Ist die AfD zu stoppen? - Charlotte Theile - E-Book

Ist die AfD zu stoppen? E-Book

Charlotte Theile

4,9

Beschreibung

Wie verändert eine starke rechtspopulistische Partei ein Land? Dieser Frage geht Charlotte Theile, Korrespondentin der *Süddeutschen Zeitung,* am Beispiel der Schweiz nach, um von hier aus Schlüsse zur Lage in Deutschland zu ziehen. Basierend auf Gesprächen mit Vertretern aus Politik und Medien – u. a. Christoph Blocher, Roger Köppel, Alexander Gauland, Thilo Sarrazin, Alice Weidel, Armin Laschet – arbeitet sie die Verbindungen zwischen der schweizerischen und der deutschen Rechten heraus. Ob im Positionspapier von Pegida oder im Parteiprogramm der AfD – immer wieder taucht die Schweiz als Vorbild der neuen Rechten in Deutschland auf. Das ist plausibel, schließlich haben sich in der Schweiz schon Anfang der 1990er-Jahre die Euroskeptiker durchgesetzt, Volksinitiativen ließen den Bau von Minaretten verbieten und trieben die Abschiebung »krimineller Ausländer« voran. Die Schweizerische Volkspartei (SVP) ist mit diesem Programm seit mehr als einem Jahrzehnt stärkste Kraft des Landes – und hat es, trotz zum Teil radikal rechter Inhalte, geschafft, Themen wie Tradition und Bürgerlichkeit für sich zu besetzen. Gleichzeitig zeigt das Beispiel Schweiz, welche Strategien gegen die Rechten Erfolg hatten und welche sie stärkten. Nicht zuletzt ist das Buch ein Plädoyer, die direkte Demokratie nicht den Rechten zu überlassen.

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Charlotte Theile

Ist die AfD zu stoppen?

Die Schweiz als Vorbild der neuen Rechten

Der Rotpunktverlag wird vom Bundesamt für Kulturmit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.

© 2017 Rotpunktverlag, Zürich

www.rotpunktverlag.ch

eISBN 978-3-85869-765-3

1. Auflage 2017

Inhalt

1. Wie ist das möglich?

2. Woher kommt die SVP?

3. Exkurs: Die Schweiz und ihr politisches System als Sonderfall

4. Schicksalsfrage Europa

5. Provokation, Empörung, Gewöhnung

6. SVP 2.0

7. Medienmacht

8. Auf der anderen Seite des Volkes

9. Wo steht die Schweiz nach Jahrzehnten SVP?

10. Rechts von der SVP

11. Woher kommt die AfD?

12. Radikalisierung

13. Was fasziniert die Rechten an der Schweiz?

14. Vorbild wider Willen

15. Sicherheitsabstand. Wie steht die SVP zur AfD?

16. Die Verbindung

17. Mehr Demokratie wagen

18. Populisten müssen nicht gewinnen

19. Epilog

Quellen

Die Autorin

1. Wie ist das möglich?

Es war, zumindest aus heutiger Sicht, ein absolut durchschnittlicher Abend im Herbst 2014. Die Schweizerische Volkspartei (SVP) im Kanton Aargau hatte zum Parteitag in die Mehrzweckhalle der Gemeinde Eiken geladen. Vor allem ältere Männer waren zusammengekommen, sie saßen an langen Tischen und wippten zur Blasmusik. Es roch nach geräucherter Wurst, wer wollte, konnte auch Kuchen bekommen. Der Parteivorsitzende sprach über die bevorstehenden Abstimmungen, stellte Gastredner vor und begrüßte die Presse aus dem Ausland. Für mich war es der erste Kontakt mit der SVP, drei Wochen zuvor hatte ich die Stelle als Schweiz-Korrespondentin der Süddeutschen Zeitung in Zürich angetreten. Während der Fotograf unbeeindruckt Würste und Bier ablichtete, versuchte ich, mitzuschreiben, legte aber immer wieder ungläubig den Stift nieder. In meinem Kopf schwirrte in diesem Moment nur eine Frage: Wie ist das möglich? Der Mann auf der Bühne las den anonym verfassten Brief einer Frau vor, sie schrieb von einem »Asylantenheim« in der Nachbarschaft, von ihrer Angst, »ausgerottet« zu werden. Ein Mann forderte mit erstickter Stimme: »Bitte, helft uns!«, in seinem Ort seien hundertdreißig Flüchtlinge untergebracht. Der Saal kochte. Es schien, als wäre jeder hier bereit, eigenhändig beim Abriss dieser Unterkunft mitzuhelfen. Kurz darauf wurde wieder gescherzt und Musik gespielt.

