Ist der Sozialstaat noch zu retten? - Mikail Turan - E-Book

Ist der Sozialstaat noch zu retten? E-Book

Mikail Turan

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Beschreibung

Wie der Name es schon vermuten lässt, steht der deutsche Sozialstaat im Fokus dieses Buches. In zwei übergeordneten Abschnitten wird versucht diesen Sozialstaat zu charakterisieren, ihn zu analysieren und kritisch in die Zukunft zu blicken. Der erste Abschnitt beschäftigt sich dabei mit einer Analyse der deutschen Sozialpolitik der vergangenen Jahre. Es wird bewertet, ob die Sozialpolitik funktioniert oder nicht. Im zweiten Abschnitt findet ein Ideenaufriss statt. Hier stelle ich meine eigenen Ideen vor, um die deutsche Sozialpolitik in der Zukunft zu verbessern.

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Seitenzahl: 538

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Vorwort:1

Wir schreiben das 21. Jahrhundert und befinden uns in der Bundesrepublik Deutschland. Ein Land so vielseitig und geschichtsträchtig wie kaum ein anderes. Im Jahre 2022 kann Deutschland mit den Worten demokratisch, europäisch und vor allem wohlhabend beschrieben werden. Die größte Volkswirtschaft Europas, mit circa 83 Millionen Bürger*innen und dazu das mitgliedsstärkste Land der EU glänzt auf vielen Ebenen strahlend vor sich her. Doch strahlt unsere Bundesrepublik denn auch auf allen Ebenen? Eine spannende Frage, die viele Menschen in diesem Land unterschiedlicher nicht beantworten könnten. Die einen reden von Chancengleichheit, Wohlstand für alle, Geschlechtergerechtigkeit und vielem mehr. Andere wiederum sprechen von systematischen Diskriminierungen in unserer Gesellschaft, fehlenden sozialen und körperlichen Sicherheiten sowie einer Zuspitzung von Ungerechtigkeiten. Dazwischen befinden sich Tausende Graustufen, die die aktuelle Situation der BRD noch einmal ganz anders beurteilen würden. Auch ich möchte mir diese Frage stellen. Dabei ist kein Themenfeld so bezeichnend für diese Frage, wie die Sozialpolitik in Deutschland. Ist unser Staat sozial? Können alle in Wohlstand leben? Gibt es genug Aufstiegschancen und Prinzipien der Leistungsgesellschaft? Fragen über Fragen, die wir uns stellen könnten. Aus diesem Grund können wir uns darauf einstellen, dass wir in diesem Buch über die aktuelle Situation des deutschen Sozialstaates, der Verteilung von Waren und Gütern sowie über die Chancen und Risiken für Änderungen in der Zukunft reden werden.

Dazu wird eine Beurteilung des deutschen Sozialsystems in zwei Abschnitten erfolgen. Zuerst wird in jeden Themenbereich der Sozialpolitik eine kritische Analyse durchgeführt. Es wird erklärt, was es mit gewissen Themen auf sich hat, welche aktuelle Diskussionen sie auslösen und welche Eckpunkte bei diesen Themen zu behandeln sind. Anschließend wird es zu jedem Themenpunkt eine Bewertung geben. In einem zweiten Abschnitt möchte ich hingegen eigene Ideen und Vorschläge erarbeiten, die zu einer Minderung des Problems beitragen sowie politisch umgesetzt werden sollen. Diese Niederschrift ist daher als ein Programm der alternativen Sozialpolitik zu verstehen.

Wer bin ich?

Um mein Programm, meine Ziele und mein Selbstbild im weiteren Verlauf vernünftig einordnen zu können, sollte ich mich einmal vorstellen: Mein Name ist Mikail Noel Turan und komme aus einem Dorf nahe der Stadt Unna. Dieses liegt im östlichen Ruhrgebiet und ist Nachbar der bekannteren Stadt Dortmund. Ich bin am 05.01.2002 geboren und damit aktuell 20 Jahre alt. Im Jahr 2020 habe ich mein Abitur am Ernst-Barlach Gymnasium in Unna absolviert und gehöre damit zum ersten Abschlussjahrgang in der Corona-Pandemie. Zudem besitze ich einen Migrationshintergrund. Während meine Mutter aus Deutschland kommt, stammt die Familie meines Vaters aus der Türkei. Obwohl mein Vater in Deutschland geboren wurde, ist er erst vor Kurzem eingebürgert worden. Nachdem ich im Sommer 2020 mein Abitur abgeschlossen habe, konnte ich im September 2020 einen Bundesfreiwilligendienst (BFD) beginnen. Ein Bundesfreiwilligendienst ist mit dem ehemaligen Zivildienst oder dem freien sozialen Jahr zu vergleichen. Dieser BFD ist deshalb so wichtig, weil ich ihn bei der Tafel bestritten habe. Die Tafel hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Armut zu lindern und Nahrungsmittel zu retten. Für ungefähr ein Jahr habe ich damit 39 Stunden die Woche für einen Stundenlohn von 2€ mehr oder weniger als normaler Vollzeitangestellter im Verkaufssektor gearbeitet. Ohne Frage hat auch der tägliche Kontakt mit der Armut dafür gesorgt, dass ich dieses Buch geschrieben habe. Nachdem mein BFD im Sommer 2021 beendet wurde, habe ich im Oktober 2021 begonnen, in Düsseldorf zu studieren. An der Heinrich-Heine-Universität studiere ich seitdem den Studiengang PPE (Politics, Philosophy and Economics). Doch nicht nur im Studium bin ich politisch interessiert. Seit dem 01.10.2017 bin ich daher Mitglied der SPD. Das Studium finanziere ich mir über das BAföG und mein Kindergeld. Mein Vater ist gelernter Schweißer, kann diesen Beruf durch zahlreiche Erkrankungen allerdings nicht ausüben und ist deshalb auf Mindestlohnbasis als Taxifahrer angestellt. Meine Mutter ist ausgebildete Krankenschwester.

Inhaltsverzeichnis

Einleitung:

Definitionen:

Armut:

Absolute Armut:

Relative Armut:

Gefühlte Armut:

Reichtum:

Soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit:

Die Lage weltweit:

Definition Vermögen:

Definition Einkommen:

Definition Gini-Koeffizient:

Definition Dezil-Verteilung:

Vermögensverteilung weltweit:

Einkommensverteilung weltweit:

Armut weltweit:

Hunger weltweit:

Fazit:

Der Sozialstaat:

Verfassungsmäßigkeit des Sozialstaates:

Der deutsche Sozialstaat:

Teil A: Die Analyse (Hauptteil):

1 Die Agenda 2010:

1.1 Die wirtschaftliche Situation 2003:

1.2 Ausgangssituation der Agenda 2010:

1.3 Was hat sich durch die Agenda 2010 geändert?

1.3.1 Die Hartz-Gesetze:

1.3.2 Die Herabsetzung der Bezugsdauer:

1.3.3 Das Existenzminimum:

1.3.4 Veränderung des neuen Arbeitslosengelds 2:

1.3.5 Rentenveränderungen:

1.3.6 Änderungen im Gesundheitssektor:

