Islamische Imperien - Justin Marozzi - E-Book

Islamische Imperien E-Book

Justin Marozzi

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Beschreibung

»Eine herausragende Geschichte des Islam.« Peter Frankopan, Autor von Licht aus dem Osten und Die neuen Seidenstraßen in The Times

»Justin Marozzi ist ein hervorragender Stadtführer. […] Ein großartiges Buch, das unser Verständnis der Vergangenheit verändert.« The Sunday Times

Die Heilige Moschee in Mekka, die Prachtbauten der Kalifen in Damaskus, die Wolkenkratzer im heutigen Dubai: Die Zeugnisse islamischer Kunst, Kultur und Architektur besitzen weltweite Strahlkraft. Anhand fünfzehn ihrer wichtigsten Städte und deren Entwicklung im Laufe der Jahrhunderte erzählt Justin Marozzi die Geschichte dieser einzigartigen Zivilisation. Dem westlichen Blick auf einen vermeintlich rückständigen Orient hält er ihre Vielfalt und Errungenschaften entgegen: die Gelehrten, die sich im Haus der Weisheit in Bagdad versammelten, oder das friedliche und tolerante Zusammenleben unter muslimischer Herrschaft in Córdoba. Er folgt den Spuren des mongolischen Welteroberers Timur zu den blauen Kuppeln in Samarkand, erzählt von den erbitterten Kämpfen um die Heilige Stadt Jerusalem zur Zeit der Kreuzzüge und berichtet von der Entstehung einer islamischen Moderne in Beirut, dem Paris des Nahen Ostens.
Von der Geburtsstunde der neuen Religion führt uns Marozzi über das Zeitalter der islamischen Aufklärung und imperialen Ausdehnung bis hin zu den politischen und theologischen Brüchen und Erneuerungen in der Gegenwart. So entsteht ein einmaliges und epochenübergreifendes Panorama.

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Seitenzahl: 1075

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3Justin Marozzi

Islamische Imperien

Die Geschichte einer Zivilisation in fünfzehn Städten

Aus dem Englischen von Ulrike Bischoff

Insel Verlag

5Für J

Ohne dich hätte ich es nicht geschafft

Übersicht

Cover

Titel

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

7Inhalt

Cover

Titel

Widmung

Inhalt

Vorwort

1 Mekka. Die Mutter aller Städte (7. Jahrhundert)

2 Damaskus. Das duftende Paradies (8. Jahrhundert)

3 Bagdad. Stadt des Friedens, Stadt des Blutes (9. Jahrhundert)

4 Córdoba. Zierde der Welt (10. Jahrhundert)

5 Jerusalem. Die umkämpfte Stadt (11. Jahrhundert)

6 Kairo. Die Siegreiche (12. Jahrhundert)

7 Fes. Das Athen Afrikas (13. Jahrhundert)

8 Samarkand. Garten der Seele (14. Jahrhundert)

9 Konstantinopel. Die von der Welt begehrte Stadt (15. Jahrhundert)

10 Kabul. Ein Garten in den Bergen (16. Jahrhundert)

11 Isfahan. Die Hälfte der Welt (17. Jahrhundert)

12 Tripolis. Das Piratennest (18. Jahrhundert)

13 Beirut. Spielplatz der Levante (19. Jahrhundert)

14 Dubai. Bau es, und sie werden kommen (20. Jahrhundert)

15 Doha. Stadt der Perlen (21. Jahrhundert)

Bildteil

Danksagung

Bibliografie

Bildnachweise

Ortsregister

Personenregister

Sachregister

Fußnoten

Anmerkungen

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

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15Vorwort

»Heutzutage ist es mir peinlich, Araber zu sein«, sagte mir ein tunesischer Freund neulich. »Wohin du auch schaust, herrschen Chaos, Kampf, Blutvergießen, Diktatur, Korruption, Ungerechtigkeit, Arbeitslosigkeit. Das Einzige, worin wir weltweit führend sind, ist Terrorismus.«

Tatsächlich entspricht das weitgehend der Wahrnehmung im Westen wie auch in der arabischen Welt. Aber es ist durchaus nicht die ganze Geschichte – und es war auch nicht immer so. Vor tausend Jahren war die arabische Kultur führend in der Welt. Für einen arabischen Muslim war es völlig normal, an der Spitze der globalen Hackordnung zu stehen, statt beschämt und peinlich berührt in deren unteren Regionen herumzukrebsen. Viele der prachtvollen Städte in Nordafrika, im Nahen und Mittleren Osten und in Zentralasien wurden für ihre architektonischen, geistigen und wirtschaftlichen Errungenschaften und Leistungen bewundert. Von Damaskus, Bagdad und Córdoba bis Kairo, Fes und Samarkand waren die Hauptstädte der aufeinander folgenden islamischen Imperien in der ganzen Welt berühmt – und häufig gefürchtet. Sie standen für eine anregende Kombination von militärischer Macht, künstlerischer Größe, Wirtschaftskraft und spiritueller Heiligkeit. Zudem waren sie führende Zentren fortschrittlichen Denkens in Naturwissenschaften, Medizin, Mathematik, Astronomie, Kartografie, Kalligrafie, Geschichte, Geografie, Recht, Musik, Theologie, Rechtsprechung und Philosophie, und jede Metropole war ein brummender Maschinenraum der Innovationen und Entdeckungen. Das christliche Europa, militärisch, bevölkerungsmäßig und geistig unterlegen, schaute voller Neid, Furcht und Feindseligkeit nach Süden und Osten. Während Bagdad sich im 9. Jahrhundert einer Bevölkerung von 800 ‌000 Einwohnern rühmen konnte, waren London und Paris um 1100 Kleinstädte mit jeweils nur 20 ‌000 Einwohnern. Damals waren islamische Städte der Inbegriff einer überlegenen Zivilisation.

Das Wort »Zivilisation« leitet sich vom lateinischen Begriff civis, Bürger, ab, der wiederum mit civitas, Stadt, verwandt ist. Von diesen etymologischen Ursprüngen ist es nur noch ein kleiner Schritt hin zu der Ar16gumentation, dass eine Stadt ihre Bürger zivilisiert – sie entfernt Männer und Frauen von einem wilden, barbarischen Leben – und dass es ohne Städte so etwas wie Zivilisation nicht gäbe. In Städten, nicht in Wüste, Wildnis, Steppe, Gebirge und Dschungel, so schön und erhebend sie auch sein mögen, hat die Menschheit ihr größtes Potenzial entfaltet: Sie hat Glanzleistungen in Kunst und Wissenschaft vollbracht, das menschliche Dasein erforscht und ein unauslöschliches literarisches Erbe hinterlassen.

Wenn es jedoch um die geografischen Ursprünge der Zivilisation geht, bietet uns das Lateinische kaum Anhaltspunkte. Dann müssen wir den Blick von Rom dreitausend Kilometer weiter nach Südosten richten, auf den heutigen Irak, den die alten Griechen über weite Teile ihrer tausendjährigen Geschichte als Südmesopotamien bezeichneten, jenes fruchtbare, bewässerte Land zwischen den lebenspendenden Flüssen Euphrat und Tigris.1 Hier entstanden und blühten vom 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung an über die Zeit der Sumerer und die der Babylonier, Assyrer, Achämeniden, Seleukiden, Parther, Römer und Sassaniden Städte wie Akkad, Assur, Babylon, Ur, Uruk, Ninive, Nippur und Nimrud. Diese antiken Städte erhoben sich in Lehmziegelpracht aus der mesopotamischen Ebene, herrschten über die Welt um sie herum und überlieferten ihren Namen der Nachwelt. Von den meisten waren nur noch bröckelnde Ruinen übrig, als der Islam im 7. Jahrhundert entstand.

Gab Mesopotamien der Welt die ersten Städte, so hinterließen die islamischen Reiche, die in der Region folgten, einige der schönsten und prachtvollsten Hauptstädte aller Zeiten. Dieses Buch befasst sich mit fünfzehn von ihnen und konzentriert sich jeweils auf eine Stadt in jedem der fünfzehn Jahrhunderte, die von der Zeit des Propheten Mohammed und der Geburt des Islam bis heute vergangen sind. Jede hat auf ihre Weise entscheidend zur Geschichte des Dar al-Islam, der muslimischen Welt, beigetragen.

Dieses Buch zeichnet eine Geschichte dieser Welt anhand einiger ihrer großartigsten Städte und in einigen der wichtigsten und dramatischsten Momente nach, wobei es sich auf das konzentriert, was Herodot, der »Vater der Geschichtsschreibung«, im 5. Jahrhundert v. ‌u. ‌Z. »große und wunderbare Taten« nannte. Es beginnt im 7. Jahrhundert und endet, nach gelegentlichen Ausflügen in die Gegenwart, im 21. Jahrhundert.

Zwangsläufig beginnt diese Schilderung in Mekka, wo die Geschichte des Islam in der dürren Wüstenlandschaft des Hedschas in Arabien 17begann und das bis heute für die über 1,5 Milliarden Muslime die heiligste Stätte ist, der Leitstern, nach dem sie fünf Mal am Tag ihre Gebete ausrichten. Die Stadt ist in der muslimischen Welt auch insofern einzigartig, als Nichtmuslimen der Zutritt verboten ist, eine Tradition, an der erbittert festgehalten wird, seit die neue Religion die Stadt aus den Händen von Ungläubigen eroberte, und die bis heute penibel beibehalten wird. Im Gegensatz zu allen anderen Städten, die dieses Buch behandelt, ist Mekka definitionsgemäß eine exklusive Stadt, ein durch und durch reines Heiligtum, aus dem Außenstehende ausgeschlossen sind. In diesem Sinne ist sie ein Emblem für den Überlegenheitskomplex des Islam.