In Deutschland, davon war ich an diesem Abend überzeugt, wäre so etwas nicht möglich. Niemals würden sich derart viele Menschen hinter fremdenfeindlichen Positionen versammeln – und in keinem Fall könnte man diese Parolen an einem Mittwochabend bei Wurst und Kuchen in einer Schulhalle unters Volk bringen. Undenkbar. Wer in Deutschland mit Angst vor Terroristen, vor Genitalverstümmelung, vor Zwangsehen und Blutrache Stimmung gegen Kriegsflüchtlinge machen wollte, müsste das unter Polizeischutz tun. Hier war alles anders. Bei den Wahlen im Herbst 2015 kam die SVP auf knapp 30 Prozent, im Kanton Aargau sogar noch auf deutlich mehr. Das, was ich gerade erlebt hatte, hatte nicht nur ausgesehen wie eine biedere Mittelstandsveranstaltung. Es war Schweizer Normalität.

Einige Wochen später, im Dezember 2014, sprach ganz Deutschland über die Menschen, die jeden Montag als »Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes« (Pegida) in Dresden auf die Straße gingen. Ein ostdeutsches Phänomen, fanden die meisten und rechneten vor, dass die Ausländerquote praktisch nirgendwo so gering sei wie in Sachsen, wo Zehntausende »Spaziergänger«, wie man sie bald spöttisch nannte, nun glaubten, das Abendland vor dem Islam retten zu müssen. Das Positionspapier der Bewegung allerdings war mehr als nur eine Ansammlung von Vorurteilen. Die führenden Köpfe der Bewegung hatten konkrete Vorstellungen davon, wie die deutsche Gesellschaft verändert werden sollte – und nahmen dabei immer wieder Bezug auf die Schweiz. Zuwanderung und Asylbearbeitung sollten in Deutschland nach deren Vorbild geregelt werden, hieß es da – auch die Null-Toleranz-Politik gegenüber straffällig gewordenen Ausländern, die Kritik am »Gender Mainstreaming« und, natürlich, die Einführung von »Bürgerentscheiden« erinnerten an Forderungen der SVP oder an real existierende Politik in der Schweiz. Dreimal wurde das Land explizit genannt. In der schweizerischen Berichterstattung über Pegida kam das so gut wie nie vor. Man machte sich Sorgen um die Radikalisierung des Nachbarlandes. Dass sie etwas mit der Schweiz zu tun haben könnten, glaubte kaum jemand. Da die bürgerlichharmlosen Schweizer, dort die unterprivilegierten Menschen aus dem Dresdner Umland, die Journalisten beschimpften und in krasser Symbolik einen Galgen für die Kanzlerin durch die Stadt trugen. Die Unterschiede scheinen riesig. Für mich blieb diese Frage auch in den Jahren darauf immer zentral: Standen die SVP-Politiker, mit denen ich täglich zu tun hatte, den neuen Rechten in Deutschland nahe oder nicht? Ich war mir nicht sicher. Doch auch in Deutschland erlebte ich bald Veranstaltungen, die mich schockierten. Die Anhänger der AfD und ihre Gegner gingen in zunehmend aggressivem Ton aufeinander los, jeder Werbestand der Partei wurde zur Kampfzone.

Auch beim Parteitag der Alternative für Deutschland (AfD) in Köln im April 2017 hätten sich wohl viele Schweizer irritiert abgewendet. In den vergangenen Jahren haben sich der Ton und die Themen der deutschen Rechtspopulisten so verändert, dass die Reporter vor dem Maritim-Hotel schon düstere Verbindungen ziehen. »Sehen wir eine Wiederholung der Weimarer Zeit?«, wird zum Beispiel ein Politiker der AfD gefragt, der sich durch die Menge der Gegendemonstranten hindurchgekämpft hat und sagt, er sei geschlagen worden. Einige Hundert Meter weiter ruft eine junge Frau ins Mikrofon, man dürfe nicht zulassen, dass Faschisten in Deutschland wieder die Macht übernähmen. Tausende Polizisten müssen den Parteitag der Rechten vor ihren Gegnern schützen. Drinnen filmen die Delegierten der AfD aus sicherer Entfernung die Gegendemo. Für sie sind die Proteste ein Beleg dafür, dass Deutschland im Jahr 2017 keine echte Demokratie mehr sei.

Der Kontrast zu der friedlichen Veranstaltung der SVP in Eiken zweieinhalb Jahre zuvor könnte kaum größer sein. Inhaltlich lassen sich diese Unterschiede nur schwer begründen: Das Wahlprogramm, das die Delegierten der AfD an diesem Wochenende beschließen, unterscheidet sich nicht wesentlich von den Vorstellungen der SVP. AfD-Politiker Marc Jongen, der im März 2017 in einem Zürcher Theater auftreten sollte und erst nach Protesten der deutschen und schweizerischen Kulturszene eine Absage erhielt, glaubt sogar, die AfD könne weniger konsequent rechte Politik machen als die SVP. Ein Minarettverbot etwa, das die Schweizer Rechte vor zehn Jahren anregte und das sich in einer Volksabstimmung klar durchsetzte, könne man in Deutschland nicht etablieren, glaubt Jongen. Probieren wolle man es trotzdem. Und auch wenn bei der AfD trotzig-aggressiv geklatscht wird, sobald das Wort »Deutschland« fällt, und auffällig viele kahl rasierte Männer das Bild im gut bewachten Achtzigerjahre-Bau prägen, ist die bürgerliche SVP hier nie weit. Selbst in der Publikation der »Patriotischen Plattform«, des Rechtsaußenarms der AfD, wird die Schweiz euphorisch besungen.