1.4 Die Kritik an der Agenda:

1.4.1 Stärkung der Erwerbsarmut:

1.4.2 Kritik an der Rentenveränderung:

1.4.3 Kritik an der Gesundheitsänderung:

1.4.4 Kritik zum neuen Existenzminimum:

1.4.5 Das Bild der Hartz-4 Empfänger:

1.4.6 Hass und Spaltung durch die Agenda:

1.4.7 Arbeitslosigkeit und die Agenda:

1.4.8 Die Köpfe hinter der Agenda:

1.4.9 Die SPD und die Agenda:

1.4.10 Massiver Lobbyeinfluss:

1.4.11 Die Beteiligung der Bertelsmann Stiftung:

1.5 Die Ausweitung der Leiharbeit:

1.5.1 Argumentation gegen die Leiharbeit:

1.5.2 Erneute Regulierung der Leiharbeit im Jahr 2017:

1.5.3 Die aktuelle Leiharbeitssituation:

1.5.4 Werksverträge (Exkurs):

2 Die aktuelle Verteilung in Deutschland:

2.1 Verteilung des Vermögens:

2.2 Verteilung des Einkommens:

3 Die Armutssituation in Deutschland (Makroanalyse):

3.1 Wann ist jemand in Deutschland arm?

3.2 Armutsquote in Deutschland:

3.3 Arbeitslosen- und SGB 2-Quoten:

3.4 Bundesländer im Armutsvergleich:

3.5 Beispielregion des Ruhrgebietes:

3.6 Armutsrisiken und Aufstiegschancen:

3.7 Fazit der Makroanalyse:

4 Die Armutssituation in Deutschland (Mikroanalyse):

4.1 Ursachen und Folgen von Armut:

4.1.1 Ursachen von Armut:

4.1.2 Folgen von Armut:

4.2 Kinderarmut in Deutschland:

4.2.1 Die aktuelle Situation der Kinderarmut:

4.2.2 Wie sieht Kinderarmut in Deutschland aus?

4.2.3 Ursachen für Kinderarmut:

4.2.4 Die Folgen von Kinderarmut:

4.2.5 Die Verstärkung der Kinderarmut durch Corona:

4.2.6 Exkurs: Chancengleichheit in der Bildung:

4.2.6.1 Definition der Chancengleichheit:

4.2.6.2 Die Realität des Bildungssystems:

4.2.6.3 Probleme der sozialen Herkunft:

4.2.7 Fazit: Die Auswirkungen der Kinderarmut auf die Gesellschaft:

4.3 Erwerbsarmut in Deutschland:

4.3.1 Definition und Hintergrund:

4.3.2 Die aktuelle Situation der Erwerbsarmut:

4.3.3 Die Ursachen für Erwerbsarmut:

4.3.4 Der Niedriglohnsektor:

4.3.5 Der verzweifelte Ausweg des Zweitjobs:

4.3.6 Exkurs: Mindestlohn:

4.3.6.1 Hintergrund:

4.3.6.2 Entwicklung des Mindestlohns:

4.3.6.3 Das Hauptproblem des Mindestlohns:

4.3.6.4 Weitere Probleme:

4.4 Altersarmut in Deutschland:

4.4.1 Definition der Altersarmut:

4.4.2 Faktencheck zur Altersarmut:

4.4.3 Ursachen und Betroffene:

4.4.4 Das deutsche Rentensystem:

4.4.5 Problem des Systems:

4.4.6 Die drei Säulen der Altersvorsorge:

4.4.7 Idee Grundrente:

4.4.8 Kritik an der Grundrente:

4.5 Armutsgruppen in Deutschland:

4.5.1 Gruppe 1: Migrant*innen:

4.5.1.1 Allgemeines zur Migration:

4.5.1.2 Armut und Migration:

4.5.1.3 Ursachen der hohen Armutsquoten:

4.5.1.4 Folgen und Fazit:

4.5.2 Gruppe2: (Langzeit)arbeitslose:

4.5.2.1 Definition:

4.5.2.2 Bewertung der Arbeitslosigkeit im Gesamtkontext:

4.5.2.3 Die Langzeitarbeitslosigkeit:

4.5.2.4 Allgemeine Zahlen zur Langzeitarbeitslosigkeit:

4.5.2.5 Ursachen für Langzeitarbeitslosigkeit:

4.5.2.6 Folgen von Langzeitarbeitslosigkeit:

4.5.3 Gruppe 3: Alleinerziehende:

4.5.3.1 Ursachen für die hohe Armutsquote:

4.6 Die Sozialbehörden in Deutschland:

4.6.1 Erklärung der Sozialämter:

4.6.1.1 Die Bundesagentur für Arbeit:

4.6.1.2 Das Jobcenter:

4.6.1.3 Das Sozialamt:

4.6.2 Kritik an der Agentur für Arbeit:

4.6.3 Kritik am Jobcenter:

4.6.4 Die Erklärung des Hartz-4:

4.6.5 Kritik an Hartz-4:

4.6.6 Kritik an der Arbeitsvermittlung:

4.7 Armut und Corona:

4.7.1 Soziale Auswirkungen durch Corona:

4.7.2 Armutsstatistik durch Corona:

4.7.3 Homeoffice als Corona Killer:

4.7.4 Bildungschancen und Corona:

4.7.5 Profiteure der Corona Pandemie:

4.7.6 Fazit zur Corona Situation:

4.8 Demokratie und Armut:

4.8.1 Allgemeines:

4.8.2 Wie schadet soziale Ungerechtigkeit der Demokratie:

4.8.2.1 Die Wahlbeteiligung:

4.8.2.2 Die verzerrte Zusammensetzung der Parlamente:

4.8.2.3 Entscheidungen im Bundestag:

4.8.3 Fazit der sozialen Schieflage in Deutschland:

4.9 Wohnungs- und Obdachlosigkeit in Deutschland:

4.9.1 Definition:

4.9.2 Grundsätzlichkeit:

4.9.3 Zahlen zur Wohnungs- und Obdachlosigkeit:

4.9.4 Gründe und Ursachen für Wohnungslosigkeit/ Obdachlosigkeit:

4.9.5 Folgen von Wohnungslosigkeit:

4.9.6 Reaktion der Gesellschaft:

4.9.7 Exkurs: Mietpreise und Wohnungswucher:

4.9.7.1 Mietpreise:

4.9.7.2 Welche Maßnahmen gibt es vom Staat und warum greifen diese nicht:

4.10 Sozialpolitischer Vergleich zwischen Ost- und Westdeutschland:

4.10.1Background der Geschichte:

4.10.2 Wirtschaftsvergleich:

4.10.3 Sozialvergleich:

4.10.4 Politik:

4.10.5 Infrastruktur:

4.10.6 Der Aufstieg der AFD im Osten:

4.10.7 Gesellschaftliche Probleme zwischen Osten und Westen:

4.11 Arbeitspolitische Betrachtung der Stellung der Frauen in Deutschland:

4.11.1 Symbolpolitik als Frauenpolitik in Deutschland:

4.11.2 Gender Pay gab:

4.11.3 Frauen in Berufsgruppen:

4.11.4 Frauen in Teilzeit:

4.11.5 Probleme aus einer verzerrten Geschlechterverteilung und hohen Teilzeitquote:

4.11.6 Frauen in Führungspositionen:

4.11.7 Frauen in der medizinischen Behandlung:

4.11.8 Fazit und Appell:

4.12 Das Gesamtfazit:

Teil B: Der Ideenaufriss:

1 Ideenaufriss zur Bekämpfung der Kinderarmut:

1.1 Generelles Vorgehen gegen Kinderarmut:

1.2 Das Kindergeld:

1.3 Meine Ideen zum Kindergeld:

1.4 Die Kindergrundsicherung:

1.5 Bewertung der Kindergrundsicherung:

1.6 Chancengleichheit in der Bildung:

1.7 Finanzielle Unterstützung für schulische Nebenkosten:

1.8 Außerschulische Bildung und Kontakte:

1.9 Idee: Verein zur Stärkung benachteiligter Kinder:

1.10 Betreuung von Kindern:

1.11 Ausblick:

2 Ideenaufriss zur verbesserten Altersvorsorge:

2.1 Der Grundsatz der Altersvorsorge:

2.2 Situationsbeschreibung der aktuellen gesetzlichen Rente:

2.3 Faktor 1: Beitragssatz und Finanzierung:

2.4 Faktor 2: Das Rentenniveau:

2.5 Faktor 3: Renteneintrittsalter:

2.6 Faktor 4: Der Versichertenkreis:

2.7 Steigerung der Geburtenrate:

2.8 Private Vorsorge als verpflichtende Ergänzung zur gesetzlichen Rente:

2.9 Systemfrage Rente:

2.10 Das Schweizer Rentensystem:

2.11 Modifikationen der deutschen Rente:

3 Ideenaufriss zur Stärkung der betroffenen Armutsgruppen:

3.1 Gruppe 1: Migrant*innen:

3.1.1 Grundsatz der Migration:

3.1.2 Meine Einstellung zur Migration in Deutschland:

3.1.3 Deutschkurse und Integrationsmaßnahmen:

3.1.4 Ideen zur Veränderung der Sprachkurse:

3.1.5 Orientierungskurse:

3.1.6 Die Arbeitsmarktsituation von Migrant*innen:

3.1.7 Ideen zur Verbesserung der Arbeitsmarktsituation:

3.1.8 Sozialleistungen bei Migrant*innen:

3.1.9 Schulische Bildung:

3.2 Gruppe 2: Langzeitarbeitslose:

3.2.1 Grundsatz der sozialen Marktwirtschaft:

3.2.2 Förderprogramme und Lohnsubventionen:

3.2.3 Die Sozialquote:

3.2.4 Die Sozialstruktur:

3.2.5 Bestimmungen zur Arbeitsfähigkeit:

3.2.6 Bewerbungsbestimmungen der Sozialquote:

3.2.7 Abläufe innerhalb der Sozialquote:

3.2.8 Mindestlöhne:

3.3 Gruppe 3: Alleinerziehende:

3.3.1 Kindergeld, Betreuung und Kinderzuschlag:

3.3.2 Alleinerziehungsgeld:

4 Ideenaufriss zur Umstrukturierung der Sozialbehörden:

4.1 Die generelle Struktur:

4.2 Die Abteilungen:

4.3 Das Personal:

4.4 Die Arbeitsvermittlung:

4.5 Die Vermittlung von Langzeitarbeitslosen:

4.6 Die Sätze der Arbeitssicherung 2:

4.7 Sanktionen:

4.8 Allgemeines zum Abschluss:

5 Ideenaufriss zur Corona-Politik:

5.1 Bekämpfung von Corona:

5.2 Maßnahmen zum Ausgleich von sozialen Problemen durch Corona:

5.3 Finanzielle Maßnahmen:

6 Ideenaufriss zur demokratischen Teilhabe benachteiligter Menschen:

6.1 Allgemeines:

6.2 Gesellschaftliche Änderungen beim aktiven Wahlrecht:

6.3 Der Lobbyismus:

6.4 Gesellschaftliche Änderungen beim passiven Wahlrecht:

6.5 Abgeordnetenkodex zur nicht lobbybasierten Politik:

7 Ideenaufriss zur Bekämpfung der Wohnungslosigkeit:

7.1 Allgemeiner Lösungsansatz:

7.2 Stufe 1: Prävention:

7.3 Stufe 2: Wohnungslosigkeit:

7.3.1 Die Bundesmietpreisbremse:

7.3.2 Der Mietendeckel:

7.3.3 Die Wohnungsgemeinnützigkeit und der Wohnungsbau:

7.3.4 Idee der Mietpreisregulierung:

7.4 Stufe 3: Obdachlosigkeit:

8 Ideenaufriss zur ostdeutschen Aufwertung:

8.1 Die Grundsätzlichkeit:

8.2 Infrastruktur:

8.3 Wirtschaft:

8.4 Soziales:

8.5 Politik:

8.6 Die Finanzierung: Der Solidaritätszuschlag:

9 Ideenaufriss zur Stärkung der Frauen:

9.1 Bildung:

9.2 Vereinbarkeit von Familie und Beruf:

9.3 Medizinische Behandlung:

9.4 Frauen in Führungspositionen:

9.5 Der Gender Pay gab:

10 Ideenaufriss zur Erwerbsarmut:

10.1 Grundsatz und Einordnung:

10.2 Mindestlohn und Niedriglohnsektor:

10.3 Atypische Arbeit:

10.4 Leiharbeit:

10.5 Tarifbindung und Stärkung der Gewerkschaften:

11 Ideenaufriss zum sozialen Klimaschutz:

11.1 Wie stehe ich zum Klimaschutz:

11.2 Aktuelle Probleme beim Klimaschutz:

11.3 Meine Idee: Der soziale Klimaschutz:

11.4 Sozialer Klimaschutz am Beispiel der Verkehrswende:

11.5 Probleme der aktuellen Maßnahmenpolitik:

11.6 Grundsätzlichkeit des sozialen Klimaschutzes beim Verkehr

11.7 Privater individueller Nahverkehr:

11.7.1 Maßnahme 1:

11.7.2 Maßnahme 2:

11.7.3 Maßnahme 3:

11.8 Der personelle Fernverkehr:

11.9 Der allgemeine Güterverkehr:

11.10 Der zu empfehlende politische Mix:

12 Ideenaufriss zu einem sinnvollen Lieferkettengesetz:

12.1 Rückblick und Hintergrund:

12.2 Grundsätzlichkeit einer internationalen Sozialpolitik:

12.3 Kritik am aktuellen Lieferkettengesetz:

12.4 Mein Entwurf zum Lieferkettengesetz:

12.5 Der Standard (Das Qualitätsmerkmal):

12.6 Die logischen Konsequenzen aus dem Qualitätsmerkmal:

12.7 Ein internationales Lieferkettenabkommen:

12.8 Der europäische Anfang:

13 Ideenaufriss zur Verteilung in Deutschland:

13.1 Bewertung der aktuellen Verteilung:

13.2 Vorstandsgehälter drücken:

13.3 Gerechtes Strafsystem:

13.4 Die Vermögensbesteuerung:

13.5 Unternehmensbesteuerung:

13.6 Die Finanzierungsfrage:

14 Eine Bewertung der allgemeinen Politik:

14.1 Einleitung:

14.2 Die Abgehobenheit der Politik:

14.3 Ehrlichkeit und Arbeitsweisen in der Politik:

14.4 Das Verhalten der Politik, wenn Wahlen anstehen:

14.5 Verhaltensweisen der Politiker*innen:

Der Schluss:

Quellenverzeichnis:

Einleitung:

Definitionen:

Um ein Thema vernünftig analysieren zu können, bedarf es zuerst der Klärung wichtiger Begriffe. Der Fokus der sozialpolitischen Analyse wird sich um den Begriff der „Armut“ und der damit zusammenhängenden „sozialen Gerechtigkeit“ drehen.