Der Ansturm arabischer Reiter aus der Wüste, die im 7. Jahrhundert weite Gebiete für den Islam eroberten, erschütterte die Welt. Zu Lebzeiten des Propheten Mohammed erstreckte sich das islamische Reich über die Arabische Halbinsel und breitete sich von dort unter der Herrschaft seiner ersten vier Nachfolger – der Raschidun oder »rechtgeleiteten Kalifen« Abu Bakr, Umar, Uthman und Ali – rasch nach Norden und Westen aus. Seine erste große Hauptstadt war Damaskus. Von dort aus machte die Umayyaden-Dynastie (reg. 661-750) das islamische Herrschaftsgebiet zu einem der größten Imperien, die die Welt je gesehen hatte: Es reichte im Westen von der Atlantikküste Afrikas und der Iberischen Halbinsel bis in die Gebirge Zentralasiens und an die Grenzen Chinas und Indiens im Osten.

Als eine Revolution 750 der Umayyaden-Herrschaft ein grausames, blutiges Ende bereitete, wichen sie den Abbasiden, die von 762 bis 1258 von ihrer unvergleichlichen neuen Metropole Bagdad, der Stadt des Friedens, aus regierten. Über weite Teile dieser fünfhundert Jahre hinweg war es die führende Stadt der Welt, ein Juwel voller opulenter Paläste, hoch aufragender Moscheen und Medresen (Religionsschulen), Bibliotheken, Universitäten und Forschungseinrichtungen mit den besten, meist muslimischen Gelehrten, eine Stadt, erschlossen von einem hoch entwickelten Straßen- und Kanalnetz und versehen mit Krankenhäusern auf dem neuesten Wissensstand und mit florierenden Märkten. Bagdad war eine durch und durch kosmopolitische Hauptstadt, in der Kunst, Musik, Wein und Dichtung (teils so anzüglich, dass es selbst heutige Leser schockieren würde) vom selbstbewussten Pluralismus des Islam zeugten.

Im Laufe der Zeit zerfiel das islamische Reich. Der Emir Abd al-Rahman III. (reg. 929-961) kündigte 929 im fernen al-Andalus Bagdad seine symbolische Treue auf und rief in Córdoba ein rivalisierendes Kali18fat aus. Unter seiner Herrschaft entwickelte sich die andalusische Stadt, in deren gut ausgestatteten Bibliotheken eine Fülle anspruchsvoller Gelehrter arbeitete, zur Zierde der Welt, decus orbis.

Mit dem apokalyptischen Ersten Kreuzzug 1099, dessen Schmach in den Köpfen vieler Muslime bis heute nachwirkt, rückt Jerusalem ins Zentrum meiner Erzählung. Die Stadt, die Araber al-Quds nennen, gilt im Islam als kaum weniger heilige Stätte als Mekka und zeugt zugleich von der Ehrfurcht der Menschen vor Religion und von ihrer häufig fatalen Vorliebe für Wettbewerb und Streit. Jahrhunderte der Konflikte haben ihr den unerwünschten Beinamen der meistumkämpften Stadt der Erde eingetragen.

Nach der Schande und Demütigung durch den Ersten Kreuzzug am Ende des 11. Jahrhunderts wenden wir uns Kairo zu – al-Qahira, »der Siegreichen«, wo die islamischen Geschicke unter dem legendären kurdischen Sultan Saladin im 12. Jahrhundert glücklicher verliefen. Die Kreuzfahrer wurden besiegt, Jerusalem zurückerobert und die Ehre wiederhergestellt. Der sunnitische Islam und sein Ansehen rückten wieder ins Zentrum der muslimischen Welt.

Tausende Kilometer entfernt, am westlichen Ende des Dar al-Islam, trat im 13. Jahrhundert eine Stadt glorreich hervor. Fes, das »Athen Afrikas«, entwickelte sich unter der Meriniden-Dynastie (reg. 1244-1465) zu einem weltweit strahlenden Zentrum der Gelehrsamkeit, das mit dem Europa Dantes, Thomas von Aquins, Froissarts, Bacons und Chaucers mithalten konnte. Bis heute ist seine Altstadt, die Medina, die größte und faszinierendste der Welt.

Im 14. Jahrhundert konnte es keine Stadt der islamischen Welt mit Samarkand, der »Perle des Ostens«, aufnehmen und kein muslimischer Fürst mit dem mächtigen türkischen Kriegsherrn Timur, im Westen besser bekannt als Timur Leng oder Tamerlan. Über vier Jahrzehnte hinweg hielt er sich ungeschlagen im Sattel, baute ein Imperium auf und machte Samarkand zu einer überwältigenden Metropole mit blauen Kuppeln und unvergleichlichen Bauten, die in ganz Asien Bewunderung fanden. Zudem legte er viele der schönsten Städte des Kontinents, darunter auch einige der hier beschriebenen, in Schutt und Asche, umgeben von grausigen, von Geiern belagerten Türmen aus den aufgeschichteten Köpfen seiner enthaupteten Feinde.

Über einen Großteil der achthundert Jahre nach seiner Entstehung stellte der Islam für das Christentum eine eindeutige, akute Gefahr dar. 19Dieser Kampf erreichte 1453 seinen Höhepunkt, als dem jungen osmanischen Sultan Mehmed II. die von Muslimen langersehnte und seit der Zeit des Propheten mehrfach versuchte Eroberung Konstantinopels gelang. Es war ein weltbewegendes Ereignis, das viele Griechen und Türken bis heute mit Schmerz beziehungsweise Stolz erfüllt. Auch wenn er sich keineswegs über Nacht vollzog, war der stetige Wandel vom christlichen Konstantinopel zum muslimischen Istanbul von enormer nachhaltiger Bedeutung.

Im 16. Jahrhundert entstand hoch oben in den Bergen des Hindukusch in Zentralasien ein neues islamisches Reich. Von seiner kleinen Hauptstadt Kabul aus richtete Babur, »der Tiger«, der Urururenkel Timurs, den Blick nach Süden und schuf durch Eroberungen das langwährende Mogulreich, das den indischen Subkontinent verändern und sich bis 1857 halten sollte. Als Schriftsteller war er ebenso ambitioniert wie als Krieger und wird weithin als Autor des Baburnama verehrt, eines der größten Schätze muslimischer Literatur. Mit ihren weintriefenden, von Haschischduft durchzogenen Geschichten über wilde Feste und wagemutige Kämpfe in den Bergen bildet diese überschäumende Autobiografie einen faszinierenden Kontrapunkt zu der im Westen weit verbreiteten Ansicht, der Islam sei monolithisch, streng und intolerant. Sie erinnert uns elegant und zur rechten Zeit an den frühen Pluralismus der islamischen Welt.

Isfahan ist eine der wenigen nichtarabischen Städte, die Eingang in mein Buch gefunden haben. Während die meisten der hier geschilderten Hauptstädte die sunnitische Glaubensrichtung des Islam repräsentieren, ist Isfahan ein funkelndes Juwel der schiitischen Welt. Allein schon seine architektonischen Meisterwerke würden seine Aufnahme rechtfertigen, auch ohne die Geschichte von Schah Abbas I., der Isfahan zu seiner Hauptstadt machte, prachtvoll umgestaltete und das Safawiden-Reich (reg. 1501-1722) im 17. Jahrhundert zu neuen Höhepunkten führte – eine gewaltige Herausforderung für die Osmanen im Westen und die Moguln im Osten. Kein Wunder, dass die Dichter Loblieder auf Isfahan als der »Hälfte der Welt« sangen.

Seit Langem bezeichneten Libyer Tripolis als »Braut des Mittelmeeres«. Nach den Wirren und dem Blutvergießen seit der Revolution 2011 nennen manche die Stadt inzwischen die »Witwe des Mittelmeeres«. Während ich dieses Buch schreibe, hallen Schüsse von Milizionären durch die Straßen. Das 18. Jahrhundert war zwar weder der Höhepunkt 20noch der Tiefpunkt in der Geschichte der Stadt, erlebte aber doch ihre bemerkenswertesten Kapitel, als die kämpferische Karamanli-Dynastie die osmanische Vorherrschaft skrupellos und wagemutig abschüttelte. Diese rasch aufgestiegene Familie herrschte von 1711 bis 1835, und in dieser Zeit wurde ihre unbändige Piratenflotte zur Geißel der Schifffahrt im Mittelmeer. Durch ihre furchteinflößenden Barbareskenkorsaren, in deren Reihen sich auch abtrünnige europäische Konvertiten fanden, drang Tripolis bei Osmanen wie Europäern ins Bewusstsein ein wie nie zuvor.

