Istanbul – ein Tag und eine Nacht - Christiane Schlötzer - E-Book

Istanbul – ein Tag und eine Nacht E-Book

Christiane Schlötzer

0,0

Beschreibung

Erdoğan hin, Erdoğan her – Istanbul leuchtet. Das zeigen die Begegnungen und Gespräche, mit denen die langjährige ­Korrespondentin der Süddeutschen Zeitung, ihr Porträt der ur­alten Weltstadt zeichnet: von der Gezi-Park-­Aktivistin bis zum Gourmetkoch, von der Frau eines Imams bis zum Arzt mit Deutschland-Sehnsucht, von den bunten Vögeln der Nacht bis zu den Nachfahren von Griechen, Juden und Armeniern, die hier noch leben. Anhand der Menschen in dieser moderne Megacity ­erzählt Christiane Schlötzer von den Spaltungen der türkischen Gesellschaft, aber auch von Mut, ­Widerstandskraft und Kreativität, aus ­denen die Stadt am Bosporus ihre Lebendigkeit schöpft.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 305

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Christiane Schlötzer

Istanbul – ein Tag und eine Nacht

Ein Porträt der Stadt in 24 Begegnungen

Für Egon Scotland,der mich nach Istanbul entführte

Dank

Ich danke dem Istanbuler Buchautor und Kolumnisten Selçuk Caydı für seine zahllosen Anregungen, Ideen und Gespräche in mehr als zehn Jahren Zusammenarbeit als Korrespondentin für die Süddeutsche Zeitung und den Zürcher Tages-Anzeiger in der Türkei. Das gilt auch für dieses Buch.

Der Kulturakademie Tarabya in Istanbul und ihrem kreativen Team danke ich für finanzielle und ideelle Unterstützung bei den Recherchen für dieses Buch im Winter 2020/21.

Meinen Freundinnen und Freunden in Istanbul danke ich dafür, dass sie meinen Wunsch, immer wieder in ihre Stadt zurückzukehren, lebendig halten.

Der Morgen – Sabah

Im Kopf den Rausch vergangener Feste.

Eine Strandvilla mit halbdunklen Bootshäusern,

Das Sausen der Südwinde legt sich.

Ich höre Istanbul, meine Augen geschlossen …

Orhan Veli (1914–1950)

Vorwort

6 Uhr

Erwachen

Satu Önder – Die Frau des Imams

7 Uhr

Treffpunkt Taksim

Unterwegs zu Osman Kavala, dem Mäzen hinter Gittern

8 Uhr

Saubermachen

Wer macht den Dreck weg? –İlker Aslan, der Bosporus-Reiniger

9 Uhr

Treppensteigen

Siebter Stock ohne Aufzug – Der Architekt Erdoğan Altındiş spricht über Aufgänge und Abstürze

10 Uhr

Der Macht so nah

Cuneyd Zapsu – Der Türöffner, nicht nur für Recep Tayyip Erdoğan

11 Uhr

Dazugehören

Ethel Rizo: Jüdin, Griechin, Türkin – eine frühe Mahnung, die Geschichte der Stadt nicht zu vergessen

Mittags – Öğleyin

Lasst uns die Erde den Kindern übergeben,

wie einen riesigen Apfel, wie ein Brot, frisch aus dem Ofen,

damit sie wenigstens einen Tag lang satt werden.

Nazım Hikmet (1902–1963)

12 Uhr

In der Küche

Der Koch Cem Ekşi und die Suche nach den Ursprüngen des Geschmacks

13 Uhr

Pause im Gerichtssaal

Der Anwalt Murat Deha Boduroğlu im Labyrinth der Justiz

14 Uhr

Fluchtgedanken beim Kaffee

Der Arzt Sinan will das Land verlassen

15 Uhr

Die Türkei auf der Couch

Besuch bei dem Psychotherapeuten Zaza Yurtsever

16 Uhr

High Tea im Pera Palace

Wann hätten sie gern gelebt, Herr Aktin? – In der Belle Époque!

17 Uhr

Da war doch was?

Tatlı, eine Gezi-Aktivistin erinnert sich

Der Abend – Akşam

Irgendwann aufwachen in der Nacht

Und der Dunkelheit lauschen!

Das geschieht aus Liebe

Eintauchen ins Flimmern der Sterne

Wenn die Lieder das Herz brechen?

Das geschieht aus Liebe …

Sennur Sezer (1943–2015)

18 Uhr

Ganz frei

Die Kurdin Helin erzählt, wie die Literatur sie rettete

19 Uhr

Abendschule im Hinterhof

Wo der Unternehmer Alper Kanca sich jede Woche reinwäscht

20 Uhr

Vernissage

Der Galerist Moiz Zilberman spricht über die Liebe zur Kunst der Gegenwart

21 Uhr

Einmal in Istanbul leben

Ein deutsch-türkisches Lehrerpaar weiß, wie sich dieser Traum anfühlt

22 Uhr

Bollywood war auch schon da

Wo türkische TV-Serien entstehen und Buse Yıldırım nicht nur Filmgeschichte bewahrt

23 Uhr

Kein richtiges Leben im falschen

Erst Mädchen, jetzt Mann – Vom Mut, sich selbst zu finden

Mitternacht – Gece yarısı

Der Teufel sagt: »Mach das Fenster auf,

Schrei, schrei, schrei bis zum Morgen.«

Orhan Veli (1914–1950)

24 Uhr

Einen Putsch verschlafen

Die Politikprofessorin Nermin Abadan-Unat war oft die Erste, die etwas wagte, nun ist sie mit hundert Jahren oft die Letzte, die sich noch erinnert

1 Uhr

Nachtgedanken

Banu Cennetoğlu – eine Künstlerin und ihre Geister

2 Uhr

Hausarrest

Der Journalist Şahin Alpay kann nicht schlafen

3 Uhr

Die im Dunklen sieht man doch

Hüseyin Fevzi Marangoz und das Leben der Paradiesvögel

4 Uhr

Mond hinter Gittern

Der Schriftsteller Ahmet Altan berichtet aus einer Gefängniszelle

5 Uhr

Die dunkelste Stunde ist die vor Sonnenaufgang

Wie ich den Dichter und Emigranten Konstantinos Kavafis in Istanbul suchte – und eine junge geflüchtete Ägypterin fand

Literaturhinweise

Vorwort

Dies ist ein Stundenbuch. Es erzählt von einem fiktiven Tag in Istanbul, in Begegnungen mit Menschen, die mir ihre Lebensgeschichten anvertraut haben. Sie sind Teil einer großen zeitgenössischen Geschichtserzählung – ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Die Vielfalt erinnert an die Farben eines türkischen Kelims, in den viele Muster eingewebt sind. Einige Geschichten verlangen nach dem Schutz der Nacht, andere nach der Helligkeit eines sonnendurchfluteten Morgens am Bosporus.