Die AfD ist zu diesem Zeitpunkt in einer schwierigen Situation. Die Umfragewerte der Partei sind im Frühjahr des Wahljahres 2017 in den einstelligen Bereich gesunken. Doch das Potenzial, das der deutschen Rechten eingeräumt wird, steht dem der SVP in der Schweiz in nichts nach: Knapp 30 Prozent der Deutschen sind nach einer Erhebung der sozialdemokratischen Friedrich-Ebert-Stiftung für die Rückbesinnung auf das Nationale und gegen die Europäische Union.

Die 38-jährige Ökonomin Alice Weidel, die an diesem Wochenende in das Spitzenteam der Partei gewählt wird, betont immer wieder, wie gern sie Deutschland nach Schweizer Vorbild umbauen würde. Die AfD braucht diese Folie im Wahljahr 2017 dringender denn je. Sie will geschlossen, bürgerlich und vernünftig wirken, das spürt man in Köln bei fast jedem Tagesordnungspunkt.

Der Aufstieg der SVP zeigt beispielhaft, wie eine rechte Partei ein politisches System für sich nutzen kann, welchen Einfluss ihre Themen und Strategien auf eine Gesellschaft haben können. In den Nachbarländern können die Erfahrungen mit der Schweizer Rechten als Blick in die Zukunft verstanden werden.

Die AfD bezog sich seit ihrer Gründung 2013 immer wieder auf das Nachbarland. Dass die Euro-Skeptiker damit mehr meinen könnten als nur Volksentscheide und die Nichtmitgliedschaft in der EU, fiel damals noch kaum auf, die neuen Rechten* erschienen nicht wichtig genug. Doch je erfolgreicher ihre politische Vertretung wurde, desto stärker rückte ihr Bezug zur Schweiz in den Fokus. Die SVP musste ein Verhältnis zu den Lobeshymnen aus Deutschland finden. Die Parteispitze kam dabei zunehmend unter Druck. Christoph Blocher, der seit der Abstimmung gegen den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum 1992 die dominierende Figur der Partei ist, bemüht sich, einen möglichst großen Sicherheitsabstand zwischen sich und die zuweilen ungemütlichen Deutschen zu bringen. Dabei sind die Gemeinsamkeiten so erdrückend, dass selbst das bürgerliche Traditionsblatt Neue Zürcher Zeitung schreibt: »Wer hat den Rechtspopulismus erfunden? Die Schweizer!«

Aus deutscher Perspektive kann das beruhigen: Die Demokratie der Schweiz ist intakt, vom Chaos, das etwa die Regierung Trump verbreitet, ist nichts zu spüren. Auch deshalb gelang es in der Recherche für dieses Buch meist problemlos, mit deutschen Rechten in Verbindung zu kommen. Sowohl Politiker der AfD als auch die Vertreter des »Vereins zur Erhaltung der Rechtsstaatlichkeit und bürgerlichen Freiheiten«, der sich als konservativer Thinktank versteht und eine enge Verbindung zwischen deutschen und schweizerischen Rechten markiert, waren bereit, ausführlich Auskunft zu geben. Ganz anders verhielt es sich mit der SVP – deren Stratege Christoph Blocher wollte über die Gemeinsamkeiten so wenig wie möglich sprechen.

Nimmt man die Vorbildfunktion der Schweiz ernst, zeigt sich, wie zentral das Land für die neue Rechte ist: Wer sich zur Schweiz und zu ihrem System bekennt, muss Alleinregierungsfantasien eine Absage erteilen. Das Volk als Souverän hat in der Schweiz die Macht, die Politik der SVP abzulehnen und zu begrenzen, was in den vergangenen Jahren immer wieder passiert ist. Auch die Gegner der SVP haben den Deutschen einige Erfahrungen voraus. Von ihnen lässt sich zum Beispiel lernen, wie sich die direkte Demokratie, eines der Lieblingsanliegen der AfD, gegen die Rechtspopulisten einsetzen lässt.

Die Schweiz als Vorbild. Das klingt positiv-harmlos, birgt aber für die Rechten einige Gefahren: So wie die SVP verzweifelt versucht, sich von den unberechenbaren Deutschen abzugrenzen, so sehr kann diese Parallele auch für die AfD zum Bumerang werden. Wenn sie versucht, die Strategien der SVP zu kopieren, sind ihre Gegner in der komfortablen Situation, das Gegenmittel bereits zu kennen.