Armut:

Armut ist ein großer Begriff und kann daher in verschiedene Kategorien unterteilt werden. Grundsätzlich bedeutet Armut, dass einer Person die wichtigsten sozialen Dinge im Leben fehlen. Dazu zählen Grundrechte, die Versorgung von körperlichen Grundbedürfnissen (Bsp. Nahrung) oder die finanzielle Grundlage. Die Wissenschaft streitet viel darüber, was als situationsabhängige Armut anzusehen ist. Um jedem Wirtschaftsstandort auf der Erde gerecht zu werden, hat sich die allgemeine Wissenschaft auf drei Kategorien geeinigt: Die absolute, die relative und die gefühlte Armut.

Absolute Armut:

Die absolute Armut wird an einem Geldwert gemessen. Dieser Geldwert liegt zwischen einem Tageseinkommen von 1,25 und 1,95 US-$. Dieser Wert variiert je nach Quelle der Armutsforschung. Grundsätzlich kann gesagt werden, dass ein Mensch, der weniger als 1,9 US-$ am Tag verdient, als absolut arm gilt. Absolut bedeutet, dass eine Person mit so einem geringen Gehalt überall auf der Welt als arm gelten kann. Überall auf der Welt werden Menschen mit einem so geringen Einkommen an einem akuten Nahrungsmangel leiden und sämtliche Grundbedürfnisse nicht stillen können.2

Relative Armut:

Die relative Armut ist hingegen an die jeweilige Gesellschaft angepasst. In Europa ist ein Mensch relativ arm, wenn eine Person weniger als 60% des mittleren Einkommens verdient. Das mittlere Einkommen bedeutet, dass alle Einkommen der Bürger*innen in Deutschland aufgereiht werden und genau das Einkommen in der Mitte ausgewählt wird. Ein Beispiel: Nehmen wir an, dass es 5 Einkommen gibt. → 20.000€, 18.000€, 10.000€, 9.000€, 8.000€. Das mittlere Einkommen läge bei 10.000€ und die Armutsgrenze bei 6.000€. Es geht bei dem mittleren Einkommen nicht um den Durchschnittswert. Der Durchschnittswert unserer 5 Einkommen beispielsweise läge nicht bei 10.000€, sondern bei 17.000€.3

Gefühlte Armut:

Für die gefühlte Armut gibt es keinen Geldwert, an dem wir die Armut ablesen können. Wie der Name schon sagt, handelt es sich bei dieser Armut lediglich um ein Gefühl. Menschen empfinden sich als arm, da sie sich aufgrund ihrer finanziellen Situation ausgeschlossen oder diskriminiert fühlen. Da diese Form allerdings nicht leicht zu messen ist, wird sie kontrovers diskutiert. In der folgenden Analyse wird nur auf die anderen beiden Armutsformen eingegangen.4

Reichtum:

Generell ist jemand in Deutschland reich, wenn ein Mensch ein überdurchschnittliches Maß des gesellschaftlichen Wohlstandes besitzt. Dabei sind zur Zusammensetzung des Reichtums auf die Kategorien Einkommen, Grundstücke, Aktien und Vermögen zu schauen. Eine festgelegte Grenze für Reichtum gibt es nicht. Manche sagen, dass Menschen als reich gelten, die das doppelte des Medians (Median auf Einkommen bezogen: das mittlere Einkommen) besitzen. Andere führen eine Grenze von 250 % des Medians an, um als reich zu gelten.5

Soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit:

Nun setzen wir Armut und Reichtum in ein Verhältnis. Dazu führen wir die beiden Begriffe der sozialen Gleichheit und Gerechtigkeit ein. Obwohl beide Begriffe erst einmal ähnlich klingen, meinen sie etwas Unterschiedliches. Die soziale Gleichheit bedeutet, dass alle Waren, Güter und Gelder in einer Gesellschaft völlig gleich verteilt sind. Die soziale Ungleichheit hingegen sagt aus, dass alle Menschen in der Gesellschaft unterschiedlich viel Geld, Waren und mehr besitzen. Der Begriff der sozialen (Un-)Gleichheit ist wertfrei und schaut sich nur die Gegebenheiten in einer Gesellschaft an. Zudem ist es normal und gut, dass Menschen in einer Gesellschaft unterschiedlich viel besitzen. Der Begriff der sozialen (Un-)Gerechtigkeit bewertet, wie gerecht eine Verteilung ist. Das geschieht anhand von Parametern wie Chancengleichheiten, Leistungsprinzipien und dem Lebensstandard. Es wird bewertet, ob es gerechtfertigt ist, dass alle Menschen das besitzen, was sie besitzen.6

Die Lage weltweit:

Bevor es in eine sozialpolitische Analyse der Bundesrepublik Deutschland geht, müssen wir die Thematik der Armut und sozialen Gerechtigkeit global erfassen. Ohne groß herumzureden, wird mit dieser kleinen Analyse der globalen Situation klar, dass die soziale Situation keines Falles zufriedenstellend sein kann und es daher die Pflicht aller Nationen dieser Welt ist, etwas daran zu ändern:

Definition Vermögen:

Als Vermögen werden Werte gezählt, die besessen werden. Damit ist so gut wie alles das Vermögen von jemandem. Zur Unterteilung werden einige Vermögenskategorien unterschieden. Dazu zählen Geldvermögen, Humanvermögen und Wohnungsvermögen. Zusätzlich stellt Vermögen eine Bestandsgröße dar, die messbar gemacht werden kann. Ein klassisches Beispiel wäre Gold, dem ein Geldwert zugeschrieben wird und durch Gewichtsmessungen errechnet werden kann, wie viel dieses Vermögen wert ist.7

Definition Einkommen:

Als Einkommen werden alle Einkünfte bezeichnet, die eine Person in einem gewissen Zeitraum erhält und einem Geldwert zuzurechnen sind. Wie beim Vermögen gibt es beim Einkommen zur Erfassung gewisse Kategorien. Diese wären zum Beispiel das Arbeitseinkommen, das Kapitaleinkommen und das Gewinneinkommen. 8

Definition Gini-Koeffizient:

Der Gini-Koeffizient ist ein Mittel zur Errechnung der Einkommens- und Vermögensverteilung in einer Gesellschaft. Dabei nimmt dieser Koeffizient eine Zahl zwischen 1 und 0 an. Liegt die Zahl bei 1, dann besitzt eine Person alles. Liegt die Zahl bei 0, dann besitzen alle Personen der Gesellschaft das Gleiche. Je höher die Zahl wird, desto ungleicher ist alles in der Gesellschaft verteilt. Da der Gini-Koeffizient für jedes Land ermittelt werden kann, bildet er einen guten Vergleichswert, um aus der Ungleichheit eine Frage der Gerechtigkeitsbeurteilung zu machen.9

Definition Dezil-Verteilung:

Bei diesem Verteilungsmechanismus wird die Gesellschaft in Dezile aufgeteilt. Ein Dezil stellt 10 % der Gesellschaft dar, womit es insgesamt 10 Dezile in der Gesellschaft gibt. Das unterste oder erste Dezil sind die ärmsten 10 % der Gesellschaft. Das oberste oder zehnte Dezil sind die reichsten 10 % der Gesellschaft. Die Dezil-Verteilung ist ebenso ein Parameter, um herauszufinden, wie gerecht eine Gesellschaft aufgebaut ist. Hier können wir ergründen, welche Schichten in der Gesellschaft wie aufgestellt sind.10

Vermögensverteilung weltweit:

Eine Studie der Oxfam-Stiftung ergab, dass die 8 reichsten Menschen genauso viel, wie die untere Hälfte der Weltbevölkerung besitzen.11 Es lässt sich allein anhand dieser Erkenntnis feststellen, dass das Vermögen auf unserem Planeten massiv ungleich verteilt ist. Um allerdings nicht auf die Zahl 8 fokussiert zu bleiben, sei klargestellt, dass es egal ist, ob es die 8, die 50 oder die 100 reichsten Menschen der Welt wären. Der Schluss über eine massive Ungleichheit bliebe mit jeder der genannten Zahlen bestehen. Eine weitere Studie der Oxfam-Stiftung zeigt, dass die reichsten 1% mehr besitzen als die übrigen 99% zusammen.12

Betrachten wir die Dezil-Verteilung, dann besitzt das oberste Dezil knapp 83% des weltweiten Vermögens. Die unteren 5 Dezile zusammen [genau genommen die unteren 57% der Welt] besitzen gerade einmal nur 1,8% des weltweiten Vermögens.13 Der Gini-Koeffizient lag 2016 weltweit bei einem Wert von 0,92. Die prominentesten Beispiele für einen sehr hohen Gini-Koeffizient in ihrem Land sind die USA (0,86), Indien (0,87) und Russland (0,92).14 Wir sehen deutlich, dass die weltweite Situation als massiv ungleich zu beschreiben ist. Um allerdings die dramatische Situation noch deutlicher zu machen, ist die Entwicklung der weltweiten Ungleichheit sehr aussagekräftig. Im Jahr 2000 besaßen die oberen 10 % ungefähr 85% und die unteren 50% wiederum nur 1% des Vermögens. Der Gini-Koeffizient lag im Jahr 2000 bei dem Wert von 0,89.15 Die Entwicklung zeigt somit, dass sich die Verteilung in den letzten 20 Jahren nicht verändert hat.

Einkommensverteilung weltweit:

Die untere Hälfte der Weltbevölkerung hat im Jahr 2010 ungefähr 11% des weltweiten Einkommens verdient. Die obere Hälfte hingegen verdiente 89%. Das oberste Dezil der Welt verdiente ganze 47% des Einkommens, das unterste Dezil hingegen nur 0,7%. Der Gini-Koeffizient zum Einkommen lag im Jahr 2018 bei 0,5. Der Vergleich zu früheren Daten zeigt, dass der Gini-Koeffizient gesunken ist. Dieser lag im Jahr 2000 noch bei 0,65. Die Verteilung des Einkommens hat sich aber nur an bestimmten Positionen geändert. Vor allem die Extrema ganz oben und ganz unten sind über die Jahre nahezu gleich geblieben. Wenn wir die Weltbevölkerung vierteln würden, dann hätte sich im dritten Viertel viel getan. Das dritte Viertel bestünde aus der oberen Mittelschicht oder dem Teil von 50-75% der Gesellschaft. In den 1980er-Jahren waren vor allem Osteuropäer*innen und Lateinamerikaner*innen in dieser Schicht vertreten. Zu dieser Zeit besaßen sie ungefähr 17% des weltweiten Einkommens. Durch einige Krisen sind viele in dieser oberen Schicht allerdings im Rang gefallen und wurden durch aufstrebende Schwellenländer ersetzt. Hier gehen Länder wie Indien oder China stark voran. Nach der Jahrtausendwende betrug das Einkommen dieser Länder nur 14%. Nach dem Aufstieg der Schwellenländer beträgt das Einkommen dieser Schicht 20%.16

Insgesamt ist das Einkommen ungleich verteilt, im Gegensatz zum Vermögen aber deutlich besser aufgestellt. Auch die Entwicklung in den letzten Jahren macht Hoffnung. Dennoch sollten wir uns nicht darauf ausruhen. Ebenfalls bleibt anzumerken, dass die vorgestellten Daten grundsätzlich verfälscht sind. Das liegt daran, dass arme Menschen in Statistiken oft nicht erfasst werden und davon auszugehen ist, dass die Ungleichheit drastischer ist als statistisch dargestellt wird.