Istanbul ist die Mitte der Türkei und liegt doch an ihrem Rand. Die Stadt ist so alt, dass sie ihr eigenes Alter vergessen hat, und sie wird jeden Tag neu erfunden. Sie betört den Neuankommenden mit ihrer Grandezza, von »betäubenden Eindrücken« schwärmte der italienische Reisende Edmondo De Amicis im 19. Jahrhundert. Die Hymnen auf die Stadt mit den vielen Namen – Byzanz, Neues Rom, Konstantiniyye, Stambul, Konstantinopel, Istanbul – sind bis heute nicht verstummt. Wer aber länger bleibt, der ahnt bald, welchen Preis ihre Bürgerinnen und Bürger im 21. Jahrhundert dafür zu zahlen haben, in einer modernen Megalopolis zu leben. In Trabantenstädten, von denen es bis zur Hagia Sophia und zur Galatabrücke eine Halbtagsreise ist. Die türkische Gesellschaft ist von scharfkantigen Gegensätzen geprägt, und dies nicht erst, seit Recep Tayyip Erdoğan Anfang der 2000er Jahre eine »neue Türkei« erfand. Eine meiner Erzählerinnen kann dies bezeugen, sie ist älter als die Türkische Republik, die am 29. Oktober 1923 gegründet wurde.

Bevor sie und all die anderen das Wort haben, möchte ich von meiner ersten Begegnung mit Istanbul erzählen. Sie liegt einige Zeit zurück. Ich wusste damals wenig über die Stadt, und ich ahnte nicht, dass ich nach dieser Reise immer wiederkommen würde.

Ich nahm ein Schiff. Es fuhr zu den Prinzeninseln. In den Klöstern dort, hatte ich gehört, waren einst byzantinische Prinzessinnen und Prinzen eingekerkert, viel mehr wusste ich nicht. Es war November, Nebel lag auf dem Wasser. Der Nebel ist in Istanbul ein mächtiger Zauberer. Mein Begleiter sprach Türkisch, er hatte mich zu dieser Reise überredet. Er hatte in der Türkei studiert und fand, wenn ich ihn besser kennenlernen wolle, müsste ich nach Istanbul fahren. Trotz der Kälte wollte er auf dem Schiffsdeck bleiben. Das war ein Glück.

Noch vor dem Ablegen in Eminönü sprach uns ein fremder Mann an. Anfang der 1980er Jahre, kurz nach einem Militärputsch, waren Ausländer ein ungewöhnlicher Anblick auf einem der alten Linienschiffe, die den Bosporus und das Marmarameer befahren. Der Mann, der uns nach dem Woher und Wohin fragte, trug eine blaue Uniform, es war der Kapitän. Er lud uns auf seine Kommandobrücke ein. So standen wir bei der Ausfahrt aus dem Bosporus neben dem großen Steuerrad des Schiffs und schwebten auf Augenhöhe vorbei an der filigranen Silhouette des Serails, an spitzen Minaretten und der bleigrauen Kuppel der Hagia Sophia, über die der Nebel seinen Gazeschleier zog. Eine magische Kulisse, wie gebaut für den Anblick vom Wasser.

Nun wäre dies schon zauberhaft genug gewesen, um sich in diese Stadt auf ewig zu verlieben. Aber dann entschuldigte sich der Kapitän, sagte, er wolle sich für einen Moment zurückziehen. Er übergab das Steuer dem Ersten Offizier und holte aus einer Aktentasche einen Gebetsteppich heraus, schmal wie ein halbes Handtuch. Er trat zur Seite und kniete nieder für sein Mittagsgebet. Nach ein paar Minuten stand er wieder neben uns, setzte die Kapitänsmütze auf und übernahm mit einem Kopfnicken zum Ersten Offizier die Führung des Schiffs. Es war die Selbstverständlichkeit, mit der dieser Mann agierte, ohne Scheu vor zwei Fremden, die mir unvergesslich blieb. Er ließ uns an seinem Alltag teilhaben und kam nicht auf die Idee, dass wir daran Anstoß nehmen könnten. Er war nun mal ein religiöser Mann.

Der Kapitän war in der zweiten Hälfte seines Lebens, und ich nehme einmal an, sollte er das Jahr 2002 erlebt haben, hat er wahrscheinlich Recep Tayyip Erdoğans konservativ-islamische AK-Partei gewählt. Diese kandidierte damals zum ersten Mal für das Parlament. Erdoğan hatte versprochen, sich um die kleinen Leute zu kümmern, zu denen auch ein städtischer Angestellter auf einem Bosporus-Schiff gehörte. Er sagte zudem, er wolle den religiösen Türken die gleichen Rechte verschaffen, wie sie die säkularen schon lange hätten, von denen viele auf ihre frommen Landsleute eher herabblickten. Unser Kapitän hatte schon drei Militärputsche erlebt: 1960, 1971 und 1980. Das hätte ihn gewiss ebenfalls motiviert, für die AKP zu stimmen, setzte die sich doch zum Ziel, die politischen Einmischungen der Generäle in die türkische Politik ein für alle Mal zu beenden.

Unvergessen ist mir, wie trist die Stadt in der Nach-Putsch-Zeit der 1980er Jahre bei meiner ersten Begegnung war. Es gab kaum Tische vor den Lokalen. Alles wirkte grau, und in der Luft lag der beißende Geruch billiger, einfacher Braunkohle. Die Angst vor einem falschen Wort, vor Militär und Polizei, war allgegenwärtig. Jeder wusste von Verhaftungen, von Folter.