*Der Begriff wird hier nicht als trennscharfer wissenschaftlicher Begriff gebraucht, sondern als beschreibende Klammer von rechten Bewegungen, die sich in den vergangenen Jahren etabliert haben. Obwohl es Gemeinsamkeiten mit verschiedenen europäischen Bewegungen gibt, liegt der Fokus auf den für Deutschland wichtigen Strömungen.

2. Woher kommt die SVP?

Polizisten mit Maschinengewehren sind in Zürich ein ungewöhnlicher Anblick. Abgesperrte Straßen, Wasserwerfer und Helikopter erst recht. Doch an diesem Frühlingssonntag im März 2017 bietet die Stadtpolizei alles auf: Wer in den Kongresssaal unweit des Zürichsees möchte, muss mit aufwendigen Taschen- und Personenkontrollen rechnen. Der Anlass drinnen im Saal steht im scharfen Kontrast zu diesen Sicherheitsvorkehrungen – gemütliche Schunkelmusik, langatmige historische Vorträge, Danksagungen, Blumen. Die Schweizerische Volkspartei (SVP) feiert an diesem Tag ihr 100-jähriges Bestehen. Tatsächlich wurde die derzeit erfolgreichste Schweizer Partei im Frühjahr 1971 gegründet. Doch zum Selbstverständnis der Rechtskonservativen gehört eine lange Historie. Dabei sind den Rednern selbst die hundert Jahre, auf die sich die Partei an diesem Tag beruft, zu kurz.

SVP-Politiker Christoph Mörgeli, der an diesem Tag seine mehr als sechshundert Seiten starke Festschrift Bauern, Bürger, Bundesräte bewirbt, setzt mit seinem Vortrag im »ausgehenden 18. Jahrhundert« an. Christoph Blocher spricht gleich von siebenhundert Jahren Schweizer Geschichte, dem Rütlischwur von 1291, einem der Gründungsmythen der Schweiz. Natürlich gehört alles irgendwie zusammen, der Unabhängigkeitskämpfer Wilhelm Tell, der Schwur, die SVP. Ein klassischer Chor singt in allen vier Landessprachen, die Würdenträger der Partei werden von Männern und Frauen in Tracht hereingeführt, auf den roten Krawatten der Sicherheitsleute prangt ein weißes Schweizerkreuz. Der Eindruck, der hier entstehen soll, ist klar: Die SVP ist die Hüterin der Schweiz. Sie sorgt dafür, dass Wurzeln und Geschichte des Landes in Ehren gehalten werden, dafür, dass die Identität der Schweiz bewahrt bleibt. Würden nicht immer wieder bewaffnete Polizisten durch den Raum schlendern, man könnte glauben, man habe es mit einem ziemlich unspektakulären nationalen Feiertag zu tun. Und auch die Anhänger der Partei interessiert die Feier nur mäßig: Fast die Hälfte der Sitze bleiben an diesem Sonntag leer.

Die tatsächliche Geschichte der SVP ist weniger beschaulich: Die Rechtspopulisten haben das Land in den vergangenen Jahrzehnten gewaltig verändert, haben die politische Agenda, das Ansehen der Schweiz in der Welt und das interne Gefüge von tatsächlicher Macht und öffentlicher Meinung neu definiert. Wer heute über die Schweiz spricht, kommt nicht am SVP-Strategen Christoph Blocher vorbei. Mit dem Aufstieg seiner Partei sind auch radikal rechte Positionen mehrheitsfähig geworden, bei Volksabstimmungen haben in den vergangen Jahrzehnten euroskeptische, fremdenfeindliche und isolationistische Vorstöße durchgesetzt. Manches, was noch vor einigen Jahren als unsagbar galt, ist heute Allgemeingut. Und ganz ähnlich wie in Deutschland, wo die Politik noch nach Antworten auf die Rechtspopulisten sucht, haben sich Parteien und Medien auch in der Schweiz schwergetan, eine Antwort auf die SVP zu finden. Doch zunächst einmal schauen wir mit der SVP zurück: ins Jahr 1917, als angeblich alles begann.

Am 4. März 1917 beschließen einige Hundert Delegierte des Landwirtschaftlichen Kantonalvereins Zürich, eine Partei zu gründen, die ihre Interessen auf politischer Ebene vertreten soll. »Zürcher Bauernpartei« war der folgerichtige Name. Bis heute gehört die Vertretung landwirtschaftlicher Interessen zum Markenkern der SVP. Parteihistoriker Christoph Mörgeli schreibt, schon damals sei die dominierende Freisinnig-Demokratische Partei (FDP) »konsterniert« gewesen. Wenn sich die vorsichtigen, abwägenden Bauern politisch engagierten, müssten »die Probleme ernster, tiefliegender Natur« sein. Diese Art der Erzählung ist typisch für die SVP: Bis heute begründen fast alle ihre Vertreter ihr politisches Engagement mit der desaströsen politischen Lage, die ihnen keine Ruhe und schlussendlich keinen anderen Ausweg gelassen habe, als selbst aktiv zu werden. Dass es den Bauern 1917 um ganz normale Interessenvertretung ging, wie sie Apotheker, Anwälte und Beamte auch betreiben, gilt in der SVP fast als Beleidigung – würde sie das doch zu einer Partei wie jede andere machen, dem Mythos von der Verkörperung des Volkswillens entgegenstehen.