Wo ließe sich das kultivierte, gemächliche Stadtleben des 19. Jahrhunderts besser veranschaulichen als in Beirut, dem »Paris des Nahen Ostens«? Im spätosmanischen Reich erlebte hier mit zunehmendem diplomatischem und wirtschaftlichem Engagement der Europäer das Zusammenleben von Muslimen und Christen eine spektakuläre Hochblüte, die das heimische Talent für den Handel nutzte, die kosmopolitischen Einwohner reich machte und die Messlatte für vergnügungssüchtige Genießer hoch legte. In den periodisch aufflammenden, manchmal verheerenden Konflikten zwischen den verschiedenen Glaubensrichtungen und Bevölkerungsgruppen – zugleich eine Stärke und eine Schwäche – offenbarte sich auch eine grausamere Seite der Geschichte Beiruts, die heute noch ebenso relevant ist wie früher.

Nur wenige hätten jemals vorausgesagt, dass ein gänzlich unbedeutendes und der Außenwelt völlig unbekanntes Fischerstädtchen am Persischen Golf sich im 20. Jahrhundert innerhalb einiger Jahrzehnte zu einem Stadtstaat mit weltweit berühmten, monumentalen Wolkenkratzern entwickeln würde. In Dubai schaffte jedoch eine Familie mit ihrer unaufhaltsamen Vision, für die sie alles aufs Spiel zu setzen bereit war, und mit einem Gespür für Freihandel das Unmögliche. Die Stadt wurde zu einem Anziehungspunkt für Araber auf der Flucht vor Unterdrückung und Korruption, für Glücksritter aus dem Westen und für verarmte Arbeiter aus Asien und dem indischen Subkontinent, die ein besseres Leben anstreben. Sie ist nicht bloß arabisch, sondern eine echte Weltstadt. Die Maktums bauten sie, und die Welt kam.

Meine Schilderung endet in unserer Zeit mit einem weiteren, nicht minder erstaunlichen Stadtstaat. Wie eine Larve, die sich in einen Schmetterling verwandelt, hat Doha sich von einem unbedeutenden Perlenfischerdorf zur reichsten Stadt der Welt gemausert. Als ein rein urbanes Phänomen ist sie mit fast unglaublicher, halsbrecherischer Geschwin21digkeit aus dem arabischen Wüstensand entstanden. Wie in Dubai hat auch hier eine Familie den Status des primus inter pares und ist ebenso versessen auf weltweite Anerkennung. Die Al Thanis haben mit ihren internationalen Investitionen in prestigeträchtige Unternehmen wie Harrods und den Londoner Wolkenkratzer The Shard, den Fußballverein Paris St. Germain und Beteiligungen an erstklassigen westlichen Aktiengesellschaften wie Porsche, Siemens und Credit Suisse dafür gesorgt, dass Katar und seine schnell wachsende Hauptstadt definitiv bekannt wurden. Wie das benachbarte Dubai ist auch Doha nicht weniger als ein modernes Weltwunder.

Ich sollte betonen, dass mein Buch eine sehr persönliche Auswahl präsentiert. Manche Städte wie Mekka, Damaskus, Bagdad, Kairo und Istanbul würden zwar den Weg in jede Geschichte der islamischen Welt finden, aber es ließe sich durchaus eine völlig andere Liste erstellen, die für die fünfzehn Jahrhunderte des Islam steht. Jakarta, Lahore und Delhi tauchen hier nicht auf, obwohl sie für die drei Länder mit der größten muslimischen Bevölkerung der Welt stehen. Es fehlen auch Balch, Buchara, Chiwa, Täbris, Schiras, Mossul, Merw, Aleppo und Ghazna, um nur einige der Städte zu nennen, die einst am islamischen Firmament funkelten. Die antike heilige Stadt Kairouan in Tunesien hat es ebenfalls nicht auf meine Liste geschafft. Da ich für jedes Jahrhundert nur eine Stadt ausgewählt habe, ist die Konkurrenz groß. Für die Gegenwart würden Marseille oder Bradford durchaus einen völlig anderen Blick auf das 21. Jahrhundert vermitteln. Im Laufe meiner jahrzehntelangen Tätigkeit als Journalist und Historiker habe ich, der ich als Jugendlicher in Istanbul, Kairo und Tripolis begann, persönliche Erfahrungen im Nahen und Mittleren Osten, in Nordafrika und in Zentralasien gesammelt, daher habe ich Städte aus diesen drei Regionen gewählt, in denen die Wiege und nach wie vor das Zentrum der islamischen Welt liegt.

Das Dar al-Islam ist vielfältig und diffus, der Islam erstreckt sich als die am schnellsten wachsende Religionsgemeinschaft immer weiter vom Fernen Osten über Nordamerika bis nach Afrika und Europa, aber lange haben Araber darin eine überproportional wichtige Rolle gespielt. Arabisch wird immer die Originalsprache des Korans bleiben, die Sprache, in der Mohammed in einer Höhle hoch über Mekka die erste Offenbarung empfing, und daher die »reinste« Sprache des Islam. Die Tatsache, dass sowohl Mekka als auch Medina, die in der Geschichte dieser 22Religion eine Schlüsselstellung einnehmen, auf der Arabischen Halbinsel liegen, unterstreicht die Fokussierung auf diese Region als Nukleus der muslimischen Welt.

Ein paar Worte zur Methode: Für den Historiker sind Archive, Geschichtswerke, Biografien, Reiseberichte, Briefe, Landkarten, Bilder, Fotografien und alle anderen Dokumente notwendig und wichtig, aber sie schließen es nicht aus, das Leben zu betrachten. In Shakespeares Tragödie Coriolan fragt der römische Tribun Sicinius die Bürger: »Was ist die Stadt wohl, als das Volk?« Die Bürger erwidern: »Ganz recht! Das Volk nur ist die Stadt!«2 Die Stimmen der Männer und Frauen aus diesen fünfzehn Städten bieten frische Perspektiven auf wichtige und bleibende Themen, die heute in dieser Region ihren Widerhall finden.

Und wenn wir genau genug hinhören, findet ein eindringlicher Dialog zwischen den Stimmen unserer heutigen Welt und ihren historischen Grundlagen statt. Die kapriziöse Muse der Geschichtsschreibung, Klio, ist regelmäßiger zu erkennen, als man meinen möchte. Wir hören sie zum Beispiel im Traum eines Mannes, der ein vor hundert Jahren zerfallenes Weltreich wiederherstellen will, wenn der türkische Präsident seinem Volk erklärt, die Türkei sei »das einzige Land, das die muslimische Welt führen kann«.3 Wir hören ihren Ruf auch in aktuellen Gesprächen über islamische Geschichte, Freiheit und Demokratie, Menschenrechte und Unterdrückung, Terrorismus, das angebliche Aufeinanderprallen von christlichem Westen und muslimischem Osten, Einmischung des Auslands und Verschwörungstheorien, sektiererische Spaltungen, Toleranz und Intoleranz, die fortwährende Katastrophe der Fitna, ein arabisches Wort, das Spaltung, Zwiespalt und Unordnung umfasst, die so große Teile der muslimischen Welt in den letzten Jahren erschüttert haben – und in der Tatsache, dass es meinem tunesischen Freund peinlich ist, Araber zu sein.

Zusammen erzählen die fünfzehn hier ausgewählten Städte eine völlig andere Geschichte als diejenige, die heute allgemein verbreitet wird, eine fesselnde Geschichte von islamischer Stärke, Gelehrtheit und Spiritualität. Sie zeugen von der einst grenzenlosen Fähigkeit zu Wagemut und Innovation, die dazu beigetragen hat, das Dar al-Islam über viele Jahrhunderte hinweg zur größten Zivilisation der Welt zu machen. Vor allem aber erinnern sie vielleicht an den Geist der Toleranz, Pluralität und Weltoffenheit, der früher ein so fester Bestandteil der Geschicke der islamischen Welt war und von dem viele hoffen, dass er sich wiederbeleben lässt.

231 Mekka

Die Mutter aller Städte (7. Jahrhundert)

Wir sehen ja, dass sich dein Gesicht am Himmel hin und her wendet. Da kehren wir dich gewiss in eine Gebetsrichtung, die dir gefällt.1So wende dein Gesicht der unantastbaren Moschee zu! Wo immer ihr seid, wendet euer Gesicht ihr zu!

Koran 2,144

Über Jahrhunderte hinweg war Mekka ein unerreichbarer Sehnsuchtsort für die meisten Muslime, die nicht imstande waren, die mühsame, häufig gefährliche und unweigerlich teure Pilgerfahrt, den Hadsch, zu unternehmen. Für die Glücklichen, die diese Wallfahrt gemacht haben, ist sie die eindringlichste spirituelle Erfahrung ihres Lebens. Nach ihrer Rückkehr schildern viele sie beseelt, erinnern sich an Herzklopfen, rasenden Puls, Tränen und erzählen, dass sie »tief bewegt«, »wie gebannt« und »voller Demut« waren. Alle Pilger sind ausnahmslos überwältigt von einem höchst emotionalen Erlebnis in einer Zusammenkunft von Menschen, die in der Geschichte ohnegleichen ist.