Wie schon häufiger in der türkischen Geschichte folgte auf eine bleierne Zeit ein neuer Aufbruch. Die Generäle gaben die Macht wieder ab, wirtschaftlich öffnete sich das Land. Vorher aber verhalf ausgerechnet das Militär dem politischen Islam noch zu einem soliden Fundament. Die Generäle schrieben eine neue Verfassung, und sie machten Religion zum Pflichtfach an den Schulen. Eine denkwürdige Intervention.

Republikgründer Kemal Atatürk hatte der Türkei 1923 ein strenges säkulares Korsett verpasst. Es war lange so streng, dass Frauen mit Kopftuch kein staatliches Krankenhaus, kein Gericht und keine Universität betreten durften. Offiziere wurden unehrenhaft entlassen, wenn herauskam, dass ihre Gattin Tuch trug. Die Generäle wollten das alles gar nicht ändern, als sie der Religion neues Gewicht gaben. Nur erschien ihnen ein gläubiges Volk einfach weniger gefährlich als eines, das für linke Ideen anfällig ist. Die Kommunistenangst übernahmen sie vom Westen, es herrschte Kalter Krieg, das Land war ein Frontstaat gegen die Sowjetunion. Die Türkei war selten frei von äußeren Einflüssen, auch wenn sie gern ihre Souveränität betont.

Ich habe Istanbul nach meiner ersten Reise immer wieder besucht. 2001 zog ich als Korrespondentin der Süddeutschen Zeitung und des Zürcher Tages-Anzeigers an den Bosporus. Mein Begleiter von einst war nicht mehr an meiner Seite. Er hatte schon 1991 als Journalist in Jugoslawien sein Leben verloren. Seine Freunde in Istanbul aber nahmen mich so auf, als spielten die Jahre dazwischen in dieser ewigen Stadt keine Rolle.

2001 machte ich auch mein erstes Interview mit Erdoğan. Er hatte kein Amt und war wegen einer Gefängnisstrafe nicht wählbar. Das Interview hatte einer seiner Berater arrangiert. Dieser Mann war im Hauptberuf ein erfolgreicher Istanbuler Unternehmer und stolz darauf, mindestens ein halber Kurde zu sein. Für dieses Buch habe ich ihn wiedergetroffen. Ich fragte Erdoğan damals auch nach seinem Verhältnis zur Religion. Er sagte, Religion sei »Privatsache«, nichts, in das der Staat sich einmischen sollte. So dürfte es auch mein Kapitän gesehen haben.

Als Erdoğan in einer tiefen Wirtschaftskrise 2003 Premier wurde, überraschte er erst seine Kritiker mit einem stürmischen Reformkurs. Er öffnete das Land für fremdes Kapital und Ideen. Es war eine Zeit des Aufschwungs und des Aufbruchs. Im Oktober 2005 durfte die Türkei zur Belohnung Beitrittsverhandlungen mit der EU beginnen. Die Euphorie war dann bald verflogen. In Ankara merkten sie, wie mühselig das europäische Kleinklein ist, und in Berlin und Paris wuchs die Skepsis gegenüber diesem Kandidaten. Bis beide Seiten voneinander enttäuscht waren und man sich gegenseitig immer weniger verstand.

Inzwischen ist die Türkei wieder ein Land, in dem die Angst vor einem falschen Wort umgeht. Erdoğan hat die Verfassung so verändert, dass fast alle Macht beim Staatspräsidenten liegt, und man kann sich vorstellen, dass er dieses Amt am liebsten auf Lebenszeit behalten würde. Aber die Opposition ist zuletzt stärker geworden, sie hat die großen Städte zurückerobert. Die Türkei ist keine Diktatur, sie hat keine Einheitspartei. Die Wahlbeteiligung ist geradezu musterschülerhaft hoch, und viele Wähler bewachen neuerdings die Urnen, damit ihre Stimmen nicht verlorengehen. Die türkische Gesellschaft aber ist nach wie vor tief gespalten. Erdoğans glühende Anhänger halten ihm zugute, dass er das Land in die Moderne katapultiert hat, mit Tunneln unter dem Meer und Satelliten im All. Aber die Türkei sperrt einige ihrer klügsten Köpfe ein, sie treibt kritische Akademiker aus dem Land, drangsaliert Journalisten. Es ist, als läge ein Schleier über der schönen Stadt, dichter und unauflöslicher als der Novembernebel.

Eine »religiöse Generation« wolle er erziehen, sagte Erdoğan irgendwann, als Religion dann doch keine Privatsache mehr war in der Türkei. Dies ist wohl nicht gelungen. Umfragen zeigen, dass junge Türken sich eher von einer politisierten Religion abwenden. In vielen Istanbuler Stadtvierteln (nicht in allen) können Frauen heute alleine eine Wohnung mieten oder mit einem Partner unverheiratet zusammenleben. Vor zwanzig Jahren war dies undenkbar. Ich halte es übrigens nicht für falsch, dass Frauen mit Kopftuch inzwischen bei Turkish Airlines arbeiten dürfen. Menschen, weil sie fromm sind, die Grundrechte zu entziehen, ist nicht akzeptabel. So hätte es gewiss auch mein Kapitän gesehen. Wenn die Türkei sich von Europa entfernt, dann nicht, weil sie konservativer oder »religiöser« geworden wäre, sondern weil Erdoğans »neue Türkei« den alten Fehlern verfallen ist. Diese heißen: autoritärer Staat, Zentralismus, Nationalismus.

Damit verbunden ist das Auslöschen der Erinnerung. In den Geschichtsbüchern kommen die zu Hunderttausenden vertriebenen und ermordeten osmanischen Armenier nicht vor, geschweige denn ihr enteigneter Besitz. Unter den 36 Sprachen, die ein automatisches Übersetzungssystem am futuristischen Istanbuler Airport beherrscht, fehlt das Kurdische. Aber es gibt die Unermüdlichen, die nicht aufhören, an die offizielle Vergesslichkeit zu erinnern. Die türkische Zivilgesellschaft überrascht trotz aller Drangsalierungen immer wieder durch kreativen Widerspruch und Mut.