1937 schlossen sich die Zürcher Bauern mit anderen lokalen Kleinparteien zusammen. Es ging jetzt nicht mehr nur um die Landwirtschaft, sondern auch um Gewerbelobbying und eine Gegenposition zum Sozialismus. Auf der Website der SVP werden insbesondere die »antimilitaristischen und internationalistischen Tendenzen« als entscheidend für die Gründung der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB) genannt. Die BGB war nicht länger regional beschränkt, sondern wollte ihre Interessen in der ganzen Schweiz vertreten. Da ihre Wurzeln aber vor allem in der Deutschschweiz liegen, war von Beginn an klar, auf welche Bauern und Bürger sich die Vertretung konzentrierte. In der französischsprachigen Westschweiz hat die SVP bis heute große Schwierigkeiten, Wähler an sich zu binden – sowohl in Wahlen als auch bei Volksabstimmungen konnte sie hier nie an den Erfolg anschließen, den sie in den ländlichen Gebieten der Deutschschweiz hat.

1971 schloss sich die BGB erneut zusammen, dieses Mal mit kleinen Parteien aus Graubünden und dem Kanton Glarus. Man wollte der »Zersplitterung« des politischen Spektrums entgegenwirken und gab sich einen Namen, der vor allem nach grotesker Selbstüberschätzung klang: Schweizerische Volkspartei.

Die Volkspartei kam bei den Nationalratswahlen im Herbst auf 11 Prozent der Stimmen und stellte einen Bundesrat, also ein Mitglied im Schweizer Regierungskabinett. Für die meisten Schweizer blieb sie auch mit dem neuen Namen eine Bauern- und Gewerbelobby. Bieder, ländlich, ungefährlich. Man experimentierte mit neuen Themenfeldern: Ökologie, langsames Wachstum, Öffnung in gesellschaftlichen Fragen – ganz normale Themen, die in diesen Jahren die Schweizer bewegten und die bei einer naturverbundenen Bauernpartei nahelagen.

1991, ganze zwanzig Jahre nach Gründung, erreichte die Partei, die immer noch viele Wähler mit dem Namen BGB in Verbindung brachten, bei den Nationalratswahlen 11,9 Prozent. In den Jahren darauf sollte sie zu einer der stärksten Parteien des Landes werden. Dieser Aufstieg war, wie bei rechten Bewegungen üblich, vor allem mit einer Person verknüpft.

Christoph Blocher, 1940 als siebtes von elf Kindern in einer Pfarrfamilie an der Grenze zu Deutschland geboren, übernahm 1977 das Präsidium der SVP Zürich. Zuvor war Blocher als Student an der Universität Zürich politisch aktiv gewesen, hatte dort gegen die Studentenproteste der in der Schweiz eher unauffälligen 68er-Bewegung mobil gemacht. Nicht nur Kindheit und Jugend in einem wertkonservativen Pfarrhaus hatten den jungen Christoph Blocher geprägt, sondern auch eine Lehre in der Landwirtschaft, die er im Alter von fünfzehn Jahren antrat. In der einzigen autorisierten Biografie, die Blocher im Jahr 2008 von Markus Somm, dem heutigen Chefredakteur der Basler Zeitung, verfassen ließ, wird der junge Blocher als »ein Unzeitgemäßer« charakterisiert. Als einer, der gelernt hat, anzupacken, einer, der »Moderne und Tradition wie wenige aus seinem Milieu gleichzeitig erlebt hat«.

Später studiert der gelernte Landwirt Jura, wird zum Oberst der Schweizer Armee; schließlich übernimmt er mit der Ems-Chemie ein Unternehmen im Kanton Graubünden, in dem er zuvor als Manager gearbeitet hat. Eine Vielzahl angesehener Berufe und Milieus, die Blocher später für ganz unterschiedliche Menschen zur Identifikationsfigur machen wird. So versteht es zumindest der Biograf. Seine Schrift mit dem Titel Der konservative Revolutionär ist sorgfältig recherchiert und – obgleich Somm heute als Chefredakteur der Basler Zeitung Blochers politische Überzeugungen vertritt – nicht unkritisch. Auf mehr als fünfhundert Seiten zeigt Somm, bei Erscheinen des Buchs Anfang 2009 noch Politikchef des rechtskonservativen Magazins Weltwoche, auch die harten und machtbewussten Seiten Blochers auf.