Armut weltweit:

Wir konnten belegen, dass sich weltweit eine deutliche Verteilungsungleichheit vorfinden lässt. Nun schließt sich die Frage an, ob diese Ungleichheit auch als Ungerechtigkeit anzusehen ist. Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir uns an der allgemeinen Menschenrechtserklärung orientieren. Laut dieser haben alle Menschen das Recht auf ein Leben ohne Hunger und Armut. Im Jahr 2015 lebten weltweit dennoch circa 700 Millionen Menschen in absoluter Armut. Insgesamt 2,1 Milliarden Menschen lebten im Jahre 2012 von weniger als 3,1 $ pro Tag.17 Die Corona-Pandemie sorgt dafür, dass sich die Lage der Armut verschlimmert hat. Rund 170 Millionen Menschen drohen wieder in die Verarmung zu fallen. Gar 230 Millionen Menschen sind davon bedroht, durch die Pandemie 2021 keinen Zugang zu Nahrung, Wasser und Hygiene zu bekommen.18 Insgesamt sind rund 3,4 Milliarden Menschen weltweit von Armut betroffen. Als arm gelten in dieser Statistik alle, die unter 5,5 $ am Tag verdienen. Zum aktuellen Zeitpunkt hat die Welt ungefähr 7,8 Milliarden Einwohner*innen. Setzen wir diese Zahl in das Verhältnis zur Armut, dann lebt fast die Hälfte der Weltbevölkerung in Armut.19

Hunger weltweit:

Das größte Problem der Armut ist der Hunger. Hunger bedeutet in diesem Kontext, dass ein Mensch dauerhaft zu wenig Nahrung zu sich nimmt und dies gesundheitliche Folgen hat. Weltweit leiden aktuell rund 821 Millionen Menschen (circa 11% der Weltbevölkerung) unter Hunger. Rund zwei Milliarden Menschen leiden zwar nicht an Hunger, dafür aber an der Vorstufe der sogenannten Mangelernährung. Vor allem Kinder sind vom Hunger betroffen. Jedes Jahr sterben rund 3,1 Millionen Kinder durch den Hunger. Umgerechnet stirbt alle 10 Sekunden ein Kind an den Folgen des Hungers. Wir müssen uns immer in Erinnerung rufen, dass diese Kinder sterben, da es ihnen an dem Nötigsten fehlt. Die Corona-Pandemie und ihre Folgen sind dagegen ein kleines Problem. Wenn wir uns im Gegenzug die Zahlen der Lebensmittelproduktion vor Augen führen lassen, dann ist der Begriff „pervers“ der einzig treffende. Jedes Jahr verschwendet die Menschheit weltweit rund 1,3 Milliarden Tonnen Lebensmittel.20

Fazit:

Die Situation auf dieser Welt sollte uns beunruhigen, denn Vermögen und Einkommen sind sehr ungleich verteilt. Wenn trotzdem alle Menschen im Wohlstand leben könnten, wäre das nicht dramatisch. Doch die Ergebnisse der Analyse über die Situation der Armut und des Hungers zeigen glasklar, dass die Verteilung von Gütern und Waren auf unserer Welt ungerecht ist. Mit den richtigen Mechanismen wäre es bereits heute möglich, eine gerechtere Welt zu erschaffen, die frei von Hunger und Armut ist. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass wir als Europäer*innen und Nordamerikaner*innen schuld daran sind, dass sich diese Situation nicht maßgeblich ändert. Vor allem der Verweis auf die Lebensmittelverschwendung der Industrieländer kann uns nur Bauchschmerzen bereiten. Es bleibt das Fazit, dass jeder Mensch, der an Hunger stirbt, ein Mensch ist, der von uns ermordet wird.

Der Sozialstaat:

Nachdem wir den Blick auf die weltweite Situation gewagt haben, konzentrieren wir uns im weiteren Verlauf auf die Analyse der deutschen Situation. Um eine Analyse über die deutsche Sozialpolitik verfassen zu können, muss selbstverständlich geklärt werden, was der Grundsatz dieser Sozialpolitik bedeutet. Dazu lässt sich das Prinzip der Sozialstaatlichkeit heranziehen. Die Frage, die in dieser Einleitung geklärt werden muss, ist Folgende: „Was bedeutet diese Sozialstaatlichkeit in der Theorie und in der Praxis?“

Verfassungsmäßigkeit des Sozialstaates:

Sucht ein Mensch in Deutschland nach der Grundsätzlichkeit einer Politik, dann hilft es zuallererst, im Grundgesetz nachzuschlagen. Dazu zitieren wir zur Grundsätzlichkeit der Sozialstaatlichkeit den Artikel 20 Absatz 1 GG:

„Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat”.

Im Grundgesetz steht wörtlich geschrieben, dass die Bundesrepublik ein Sozialstaat sein muss. Ein Sozialstaat hat die Aufgabe, soziale Gerechtigkeit und soziale Sicherheit für alle Bürger*innen zu erfüllen.21 Der Begriff der sozialen Sicherheit bricht eine soziale Gerechtigkeit auf die entsprechende Lebenssituation herunter. Die soziale Sicherheit schreibt das Leben in menschenwürdigen Verhältnissen und in Schutz vor sozialen Risiken [Soziale Risiken wären Arbeitslosigkeit, das Alter, Krankheiten usw.] vor. Auch die menschenwürdigen Verhältnisse lassen sich weiter definieren. Diese bedeuten ein Leben ohne Armut. Aus dem Artikel 22 der allgemeinen Menschenrechtserklärung ist eindeutig herauszulesen, dass soziale Sicherheit die Sicherheit vor absoluter und relativer Armut bedeutet.22 Das Fazit des Auszuges aus dem Grundgesetz ist deshalb, dass unser Sozialstaat dazu verpflichtet ist, Menschen vor der Armut zu bewahren. Dazu wollen wir uns anschauen, wie der deutsche Staat dieser Verpflichtung in der Praxis nachkommt.

Der deutsche Sozialstaat:

Nach der klassischen Denkweise der Öffentlichkeit nehmen Menschen den Sozialstaat nur in Anspruch, wenn sie vom Staat Hartz-4 bekommen. In Wahrheit ist der Sozialstaat viel mehr als nur die Förderung von sozial Benachteiligten. So gibt es in der Gestaltung des Sozialstaates viele Bereiche, von denen wir in unserem Alltag zwar leben, es aber nicht aktiv mitbekommen. Insgesamt gewährt uns der Sozialstaat drei soziale Bereiche: Der erste Bereich stellt die sozialen Rechte dar. Hierzu zählen unter anderem Arbeitnehmer*innenrechte oder Rechte der demokratischen Teilhabe. Der Staat sorgt dafür, dass jeder Mensch unabhängig von der sozialen Situation ein Recht hat zu streiken oder wählen zu können. Der zweite Bereich wird durch die sozialen Dienste verkörpert. Diese Dienste drücken sich hauptsächlich in der sozialen Arbeit aus. Diese sozialen Dienste sind zum Beispiel in Jugendämtern oder Sozialämtern zu finden. Der dritte Bereich ist der klassischere Bereich der sozialen Gelder. Sowohl beitragsfinanzierte als auch steuerfinanzierte Gelder zählen in diesen Bereich hinein. Typische Beispiel wären das Arbeitslosengeld 2, Rentenbeiträge oder der Solidaritätszuschlag. Da vor allem die sozialen Gelder eine wichtige Rolle spielen, schauen wir uns an, wie diese im Grundsatz aufgeteilt sind. Bei der Gestaltung der sozialen Gelder gibt es drei Prinzipien, nach denen soziale Gelder in Deutschland vom Staat ausgezahlt werden. Diese Prinzipien nennen sich das Versicherungsprinzip, das Versorgungsprinzip und das Fürsorgeprinzip.

Das Versicherungsprinzip: Das Versicherungsprinzip basiert darauf, dass in gewissen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens alle Menschen in eine gemeinsame Kasse einzahlen. Damit soll bezweckt werden, dass Menschen, die in bestimmte finanziell aufwendige Situationen geraten, nicht auf diesen Kosten sitzen bleiben. Diese Kasse wird in Form von gesellschaftlichen Versicherungen ausgedrückt. Aus diesem Grund sind alle Menschen in Deutschland dazu verpflichtet, in gewisse Versicherungen einzuzahlen. Dazu zählen die Arbeitslosenversicherung, die Krankenversicherung, die Pflegeversicherung und die Rentenversicherung. Kann eine Person aufgrund des Alters beispielsweise nicht mehr arbeiten, dann kann sie aus diesem Topf der Versicherung genug Geld bekommen, um ihren Ruhestand bestreiten zu können.

Das Versorgungsprinzip: Das zweite Prinzip finanziert sich aus Steuereinnahmen und funktioniert nach dem Ausgleichsprinzip. Wenn eine Person in eine anstrengende und aufwendige Lebenssituation kommt, dann zahlt ihr der Staat dafür einen Ausgleich. Bekannte Leistungen des Versorgungsprinzips wären das Kindergeld oder BAföG für Studierende.

Das Fürsorgeprinzip: Auch das dritte Prinzip wird aus Steuermitteln finanziert. Das Fürsorgeprinzip setzt an, wenn sich Menschen am Existenzminimum befinden und nicht in der Lage sind, ihren Lebensunterhalt aus eigenen Kräften zu bestreiten. Der Staat sorgt dafür, dass diese Menschen durch das Geld des Staates trotzdem genug besitzen, um über dieser Existenzgrenze leben zu können. In der Praxis wird diese Hilfe in diversen Sozialhilfen ausgezahlt. Das bekannteste Beispiel wäre das Arbeitslosengeld 2 (umgangssprachlich Hartz-4).23

Für die soziale Sicherung wurde im Jahr 2019 1.040,3 Milliarden Euro ausgegeben. Mit mehr als 1 Billion Euro pro Jahr bildet der Sozialstaat den größten Bereich des Staatshaushaltes. Schauen wir uns die einzelnen Kategorien des Sozialstaates an, dann geben wir mit 30,5% am meisten für die Rentenversicherung aus. Auf Platz 2 und 3 folgen die Krankenversicherung mit 24,5% und das System des öffentlichen Dienstes mit 7,8%. Öffentlich bekanntere Maßnahmen wie das Kindergeld oder das Arbeitslosengeld 2 machen einen Anteil von ungefähr 5% im Haushalt aus.24

Schlussfrage: Wir haben uns angeschaut, wie der Sozialstaat in der Theorie und in der Praxis aussieht. In der Theorie beschreibt unsere Verfassung und alle daraus ableitbaren Definitionen, was unser Sozialstaat zu leisten hat. In der Praxis leitet der Sozialstaat daraus viele Bereiche des sozialen Handels ab, wobei ein Fokus auf die sozialen Gelder und deren Zusammensetzung gesetzt werden muss. Um aber diese Einleitung abzuschließen, müssen wir abschließend eine Frage formulieren, die es sich in den Hauptteil mitzunehmen gilt:

Kann die aktuelle praktische sozialpolitische Umsetzung der Theorie der Sozialstaatlichkeit gerecht werden?