Die Geburtsstadt des Propheten Mohammed bezog ihre Wirkmacht für Muslime immer aus der Geschichte der göttlichen Offenbarungen, die er im 7. Jahrhundert dort empfing, und aus dem totemistischen Status der Kaaba, jenes schwarzen Granitkubus, der als Haus Gottes gilt und im Mittelpunkt der Pilgerfahrt steht. Alle Muslime, die körperlich und finanziell dazu in der Lage sind, müssen laut Koran den Hadsch nach Mekka machen, an den einzigen Ort der Welt, dessen Besuch obligatorisch ist. Die daraus folgende jahrhundertelange Tradition und die Pilgerfahrten haben die einzigartige Strahlkraft der Stadt in der islamischen 24Welt nur noch verstärkt. Mekka ist das unwandelbare, unbestrittene Zentrum des Islam, der Leitstern, nach dem die Muslime der Welt ihre Gebete ausrichten, und die Kaaba ist der Punkt auf der Erde, um den die Pilger buchstäblich kreisen.

Heutzutage überragt die Kaaba ein sechshundert Meter hoher Glockenturm, neben dem sich das Heiligtum, das seinen Bau inspirierte, zwergenhaft klein ausnimmt. Würde eine Taube ihre Körner suchenden Gefährten für eine Weile am Boden zurücklassen und in diese schwindelnden Höhen hinauffliegen, würde sie in nördlicher Richtung etwas sehen, was man für ein Sportstadium halten könnte, in dem ein Prozessionszug weiß gekleideter Fans ein rechteckiges Gebilde umkreist. Aber es ist kein Sportstadion. Der Abraj Al-Bait oder Makkah Royal Clock Tower, ein Wolkenkratzerkomplex mit Luxushotels, Apartments, Einkaufszentren, Hubschrauberlandeplätzen, Jacuzzis, Saunas, Dampfbädern, Cafés, Schönheitssalons, Büroflächen, Ballsälen und vierundzwanzigstündigem Butlerservice, erhebt sich hoch über die heiligste Stätte des Islam, die Heilige Moschee oder Masdschid al-Haram, und die Kaaba in ihrer Mitte. Einmal im Jahr umkreist eine Menschenmenge in der größten organisierten Religionsveranstaltung sieben Mal diesen dreizehn Meter hohen steinernen Block und richtet ihre kollektiven Gebete an den Allmächtigen.

In den fünfzehn Jahrhunderten seit der Zeit des Propheten Mohammed hat die heiligste Stätte des Islam unzählige Veränderungen erlebt, angefangen mit einigen Enteignungen und »Verbesserungen« unter den Kalifen Umar (reg. 634-644) und Uthman (reg. 644-656), aber keine vollzog sich so schnell und veränderte das Stadtbild so dramatisch wie die des 21. Jahrhunderts. Um Platz für den neuen Hochhauskomplex des Abraj Al-Bait zu schaffen, ließen die saudi-arabischen Behörden 2002 die Adschyad-Festung abreißen, eine osmanische Zitadelle, die um 1780 zum Schutz Mekkas vor Invasoren gebaut worden war. Diese Maßnahme löste international einen Aufschrei der Entrüstung aus, die türkische Regierung bezeichnete den Abriss als »Verbrechen gegen die Menschheit« und als »Kulturmassaker«.2 In einer eigenwilligen Abwandlung des alten Sprichworts über den Propheten und den Berg ebneten die Saudis auch den Bulbul-Hügel ein, auf dem die Festung gestanden hatte.

In Mekka werden manche Fußabdrücke mehr verehrt als andere – etwa die des Erzvaters Abraham, des legendären Errichters der Kaaba als Wallfahrtsstätte, die in der Heiligen Moschee erhalten sind. Der Fuß 25des Makkah Royal Clock Tower hat etwa fünfundneunzig Prozent der tausend Jahre alten Bauten Mekkas verdrängt, darunter vierhundert Stätten von kultureller und historischer Bedeutung. Das Haus des engsten Gefährten Mohammeds, Abu Bakr, des ersten Kalifen des muslimischen Reiches (reg. 632-634), musste dem Makkah Hilton weichen. An der Stelle, an der sich das Haus Chadidschas, der geliebten ersten Ehefrau des Propheten, befand, steht heute ein Block mit öffentlichen Toiletten. Nicht einmal das Haus des Propheten blieb verschont. Es wurde unter einem neuen Königspalast begraben.3

So riesig der Makkah Royal Clock Tower auch ist, macht er doch nur einen kleinen Teil des gigantischen, mehrere Milliarden Dollar teuren Stadtentwicklungsprogramms aus, das Mekka grundlegend verändert. Die umfangreichen Abriss- und Bauarbeiten stoßen bei vielen Muslimen wie auch Nichtmuslimen auf Ablehnung. So wurde der osmanische Teil der Moschee mit den ältesten erhaltenen Bauteilen – darunter verzierte Marmorsäulen, die einige Herrscher von Sultan Süleyman I. bis Sultan Murad IV. zwischen 1553 und 1629 anfertigen ließen – 2014 abgerissen, um Platz für mehrgeschossige, klimatisierte Gebetshallen zu schaffen. Westlich der Großen Moschee entsteht im Jabal-Omar-Projekt auf einem weiteren abgetragenen Hügel ein ganzer Wald aus Wolkenkratzern mit Luxushotels. Nördlich davon wird auf dem Al-Shamiya-Gelände die Moschee um 300 ‌000 Quadratmeter für Gebetshallen erweitert, die 250 ‌000 Menschen zusätzlich Platz bieten.

Nach Auffassung der saudi-arabischen Regierung sind die Bauprojekte notwendig, um die ständig wachsende Menge der Pilger unterzubringen, die schließlich Einnahmen generieren; sie rechnet damit, dass die Zahl von heute zwei Millionen Besuchern noch erheblich steigen werde. Saudi-Arabiens Großmufti Scheich Abdul Aziz Bin Abdullah al-Schaich erklärte, das Land solle der Regierung für die lebenswichtigen Bauarbeiten dankbar sein.4

Aber viele Einwohner Mekkas murren insgeheim, ihre heilige Stadt werde in ein zweites Las Vegas verwandelt. Nach Ansicht von Sami Angawi, dem saudi-arabischen Architekten und Gründer des Hajj Research Center, steht die gegenwärtige Umgestaltung der heiligsten Stätte des Islam in krassem Widerspruch zum Charakter Mekkas und der Heiligkeit des Hauses Gottes. Er findet sie »wirklich unbeschreiblich« und sagt: »Sie machen aus dem Heiligtum eine Maschine, eine Stadt, die keinerlei Identität, kein Erbe, keine Kultur und keine natürliche Umge26bung besitzt. Sie haben sogar die Berge beseitigt.«5 Kritiker monierten, dass die Anweisung des damaligen Königs Abdullah, einen Masterplan für Mekka und Umgebung zu erstellen, erst kam, nachdem die gigantischen Bauprojekte schon lange begonnen hatten. Zu dem Verlust des Erbes aus der frühesten islamischen Periode kommen noch die enormen menschlichen Kosten hinzu, die diese alles niederwalzende Sanierung mit sich bringt. Einwohner alter Viertel wurden mit einer Kündigungsfrist von nur einer Woche vertrieben, bevor man den ältesten Teil der Altstadt dem Erdboden gleichmachte. »Einheimische, die seit Generationen hier gelebt haben, werden gezwungen, diesen Marmorschlössern im Himmel zu weichen«, sagt Irfan al-Alawi, Leiter der Islamic Heritage Research Foundation in Mekka.6

Die Reaktionen der Pilger sind gemischt. Manche sehen in Mekkas Megawolkenkratzern ein Zeichen für das nahende Ende der Welt. Als Beleg verweisen sie auf einen Ausspruch Mohammeds, einen Hadith, in dem der Prophet dem Engel Dschibril (Gabriel) sagt: »Wenn die Hirten schwarzer Kamele zu prahlen anfangen und sich gegenseitig im Bau höherer Gebäude zu überbieten versuchen«, sei der Tag des Jüngsten Gerichts nahe.7 Manche bewundern die kühne Modernität und das Selbstbewusstsein der Transformation Mekkas, andere finden die Kommerzialisierung unangemessen und halten diese Ausrichtung für falsch. »Was die Saudis aus Mekka gemacht haben, ist durch und durch grauenhaft«, erklärt ein britischer Muslim in Erinnerung an seine Pilgerfahrt, die bis hin zur Großen Moschee vom »extravaganten Einkaufsrummel« getrübt war. »Das Letzte, was ich gesehen habe, bevor ich mich der Kaaba zuwandte, war ein Samsonite-Laden und ein Häagen-Dazs. Sie haben aus Mekka eine Shoppingmall gemacht.«8

Der Verlust des alten Erbes trifft bei kulturgeschichtlich Interessierten sicher einen Nerv und erinnert sie an die Zerstörung der Buddha-Statuen von Bamiyan durch die Taliban 2001 in Afghanistan und an die Zerstörung eines »götzendienerischen« Erbes an Stätten wie Nimrud im Irak und Palmyra in Syrien 2015 durch den selbst erklärten Islamischen Staat. Aber so tragisch die jüngsten Stadtsanierungen in Mekka, der Wiege des Islam, auch sein mögen, hat der nackte Kommerzialismus im Herzen der Stadt durchaus etwas historisch Angemessenes, denn die Ursprünge der Siedlung sind – der Legende nach und wahrscheinlich auch tatsächlich – eng sowohl mit dem Handel als auch mit Bestrebungen verknüpft, Pilgern Geld aus der Tasche zu ziehen. Schon ein altes 27lokales Sprichwort sagt: »Wir säen nicht Weizen oder Sorghum; die Pilger sind unsere Feldfrüchte.«9

Mit Fug und Recht lässt sich behaupten, dass Mekka nie eine sonderliche Kulturquelle war. Die außerordentlichen, welterhellenden Beiträge der islamischen Zivilisation zu Geistes- und Naturwissenschaften von Architektur, Mathematik und Astronomie bis hin zu Geografie, Geometrie, Poesie, Physik und Philosophie kamen nicht aus Mekka, sondern aus Städten wie Damaskus, Bagdad, Córdoba, Kairo, Fes, Samarkand, Istanbul, Isfahan und vielen weiteren. Während diese Metropolen kosmopolitische, aufgeschlossene Schmelztiegel von Islam, Judentum und Christentum und allen erdenklichen Religionen waren, ist Mekka seit Langem eine geschlossene, abgeschottete Stadt. Bis heute ist es eine Bastion des Purismus, zu der Nichtmuslimen der Zutritt strikt verboten ist.