Er beschreibt, wie Blocher die SVP nach seinem Willen und seinen Werten geformt, sie auf eine Geschichte und einen Mythos eingeschworen hat. Doch zu Blochers Strategie gehört es nicht nur, sich zum Kern einer Sache vorzuarbeiten und aus ihm heraus eine Erzählung zu stricken. Mindestens ebenso wichtig ist sein Geschick im Umgang mit internen Gegnern und bürokratischen Hürden. Markus Somm kennt Dutzende Episoden, in denen Blocher zum genau richtigen Zeitpunkt eine Änderung der Tagesordnung verlangte, eine Abstimmung vorzog, weil er ahnte, dass er diese nur mit den jetzt gerade Anwesenden gewinnen könnte, oder alles auf eine Karte setzte und mit sofortigem Rücktritt drohte. Wichtige Entscheidungen traf Blocher meist in kleinen, straff organisierten Gruppen, die er mit möglichst langweiligen bürokratischen Namen tarnte. Statt Präsidium oder Strategieabteilung hießen diese dann »Arbeitsausschuss« und tauchten im Organigramm nur beiläufig auf. Der Schluss jeder Anekdote ist bei Markus Somm jedoch derselbe: Blocher hat die Situation richtig eingeschätzt, richtig gehandelt, schier übernatürlichen Instinkt bewiesen. Jede andere Schlussfolgerung wäre Majestätsbeleidigung. Dennoch beschreibt Der konservative Revolutionär anschaulich, mit welchen Mitteln es Christoph Blocher gelungen ist, zunächst die SVP Zürich, dann die gesamte Partei und später zeitweise das ganze Land zu dominieren.

Doch Blocher ist nicht der Erste, der in der Schweiz mit rechtspopulistischer Politik Erfolg hat. Die erste Initiative in diese Richtung ging von einem anderen Mann aus: James Schwarzenbach. Der Sohn eines Industriellen aus dem Kanton Zürich und Nationalrat der rechtsradikalen Nationalen Aktion wollte im Jahr 1970 gegen die »Überfremdung« der Schweiz vorgehen. Sein Vorschlag: In jedem Kanton sollte eine Ausländer-Obergrenze von 10 Prozent gelten. Schwarzenbach entfachte mit dieser Initiative eine Diskussion, die niemand für möglich gehalten hatte. Als Einzelkämpfer, der im Parlament keinen einzigen Abgeordneten zu überzeugen vermochte, gelang es ihm, die nötigen Unterschriften zu sammeln und eine Volksabstimmung herbeizuführen, die das Land spaltete.

46 Prozent der Schweizer stimmten am 7. Juni 1970 für seinen Vorstoß, die Nachwirkungen der vergifteten Debatte waren noch Jahre später zu spüren. Heute erinnert man sich an die Schwarzenbach-Initiative als erste rechtspopulistische Abstimmung der Schweiz. Damals fragten sich viele, wie es einem Nationalrat quasi im Alleingang, gegen eine geschlossene Front von Parteien und Wirtschaft, möglich geworden war, fast die Hälfte der Schweizer Männer hinter sich zu versammeln. Die Abstimmung fand einige Monate vor der Einführung des Frauenstimmrechts statt.

Schlummerte in der Schweiz mehr Rassismus als viele wahrhaben wollten? Woher kam die Angst vor »Überfremdung«?

Blocher sagte später über James Schwarzenbach, er sehe bei sich durchaus gewisse Gemeinsamkeiten mit dem damaligen Medienstar und Einzelkämpfer. Doch in einer Dokumentation des Schweizer Fernsehens (»Gegen das Fremde – der lange Schatten des James Schwarzenbach«) aus dem Jahr 2014 betont er auch die Unterschiede: »Schwarzenbach konnte nie eine politische Bewegung zustandebringen. Er war mehr eine einzelne Figur, die nicht führen konnte.« Blocher dagegen konnte führen. Und er suchte sich für seine politische Vision eine Partei aus, die bereits eine gewisse Basis und einen dafür perfekten Namen hatte: Schweizerische Volkspartei.

Für den Biografen Markus Somm ist diese geschichtliche Einbettung der SVP entscheidend für den Aufstieg Blochers: »Eine Partei zu begründen ist immer schwierig. Gerade in der Schweiz sind die meisten Wähler dem Status Quo verpflichtet. Wer, wie die SVP, eine jahrzehntelange Geschichte vorweisen kann, muss nicht mit den Problemen kämpfen, die neuen Parteien begegnen. Er wird viel weniger als feindliches oder destabilisierendes Element wahrgenommen.«

Christoph Blocher, der Anfang der 1970er-Jahre nicht mehr Landwirt, sondern Manager und Familienvater war, näherte sich der Politik nur langsam. Als er 1969 in seiner Gemeinde Meilen am Zürichsee begann, Politik zu machen, ging es ihm zunächst nur um Themen, die vor seiner Haustür stattfanden. Parteipolitisch war Blocher nicht gebunden. Was auffiel, war die Leidenschaft, mit der der studierte Jurist Politik betrieb. Obgleich es zu Beginn nur um die Umnutzung einer landwirtschaftlichen Fläche für die Ansiedlung einer Firma ging, kämpfte Blocher dagegen, als hinge der Fortbestand der Gemeinde davon ab. So beschreibt es zumindest der Biograf. Und wer Blocher heute bei seinen Reden und Wahlkämpfen beobachtet, zweifelt kaum daran, dass diese Einschätzung zutrifft. Blocher gewann die Abstimmung. In den Jahren darauf wurde er zum prägenden Kopf der SVP im Kanton Zürich.