Teil A: Die Analyse (Hauptteil):

1 Die Agenda 2010:

Nachdem wir uns angeschaut haben, wie der Sozialstaat aussieht, geht es jetzt darum, die aktuelle politische Praxis zu analysieren. Beginnen müssen wir dazu mit der größten Sozial- und Arbeitsmarktreform der Bundesrepublik Deutschland in den letzten 20 Jahren. Anhand dieser Reform kann bewertet werden, wie der aktuelle Sozialstaat aufgebaut ist und ob er sinnvoll funktioniert. Es folgt der Blick in das Jahr 2003. Hier wird zentral beantwortet, warum der deutsche Sozialstaat verändert wurde, wie er verändert wurde und welche Auswirkungen dies auf den heutigen Sozialstaat hat.

1.1 Die wirtschaftliche Situation 2003:

Im Jahre 2003 ist die wirtschaftliche Situation der Bundesrepublik Deutschland als kritisch zu bezeichnen. Erstmals seit dem Jahr 1993 ist das Bruttoinlandsprodukt rückläufig. Bereits seit einigen Jahren stagniert die deutsche Wirtschaft. Zudem besitzt Deutschland ein Haushaltsdefizit von 4%. Nach den Verordnungen zur Stabilität verstößt dieses Defizit gegen die Richtlinien der Europäischen Union.25 Bereits seit den Neunzigerjahren steigt die Arbeitslosenquote an und verharrt seitdem auf einer Rekordhöhe. Mit einer Arbeitslosenquote von 10,5% waren 2003 in Deutschland ungefähr 4,5 Millionen Menschen arbeitslos.26 Wäre diese Situation nicht schon schlimm genug, kommt noch die hohe Belastung der Rentenkassen hinzu. Durch den demografischen Wandel gibt es immer weniger Menschen, die arbeiten, dafür immer mehr, die eine Rente beziehen. Neben der Rentenproblematik steigen die Lohnnebenkosten und der private Konsum nimmt ab.27 Wirtschaftlich stand die Bundesrepublik Deutschland nicht gut da. Für Deutschland etablierte sich das Sinnbild des kranken Mannes Europas. Ohne Frage ist klar, dass es aus wirtschaftlicher Sicht die Forderung gab, eine umfassende Reform zur Investition in die deutsche Wirtschaftskraft zu entwickeln.

1.2 Ausgangssituation der Agenda 2010:

Die damalige Bundesregierung war gezwungen zu handeln und versuchte mit der Agenda 2010 eine Trendwende einzuleiten. Diese Agenda wurde von der Bundesregierung, bestehend aus der SPD und den Grünen eingeleitet und unter dem sozialdemokratischen Bundeskanzler Gerhard Schröder im Jahre 2003 gesetzmäßig gemacht. Allerdings verlor die rot-grüne Bundesregierung 2005 ihre Mehrheit und konnte somit den Weg ihrer eigenen Agenda in den folgenden Jahren nicht begleiten. Die Agenda 2010 war eine Reform des Sozialsystems und des Arbeitsmarktes. Sie sollte zu mehr Wachstum und Beschäftigung in Deutschland führen. Neben dem Sozialsystem wurden auch Maßnahmen im Bildungsbereich und im Wirtschaftssektor getroffen.

1.3 Was hat sich durch die Agenda 2010 geändert?

Sozialpolitisch gesehen hat die Agenda den Charakter des deutschen Sozialstaates umstrukturiert. Vor dem 21. Jahrhundert besaß unser Sozialstaat den Charakter eines fürsorgenden Wohlfahrtstaates. Diese Art des Sozialstaates machte es sich zur Aufgabe, ohne irgendwelche Bedingungen eine regulierende Steuerungsfunktion einzunehmen und damit eine Umverteilung zu Gunsten von sozial Benachteiligten zu ermöglichen. Dieses Modell wurde mit der Agenda 2010 durch das Konzept des aktivierenden Sozialstaates ersetzt. Dieser neue Charakter nahm die Menschen mehr in die Pflicht und forderte sie auf, sich am Prozess der Sozialhilfe zu beteiligen. Damit werden die Leistungen des Staates an Gegenleistungen geknüpft.28

Die größte praktische Änderung der Sozialpolitik durch die Agenda lag in der staatlichen Hilfe für Arbeitslose. Bevor es die Agenda 2010 gab, drückten sich die staatlichen finanziellen Hilfen in der Sozialhilfe und in der Arbeitslosenhilfe aus. Die Sozialhilfe stellte das Existenzminimum dar. Die Arbeitslosenhilfe ist hingegen ein interessanterer Baustein. Arbeitslosenhilfe wurde neben dem Arbeitslosengeld gezahlt und sollte als soziale Unterstützung für bedürftige Arbeitslose fungieren. Die Arbeitslosenhilfe war eine Versicherungsleistung, die aus Steuergeldern finanziert wurde. Da die Arbeitslosenhilfe an bestimme Kriterien geknüpft war, besaß nicht jede*r einen Anspruch auf diese Leistung. Finanziell bekamen die Menschen bis zu 520€ ausgezahlt.29 Durch die Agenda 2010 wurden die Sozialhilfe und die Arbeitslosenhilfe auf dem Niveau der ehemaligen Arbeitslosenhilfe zusammengeführt. Aus zwei verschiedenen Leistungen wurde eine Leistung. Diese ist heute als das Arbeitslosengeld 2 bekannt.

1.3.1 Die Hartz-Gesetze:

Die Hartz-Gesetze wurden nach dem damaligen Vorstandsvorsitzenden der Volkswagen-AG, „Peter Hartz“, benannt und wurden in der Öffentlichkeit häufig als das Symbol für die sozialen Aspekte der Agenda 2010 herangezogen. Die zentralen Änderungen des Sozialsystems durch die Hartz-Gesetze sind im zweiten Sozialgesetzbuch im Wesentlichen zusammengeschrieben. Grundlage der Hartz-Gesetze war es, den Bürger*innen die Möglichkeit zu geben, ihr Leben auf der Erwerbstätigkeit zu ergründen. Kurz gesagt sollten die Hartz-Gesetze dafür sorgen, dass wer arbeiten geht, in Deutschland mit der Armut nichts zu tun haben soll. Insgesamt gibt es vier Gesetze, die mit der Agenda eingeführt wurden. Die Hartz-Gesetze 1 und 2 umfassen die Einrichtung von Personal-Service-Agenturen, welche die Arbeitsämter bei der Vermittlungsarbeit unterstützen sollen. Weiterhin wurde der Arbeitsmarkt flexibilisiert. Dazu wurden die Bedingungen zur Leiharbeit, die Förderung geringfügiger Beschäftigung und die Selbstständigkeit aus der Arbeitslosigkeit (sogenannte Ich-AGs) massiv gelockert. Ebenfalls wurden die Regeln über die Zumutbarkeit angebotener Arbeit verschärft. Das bedeutet, dass jede Arbeit, die einem angeboten wird, auch zumutbar ist und angenommen werden soll. Im Zuge von Hartz-3 wurde die Arbeitsverwaltung zur heutigen Bundesagentur für Arbeit umgebaut. Hartz-4 beschreibt dagegen die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld 2.30

1.3.2 Die Herabsetzung der Bezugsdauer:

Wenn jemand in die Arbeitslosigkeit fällt, bekommt diese Person nicht automatisch das Arbeitslosengeld 2 (ALG 2). Wird ein Mensch arbeitslos, dann bekommt diese Person zuerst aus der Arbeitslosenversicherung eine gewisse Ausschüttung (Arbeitslosengeld 1 (ALG 1)), die deutlich höher liegt als das Arbeitslosengeld 2. In der Regel beträgt die Höhe des ALG 1 circa 60% des letzten Nettogehaltes einer Person und wird für eine gewisse Bezugsdauer ausgezahlt. In dieser Zeit sollen sich betroffene Arbeitslose ohne große soziale Risiken wieder um eine Arbeit bemühen. Findet die Person einen Job, dann ersetzt der neue Lohn das Arbeitslosengeld 1. Findet die Person keinen Job, läuft die Bezugsdauer des ALG 1 irgendwann aus. Ist diese ausgelaufen, gilt eine Person ab diesem Zeitpunkt offiziell als langzeitarbeitslos und rutscht in das Arbeitslosengeld 2. Durch die Agenda 2010 wurde die Bezugsdauer für das Arbeitslosengeld 1 angepasst. Vor dem Jahr 2003 lag die Bezugsdauer bei 32 Monaten. Ein Mensch im deutschen Sozialsystem wurde erst nach fast drei Jahren langzeitarbeitslos. Durch die Reform wurde diese Bezugsdauer massiv gekürzt. Nun bekommen Menschen über 55 Jahre nur noch eine Bezugsdauer von 18 Monaten zugesprochen. Menschen unter 55 Jahre besitzen sogar nur eine Bezugsdauer von 12 Monaten, womit sie nach einem Jahr als Langzeitarbeitslose in das Arbeitslosengeld 2 rutschen werden.31

1.3.3 Das Existenzminimum:

Das Herzstück der Agenda drückt sich im Existenzminimum, dem Arbeitslosengeld 2 (ALG 2) aus. Das ALG 2 soll ein Existenzminimum aller lebensnotwendigen Bedürfnisse darstellen, welches für Alleinstehende momentan bei 449€ liegt. Es ist niedrig berechnet, um Bezieher*innen dazu zu animieren, eine zumutbare Tätigkeit aufzunehmen. Zumutbar bedeutet in diesem Zusammenhang, dass jegliche legale Arbeit aufgenommen werden muss. Lehnen die Arbeitslosen solche Tätigkeiten ab, kann ihnen das ALG 2 für drei Monate um 30% gekürzt werden.32 Ausgezahlt wird das Existenzminimum an alle arbeitssuchenden Menschen, die mindestens 3 Stunden täglich arbeiten können, über 15 Jahre alt sind, ihren Lebensunterhalt nicht selbstständig sichern können und das gesetzliche Rentenalter noch nicht erreicht haben.33