Seit dem Militärputsch von 1980 sind vier Jahrzehnte vergangen. Bis Juli 2016 glaubten wohl die meisten Türken – ich auch –, es werde nie wieder einen Putsch geben. Und dann stoppten an einem Hochsommerabend Militärschüler den Feierabendverkehr auf einer Bosporus-Brücke. Die jungen Soldaten glaubten, es ginge zu einer Übung. So hatten es ihnen ihre Befehlshaber gesagt. Die wiederum erwarteten wohl, der unzufriedene Teil des Volkes werde ihnen nachlaufen, wenn sie nur den Präsidenten wegputschen. Womit sie nicht rechneten: Dass sich Menschen den Panzern entgegenstellen, dass die Älteren, für die 1980 ein Trauma geblieben ist, sich nie mehr von Generälen regieren lassen wollen. Und dass ein Militärregime im 21. Jahrhundert in der Türkei keinen Twitter-Sturm überleben würde.

Die Sommernacht 2016 spielt auch in diesem Buch eine Rolle, weil viele Menschen sie nicht vergessen haben, und egal welcher politischen Richtung sie angehören, sie machen Kader der Gülen-Sekte für dieses einschneidende Ereignis verantwortlich, aber nicht unbedingt allein. Es gibt noch immer Rätsel um diese Nacht. Erdoğan nannte den Putschversuch ein »Gottesgeschenk«, eine Verhaftungswelle rollte durchs Land. Andere bekamen danach die Posten in Polizei, Justiz und Militär. Auch unter ihnen soll es wieder Leute geben, für die religiöse Gruppen Karrierenetzwerke sind. Mein frommer Kapitän hätte mit solchen Männern und Frauen sicher nichts zu tun haben wollen. Der versuchte Coup war ein Unglück für die Türkei. Er hat sie um Jahre zurückgeworfen. Die Wirtschaft leidet, die Inflation ist zweistellig. Das gab es davor lange nicht mehr.

In den mehr als zehn Jahren, die ich in der Türkei gelebt habe, habe ich verstanden, was es heißt, »Ausländerin« zu sein. Auch davon ist in diesem Buch die Rede, denn fast jede türkische Familie hat deutsche Verwandte. Die Ersten, die mit dem Gastarbeiteranwerbeabkommen von 1961 kamen, kämpften mit vielem, was sie nicht kannten. Auch mich haben in der Türkei gelegentlich bürokratische Tollheiten ratlos gemacht. Aber das, was wir Ausländerfeindlichkeit nennen, habe ich in meinem Alltag so gut wie nie gespürt.

Istanbul ist eine Megacity, aber wer dort lebt, ist in der mahalle, der fußläufigen Nachbarschaft, zu Hause. Wo es noch an jeder dritten Ecke einen bakkal gibt, einen fast immer geöffneten kleinen Lebensmittelladen. Wo die Menschen den Straßenhunden Namen geben und den Katzen Häuser bauen, vor denen stets Futter liegt. Und wo sie auch mit ihren Geschichten so freigebig sind.

Was aus dem Kapitän geworden ist? Ich weiß es nicht. Aber wenn ich auf eines der alten Bosporus-Schiffe steige, schaue ich gelegentlich, wer auf der Kommandobrücke steht.

Der Morgen – Sabah

Im Kopf den Rausch vergangener Feste.

Eine Strandvilla mit halbdunklen Bootshäusern,

Das Sausen der Südwinde legt sich.

Ich höre Istanbul, meine Augen geschlossen …

Orhan Veli (1914–1950)

6 Uhr

Erwachen

Satu Önder – Die Frau des Imams

Die Moschee macht sich so klein, als würde sie sich zwischen den umstehenden Häusern ducken. Der lindgrüne Anstrich der alten Mauern ist verblasst. Über dem Eingang steht: Makrizade Hüseyin Çelebi Camii und das Baujahr 1709. Jeden Morgen, noch vor Sonnenaufgang, wenn in der Dämmerung der neue Tag erst zu ahnen ist, macht die kleine Moschee sich bemerkbar. Dann ertönt der ezan, der islamische Gebetsruf, schwingt sich durch die Hinterhöfe auf dem Galata-Hügel. Allāhu akbar, Gott ist groß. So weckt der Imam die Gottesfürchtigen, die Zweifler und die Atheisten, erinnert die Gläubigen an ihre Pflichten und die Ungläubigen unsanft daran, dass die Nacht zu Ende ist.

Ein paar Jahre habe ich auf dem Galata-Hügel gewohnt. Viele Häuser hier haben sieben oder acht Etagen und in den obersten Stockwerken abenteuerlich zwischen Himmel und Erde aufgehängte Terrassen. Die sind oft illegal gebaut, weil Wohnungen, von denen man aufs Ballett der großen und kleinen Schiffe auf dem Bosporus schauen kann, viel mehr wert sind als solche ohne diesen betörenden Blick. Von meiner Terrasse in Flughöhe der Möwen konnte ich tief unten auch einen schmalen ummauerten Garten erspähen. Und aus dieser Tiefe ertönte jeden Morgen ein Hahnenschrei, und zwar stets unmittelbar vor dem Gebetsruf, so laut, als dulde das Tier keine akustische Konkurrenz. Es gab nur eine Erklärung: Der Hahn lebt im Garten des Imams. Nach ein paar Wochen war der vorlaute Kräher auf einmal wieder weg, und ich habe mich gefragt, wo ist der Hahn geblieben?

Satu Önder, die Frau des Imams, hat es mir erzählt, bei Tee, Teigtaschen und sohbet, wie das schöne türkische Wort für eine unterhaltsame Plauderei lautet. Satu Önder trägt ein Kopftuch in Pastelllila mit großem Blumenaufdruck, einen langen Rock und eine schwarze Wolljacke. »Der Hahn«, sagt sie und lacht, »ja, schade eigentlich.« Ein paar Nachbarn hätten sich beschwert. Und wenn die Nachbarn sich gestört fühlen, »dann bin ich auch unruhig, deshalb haben wir ihn weggebracht, ins Dorf«. War einfach zu laut, der Hahn. »Eine Ente hatten wir auch, und Hühner im Garten, mein Mann mochte die sehr«, sagt Satu über Mustafa, ihren Mann, den Imam.