Blocher verordnete der Partei ein radikales Rückbesinnungsprogramm. Man müsse sich wieder »vermehrt mit dem Gedankengut« beschäftigen, das irgendwo schlummernd in der SVP vergraben sei, zitiert Somm aus Blochers Rede, mit der dieser 1977 das Präsidium der Zürcher SVP übernahm. Tatsächlich suchte sich Blocher aus dem Werdegang der Partei die Elemente zusammen, die ihm brauchbar schienen, und formte daraus einen Wertekanon, der sich bis heute nicht entscheidend verändert hat. Was ihm nicht ins Konzept passte, wurde gestrichen, etwa die Umweltpolitik. Landwirtschaft und Militär haben noch immer einen hohen Stellenwert für die SVP, sind jedoch im Laufe der Jahre etwas in den Hintergrund getreten. Die Ablehnung gegenüber dem Staat, die Betonung eines Gegensatzes zwischen Volk und Elite und ein starker Widerwille gegen Zeitgeist und Modernität bestimmen diesen Wertekanon ebenso wie die Verehrung des Unternehmers, der sich als selbstbestimmtes Subjekt im freien Markt behauptet. Diese kapitalistisch-liberale Haltung war Ende der 1970er-Jahre eher neu für die SVP. Dass Blocher heute als »Donald Trump der Schweiz« bezeichnet wird, lässt sich mit Blick auf diese Grundwerte gut nachvollziehen.

Für die Mitte, in die es Politiker in der Regel zieht, konnte Blocher wenig begeistern; er hielt sie für beliebig und gefährlich. Hierin zeigte sich seine unternehmerische Prägung: Wer auf dem freien Markt erfolgreich sein will, tut gut daran, den Markenkern zu schärfen und Felder zu besetzen, auf denen wenig Konkurrenz zu erwarten ist. Wenn man so will, erkannte Blocher früh eine politische Marktlücke. Je mehr die konservativen Parteien versuchten, mit der Zeit zu gehen und neue Inhalte wie Gleichberechtigung oder Umweltschutz in ihr politisches Programm zu integrieren, desto mehr Platz blieb rechts von ihnen. Blocher machte sich diese Lücken konsequent zunutze. In den 1980er-Jahren kämpfte er gegen eine Reform des Eherechts, das die Gleichheit von Mann und Frau vorsah, er verteidigte die Apartheid in Südafrika und setzte sich gegen einen Beitritt der Schweiz zur UNO ein. Manchmal gewann er, manchmal erzielte er nur Achtungserfolge. In jedem Fall steckte er seine politischen Positionen ab.

Entscheidend dabei ist, wie Blocher dieses Feld bewirtschaftete. So konnte er beispielsweise 1985, als es um das Eherecht ging, annehmen, dass viele Schweizer der Meinung waren, die Frau gehöre an den Herd. All jenen bot er sich als Fürsprecher an – ohne ihre Position explizit zu vertreten. Denn dass es ihm auch schaden könnte, sich allzu klar gegen die Gleichberechtigung der halben Wählerschaft auszusprechen, war offensichtlich. Seine Vorbehalte gegen das Eherecht waren daher offiziell nicht durch eine konservative Weltanschauung, sondern durch Skepsis gegenüber der Einmischung von oben begründet: Der Richter habe im Ehebett nichts verloren, die Menschen wüssten selbst am besten, wie sie ihre Ehen zu führen hätten, argumentierte Blocher.

Im Kanton Zürich rückte die SVP nach Blochers Machtübernahme im Jahr 1977 immer weiter nach rechts – was schon bald immer deutlicher der gesellschaftlichen Entwicklung entgegenstand. Man positionierte sich als Gegenprogramm zum Zeitgeist der linken und ökologischen Bürgerbewegungen, forderte den Staat und seine Beamten heraus. Die Plakate wurden provokativer, die Kampaganen aufwendiger. Wenn Blocher wollte, schickte er jedem Haushalt im Kanton ein Flugblatt mit seiner letzten Rede, finanziert mit seinem privaten Geld. Zudem schulte die Partei ihre Kader in Rhetorikseminaren und lud die einfachen Mitglieder zu Bauernfrühstück und Marschmusik ein. In Anlehnung an den politischen Aschermittwoch der bayrischen CSU kreierte Blocher eine Zusammenkunft, die die Parteimitglieder zu Beginn eines jeden Jahres auf die gemeinsamen Ziele einschwören und das Zusammengehörigkeitsgefühl stärken sollte, die sogenannte Albisgüetli Tagung. 1988 fand diese Versammlung zum ersten Mal statt, sie ist bis heute ein fixer Termin in der Parteiagenda. Zu Beginn eines jeden Jahres schwört Blocher seine Anhänger auf die großen Themen ein, nicht selten folgt sogar der amtierende Bundespräsident der Einladung der SVP. Mehr als tausend Menschen kommen bei Bier und gutbürgerlicher Küche zusammen. Dazu Reden, die mitreißen sollen, und immer wieder Volksmusik.