1.3.4 Veränderung des neuen Arbeitslosengelds 2:

In der Sozialhilfe gab es einen Sonderbedarf für einmalige Ausgaben, der beispielsweise zum Ersetzen einer kaputten Waschmaschine gedacht war. Dieser Sonderbedarf fällt mit dem neuen ALG 2 in der Regel weg. Der Gesetzgeber verlangt ausdrücklich, dass vom Hartz-4-Satz gewisse Teile zur Ausgabe solcher Sonderfälle gespart werden. Bezieher*innen können allerdings Darlehen aufnehmen, die bei einem unabdingbaren Beweis zu bekommen sind. Zurückgezahlt wird dieses Darlehen, indem in den Folgemonaten 10 % der Teilbeträge gekürzt werden.34 Auch die Bedingungen wurden mit der Agenda 2010 deutlich verschärft. Jede Art von Vermögen und Einkommen muss zuerst verbraucht sein, um einen Anspruch auf die Leistungen des Staates zu bekommen. Im Allgemeinen werden Vermögen und Einkommen auf die Hartz-4-Sätze angerechnet. Das trifft nicht nur auf die Person zu, die Hartz-4 bekommt, sondern auf alle Mitglieder desselben Haushaltes. Wenn Kinder beispielsweise ein Einkommen besitzen, wird dieses verrechnet und von den Hartz 4-Sätzen abgezogen. Dennoch gibt es einen anrechnungsfreien Betrag von 100€.35

1.3.5 Rentenveränderungen:

Als zentrale Änderung erschuf die Regierung die Förderung der privaten Altersvorsorge. Dazu werden private Renten wie die Riester-Rente geschaffen. Ebenfalls wird in der Formel zur Berechnung der Renten ein Nachhaltigkeitsfaktor eingeführt. Ergibt sich das Bild, dass die Rentner*innen überproportional zu den Beitragszahler*innen steigen, werden die Renten durch diesen Nachhaltigkeitsfaktor automatisch geringer festgelegt. Eine weitere große Veränderung ist die Anhebung des Rentenalters. Die Agenda sollte dafür sorgen, dass ein Anreiz geschaffen wird, länger zu arbeiten. Wenn die Menschen länger arbeiten, zahlen sie länger ihre Rentenbeiträge und füllen automatisch die Kassen auf. In der Praxis erhob sich das Renteneintrittsalter in den ersten 10 Jahren nach der Agenda um knapp ein Jahr, ab dort steigt das Eintrittsalter immer drastischer an.36

1.3.6 Änderungen im Gesundheitssektor:

In der Gesundheitspolitik war es das langfristige Ziel, die Krankenversicherung unter 13% zu drücken. So wurden Leistungen wie das Sterbegeld, das Entbindungsgeld und die Aufwendungen für künstliche Befruchtungen durch die Agenda abgeschafft. Ebenfalls wird in einigen Bereichen das Prinzip der Kostenteilung zwischen Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen gestrichen. Leistungen wie das Krankengeld oder der Zahnersatz müssen seit dem Jahr 2005 privat bezahlt werden. Außerdem kommt ein Beitrag der Versicherten von 0,9% hinzu. Nicht zuletzt wurde mit der Agenda eine Praxisgebühr von 10€ pro Quartal eingeführt. Diese wurde nach knapp 10 Jahren wieder abgeschafft. Insgesamt ist im Gesundheitssektor die Forderung nach mehr Eigenbeteiligung und Eigenverantwortung deutlich zutage getreten.37

Weitere Änderungen: Zum einen wurden Leistungen für das Existenzminimum zusammengekürzt. Zum anderen wurde der Kündigungsschutz gelockert. Weiter wurde nach dem Motto der zumutbaren Arbeit der Niedriglohnsektor ausgeweitet. Das Modell der Bestrafung, indem Leistungen gekürzt werden, ist ebenfalls ein Mittel, dass durch die Agenda neu entstanden ist. Zudem wurden die Bestimmungen zur Leiharbeit stark ausgeweitet.

1.4 Die Kritik an der Agenda:

Vor allem bei der Fokussierung auf die Erwerbsarbeit schneidet die Agenda schon im Grundsatz schlecht ab. Die zentrale Neuerung lautet: „Jede Arbeit ist zumutbar”. Allein das Wort zumutbar suggeriert, dass im neuen Modell der Arbeitsvermittlung ausbeutungsähnliche und nicht bedarfsgerechte Arbeiten zum Standard gemacht werden sollen. Es soll das Motto verkauft werden, dass die Menschen froh sein können, überhaupt eine Arbeit zu bekommen und anschließend nicht meckern sollen, dass sie zu schlecht wäre. Allerdings darf Arbeit niemals Mittel zum Zweck sein, sondern muss eine Säule eines erfüllten Lebens verkörpern. Erstens muss Arbeit für ein erfülltes Leben mindestens eine gewisse Freude und Lust bereiten können. Zweitens muss Arbeit für eine materielle Erfüllung genug Geld einbringen können. Erfüllt eine Arbeit die beiden Kriterien nicht, ist diese Arbeit nicht zumutbar. Der Gesetzgeber sieht das ausdrücklich anders und definiert Zumutbarkeit mit Legalität. Völlig losgelöst von Kompetenzen und Qualifikationen werden Arbeitslose in Arbeiten gesteckt, die ihnen überhaupt nicht gerecht werden, sie keinesfalls aus der Armut heben und ihnen meisten nicht gefallen. Richtig schlimm wird es, wenn in den praktischen Maßnahmen mit Sanktionen gedroht wird, wenn eine Person eine bedarfsfreie Arbeit ablehnen will. Nur wenn gravierende körperliche oder seelische Einschränkungen vorliegen, kann eine Arbeit abgelehnt werden. Andere Begründungen zur Ablehnung, wie beispielsweise prekäre (wirtschaftlich schlechte) Verhältnisse, fehlende Leistungsgerechtigkeit der Maßnahme, zu weite Entfernungen zum eigenen Wohnort oder fehlende Anerkennungen der eigenen Ausbildung und Qualifikationen werden nicht akzeptiert. Das Problem, dass durch diesen Grundsatz der Zumutung entsteht, ist die Entwertung der Arbeit. Es kommt in der Praxis nicht selten vor, dass ein*e studierte*r Architekt*in für 2€ bei Rewe an der Kasse sitzen muss oder irgendwelche Tiere spazieren führen soll. Das Problem ist, dass Bezieher*innen von Arbeitslosengeld 2 per se alle gleich und dazu noch schlecht behandelt werden. Das sorgt dafür, dass jemand, der ein Jahr arbeitslos ist, mit Menschen gleichgesetzt wird, die in ihrem Leben noch nie gearbeitet haben. Bedarfsgerecht sieht anders aus.

1.4.1 Stärkung der Erwerbsarmut:

Eigentlich sollte die Agenda durch die Säule der Arbeit den Fall in die Armut verhindern. Faktisch gesehen hat sie das nicht geschafft. Ganz im Gegenteil hat sich die Situation der Erwerbsarmut verschlimmert. Erwerbsarmut heißt, dass Menschen, die arbeiten, trotzdem arm sind. Die Zahl der Menschen, die arbeiten und trotzdem arm sind, hat sich bis heute um mehr als 100% vergrößert. Das ist mit Abstand der europäische Spitzenwert.38 Durch die Agenda-Politik ist in Deutschland der größte Niedriglohnsektor Europas entstanden. Logischerweise schlägt sich dieses Phänomen in den Zahlen der Bedürftigen nieder. Menschen wurden in prekäre Arbeitsverhältnisse gepackt und verharren dort zu Millionen bis heute. Lustigerweise haben die Verantwortlichen der Agenda diesen Umstand aktiv herbeiführen wollen. Selbst Bundeskanzler Schröder sagte öffentlich, dass die Agenda bewusst den Niedriglohnsektor ausweiten soll. Die Macher der Agenda nahmen billigend in Kauf, dass durch diese Reform moderne Ausbeutung und eine künstliche Erschaffung von Armut in Deutschland salonfähig gemacht wird. Schon lustig, dass solche Maßnahmen ausgerechnet von Sozialdemokraten eingeführt wurden. „Antisoziale Demokraten“ würden wahrscheinlich besser passen. Vor der Agenda war klar, dass die Arbeitslosenhilfe nur für Arbeitslose zur Verfügung stand. Auch wenn das heutige Arbeitslosengeld 2 klar für Arbeitslose gedacht wurde, müssen jetzt ebenfalls viele erwerbstätige Menschen das Arbeitslosengeld beanspruchen, weil sie durch die Ausweitung des Niedriglohnsektors nicht mehr genug zum Leben haben. Dieses Phänomen nennen wir „Aufstocker” und können eindeutig nachweisen, dass es sich um eine Folge der Agenda-Politik handelt. Stand heute müssen eine Millionen Menschen Hartz-4 beziehen, obwohl sie arbeiten.39 Insgesamt lässt sich sagen, dass es die Agenda geschafft hat Armut und Arbeit, die vorher voneinander losgelöst waren, miteinander zu verkoppeln. Wir müssen uns von dem Gedanken verabschieden, dass Menschen, die arbeiten, automatisch nicht arm sein können. Durch die Ausweitung des Niedriglohnsektors und die Schaffung von prekärer Arbeit hat es die Agenda geschafft, den kompletten Grundsatz der bisherigen deutschen Sozialpolitik zu zerstören.