Und was die Geschichte angeht, so mag sie in Mekka zwar den Baggern zum Opfer fallen, ohne dass jemand sonderlich darüber nachdenkt, aber sie kann dort auch ebenso leicht erfunden werden, wie wir noch sehen werden.

Die extrem unwirtliche Lage Mekkas bedarf keiner Erfindung. Eingezwängt zwischen zwei schroffen Bergketten, liegt der Ort in einem engen, schlecht durchlüfteten, fluss- und baumlosen Tal in einem abgelegenen Winkel des Hedschas, etwa siebzig Kilometer von der Hafenstadt Dschidda entfernt, und erlebt schon seit Langem immer wieder brütende sommerliche Temperaturen von bis zu fünfzig Grad Celsius – das berüchtigte ramdaa makka – und heftige Gewitter, die verheerende Überschwemmungen und Epidemien nach sich ziehen.10 Es ist von der Natur nicht gesegnet, sondern eher verflucht. Für den frühislamischen Dichter al-Hayqatan war Mekka ein Ort, an dem »Winter und Sommer gleichermaßen unerträglich sind. Kein Wasser fließt […], kein Grashalm, der dem Auge Ruhe böte; nein, keine Jagd. Nur Händler, der abscheulichste Berufsstand.«11 Ein früher Chronist beschreibt eine dürre Landschaft, in der nur Akazien und Dornbäume wachsen. Im Koran spricht Abraham gegenüber Gott nur von einem »getreidelosen Tal«.12 Laut al-Muqaddasi, dem arabischen Geografen aus dem 10. Jahrhundert, war die Siedlung in »drückende Hitze, tödlichen Wind und Wolken von Fliegen« gehüllt.13 Nur das gelegentlich verfügbare Wasser der Zamzam-Quelle bot Erfrischung in dieser Trockenwüste. Es war eine erbarmungslose, steinige, unfruchtbare, regenlose Welt, die auf die Getreidelieferungen 28der Karawanen aus Syrien und dem Irak angewiesen war und regelmäßig Hungersnöte erlebte. Landwirtschaft war ein unerfüllbarer Traum. Wenn Ibn Ishaq, der Historiker aus dem 8. Jahrhundert und erste Biograf des Propheten Mohammed, das »Wohlgefallen an diesem mit Wasser und Bäumen gesegneten Lande« beschreibt, mag Stirnrunzeln durchaus angebracht sein.14

Tatsächlich gibt es schwerwiegende Gründe zur Besorgnis, wenn es darum geht, die Frühzeit des Islam zu erforschen. Hier sieht sich der Historiker vor enorme Schwierigkeiten gestellt, da die Geschichte Mekkas, wo sich das menschliche und übermenschliche Drama anfangs abspielte, wesentlich undurchdringlicher ist als die Wüstenlandschaft, die den Ort umgibt. Sich durch den Treibsand der Geschichte, durch Glauben und Fabeln bis zu festen historischen Bezugspunkten vorzukämpfen ist nervenaufreibend, da jenseits von Legenden Zeugnisse über die Frühzeit Mekkas »extrem spärlich« sind.15 Aus diesem Teil Arabiens gibt es praktisch keine archäologischen Funde und nur wenige Dokumente in Form von Inschriften, Münzen und Papyri aus der vorislamischen Ära der mündlichen Überlieferung.

Folglich müssen wir uns in Bezug auf die Frühgeschichte der Städte, in denen der Islam entstand und der Prophet Mohammed lebte und starb, »nahezu ausschließlich darauf verlassen, was uns Muslime sagen, die – teils viel – später lebten«.16 Für Historiker ist es frustrierend, dass es muslimische Quellen über Mekka und Mohammed erst ab Mitte des 8. Jahrhunderts gibt und somit ab dem Tod Mohammeds eine quälende Lücke von etwa hundertzwanzig Jahren klafft, aus der keine Berichte von Zeitgenossen überliefert sind.

Muslime akzeptieren die tradierten islamischen Quellen und halten diese Lücke in der Regel nicht für problematisch, aber andere Gelehrte finden sie äußerst irritierend. Das Fehlen von Materialien erster Hand ist so gravierend, dass eine Hauptquelle für die Entstehung des Islam in und um Mekka die Koranexegese ist, die wiederum ganz eigene Datierungs- und Interpretationsprobleme birgt.

In den letzten Jahrzehnten ist eine »höchst skeptische Richtung der Geschichtsanalyse zu den Ursprüngen des Islam« entstanden, die »ernsthafte Zweifel« an den traditionellen muslimischen Darstellungen äußert und diese als »tendenziöse islamische Geschichtsschreibung« abtut.17 So enthalten frühe muslimische Biografien des Propheten »so viele Widersprüche und so viele zweifelhafte Erzählungen«, dass man sie schwerlich 29für bare Münze nehmen kann.18 Der Vorwurf lautet im Grunde, dass es sich weniger um historische Schilderungen als um literarische Konstrukte handelt, die lange nach den angeblich geschilderten Ereignissen entstanden sind und eine klare Agenda verfolgen, nämlich die neue Religion zu verbreiten und in historischer Gewissheit zu verankern.

Nach der muslimischen Überlieferung erbaute Adam kurz nach der Erschaffung der Erde in Mekka die Kaaba, das Haus Gottes, nach einem göttlichen Plan, so dass es dort bereits vor der Besiedlung des Ortes ein religiöses Heiligtum gab. Problematisch ist jedoch, dass Mekka außerhalb Arabiens in der Fülle der griechischen, lateinischen, syrischen, aramäischen und koptischen Schriften vor den arabischen Eroberungen kein einziges Mal erwähnt wird, und dennoch behauptet die Überlieferung, es sei ein blühendes Handels- und Wallfahrtszentrum einer heidnischen Religion gewesen.19 Im 2. Jahrhundert führt Ptolemäus in seinem Handbuch der Geografie im arabischen Binnenland einen Ort namens Macorabo auf, der ungefähr die Koordinaten von Mekka hat. In seinem ausführlichen Überblick über die Westküste Arabiens, den der griechisch-byzantinische Historiker Prokop im 6. Jahrhundert in seinen Historien gab, erwähnte er Mekka mit keinem Wort. Erst 741, also über hundert Jahre nach dem Tod des Propheten, wird Mekka erstmals in einem fremdsprachigen Werk genannt, und selbst dann lokalisiert der Autor der byzantinisch-arabischen Chronik es weit nördlich in Mesopotamien.20

Die Debatte über die Geschichte Mekkas im 7. Jahrhundert, so umstritten und wenig schlüssig sie auch sein mag, ist wichtig, weil sie die Grundlage für eine weiter reichende Geschichte bildet: die des Propheten Mohammed, der Offenbarung des Koran und der Geburt des Islam. Dabei steht sehr viel auf dem Spiel, denn es geht um die Geschichtlichkeit der islamischen Erzählung über Mohammed, Mekka und den Islam. Was für manche legitime historische Forschung ist, bedeutet für andere eine unverzeihliche Beleidigung des Propheten. Und da der Abfall vom Glauben – in Gedanken oder Taten – im Islam mit der Todesstrafe belegt ist, kann es dabei in manchen Fällen um Leben und Tod gehen.

Trotz aller Bemühungen mittelalterlicher muslimischer Gelehrter müssen wir jedoch zu dem Schluss kommen, dass es über die Ursprünge Mekkas, der Kaaba und der Entstehung des Islam keine gesicherten Erkenntnisse gibt. In gewissem Sinne dürfte das kaum sonderlich überraschend oder schwer zu akzeptieren sein. Die heutige Verwirrung mancher ent30spricht genau den Reaktionen der Christen im 7. Jahrhundert, für die der plötzliche Aufstieg des Islam ein völliges Rätsel war. Im Zuge des oströmisch-persischen Krieges 602 bis 628 eroberten die Sassaniden 614 Jerusalem. Daher war es durchaus verständlich, dass die Byzantiner die Perser für ihre Hauptfeinde hielten. Aber schon 637, nur fünf Jahre nach dem Tod Mohammeds, übergab der verzweifelte Patriarch Sophronius von Jerusalem die Schlüssel der Stadt nicht an das Perserreich, das damals kurz vor seinem endgültigen Zusammenbruch stand, sondern an den aufstrebenden arabischen Kalifen Umar, das Oberhaupt einer neuen, unbekannten und militanten Religion.