Satu Önder sitzt auf einem Sofa in ihrem Wohnzimmer über der Moschee. Für den heißen Tee in Tulpengläsern hat sie kleine Tischchen herangerückt. Sie zupft an ihrer Jacke: »Ich friere immer, ich fürchte die Kälte.« Sie will die Heizung hochdrehen, aber die Tochter neben ihr auf dem Sofa sagt, ihr sei warm. Elif, achtzehn Jahre alt, in Jeans und weißem Pulli, trägt kein Kopftuch. Was Mutter und Tochter erzählen werden, ist eine typische Istanbuler Geschichte, sie handelt von verlassenen anatolischen Dörfern, zehn, zwölf Autostunden von der Metropole entfernt. Und von den Verlockungen der großen Stadt. Von verpassten Chancen und dem Wunsch, dass es den Kindern besser gehen möge als ihren Eltern. »Meine Kinder sind klug«, sagt Satu Önder, »ich bin es nicht.« Elif kennt das: »Das höre ich immer.«

Wo Satu Önder aufgewachsen ist, gab es kein wärmendes Stadtgas, das heute in Istanbul zu den selbstverständlichen Annehmlichkeiten gehört, geheizt wurde im Dorf mit Holz aus dem Wald. Aber allein wegen der bitteren Kälte im Winter wären Satu Önder und ihr Mann wohl nie aus einer fernen Schwarzmeerprovinz nach Istanbul aufgebrochen. »Ich wollte, dass meine Töchter studieren«, sagt die Frau des Imams, »weil ich das nie konnte.«

So erzählt diese Geschichte auch von gewaltigen sozialen Veränderungen in der Türkei, in nur einer Generation. Geboren wurde Satu 1972 in der Schwarzmeerprovinz Sinop. In welchem Monat sie Geburtstag hat, weiß sie nicht. »Meine Mutter hat gesagt, die Kirschen waren reif, also könnte es im Mai gewesen sein.« Die Mutter konnte wie der Vater weder lesen noch schreiben. Als der Vater krank wird, ist Satu drei Jahre alt, er kann lange nicht arbeiten. Daher ziehen sie in das Dorf der Mutter, ein Stück weiter im Landesinneren, in der Provinz Çorum. Dort geht Satu zur Volkschule, danach will sie in die Mittelschule, dazu rät auch ihr Lehrer, sie ist eine gute Schülerin. »Der Lehrer sagte meinem Vater, ich werde deine Tochter in der Mittelschule anmelden.« Da aber müsste sie jeden Tag in die nächste Stadt fahren. Das will der Vater nicht. »Was sollte ich tun?«, fragt Satu. »Mit sechzehn Jahren habe ich dann geheiratet.« Das kam ihr selbst zu früh vor. »Ich war jünger als meine Tochter jetzt.« Mutter und Tochter drehen die Köpfe zueinander. »So waren die Bedingungen damals eben«, sagt Satu Önder, kismet, Schicksal.

Und hat sie sich ihren Bräutigam selbst ausgesucht? »Mein Mann hat mich gewählt«, sagt sie und lacht wieder. »Er kam als Gast zu uns und hat ein Auge auf mich geworfen.« Die Familien kannten sich. Mit Mustafa habe sie sich dann zum Glück gut verstanden. Ihr Mann ist vier Jahre älter als sie. Nach seiner Ausbildung erhält er seine erste Stelle als Imam, in einer anderen Schwarzmeerprovinz, in Samsun, in einem Dorf. Imame arbeiten im Auftrag der staatlichen Religionsbehörde, sie sind Beamte.

Erst 2001, nach vielen kalten Wintern auf dem Dorf, bewirbt sich ihr Mann um eine Stelle in Istanbul und bekommt sie. In der kleinen, historischen Moschee zwischen den Hafenkais von Karaköy und dem Galataturm, auf den die Touristen so gerne steigen. Damals war das keine gute Gegend, inzwischen gibt es hier fast in jeder Gasse eine Bar oder ein Restaurant. Zur Moschee gehört ein lojman, eine Dienstwohnung. Als sie ankommen, ist das nur ein Zimmer und ein kleiner Salon. »Da standen ein Doppelbett und ein Kühlschrank. Sonst nichts.« Und sie hatten doch schon zwei Töchter, Fadime war zehn, Esra zwölf. Die dritte Tochter, Elif, war noch nicht geboren.

Sie haben dann ein Stockwerk auf die winzige Wohnung draufgebaut, in Eigenarbeit, wie man das in Istanbul oft macht. Mit einer steilen Innentreppe, auf der man den Kopf einziehen muss. Die großen Töchter haben studiert. Fadime ist Computeringenieurin, Esra Lehrerin. Elif will nach dem Gymnasium auch Ingenieurin werden. Dafür muss sie in der nationalen Zulassungsprüfung eine hohe Punktzahl erreichen, nur dann kann sie sich Studienfach und Universität aussuchen. »Ich finde das nicht gerecht«, sagt Elif, »wer viel Geld hat, nimmt vor der Prüfung Privatunterricht, die anderen sind benachteiligt.« Sie holt frischen Tee aus der kleinen Küche neben der steilen Treppe. Türkischer Tee wird gekocht, dann wird der Sud mit heißem Wasser aufgegossen und je nach Geschmack verdünnt.