1.4.2 Kritik an der Rentenveränderung:

Der Niedriglohnsektor hat nicht nur negative Folgen für aktuell Arbeitende, sondern auch für Rentner*innen. Menschen, die jahrelang im Niedriglohnsektor arbeiten, werden im Altersruhestand mit großer Wahrscheinlichkeit in die Altersarmut rutschen. Während der Arbeitsjahre sorgen wir dafür, dass wir im Alter gut versorgt sind. Durch die zunehmende prekäre Arbeit kann diese Rechnung nicht mehr aufgehen. Somit steigen nicht nur die Zahlen, sondern auch die Angst vor dem Fall in die Altersarmut. Menschen können sich zu Millionen ausrechnen, dass ihre schlecht bezahlten Jobs nicht für ihre Rente reichen werden. Doch auch wenn wir die Vergrößerung der Altersarmut durch die Agenda beiseitelassen, kann die Reform trotzdem als mangelhaft für das Rentensystem bewertet werden. Durch das höhere Eintrittsalter und den höheren Eigenanteil hat die Agenda unterm Strich nur negative Folgen für Rentner*innen mit sich gebracht. Zudem ist das Rentenniveau nur leicht bis gar nicht angestiegen, womit die Ziele einer stabilen Rente nicht erfüllt werden konnten. Die Agenda hat es ausdrücklich nicht geschafft, in der angespannten Lage in unserem Rentensystem eine Trendwende zu vollziehen.40

1.4.3 Kritik an der Gesundheitsänderung:

Im Gesundheitssektor sind die Mehrbelastungen für Arbeitnehmer*innen aus sozialer Sicht gestiegen. Wenn diese Belastungen in einem Verhältnis zu erreichten Zielen stehen würden, könnten wir uns über die Sinnhaftigkeit streiten. Das große Ziel, die Krankenversicherung unter 13% zu drücken, ist allerdings fehlgeschlagen. Andere Ziele wurden ebenso nicht erfüllt. Insgesamt bleibt das Fazit über die Auswirkungen im Gesundheitssystem, dass die Maßnahmen der Agenda als Tropfen auf dem heißen Stein zu bezeichnen sind. Da trotzdem enorme Mehrkosten für Arbeitnehmer*innen entstanden sind und diese offensichtlich in keinem Verhältnis stehen, bleibt zu sagen, dass die Agenda 2010 im Gesundheitssektor eindeutig gescheitert ist.41

1.4.4 Kritik zum neuen Existenzminimum:

Die kontroverseste Änderung der Agenda war eindeutig die Einführung des Hartz-4 als neues Existenzminimum. Allein der Grundsatz, die Sätze extra niedrig zu bemessen, um die Menschen zur Arbeit zu motivieren, hat nichts mehr mit dem Sozialstaatskonzept zu tun. Ein Existenzminimum soll dazu da sein, um den Menschen ihre Existenz zu sichern und nicht, um ihnen Angst zu machen, ständig in finanzielle Engpässe zu geraten. In der Praxis sehen wir, dass die Hartz-4-Sätze mit aktuell 449€ viel zu niedrig berechnet sind. Dass die Bedürftigen mit solch einem Existenzminimum aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden, ist die natürliche Folge. Wäre das alles nicht schon genug, kommt ebenfalls hinzu, dass es keinen Sonderbedarf mehr gibt. Die Regel, dass die Bedürftigen einen gewissen Teil des Hartz-4-Betrages sparen sollen, ist nur zum Lachen und nicht zu Ende gedacht. Praktisch gesehen können die Menschen bei Sätzen, die kaum zum Leben reichen, nicht noch was davon sparen. Die Alternative, Darlehen aufzunehmen, ist kein Stück besser. Allein die logische Überlegung, dass die Behörden arbeitslosen Menschen Geld anbieten, welches sie zurückzahlen müssen, kann nur schief gehen. Viele können nur schlecht mit Geld umgehen oder befinden sich so in Notlagen, dass sie diese Darlehen als letzte Rettung sehen. Es ist traurig, dass der Staat mit der Not der Bedürftigen spielt. Außerdem sind einige Bedingungen des ALG 2 zu kritisieren. Allein die Anrechnung von Vermögen und Einkommen auf so einem strengen Niveau ist kritisch. Wenn Menschen in den Niedriglohnsektor vermittelt werden und sie trotzdem noch auf Hartz-4 angewiesen sind, da der Lohn allein nicht ausreicht, entsteht eine Art Kreislauf der Armut:

Wenn ich keine Arbeit habe, dann rutsche ich in Hartz-4. => Das Jobcenter vermittelt mir eine Arbeit. => Die Arbeit wird zu niedrig bezahlt, weshalb ich weiterhin auf Hartz-4 angewiesen bin. => Durch die Anrechnung von Einkommen auf die Hartz-4-Sätze bekomme ich weniger Arbeitslosengeld 2. => Ich habe keine Chance, aus der Armut herauszukommen und merke, dass es sich mehr lohnt, nicht zu arbeiten.

Am Ende sorgt diese strenge Bedarfsprüfung für eine Verstärkung der Armut und die Zerstörung der Struktur der Arbeitsvermittlung. Doch ebenso kritisch ist, dass diese Bedarfsprüfung auf den gesamten Haushalt bezogen wird. Wenn ein Kind Geld verdienen will, wird das ebenfalls abgezogen. Somit ist vorprogrammiert, dass die Kinder der Betroffenen keine Chance haben, dem Teufelskreis dieser Armut zu entkommen. Ein letzter Kritikpunkt ist die Herabsetzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes 1. Problematisch wird, dass viele, die in Not geraten, irgendwie einen Job finden müssen. Die Funktion, den Verlust eines Jobs sinnvoll abzufedern, fällt damit weg. Wenn qualifizierte Menschen anschließend in das ALG 2 fallen, kommen diese völlig unter die Räder. Faktisch gesehen bekämpft das Hartz-4-Konzept die Armut keineswegs, vielmehr verstärkt es sie und ist damit als gescheitert anzusehen.

1.4.5 Das Bild der Hartz-4 Empfänger:

Neben den fragwürdigen Inhalten kommt eine problematische Art des öffentlichen Denkens hinzu. Hierbei ist das öffentliche Bild der Hartz-4 Empfänger*innen gemeint, dass die Macher*innen der Agenda 2010 bewusst in die Köpfe der Öffentlichkeit platziert haben. Faktisch waren die Arbeitslosen an der hohen Arbeitslosenquote nicht schuld. Also war es klar, dass die Arbeitslosen als asoziale und faule Schmarotzer dargestellt werden mussten, um die gesellschaftliche Akzeptanz für diese Maßnahmen erschaffen zu können. Wenn die Politik dauerhaft sagt, dass alle Arbeitslosen nur zu Hause sitzen und sich besaufen, dann kann in der Bevölkerung schnell ein Feindbild aufgebaut werden. Vor allem die damalige Bundesregierung bemühte sich darum, Hartz-4 Empfänger*innen bewusst zu diffamieren. Bundeskanzler Schröder sagte öffentlich Sätze wie: „Es gibt kein Recht auf Faulheit in unserer Gesellschaft”. Ein weiteres Beispiel ist der damalige Bundesarbeitsminister Wolfgang Clement. Dieser bezeichnete Hartz-4 Empfänger*innen öffentlich und mehrfach als „Parasiten“. Das ging so weit, dass selbst im Arbeitsministerium Broschüren mit dem „Parasiten“-Vergleich bestückt waren. Aber nicht nur die Sprache, sondern auch die Maßnahmen der Hartz-Reform waren eindeutig darauf ausgelegt, den Menschen das Gefühl zu vermitteln, dass alle Hartz-4 Empfänger*innen nur faule Säcke seien. Niedrige Sätze sollten den Bezieher*innen klar machen, dass sie sich mehr anstrengen sollen und sich nicht faul auf Kosten des Staates ausruhen können. Harte Sanktionen galten als Erziehungsmaßnahmen, wenn Menschen keine Arbeit annehmen wollten und die Begründung natürlich die Faulheit sein musste. All diese Bestimmungen sorgten dafür, dass sich in der Gesellschaft der Begriff des Hartz-4 oder des Hartzer als negativ und degradierend durchgesetzt hat. Es ist erbärmlich, dass die gesamte Bundespolitik auf Menschen einschlägt, die ohnehin schon am Boden liegen. Die Einstellung führender Köpfe dieser Agenda 2010 lässt zudem gut auf den Inhalt der Reform schließen. Ein Sozialstaat soll helfen, Menschen in schwierigen Situationen abfedern und ihnen ein Partner für einen guten Wiedereinstieg in die Gesellschaft sein. Politiker*innen, die von Arbeitslosen denken, dass sie Schmarotzer sind, werden in ihrer Politik hingegen Gesetze erlassen, die am Ende nichts mit einem sinnvollen Sozialstaat zu tun haben können. Wir sehen heute zu gut, dass die ganze Politik der Agenda 2010 und der Hartz-Gesetze darauf getrimmt war, den Menschen sinnbildlich ins Gesicht zu schlagen.

Diese Agenda-Politik führte somit nicht nur dazu, dass Bezieher*innen vollkommen ausgegrenzt und gesellschaftlich verhöhnt wurden, sondern auch dazu, dass sich eine Angst beim Rest der Gesellschaft breitmachte, bloß nicht selbst in diese Schicht zu fallen. Allein heute haben fast 2/3 der Deutschen Angst vor einem sozialen Abstieg. Schauen wir uns die Einkommensklassen an, dann fällt auf, dass der Wert mit 90% bei Geringverdienenden am höchsten ist. Selbst bei Topverdienenden liegt der Wert bei 38%.42

1.4.6 Hass und Spaltung durch die Agenda:

Ohne Frage sind kulturelle Spannungen, wie beispielsweise die Flüchtlingskrise im Jahr 2015 ausschlaggebend für Spaltung in der Gesellschaft. Doch andere und unscheinbare Dinge verstärken die schwierige Lage innerhalb der Gesellschaft ebenso. Eine Ursache ist die Agenda 2010. Den Grundstein für diese Annahme legt die Kritik des letzten Punktes. Viele Menschen, die in Hartz-4 leben, sähen in ihrer Verzweiflung Hass und versuchen sich irgendwie eine Stimme zu verschaffen. Parteien wie die AfD greifen auf diese Weise viele Menschen ab und nutzen ihren Populismus, um Hass zu schüren und die Spaltung über unsere gesamte Gesellschaft zu legen. Am Ende sorgt das dafür, dass unsere Demokratie und unsere Gesellschaft bedroht werden. Die Agenda 2010 fungiert als Verstärker für den aufstrebenden Rechtspopulismus und - Extremismus. Viele der anderen Bürger*innen reagieren auf das Verhalten der Bedürftigen mit Unverständnis, da sie die Menschen, die Hartz-4 beziehen, als Schmarotzer*innen ansehen. Die Bevölkerung glaubt, vor der Situation zu stehen, dass viele Bedürftige nur faul zu Hause saufen und dann noch rechts wählen und rumheulen. Es sollte uns nicht wundern, wenn diese noch mehr auf die Hartz-4 Empfänger*innen draufhauen. Sind wir an diesem Punkt angelangt, ist die angesprochene Spaltung und der erzeugte Hass zu 100% in unsere Gesellschaft eingedrungen. Natürlich ist die Agenda 2010 nicht vollkommen für ein rechtes Aufstreben und zunehmende Spannungen in der Gesellschaft verantwortlich, dennoch trägt sie einen gewissen Teil dazu bei.

1.4.7 Arbeitslosigkeit und die Agenda:

Das Hauptziel der Agenda lag in der Verringerung der Arbeitslosigkeit. Es mag einige Menschen geben, die behaupten, dass die Agenda sozialpolitische Verschlechterungen für eine gute Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in Kauf nehmen musste. Unabhängig davon, ob diese Position legitim ist, stellt sich die Frage, ob die Erfolge zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit so groß waren, um sie ins Verhältnis zur Dezimierung unseres Sozialstaates setzen zu können. Oberflächlich betrachtet ist die Arbeitslosigkeit seit Umsetzung der Agenda 2010 rückläufig. Der detaillierte Blick zeigt aber, dass sich die Arbeitslosigkeit in den letzten Jahren nur mäßig verbessert hat und diese Verbesserungen nicht maßgeblich mit der Agenda 2010 zusammenhängen.