So viel zu dem unversöhnlichen Kampf zwischen Glauben und Zweifel. Da eine Religion und ihre Grundlagen sich unmöglich beweisen oder widerlegen lassen und da Religion definitionsgemäß eine erhebliche Suspendierung von Zweifeln und den Glauben an das Übernatürliche und Göttliche erfordert, sollten wir gewisse Unschärfen an den Schnittstellen dieser frühen Geschichte und des Aufstiegs einer neuen Religion akzeptieren und zu den nicht minder umstrittenen Schriftzeugnissen übergehen.

In Bezug auf Mekka und die Kaaba ist die älteste Quelle al-AzraqisKitab Akhbar Makka (Das Buch der Nachrichten von Mekka) aus dem 9. Jahrhundert, das insofern bemerkenswert ist, als es das erste arabische Geschichtswerk über eine einzelne Stadt ist. Laut Azraqi stammt der heilige Stein bereits vom Anbeginn der Zeit noch vor der eigentlichen Schöpfung. »Vierzig Jahre bevor Gott der Allmächtige Himmel und Erde schuf, war die Kaaba der Schaum auf dem Wasser; von dort aus breitete sich die Erde aus.«21 Mehrfach erklärt Azraqi seinen Lesern, dass Adam die Kaaba errichtete, dass Abraham und sein Sohn Ismael sie nach der Sintflut wieder aufbauten und dass die Quraisch, ab dem 5. Jahrhundert der in Mekka herrschende Stamm, sie zur Zeit Mohammeds in den letzten Tagen der Dschahiliya, wie die Araber die »Zeit der Unwissenheit« vor dem Islam nennen, instand setzten. Spätere arabische Geografen bezeichneten Mekka als den »Nabel der Welt«. Im Koran finden sich nur wenige Hinweise auf die Kaaba, was erstaunlich sein mag. Er erzählt, dass sie »den Menschen zur Zuflucht und Sicherheit« und »als Betplatz« geschaffen wurde und dass Abraham und Ismael sie erbauten, weihten und für diejenigen reinigten, die sie umkreisten und dort beteten.22

Auch über Mekka und zahlreiche andere Orte gibt der Koran nicht 31viel mehr Aufschluss – im gesamten Text sind lediglich neun Orte namentlich genannt. Mekka kommt nur ein einziges Mal vor,23 was Anlass zu der Vermutung gab: »Der Koran ist an Mekka ebenso wenig interessiert wie die Evangelien an Nazareth«.24 In zwei Suren ist von der »Mutter der Städte« die Rede, was als Hinweis auf Mekka interpretiert wird.25 Traditionell gilt Bakka, das im Koran erwähnt ist, als alternativer Name Mekkas, aber obwohl die Sure die verwandten Themen eines Heiligtums – Abrahams Stätte oder maqam – und der Pflicht zur Pilgerfahrt verknüpft, fehlen doch eindeutige Beweise.26

Zusammen mit Azraqi und Ibn Ishaq gehört Mohammed ibn Dscharir al-Tabari, der Autor einer umfangreichen Geschichte der Propheten und Könige (deren englische Übersetzung ganze achtunddreißig Bände und etwa zehntausend Buchseiten umfasst), zu drei Historikern, die Mekkas Gründung als permanente Siedlung durch einen Stammesangehörigen namens Qusaiy ibn Kilab auf den Zeitraum zwischen 400 und 470 datieren. Bis dahin hatten die Stämme an den Berghängen oberhalb des Tales kampiert. Wir erfahren, dass Mekka zur Zeit der Sintflut, die auch die Kaaba zerstörte, nicht besiedelt war und das Umland von den Dschurhum und Amalekitern bevölkert war. Etwa vom Beginn des 2. bis in die erste Hälfte des 3. Jahrhunderts waren die Dschurhum die Hüter der Kaaba. Ihr Verhalten ließ offenbar einiges zu wünschen übrig, denn sie waren berüchtigt für ihre Verdorbenheit. Gelegentlich schlichen sich Liebespaare auf der Suche nach einem ungestörten Plätzchen in die Kaaba, darunter auch ein Paar, das dort Sex hatte und als Strafe für dieses Sakrileg prompt »in zwei Steine verwandelt« wurde. Wie Tabari darlegt, wurde Mekka »auch Bakka genannt, weil man dort Übeltätern und Tyrannen, die Unrecht taten, das Genick zu brechen pflegte«.27 Mit der Zeit wurden die Dschurhum von den Chuzaa verdrängt, die in Mekka herrschten, bis die Quraisch, der Stamm des Propheten Mohammed, sie ablösten.

Qusaiy rodete die unmittelbare Umgebung des Schreins und siedelte seinen Stamm dort an – ein entscheidender Schritt vom Wüstennomadentum zu einer Dorfgemeinschaft, dem Vorläufer für den Aufstieg der islamischen Stadt. Sein wichtigstes Bauwerk war das Dar al-Nadwa, das erste arabische Rathaus, in dem politische, soziale und wirtschaftliche Fragen beraten und geregelt wurden. Dort fanden auch andere Zeremonien statt wie Beschneidungen, Eheschließungen und Kriegserklärungen. Das Gebäude diente Qusaiy zugleich als Wohnung und besaß eine 32Tür, die unmittelbar in die Kaaba führte. Damals wie heute bestimmte die Nähe zur Kaaba den Status von Einwohnern und Besuchern – auf jeden Gast im klimatisierten, prachtvollen Fairmont-Hotel im Makkah Royal Clock Tower kommen viele ärmere Pilger, die in minderwertigen, »gefährlichen« und »widerwärtigen« Unterkünften schmoren, und sogar manche, die unter elenden Bedingungen hausen.28 Für Einwohner, die zu nah an der Kaaba leben, besteht im 21. Jahrhundert ebenso wie schon im 7. Jahrhundert die offenkundige Gefahr, dass die Obrigkeit, seien es nun die Kalifen des Mittelalters oder die heutigen Al Sauds, Immobilieneigentümer kurzerhand enteignen, um Sanierungsmaßnahmen und Erweiterungen des Heiligtums zu ermöglichen.

Die Quraisch errichteten den Heiligen Bezirk, Haram, ein Gebiet mit einem Radius von gut dreißig Kilometern rund um die Kaaba, in dem jegliche Gewalt verboten war und alle Besucher vor Übergriffen geschützt sein sollten, ein wichtiger Aspekt an einem Ort, der von Stammesrivalitäten, ständigen Überfällen und Konflikten geplagt war. Jeder Stamm besaß seine eigene steinerne Götterstatue, denn alle waren unverbesserliche Heiden und Götzenanbeter, wie die ausschließlich muslimischen Autoren uns ständig erinnern. Aufgrund ihrer Monopolstellung über die Pilgerfahrt zur Kaaba sammelten die Quraisch diverse Totems der verschiedenen Stämme und stellten sie zur Anbetung im Haram auf. Sie selbst verehrten Hubal, eine Gottheit, deren große Statue aus rotem Karneol in der Kaaba stand, und die drei Hauptgöttinnen Mekkas, Allat, al-Uzza und Manat.29

Muslimische Autoren betonten einen ausgeprägten Hang zur Gier und Zügellosigkeit im heidnischen Mekka (nach Ansicht zahlreicher Kritiker ist diese Gier auch heute noch ein wesentlicher Aspekt in der Stadt). Zur Maximierung der Einnahmen verboten die Quraisch Pilgern, eigene Kleidung und Nahrungsmittel mit in das Heiligtum zu bringen.

Offenbar trieben arabische Stammesangehörige ab dem frühen 6. Jahrhundert in einer Reihe von Märkten, den Suks, Handel. Von Bahrain über Oman und Jemen bereisten sie nacheinander im Uhrzeigersinn fünf Märkte in und um Mekka, eine Reise, die im Monat des Hadsch ihren Höhepunkt in Mekka und seiner heiligen Kaaba erreichte. Wenn sie wundgeritten und sonnenverbrannt in der Stadt eintrafen, vollzogen die Stammesangehörigen die traditionellen Pilgerriten, umgeben von 360 Stammestotems. Zunächst liefen sie sieben Mal zwischen den Hü33geln Safa und Marwa hin und her und vollzogen damit die hektische Wassersuche von Abrahams verstoßener zweiter Frau, Hagar, und ihrem Sohn Ismael nach. Anschließend gingen sie auf die Muzdalifa-Ebene, die Stätte des mächtigen Gewittergottes, und hielten dann Nachtwache am Fuß des Berges Arafat, etwa zwanzig Kilometer außerhalb von Mekka. In Erinnerung an die dreimalige Versuchung Abrahams durch den Satan schleuderten sie Kieselsteine auf drei Säulen in Mina, einem östlich von Mekka gelegenen Tal. Der Tawaf, die siebenmalige Umkreisung der Kaaba entgegen dem Uhrzeigersinn, vollzog vielleicht die Rundreise der Händler nach. Die Pilgerfahrt endete deftig und blutig mit der Opferung der kostbarsten Kamelkuh.