Wenn ihr Mann frühmorgens aufsteht, ist auch Satu wach. Tee kocht sie erst später. »Er geht runter in die Moschee.« Nur wegen des Gebetsrufs müsste Mustafa Önder seinen Dienst nicht so früh antreten, denn inzwischen gibt es in mehreren Stadtvierteln Istanbuls ein zentrales System für den ezan. Doch der Imam ist auch Vorbeter, und wenn die Frühaufsteher in die Moschee kommen, »dann muss er da sein«. Sie bleibe morgens im Haus, sagt Satu Önder, und wenn ihr Mann vom ersten Gebet zurückkommt, lege er sich erst einmal wieder hin. Schließlich kann der Tag lang sein bis zum Nachtgebet, dem yatsı, das sich wie alle fünf islamischen Gebetszeiten nach dem Sonnenstand richtet. Elif sagt: »Wenn wir als Kinder auf der Straße gespielt haben und den ezan am Abend hörten, dann wussten wir, jetzt müssen wir nach Hause.«

Satu Önders Routine ist auch festgelegt, wie die ihres Mannes. Das Haus in Ordnung halten, Einkaufen, Kochen, Putzen und, wenn Zeit bleibt, die zwei Töchter besuchen, die schon außer Haus sind. Eine wohnt auf der europäischen, die andere auf der asiatischen Seite der Stadt. Die vier Enkelkinder betreut sie mit. »Meine größte Freude, bei den eigenen Kindern war ich so jung, da habe ich das nicht so genossen.« Sie putzt auch fremde Wohnungen. Satu Önder sagt, »meine Familie war arm, wie die meines Mannes«. Als sie nach Istanbul kamen, wurde es besser, weil sie arbeiten konnte, das wäre auf dem Dorf nicht gegangen, da gab es ja nichts. Viele Jahre hat sie nebenbei mittags in einem Café gekocht. »Da habe ich Kochbücher gelesen, jetzt finde ich die Rezepte auf dem Handy im Internet, die Kochbücher habe ich weggeworfen.« Einige Gerichte kannte sie schon von der Großmutter, »die einschläfernden Feigen« zum Beispiel, aus Milch, Feigen und Nüssen, »ein umwerfendes Dessert«, sagt sie. Die Gäste im Café mochten es gern.

Über Istanbul sagt die Frau des Imams: »Wenn man reich ist, ist die Stadt sehr schön.« Als Imam werde man aber nicht reich. Polizisten, Lehrer, viele Beamte verdienten besser. Elif rutscht ein wenig auf dem Sofa herum. »Manchmal«, sagt die Tochter, »hasse ich Istanbul, aber wenn ich im Dorf bin, vermisse ich die Stadt.« Und was macht sie in ihrer freien Zeit in der Stadt der unendlichen Möglichkeiten und Verführungen? »Ich laufe durch die Shoppingmalls, auch wenn ich nichts kaufe, oder hier durch die Nachbarschaft. Wenn ich die alten Häuser sehe, macht mich das schon wieder glücklich.«

Satu Önder mahnt, das Essen nicht zu vergessen, die Blätterteigtaschen mit Käse habe sie frisch gemacht. Fragt man die Frau des Imams, ob sie findet, dass die Arbeit ihres Mannes schwer sei, dann sagt sie, mit einem Zögern, als wolle sie nicht missverstanden werden: Nein, schwer würde sie das nicht nennen, aber er sei eben den ganzen Tag angebunden, könne nicht weit weg von zu Hause, sechs Tage die Woche. Am Wochenende gebe es einen freien Tag. Und wenn der Vorbeter krank wird? Dann komme Ersatz, vorausgesetzt, es finde sich einer, was nicht einfach sei, zum Beispiel als Mustafa Önder Covid-19 bekam.

»Die guten Jahre gehen vorbei, so ist das Leben«, sagt sie. »In der Türkei machen immer diejenigen die schwersten Arbeiten, die nicht lange zur Schule gegangen sind.« Wieder ein Seitenblick zur Tochter. Wenn Elif mit dem Studium fertig sei, könnte ihr Mann vielleicht vorzeitig in Rente gehen. Dann müssen sie das Häuschen über der Moschee verlassen. »Es ist ja nicht unser Eigentum.« Sie würden wieder ins Dorf ziehen, wo das Leben billiger ist, wo nur noch ein paar alte Menschen leben und viele Häuser leer stehen, weil die Jungen alle in die Städte gegangen sind. »Aber da ist es kalt im Winter«, sagt Satu Önder und schüttelt sich ein bisschen. Oder sie könnten pendeln, zwischen Stadt und Land. Auch das hat sie schon erwogen. Elif sagt, sie möge das Dorf, »aber nur im Sommer, wenn meine alten Freunde da sind, dann sind wir den ganzen Tag in der Natur, wir laufen durch den Wald, machen Musik, Feuer, haben Spaß«.

Sie schenkt noch einmal Tee nach. Stört es ihre Mutter, dass sie kein Kopftuch trägt? Elif sagt, »meine Eltern haben mich nie dazu gezwungen, es zu tragen, das rechne ich ihnen hoch an«. Satu Önder legt ihre rechte Hand aufs Herz: »Ich schaue nicht auf Äußerlichkeiten, sondern auf das Innere.« Nur eine ihrer drei Töchter trägt die islamische Kopfbedeckung.

Bevor Recep Tayyip Erdoğans Partei 2002 an die Macht kam, durften Frauen mit Kopftuch nicht studieren. Manche zogen sich deshalb Perücken über das Tuch. Erdoğan schickte seine Töchter zum Studium in die USA – mit Kopftuch. Es war paradox: Gerade weil die islamische Kopfbedeckung in staatlichen Gebäuden verboten war, wurde sie zum Symbol der Spaltung des Landes. Erdoğan versprach, das Verbot zu kippen, und wurde auch dafür von Konservativen gewählt.

Die Türken sind unter Erdoğan aber nicht generell frömmer geworden. Das renommierte Istanbuler Meinungsforschungsinstitut Konda untersucht alle zehn Jahre das Lebensgefühl junger Menschen. Bei der bislang letzten repräsentativen Befragung von 5793 Türken über fünfzehn Jahre in Metropolen und auf dem Land fand Konda 2019 heraus: Fünfzehn- bis 29-Jährige sind im Alltag sogar weniger konservativ als zehn Jahre zuvor. Es halten sich weniger junge Leute an die islamischen Gebetsregeln, und im Ramadan wird weniger gefastet. Mädchen und junge Frauen tragen seltener Kopftuch. 58 Prozent verhüllen ihr Haupt nie, zehn Jahre zuvor waren es nur fünfzig Prozent. Die strenge Form des Kopftuchs, türban genannt, die keine Haarsträhne sehen lässt, tragen nur sechs Prozent der Fünfzehn- bis 29-Jährigen, zehn Jahre zuvor waren es noch sechzehn Prozent. Und die allermeisten wollen ihren Lebenspartner selbst aussuchen. Konda-Chef Bekir Ağırdır nennt die Türkei »ein soziales Labor für die Folgen von Urbanisierung und Globalisierung«. Dazu gehört auch: 93 Prozent der jungen Türken nutzen soziale Medien, vor allem Facebook und Twitter.