Zudem entstand 1986 aus dem – damals erfolgreichen – Abstimmungskampf gegen einen UNO-Beitritt der Schweiz der Verein »Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz«, kurz AUNS. Dieser Verein wurde für Blocher zu einem weiteren Hebel der Macht: Konnte er sich mit einer Position in der Partei nicht durchsetzen, konnte sich immer noch die AUNS dafür starkmachen. An Konkordanz und Kompromiss war diese, anders als die SVP, nie gebunden.

In den 1970er- und 1980er-Jahren begründete Blocher in der Zürcher SVP nach und nach eine Reihe von Traditionen und Erzählungen und schuf damit ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl. Zudem scharte er stramm organisierte Gruppen um sich, die in der Lage waren, mit pointierten Plakaten und kontroversen Positionen im ganzen Land für Aufmerksamkeit zu sorgen. Auf nationaler Ebene wurden die Zürcher SVP und ihr Präsident zunehmend beachtet. Von politischer Bedeutung war sie in Bern allerdings nicht. Das änderte sich Anfang der 1990er-Jahre, als die Schweiz über die Bedingungen einer Teilhabe am europäischen Integrationsprozess verhandelte.

3. Exkurs: Die Schweiz und ihr politisches System als Sonderfall

Wer aus Deutschland auf die Schweiz blickt, sieht zunächst einmal ein Land, in dem vieles vertraut wirkt. Der Müll wird pünktlich abgeholt, die Nachbarn achten genau darauf, wer wann den Waschkeller benutzt. An den Stammtischen wird Bier getrunken und über Politik diskutiert – und bei wirklich jeder Gelegenheit Wurst gegrillt. Dass es im politischen System Unterschiede gibt, weiß man, die Schweizer Volksabstimmungen sind berühmt, doch davon abgesehen, bleibt das Land vielen ein Rätsel. Dass die SVP seit den Nationalratswahlen im Herbst 2003 die stärkste Partei des Landes ist, erstaunt viele, assoziiert man doch damit Regierungsverantwortung, wenn nicht ein »Durchregieren« der stärksten Partei. Beziehungsweise: Tut die SVP das in der Schweiz nicht seit Jahren? Man erinnert sich an die Minarett-Initiative, die schnelle Abschiebung von »kriminellen Ausländern«, das Nein zum Europäischen Wirtschaftsraum? Wie kommen solche Entscheidungen zustande? Und wer regiert eigentlich die Schweiz, wenn es nicht die SVP ist? Um zu verstehen, warum die Strategie, die Blochers SVP spätestens seit den 1990er-Jahren fuhr, derart folgenreich für das politische System der Schweiz war, muss man einige seiner Besonderheiten kennen.

Tatsächlich steht die Stärke einer Partei in der Schweiz nur in einem mittelbaren Verhältnis zur Regierungsverantwortung. Obgleich die SVP bei den Nationalratswahlen im Herbst 2015 fast 30 Prozent der Stimmen bekam und damit mehr als 10 Prozent Abstand zwischen sich und die zweitplatzierten Sozialdemokraten bringen konnte, stellt sie in der Regierung im Jahr 2017 nur zwei von sieben Bundesräten, wie in der Schweiz die Regierungsmitglieder heißen. Diese müssen sich mit konservativen, liberalen und sozialdemokratischen Politikern auf eine Linie einigen, Gesetze und Strategien gemeinsam vertreten. Anders als in Deutschland, wo die Menschen alle vier Jahre einen Bundestag wählen und die Partei, die die meisten Stimmen erhalten hat, den Auftrag erhält, eine Regierung zu bilden, stellen in der Schweiz immer dieselben Parteien die Regierung. Das Parteienverhältnis der sieben Minister wurde mehr als vierzig Jahre lang nach der sogenannten Zauberformel bestimmt, die SVP als kleinste der großen Parteien stellte darin einen Minister, die Sozialdemokraten der SP, die Wertkonservativen der CVP und die Wirtschaftliberalen der FDP je zwei. Auch der Aufstieg der SVP änderte daran jahrelang nichts. Erst 2003 – die Rechtskonservativen waren damals bereits die stärkste Partei des Landes – gestanden die anderen Parteien in Bern der SVP einen zweiten Ministerposten zu, auf Kosten der CVP, die bei den Nationalratswahlen in den Jahren zuvor stets Wählerstimmen verloren hatte.

In anderen Ländern wäre diese Veränderung – ein Ministeramt wandert von den Konservativen zu den Nationalkonservativen – keine große Nachricht. In der Schweiz dagegen drückt diese Verschiebung eine der größten politischen Veränderungen in ihrer Geschichte aus.