Damals war Mekka ein bedeutendes Reiseziel und ein höchst einträglicher Ort für die dort Herrschenden. Auch wenn man die religiöse Voreingenommenheit der frühesten Quellen berücksichtigt, waren Handel und Religion offenbar die Haupttriebkräfte für die Entwicklung Mekkas in vorislamischer Zeit. Historiker vermuten, dass es im Laufe des 5. Jahrhunderts zu einer Revolution im Transportwesen kam, als arabische Beduinen einen Sattel erfanden, der es Kamelen ermöglichte, wesentlich schwerere Lasten zu tragen. In der Folge ersetzten indische, ostafrikanische, jemenitische und bahrainische Kaufleute ihre langsamen Eselskarren durch Kamele, und von da an mussten Händler, die Luxusgüter wie Weihrauch, Gewürze, Elfenbein, Getreide, Perlen, Holz, Stoffe und Arzneimittel nach Byzanz und Syrien lieferten, die Arabische Halbinsel nicht mehr umgehen. Zur Begleitung heuerten sie Beduinen als Führer und Beschützer an.30

Neuere Studien deuten darauf hin, dass der Handel in Mekka einen beträchtlichen Aufschwung erlebte, als Qusaiys Enkel Haschim ibn Manaf einen Handelsvertrag entwickelte, der es weniger reichen Stammesmitgliedern ermöglichte, ihr Kapital zusammenzutun und in eine Karawane zu investieren. So gab es ein Handelsabkommen mit Syrien, das Stoff- und Lederhändlern aus Mekka sicheres Geleit garantierte. Diese Innovation trug zur Internationalisierung des Handels von Mekka bei, eröffnete die Möglichkeit zu Handelsbeziehungen mit Bosra, Gaza, Alexandria und anderen Märkten unter byzantinischer Herrschaft und erleichterte Handelsmissionen nach Abessinien, Jemen und Persien. In einem so entlegenen Winkel des Hedschas war der Handel eine heikle Angelegenheit. Vor der Erfindung der Handelsverträge gerieten Kaufleute immer wieder an den Rand des Ruins, aber Haschims Geniestreich 34beendete offenbar die grausige Tradition des rituellen Selbstmords, die einen Kaufmann, der seinen gesamten Besitz verloren hatte, zwang, sich und seine Familie von seinem Klan loszusagen und schlicht zu verhungern.31

Nach herkömmlicher Ansicht verdankte Mekka seine Existenz dem Handel. »Pilgerriten und Handel waren in dieser Stadt untrennbar miteinander verbunden.«32 Hier ist allerdings ein Einwand angebracht, da wir uns wieder einmal auf umstrittenem Terrain befinden. Manche Revisionisten haben Zweifel geäußert, ob Mekka tatsächlich das Handelszentrum der Quraisch war; noch strittiger ist die Vermutung einer anderen Autorin, dass Mohammed dort gar nicht seine göttliche Offenbarung erhalten habe.33 Der Vorwurf lautet, muslimische Quellen hätten die Stellung Mekkas im 7. Jahrhundert rückblickend bewusst übertrieben, um den Ort zu einer angemesseneren Heimat der neuen Religion zu machen.

Diese frühen muslimischen Quellen bemühen sich eindeutig, zu zeigen, dass Mekkas Reichtum, Heiligkeit und Bedeutung ausreichte, um bei Fremden Neid und Begierde zu wecken. Nach ihren Berichten führte der mächtige christliche Herrscher von Himyar und ehemalige Vizekönig des Jemen, Abraha, ein Heer gegen Mekka an, um zu demonstrieren, dass das Heiligtum weder unter göttlichem Schutz stand noch unangreifbar war. Ihm lag sehr daran, dies zu beweisen, da er in Sanaa ein rivalisierendes Heiligtum errichtet hatte. Als sein Kampfelefant den Ortsrand Mekkas erreichte und zum Schlimmsten ansetzte, sank das Tier plötzlich auf die Knie und verweigerte wie durch ein Wunder den Angriff. Mekka überlebte. Dieses Ereignis war so bedeutsam, dass es im Koran verzeichnet wurde, eine Seltenheit in einer heiligen Schrift, die anders als die Bibel nur wenige Berichte über historische Persönlichkeiten, Taten und Ereignisse enthält.34 Unter Muslimen ging es als Jahr des Elefanten in die Geschichte ein. Mekkas heilige Unangreifbarkeit war damit der Legende nach oder auch tatsächlich belegt. Die Quellen datierten dieses Ereignis auf das Jahr 570, und man ist versucht zu vermuten, dass sie dies taten, weil es mit dem Geburtsjahr Mohammeds zusammenfiel, was den Vorfall umso verheißungsvoller machte.35

Würde Azraqi heute leben und in den Betsaal in dem gigantischen, mit einem fünfunddreißig Tonnen schweren goldenen Halbmond bekrönten Makkah Royal Clock Tower hinaufbefördert, müsste er sich erst einmal vom Schock dieser schwindelerregenden Höhe, der Berge verschlin35genden explosionsartigen Bautätigkeit und der Fülle der Baukräne erholen und könnte dann langsam, wenn auch zittrig anfangen, seine zwölfhundert Jahre alte Beschreibung Mekkas zu rekonstruieren, die mit der Kaaba im Ortszentrum beginnt.36 Von dort aus würde er den Blick weiter nach außen schweifen lassen und immer wieder innehalten, um die wichtigsten, heiligsten Orientierungspunkte innerhalb des Allerheiligsten zu erklären. Zuerst den Maqam Ibrahim, Abrahams Platz, an dem der Erzvater stand, als er mit seinem Sohn Ismael die oberen Mauern der Kaaba errichtete, und um den sich heute Pilger drängen, um die alten Fußabdrücke im Stein unter einer Glaskuppel zu sehen. Weiter außerhalb steht etwa zwanzig Meter östlich der Kaaba der berühmte Zamzam-Brunnen, die auf wundersame Weise entsprungene Quelle, die Hagar und ihrem Sohn Ismael das Leben rettete. Heute füllen die Pilgerscharen aus aller Welt bei ihrem Besuch begierig das begehrte Wasser der Zamzam-Quelle in Flaschen ab, um es zu Hause zu trinken.

Azraqis Schilderung belegt eindeutig, dass die einzigen wichtigen Bauten Mekkas die Kaaba und die mit ihr verknüpften Einrichtungen waren. Ihnen widmet er den Großteil seines fünfhundert Seiten starken Werkes. Mekka, das war in erster Linie die Kaaba und der freie Platz der Masdschid al-Haram, der sie umgab.

Nach den Darstellungen der arabischen Historiker geriet Mekka im ausgehenden 6. Jahrhundert in eine spirituelle Krise. Die aufkommenden Marktkräfte zerrissen die traditionellen Gemeinschaftsbande. Manche Kaufleute wurden unvorstellbar reich, während andere Einwohner Mekkas abgehängt wurden und sich in quälender Armut abrackerten. Wieder entsteht der Eindruck, dass die Historiker rückblickend die denkbar günstigste Umgebung für die Ankunft Mohammeds schufen. Das Mekka, das die muslimischen Quellen schildern, war eine finstere, von Dämonen geplagte Siedlung, ein Sündenpfuhl voller Teufel, Wahrsager und Zauberer. Es war kein Ort für Zartbesaitete. Nur ein religionsstiftender, welterschütternder Prophet konnte das ändern.

In dieser sonnenversengten heidnischen Siedlung wurde Mohammed im Jahr 570 geboren. So nebulös die Gegebenheiten und so problematisch die Quellen auch sein mögen, sind doch die Lebensgeschichte des zukünftigen Propheten und die Geschichte der Religion und des islamischen Reiches, die daraus erwuchsen, wohl oder übel untrennbar mit der Mekkas verknüpft.37 Man sollte meinen, ein Religionsstifter wä36re der beliebteste Sohn der Stadt, aber über einen Großteil seines Lebens war das Gegenteil der Fall. Mohammed hatte zu seiner Heimatstadt ein kompliziertes, schwieriges Verhältnis, das von Offenbarung, Rivalität, Erlösung, Verfolgung, Gewalt und Blutvergießen geprägt war.

Mohammeds Familie gehörte dem Haschim-Klan des Quraisch-Stammes an und war keineswegs wohlhabend. Sein Urgroßvater war möglicherweise der erste Kaufmann, der eigenständig mit Syrien und Jemen Handel trieb, aber durch den Tod seines Vaters, Abdullah, noch vor Mohammeds Geburt geriet seine Familie unweigerlich in Schwierigkeiten. Es sollte noch schlimmer kommen, denn seine Mutter, Amina, starb, als er sechs Jahre alt war. Wie wir erfahren, wuchs der Waisenjunge zunächst bei seinem alten Großvater auf, der sein Bett gern nach draußen tragen ließ, um im Schatten der heiligen Kaaba zu schlafen. Nach dem Tod seines Großvaters lebte Mohammed bei seinem Onkel Abu Talib, dem Klanoberhaupt der Haschim. Später arbeitete er im Karawanenhandel seines Onkels Abbas mit und leitete das Geschäft auf der Nordroute nach Syrien. Durch sein kaufmännisches Geschick fiel er Chadidscha auf, einer reichen, begehrenswerten Witwe, die er auf ihren Antrag hin heiratete. Damals war er fünfundzwanzig, sie etwa vierzig Jahre alt.