An der Stirnwand des Wohnzimmers von Familie Önder hängt der Flachbildschirm, der in keinem türkischen Haushalt fehlen darf. Verrät die Frau des Imams, welche Partei sie wählt? Sie zögert, sagt dann: »Mein Mann und ich haben da unterschiedliche Ansichten.« Er sei ein AKP-Anhänger, das war sie früher auch. Aber bei der Kommunalwahl 2019 habe sie in Istanbul ihre Stimme dem jetzigen Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu gegeben. Der ist ein Mann der säkularen CHP, auch wenn er in die Moschee geht. Sein Wahlbündnis aus Sozialdemokraten, Rechtsliberalen und Kurden hat 25 Jahre Vorherrschaft der Konservativen in der Sechzehn-Millionenstadt beendet. Satu Önder findet nun allerdings, dass der Neue noch nicht so vieles besser mache: »Er arbeitet zu wenig.« Elif sagt: »Für mich sind alle Politiker gleich.«

Und was wünscht sich Satu Önder für die Zukunft? Da antwortet sie ohne Zögern: »Dass Gott uns Gesundheit schenkt und Glück für meine Kinder. Mehr ist nicht nötig, denn wie viel Geld du auch hast, wie viele Häuser, was nützt das, wenn du krank und unglücklich bist.« Sie will noch den Garten zeigen. Es geht die steile Treppe wieder hinunter und dann noch ein paar Stufen in den ummauerten Garten. Zwei Kinderschaukeln, Bohnenstauden, Paprikapflanzen, Riesenkürbisse, ein langer Holztisch. In einer Ecke steht ein Hühnerstall, das Türgitter hängt schräg in den Angeln. Satu Önder deutet auf den leeren Käfig. »Da war der Hahn drin.«

7 Uhr

Treffpunkt Taksim

Unterwegs zu Osman Kavala, dem Mäzen hinter Gittern

Es ist ein gemächliches Erwachen, die Straßenkehrer fegen die Reste der Nacht auf dem Taksim zusammen. Vor dem Marmara-Hotel steht eine Schlange gelber Taxis, ein Fahrer der Morgenschicht lehnt an seinem Wagen, ein Teeglas in der Hand. Seitdem der Verkehr von Istanbuls zentralem Platz in einen unterirdischen Busbahnhof verbannt wurde, ist der Taksim, auf dem man früher den Herzschlag der Stadt spürte, eine ruhiggestellte betonierte Bucht. Zum Verweilen lädt hier nichts mehr ein. Mit Absicht, denn auf dem Platz und im angrenzenden Gezi-Park sammelten sich im Sommer 2013 Hunderttausende Demonstranten. Der Taksim war aber schon vorher der zentrale Protestplatz der Türkei. Das ist Geschichte.

Nur an einer Seite können noch Busse halten, dort steht an diesem Morgen ein Mann mit einem Klemmbrett in der Hand. Er hakt die Namen der Passagiere ab, die sich einer nach dem anderen einfinden und rasch einen großen Reisebus füllen. Sie nicken einander stumm zu, wie Menschen, die sich nicht zum ersten Mal begegnen. Alle kennen das Ziel der Reise: Silivri, das größte Gefängnis der Türkei, etwa siebzig Kilometer entfernt vom Zentrum Istanbuls, Richtung Westen. Zu der Reisegesellschaft gehören Schauspieler, Dramatiker, Schriftsteller, Künstler, Stadtplaner, Journalisten. Sie wollen dabei sein, wenn dem Kulturmäzen Osman Kavala im Gerichtssaal von Silivri der Prozess gemacht wird, einem Mann, der sein Vermögen hergibt für die Kunst und die Künstler.

Kavala wird beschuldigt, ein Staatsfeind zu sein, die Anklageschrift ist fast 700 Seiten lang und voller Absurditäten. Darin finden sich Facebook-Posts, Flugdaten, Handyfotos, darunter eine Landkarte. Der Staatsanwalt wertet sie als Beweis dafür, dass der Angeklagte »die Einheit der Türkischen Republik« zerstören wollte. Die Karte zeigt die geografische Verbreitung von Bienenrassen im Nahen Osten, keine neuen Grenzen der Türkei.

Im Bus sammeln sie das Fahrgeld ein. Die Stadt ist erwacht, der Verkehr ein zähflüssiger Strom. Zwei Stunden, manchmal mehr, dauert es bis Silivri. Das Gefängnis hat auf der Schnellstraße eine eigene Ausfahrt, es ist eine Kleinstadt und die größte Haftanstalt Europas. Zuerst sieht man die Wachtürme, dann den Zaun. Das Gerichtsgebäude liegt gleich hinter der ersten Absperrung.

Vor Betreten des Gerichtssaals müssen Besucher ihre Handys abgeben, ausgenommen davon sind Parlamentsabgeordnete. Oppositionspolitiker sind regelmäßige Prozessbeobachter in Silivri. Der Saal hat etwa tausend Quadratmeter, er wurde für Massenprozesse gebaut. An der Stirnwand über dem erhöhten Richtertisch steht in Großbuchstaben: »Die Gerechtigkeit ist das Fundament des Landes.« Ein Satz von Republikgründer Kemal Atatürk. Das kann man auch von der rückwärtigen Saalseite aus noch gut lesen, wo die Zuschauer Platz nehmen. Was man von dort nicht sieht, sind die Gesichter der Richter und des Staatsanwalts, weil sie nicht auf den zwei Großleinwänden erscheinen, die den Richtertisch flankieren. Dort werden nur die Köpfe der Anwälte gezeigt und die der Angeklagten, wenn sie das Wort haben.

