut. Auch in dieser Hinsicht bleibt Adorno mein Lehrer, und ich werde dies begründen.

Ich habe fast alles gelesen, was Adorno geschrieben hat, aber gleichermaßen kognitiv und emotional bleibt der soeben zitierte Aufsatz meine Lieblingslektüre, also an oberster Stelle meiner Präferenz. Im Alter ordne ich Oldies-Song-Texte der alten Zeit, als es noch solche wie My Way gab, wie philosophische Weisheiten ein. In diesem Sinne sind für mich Adornos Aufsatz Auf die Frage: Was ist deutsch? und Frank Sinatras Song My Way