Die Quellen würdigen Mohammeds Urteilsvermögen und sein Vermittlungstalent. Der Legende nach bauten die Quraisch die Kaaba aus abwechselnden Schichten aus Stein und Teakholz wieder auf, nachdem um 605 an der Küste vor Dschidda ein Schiff havariert war. Der unerwartete Zugang zu Holz war in dieser unwirtlichen Wüste ein Gottesgeschenk. Unter den Männern des Stammes kam es jedoch zum Streit um die Ehre, den berühmten Schwarzen Stein in die Ostecke der Kaaba-Mauer einzusetzen. Da sie sich nicht einigen konnten, beschlossen sie, der Nächste, der das Heiligtum betrete, solle die Angelegenheit entscheiden. Nun kam Mohammed herein und riet den Männern, sie sollten den Stein auf ein Tuch legen, jeder eine Ecke des Tuches packen und den Stein gemeinsam anheben. Das Problem war gelöst, die Ehre wurde geteilt, und Mohammed setzte den Stein selbst ein. Dies trug ihm den Beinamen al-Amin, der Vertrauenswürdige, ein. Heute sind die Steinfragmente in der Kaaba-Mauer von einer breiten Silberfassung umgeben. Viele Muslime versuchen, sie bei der Umkreisung des Gebäudes zu berühren und zu küssen.

So weit, so wenig bemerkenswert. Dann kam 610 der Donnerschlag: Der vierzigjährige Mohammed war etwas außerhalb der Stadt in einer 37Höhle hoch über Mekka. Er hatte für eine Weile die Abgeschiedenheit von seinen Mitmenschen in der Stadt gesucht und tage- und nächtelang in den Bergen meditiert. Mitten in der sternenklaren Wüstennacht mit Blick auf seinen Geburtsort sprach plötzlich Gott in seiner faszinierenden Majestät zu ihm. »Trag vor!«,38 befahl die Stimme. Es war der Engel Dschibril. Er ignorierte den durchaus verständlichen Einwand Mohammeds, dass er nicht lesen könne, und wiederholte: »Trag vor im Namen deines Herrn, der erschaffen hat, den Menschen erschaffen aus einem Klumpen! Trag vor! Dein Herr, der hochherzigste, er hat mit dem Schreibrohr gelehrt, den Menschen gelehrt, was er nicht wusste.«39 Es war ein erschreckendes Erlebnis. Mohammed war traumatisiert und hatte das Gefühl, so bedrängt zu werden, dass er sterben würde. Er glaubte, von Dschinns, bösen Geistern, besessen zu sein, und war bereit, sich vom Berg zu stürzen, um der Qual ein Ende zu setzen. Zum Schlimmsten entschlossen, stieg er zum Gipfel auf, wurde aber wieder von der himmlischen Stimme unterbrochen: »Mohammed! Du bist der Gesandte Gottes, und ich bin Gabriel.«40

Es war ein Moment, der sein Leben veränderte und später als Lailat al-Qadr, Nacht der Bestimmung, bezeichnet wurde. Der Mann, der als ganz gewöhnlicher Stammesangehöriger der Quraisch in die Höhle hinaufgestiegen war, kam völlig verwirrt als Gottes Prophet von dort herunter. Die Worte, die ihm offenbart wurden, sollten zu den ersten Suren des Koran werden. Vierzehnhundert Jahre später machen viele körperlich fitte Pilger einen Abstecher an die Felsenhänge des Berges Hira, auch Dschabal al-Nur, Berg des Lichts, genannt. Ohne die Schilder zu beachten, die darauf hinweisen, dass der Aufstieg in die Höhle nicht Teil der Wallfahrt ist, steigen sie die Treppen hinauf und schauen sich staunend und voller Hingabe die vier mal eineinhalb Meter große Höhle mit ihrer Steindecke und den graffitibedeckten Wänden an. Manche rezitieren Gedichte, andere küssen den Felsen und manche sinken auf die Knie und beten.

In den folgenden Jahren erhielt Mohammed sporadisch immer wieder Offenbarungen. Um 613 begann er, in Mekka zu predigen, und wetterte gegen Götzenverehrung und Vielgötterei. Von da an zog er sich über weite Teile seines Lebens in Mekka Zorn und Feindseligkeit zu. Aus Sicht der Quraisch ist nicht schwer nachzuvollziehen, warum das so war. Die Einwohner Mekkas, zusammengehalten von alten Stammesbindungen und Traditionen mit heidnischen Riten, in deren Zentrum 38die Kaaba stand, waren gespalten. Viele reagierten betroffen ob seiner Angriffe auf ihre Traditionen und waren wütend, dass er trotz wiederholter Warnungen, Drohungen und Anreize die öffentliche Kritik nicht zügelte. Daher ist es nicht verwunderlich, dass man ihm vorwarf, er sei ein Lügner, ein Dichter, ein Zauberer, ein Wahrsager und ein Besessener. Aber die Verbalattacken konnten Mohammeds Eifer nicht dämpfen. Einige Einwohner Mekkas gingen zu seinem Onkel und Beschützer, Abu Talib, und stellten ihm ein Ultimatum: »[W]ir werden nun, bei Gott, nicht länger dulden, dass er unsre Väter schmähe, unsre Jugend bethöre, und unsre Götter lästere, entweder Du hältst ihn ferne von uns, oder wir werden euch beide bekämpfen, bis wir oder ihr zu Grund gehen.«41

Man kann sich die Spannungen, Verdächtigungen und Animositäten leicht vorstellen, die in Mekka um sich griffen, als Mohammed zu allen predigte, die ihm zuhören mochten. Seine Botschaft des einen Gottes war von Grund auf spaltend und gefährdete den Status quo und damit auch die Führung der Gemeinde. Mekka und seine Kaufleute lebten von den heidnischen Riten, in deren Mittelpunkt seit undenklichen Zeiten die Kaaba stand. Und nun versuchte Mohammed, diese Lebensader versiegen zu lassen.

Die Schilderungen, dass Mohammeds kleine Anhängerschar – die ersten Muslime der Welt, die sich Gott ergeben hatten –, Männer, die überwiegend aus den ärmsten, einfachsten Bevölkerungsschichten stammten, verfolgt wurden, sind durchaus nachvollziehbar, ob sie nun erfunden sind oder nicht. Muslimen aus den höchsten Schichten drohte man, sie als Dummköpfe und Narren zu brandmarken und ihren Ruf zu zerstören. Kaufleute wurden gewarnt, man werde ihre Geschäfte boykottieren, bis sie am Bettelstab endeten. Die härtesten Maßnahmen richteten sich jedoch gegen Menschen aus den untersten Gesellschaftsschichten Mekkas. Da Mohammeds revolutionäre Lehren den meisten in der Stadt ein Gräuel waren, wurden die schwachen Muslime »eingesperrt, geschlagen, sie mussten hungern und dursten und wurden der Sonne ausgesetzt«, um sie von ihrer Religion abzubringen. Eine besonders grausame Strafe erlitt der Sklave Bilal: Man führte ihn zur heißesten Zeit des Tages aus Mekka hinaus, warf ihn in einem offenen Tal in der sengenden Sonne auf den Rücken und legte ihm einen schweren Stein auf die Brust.42 Die Verfolgung der neuen Muslimgemeinde nahm derart zu, dass Mohammed 615 einige seiner Anhänger über das Rote Meer schickte, damit sie Zuflucht im christlichen Abessinien suchten.

39In Mekka verschärfte sich seine Lage zunehmend. Angesichts der ständigen Drohungen gegen sein Leben hing seine Sicherheit letztlich von seinem Onkel Abu Talib ab, den die Einwohner Mekkas inzwischen mit Forderungen bedrängten, ihnen Mohammed auszuliefern. Als sowohl Abu Talib als auch Mohammeds Ehefrau Chadidscha, die sich als Erste zum Islam bekehrt hatte, 619 starben, gestaltete sich die Situation für den Propheten immer verzweifelter. Im Sommer 622 erfuhr Mohammed, dass Attentäter einen Mordanschlag auf ihn planten. »O Mekka, ich liebe dich mehr als die ganze Welt, aber deine Söhne wollen mich nicht leben lassen«, klagte er.43 Seine ersten Jahre als Prophet hatten ihm kaum mehr eingebracht als Ablehnung, Verfolgung und einige hundert Anhänger. Drastische Maßnahmen waren notwendig. Im Schutz der Nacht stahl er sich mit seinen Anhängern – darunter auch Abu Bakr, der später sein Schwiegervater und der erste muslimische Kalif werden sollte – aus der Stadt. Sie schlugen sich in das etwa dreihundertfünfzig Kilometer nördlich von Mekka gelegene Yathrib (Medina) durch. Die dortigen Stammesangehörigen waren von Mohammeds früheren Predigten und seinen offenkundigen Führungsqualitäten beeindruckt und hatten ihm bereits während der alljährlichen Pilgerfahrt nach Mekka versichert, er sei ihnen willkommen.

Die dramatische Flucht durch die Wüste ging als Hidschra (Auswanderung oder Auszug) in die muslimische Überlieferung ein und war ein derart bedeutendes Ereignis, dass es zum Anfangspunkt des neuen muslimischen Kalenders wurde. Innerhalb weniger Monate zog die kleine muslimische Gemeinde nahezu vollständig nach Yathrib. Dort lebten vor allem zwei heidnische arabische Stämme – die Aus und die Chazradsch – sowie drei jüdische Stämme – die Qainuqa, die Quraiza und die Nadir