Es gibt in diesem Prozess sechzehn Angeklagte. Nicht alle sind anwesend, einige sind schon vor einiger Zeit ins Ausland geflüchtet, darunter der bekannte Journalist Can Dündar, der nun in Deutschland im Exil lebt. Nur einer der sechzehn ist in Untersuchungshaft: Osman Kavala. Um zehn Uhr soll die Verhandlung beginnen, aber es tut sich nichts. Viel Zeit, die Polizisten zu studieren, die in Panzerwesten die vielen leeren Sitzreihen in der Saalmitte bewachen, einige spielen mit ihren Handys. Auf den Zuschauerbänken ganz hinten sind alle 300 Plätze besetzt. Für Anwälte, Diplomaten, Abgeordnete und Medienvertreter gibt es extra Stühle an den Seiten. Auch hier ist kein Platz frei, ein paar Journalisten sitzen daher am Boden. Gewöhnlich ist das nicht erlaubt, aber manchmal, so wie heute, drücken die Wachleute ein Auge zu.

Endlich erscheinen der Richter und seine zwei Beisitzer. Kurz darauf wird der Angeklagte hereingeführt, über eine Rampe aus dem Untergrund direkt in die Saalmitte, was dem Auftritt etwas Theatralisches verleiht. Auf der Rampe taucht zuerst Kavalas grauer Lockenkopf auf, da erheben sich die Zuschauer schon von ihren Plätzen zum Gruß, viele klatschen, winken. Kavalas grauer Anzug hängt an den Schultern über, als sei er ihm in der Haft zu weit geworden. Die Polizisten, die ihn begleiten, überragt er um Haupteslänge. Die Zuschauer klatschen immer noch, da dreht er den Kopf, winkt zurück. Kavalas Augen schweifen durch den Saal, auf der Suche nach bekannten Gesichtern. Das alles dauert weniger als eine Minute, da mahnt der Richter zur Ruhe. Später wird er bei Beifallsbekundungen mit der Räumung des Saales drohen.

Alle sechzehn Angeklagten – Architekten, Professoren, Schauspieler – werden beschuldigt, sie hätten die Proteste 2013 im Gezi-Park organisiert, um die Regierung zu stürzen. Kavala sei ihr Finanzier gewesen. Alle haben die Vorwürfe bestritten. Mehreren Angeklagten droht wie Kavala lebenslange, erschwerte Haft. Die wurde einst als Ersatz für die Todesstrafe in der Türkei eingeführt, es bedeutet mindestens dreißig Jahre Einzelhaft.

Kavalas Stiftung Anadolu Kültür ist seit 2002 aktiv, sie ist Partner des Goethe-Instituts in der Türkei und vieler anderer internationaler Kulturinstitutionen. Die Stiftung hat ein armenisch-türkisches Jugendorchester finanziert, kurdische Künstler, Filmfestivals, Ausstellungen und vieles mehr. Kavalas Familie stammt ursprünglich aus dem heutigen Griechenland, sie wurde im Tabakhandel und mit Bergwerken reich. 1982, nach dem Tod des Vaters, übernahm der Sohn den Konzern, der früher auch für das Militär produzierte. Der Pazifist hat sich längst aus dem aktiven Geschäft zurückgezogen, er ist hauptberuflich Philanthrop. Zum Ärger der Regierenden. Erdoğan nannte ihn– es sollte abschätzig klingen – den »Soros der Türkei«, weil Kavala ähnlich wie der US-Milliardär auch Bürgerrechtsorganisationen fördert.

Am 18. Oktober 2017 wurde Kavala festgenommen, nach einem Inlandsflug. Er wollte in Istanbul gerade aus der Maschine steigen, als er – noch im Flugzeug – von Sicherheitskräften abgeführt wurde. Der Prozess begann erst knapp zwei Jahre später, im Juni 2019, dazwischen blieb er in Untersuchungshaft. Verhandelt wurde stets in großen Abständen von Wochen und Monaten, und nach jedem Prozesstag entschied das Gericht, dass Kavala »wegen Fluchtgefahr« im Gefängnis bleiben müsse.

Nun, es ist der 18. Februar 2020, wird erneut verhandelt, und diesmal ist einiges anders: Der Richter hat den Anwälten zuvor die Botschaft zukommen lassen, sie sollten ihre letzten Verteidigungsworte vorbereiten. Und der Europäische Gerichtshof hat schon im Dezember 2019 die sofortige Freilassung Kavalas verlangt. Die Straßburger Richter fanden in der Anklageschrift keinerlei Beweise für den Umsturzvorwurf. Immer wieder drängt der Richter an diesem Tag zur Eile, die Anwälte aber beklagen, dass alle von ihnen benannten Zeugen abgelehnt wurden. Als ein Anwalt sich das Wort nicht nehmen lassen will, weist der Richter ihn aus dem Saal. Polizisten versuchen, den Juristen mit körperlicher Gewalt hinauszueskortieren. Dagegen protestieren viele Zuschauer lautstark. Polizisten bauen sich vor dem Publikum auf, der Richter will die Besucherbänke räumen lassen. Einige Zuschauer stehen auf, bereit, den Saal zu verlassen, viele aber bleiben sitzen. Bevor die Situation eskaliert, verzichtet der Richter auf die Räumung.

Einer der Angeklagten – er ist selbst Anwalt – nennt in seinem »letzten Wort« die ganze Anklage ein »schmutziges Lügenbündel«. Er erinnert daran, dass die Vorwürfe von Ermittlern zusammengetragen wurden, die inzwischen selbst verurteilt sind, wegen Aktivitäten für die Gemeinde des Predigers Fethullah Gülen, der von Erdoğan für den Putschversuch vom Juli 2016 verantwortlich gemacht wird und nun Staatsfeind Nummer eins ist. So absurd ist das alles. Eine Angeklagte sagt: »Ich habe überhaupt nichts verstanden«, sie fühle sich in diesem Prozess »wie in einem Raumschiff«. Das Gericht zieht sich dann zurück, davor hat der Staatsanwalt noch einmal lebenslange Haft für Kavala und zwei weitere Angeklagte verlangt sowie mehrjährige Haftstrafen für viele der übrigen Beschuldigten.