Die Ausgangslage war, dass Deutschland als wirtschaftlich krank bezeichnet wurde und sich daraus die Frage ergeben hat, was diese schlechte Wirtschaftslage verursacht haben muss. Die damalige Bundesregierung beantwortete diese Frage damit, dass Deutschland auf dem Arbeitsmarkt im Zuge der Globalisierung nicht mehr konkurrenzfähig sei und wir unsere Waren zu teuer anbieten würden. Die Kürzung der Lohnkosten erschien den Macher*innen der Agenda 2010 als eine effektive Lösung. Ebenfalls stellte die Politik die These auf, dass die Deutschen zu wenig arbeiten würden und sich viele Arbeitslose in der sozialen Hängematte ausruhen würden, während die deutsche Wirtschaft vor die Hunde ginge. In Wahrheit sind diese Thesen der Bundesregierung völlig falsch getroffen worden:4344

1. Fehlende Wettbewerbsfähigkeit: Gucken wir uns die Außenhandelsbilanz der Bundesrepublik an, dann kann von fehlender Wettbewerbsfähigkeit keine Rede sein. Deutschland gehörte zu den Exportweltmeistern der Welt und verzeichnete zu Beginn der 2000er-Jahre einen erheblichen Außenhandelsüberschuss.

2. Verkrusteter Arbeitsmarkt und zu hohe Löhne: Zu Beginn der 2000er-Jahre stiegen die Löhne im Vergleich zur Wirtschaftsleistung langsamer als in den Vorjahren. In der entscheidenden Industrie für den deutschen Export sanken die Löhne bereits. Es ist mehr als fraglich, dass ausgerechnet die Löhne, die in Relation ohnehin deutlich unter dem Niveau der Wirtschaftsleistung standen, dafür verantwortlich sein sollten, dass die Wirtschaftsleistung immer schlechter wurde. Die Maßnahme der Politik, Löhne weiter zu senken, kann beim besten Willen nicht das zentrale Instrument zur Bekämpfung einer schlechten Wirtschaftsleistung sein.

3. Zu viele faule Menschen: Nur weil Menschen arbeitslos sind, heißt es nicht, dass sie nicht arbeiten wollen. Durch die schlechte wirtschaftliche Lage wollten viele Unternehmen keine Arbeitsplätze in einem Dauerverhältnis anbieten, da sie ein großes Risiko tragen mussten, dass sich ökonomisch nicht rechnen würde. Dann zu sagen, dass Menschen nicht arbeiten wollen, ist viel zu einfach und faktisch falsch. Auch der Fakt, dass sich viele Menschen nicht unter ihrem Wert verkaufen lassen wollen und den Anspruch auf eine unbefristete Dauerbeschäftigung haben, kann nicht die Ursache dafür sein, dass es Massenarbeitslosigkeit gibt.

Trotzdem muss die Frage beantwortet werden, wovon Deutschland wirtschaftlich so krank geworden ist. Laut Karl Brenke vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung lag der Hauptgrund für die Wirtschaftsflaute in der Geldpolitik der EZB, die ab dem Jahr 1999 begann. Die Zinspolitik sorgte dafür, dass die Zinsen für Deutschland zu hoch waren. Da die EZB allerdings europäisch funktioniert, konnte sie damals nicht auf nationale Einzelinteressen Rücksicht nehmen. Wissenschaftlicher Konsens ist, dass der Arbeitsmarkt/ die Löhne, die Wettbewerbsfähigkeit und die Arbeitsmoral der Bevölkerung zu keinem Zeitpunkt eine zentrale Ursache der Wirtschaftsflaute darstellte. Die Bundesregierung unterlag also einer Fehleinschätzung, auf die sie ihre Agenda-Politik aufbauen ließ.45

Obwohl die Agenda einer Fehleinschätzung unterlag, ist es dennoch dazu gekommen, dass sich die Bundesrepublik wirtschaftlich erholen konnte und wieder zu einem Global Player wurde. Es schließt sich die Frage an, ob trotz des falschen Grundsteines die Agenda in der Lage war, ihren Auftrag zur Herbeiführung von Besserungen gerecht zu werden. Laut der Wirtschaft fiel der Effekt der Agenda höchsten bescheiden aus. Der eigentliche Haupteffekt für einen konjunkturellen Aufstieg lag in der steigenden Nachfrage der Schwellenländer. Mit dem Aufstieg Chinas bot sich für den Exportweltmeister ein neuer Markt von Hunderten Millionen Menschen. Durch die steigende Nachfrage konnten mehr Jobs entstehen, die logischerweise der Arbeitslosigkeit entgegenwirkten. Weiterhin profitierte Deutschland immer stärker von der Einführung des Euros. Denn mit der D-Mark wären Produkte im Ausland viel teurer geworden, was weniger Nachfrage verursacht hätte. Der einzige Punkt der Agenda, der einen größeren Einfluss auf eine wirtschaftliche Besserung hatte, war die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes. Durch die Möglichkeit der Leiharbeit konnten viele Unternehmen mehr Menschen einstellen. Dennoch wird angenommen, dass selbst ohne die Agenda die Leiharbeit zugenommen hätte.46

Aktuell basiert die Agenda 2010 auf falschen Ideen und nicht effektiven wirtschaftlichen Veränderungen. Nun könnte nur noch die Aufgabe der Arbeitslosenbekämpfung die Agenda vor der Überflüssigkeit retten. Leider hat die Sozialstaatsreform hier ebenfalls versagt. Die Macher*innen der Agenda 2010 setzten auf zwei zentrale Mittel zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Dies wären die Leiharbeit und Hartz-4. Mit der Leiharbeit erhofften sich die Macher*innen, dass Menschen schnell in Leiharbeit finden und ein gewisser Klebeeffekt besteht, der dazu führt, dass viele Arbeitnehmer*innen durch die Leiharbeit in eine Dauerbeschäftigung gelangen. Faktisch fand dieser Klebeeffekt nie statt. Mit der Erwerbsarmut in Millionenhöhe, dem größten Niedriglohnsektor Europas und dem Phänomen der „Aufstocker” sei dieser Fakt belegt. Selbst wenn wir argumentieren würden, dass die Leiharbeit mehr Arbeit geschaffen hat, hat sie dennoch zu keiner Zeit den sozialen Zweck der Arbeit erfüllt. Auch der zweite Baustein funktioniert in der Praxis nicht so wie gedacht. So sollte Hartz-4 zur Steigerung der Arbeitsmoral beitragen und weniger Arbeitslosigkeit auslösen. Allerdings ist der bekannte Denkfehler zu erwähnen, dass es in Deutschland nicht an der fehlenden Arbeitsmoral gelegen hat. Der gewünschte Effekt von Hartz-4 und den eingeschlossenen niedrigen Sätzen oder Sanktionen bei der Verweigerung von bestimmten Arbeiten blieb vollkommen aus. Ganz im Gegenteil sorgte Hartz-4 dafür, dass Arbeitnehmer*innen dauerhaft geschwächt wurden.47

Wieder hat der Grundsatz der Agenda im Kern versagt, dennoch bleiben die guten Werte in den Arbeitslosenstatistiken. Wenn wir allerdings genauer auf die Werte eingehen, dann liegt der Rückgang der Arbeitslosenstatistik zahlreicher statistischer Schönung zugrunde. Es fängt damit an, sich zu fragen, welcher Wert der Ausgangspunkt der Agenda 2010 sein sollte. Oft wird das Jahr 2005 (2005=4,9 Millionen Arbeitslose) als Vergleichsbeispiel herangezogen. Doch schauen wir uns das Jahr 2001 (2001=3,9 Millionen Arbeitslose) als Vergleich an, dann könnten durchaus andere Interpretationen vorgenommen werden. Die Frage ist, ob wir uns ein schlechtes oder ein gutes Jahr zum Zeitpunkt der Wirtschaftsflaute anschauen, um es mit der aktuellen Lage zu vergleichen.48 Wenn wir die wirtschaftliche Lage von damals korrekt mit der wirtschaftlichen Lage von heute vergleichen wollen, dann muss die wirtschaftliche Phase gleich gewählt sein: Im Jahr 2016 hat die Wissenschaft diesen Vergleich gewagt. Unter anderem erklärt der langjährige Wirtschaftsweise der Bundesregierung, Peter Bofinger, welche Zahlen verglichen werden müssen. Als er sich im Jahre 2016 diese Frage stellt, war das Jahr 2005 nicht dafür geeignet, um es mit der heutigen Situation zu vergleichen. 2016 befand sich Deutschland in einem sogenannten Boom, also in einem wirtschaftlich guten Jahr. Im Jahr 2005 war die Wirtschaft allerdings in einer überhaupt nicht guten Verfassung. Deshalb ist die wirtschaftliche Phase nicht deckungsgleich und kann daher nicht verglichen werden. Im Jahr 2001 war die wirtschaftliche Lage in Deutschland verhältnismäßig gut, weshalb der Wirtschaftsweise sagt, dass, wenn wir die Situation der Arbeitslosigkeit vergleichen wollen, wir aktuell den Referenzwert des Jahres 2001 nehmen müssten. Nehmen wir den repräsentativ richtigen Wert, dann steht das Jahr 2001 (3,9 Millionen) im Vergleich zum Jahr 2017 (2,5 Millionen). Demnach hat sich die Zahl oberflächlich um nur 1,4 Millionen Menschen anstatt um 2,4 Millionen Menschen verringert. Allein im Westen Deutschlands wird deutlich, was das richtige Vergleichsjahr bedeutet. Wenn wir 2005 als Vergleichsjahr zu heute nehmen, sind allein im Westen 1,27 Millionen Arbeitslose weggefallen. Nehmen wir stattdessen das Jahr 2001, dann sind es nur 340.000 Menschen.

Wenn wir weiter in die Materie einsteigen, dann werden die verbleibenden 1,4 Millionen Arbeitslosen, die seit dem Jahr 2001 zurückgegangen sind, bald nicht mehr von Bestand sein. Dazu sollten wir uns die Situation im Osten Deutschlands anschauen. Hier sind nach der Agenda circa 820.000 Arbeitslose weggefallen. In der Wirklichkeit wurden viele Ostdeutsche durch die Politik, aber in die Rente geschickt. In Arbeit vermittelt wurden hingegen die wenigsten. Das heißt, dass der Rückgang der Arbeitslosen nicht mit der Agenda 2010 zusammenhängt, sondern mit dem statistischen Trick, welcher Arbeitslose massenhaft zu Rentner*innen gemacht hat.49 Auch im Rest Deutschlands ist die Schönung der Arbeitslosenstatistik weiter gang und gäbe. Aus der Arbeitslosenstatistik werden beispielsweise Menschen herausgenommen, die in Maßnahmen des Jobcenters sind, die krank sind und jene, die über 58 sind und Hartz-4 beziehen. Rechnen wir alle Personen zusammen, die in diese Kategorien fallen und eigentlich keine Arbeit besitzen, dann kommen wir auf fast eine Millionen Menschen.50