Izara 2: Stille Wasser - Julia Dippel - E-Book

Izara 2: Stille Wasser E-Book

Julia Dippel

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Beschreibung

Der zweite Teil der packenden Romantasy-Reihe von Julia Dippel.

Die gesamte unsterbliche Welt weiß nun von Izara, und während ihr Vater im Kerker der Phalanx schmort, wird Ari von der Liga vorgeladen. Dort muss sie sich nicht nur dem hohen Rat stellen, sondern auch Lucians Familie …

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Seitenzahl: 614

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Das Buch

Die gesamte unsterbliche Welt weiß nun von Izara, und während ihr Vater im Kerker der Phalanx schmort, wird Ari von der Liga vorgeladen. Um aber in der Hauptstadt der Katakomben bestehen und ihre verbotene Verbindung zu Lucian geheim halten zu können, sieht sie sich gezwungen, zweifelhafte Hilfe anzunehmen. Dabei verstrickt sie sich immer weiter in einem gefährlichen Netz aus Lügen, Vorwürfen und Zweifeln und muss sich neben dem Hohen Rat auch noch den Hexen und Lucians Familie stellen. Allerdings scheint in dem Gewirr aus Freund und Feind jemand ganz anderes seine Fäden zu ziehen, sodass Ari schließlich nicht nur um ihr Leben, sondern auch um ihre Liebe fürchten muss.

Der zweite Teil der packenden Romantasy-Reihe

Mehr über das Buch, viele Hintergrundinfos und den extra komponierten Soundtrack gibt es auf: www.izara.de

Die Autorin

© Rob Perkins

Julia Dippel wurde 1984 in München geboren und arbeitet als freischaffende Regisseurin für Theater und Musiktheater. Um den Zauber des Geschichtenerzählens auch den nächsten Generationen näher zu bringen, gibt sie außerdem seit über zehn Jahren Kindern und Jugendlichen Unterricht in dramatischem Gestalten. Ihre Textfassungen, Überarbeitungen und eigenen Stücke kamen bereits mehrfach zur Aufführung.

Der Verlag

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Viel Spaß beim Lesen!

Julia Dippel

IZARA – Stille Wasser

In Amsterdam konnte Ari ihren Vater Thanatos besiegen. Er wurde von ihr zu einem Menschen gemacht und sitzt nun im Kerker der Phalanx. Die Jäger halten ihn trotz seiner Beteuerungen für Wilson Harris. Nur Aris engste Freunde wissen um seine wahre Identität.

Kapitel 1

Schwiegermutters Albtraum

Ich fühlte mich ganz. Hier in meinem winzigen Zimmer mit der blanken Glühbirne und den gestapelten Umzugskartons fühlte ich mich ganz – weil er da war. Seine Lippen auf meinen zu spüren, ließ mich vergessen, dass ein riesiges Damoklesschwert über mir hing. Seit knapp zwei Wochen wusste die gesamte unsterbliche Welt, dass ich Izara war. Das ewige Feuer. Der nie erlöschende Stern. Die Seele, die einem Primus unendliche Macht verleihen würde. Und trotzdem verhielten sich alle erstaunlich ruhig. Weder die Liga noch die Abtrünnigen oder die führungslosen Leute von Omega Inc. hatten versucht, mich umzubringen.

Tja, dass ich mir über mangelnde Mordanschläge Sorgen machte, war ein deutlicher Beweis dafür, wie verkorkst mein Leben war. Praktischerweise war ich gerade zu abgelenkt, um mich damit auseinanderzusetzen.

Lucian löste seinen Mund von meinem und sah mir in die Augen. Ich ertrank in endlosem Grün. Er roch nach frischem Regen und tosender Brandung. Nein, er roch nicht nur danach. Jeder meiner Sinne konnte seine unsterbliche Energie wahrnehmen. Er war die Sonne, die durch eine aufgewühlte Wolkendecke brach. Er war der Wind, der die Wellen an die Felsen branden ließ. Er war mein Sommersturm am Meer.

»Wie war dein Tag, Kleines?«

Seine Stimme war kaum mehr als ein samtiges Raunen und ich konnte ihn angesichts seiner atemberaubenden Begrüßung nur dämlich angrinsen.

»Nicht gleich alles auf einmal«, feixte er. Die Matratze unter uns geriet in Bewegung, als er sich eine bequemere Position suchte. Dann sah er mich erwartungsvoll an.

»Also gut.« Ich begann an den Fingern abzuzählen. Daumen. »Dank Victorius und seinem Familienfrühstück wäre ich fast zu spät zu Mathe gekommen.« Unser neuer Mitbewohner hatte einen unangenehmen Einfluss auf meine Mum, was bedeutete, dass es inzwischen geregelte und verpflichtende Essenszeiten gab. Wer braucht denn bitte so was?! Abgesehen davon konnte ich mich nur schlecht daran gewöhnen, dem ehemaligen Gezeichneten des Oberbosses der Primus-Unterwelt beim Pfannkuchenbacken zuzugucken.

Zeigefinger. »Mein Chemie-Test lief mies. Ich hab deswegen schon eine Standpauke von Mum bekommen, also musst du dich dringend mit mir solidarisieren und dich dem Wer-braucht-schon-Chemie-Club anschließen.«

»Chemie? Ist das nicht diese Sache mit den Hormonen?« Lucians Hand wanderte zu meiner Taille und zog mich zu sich. »Ich weiß nicht, ob ich darauf verzichten will …«

Er vergrub sich in meiner Halsbeuge, bis sein Atem mich so sehr kitzelte, dass ich kichern musste. Quasi aus Notwehr schob ich ihn von mir runter.

»Hey, entweder romantische Interaktion oder das Update des Tages. Entscheid dich!«

Insgeheim hoffte ich ja darauf, dass er für Ersteres stimmen würde, aber Lucian strich sich seine widerspenstigen Locken aus dem Gesicht und erklärte mit todernster Miene: »Chemie wird vollkommen überbewertet.«

Er hatte sich in den Kopf gesetzt, mich ganz ›normal‹ kennenzulernen und Teil meines Lebens zu werden. Dummerweise gab es da so ein kleines hinderliches Primus-Gesetz, das meine Hinrichtung beinhaltete, wenn irgendjemand von unserer Beziehung erfuhr. Deshalb musste sich Lucian mit heimlichen Besuchen begnügen, bei denen er mich über jedes Detail meines Tages ausquetschte. Ehrlich gesagt hatte ich den Verdacht, dass er mich nie wirklich aus den Augen ließ und vermutlich schon jetzt besser über meinen Tag Bescheid wusste als ich selbst. Aber er wollte es von mir persönlich hören und das schätzte ich sehr.

Mittelfinger – wie passend. »In der Mittagspause gab es einen Rieseneklat, weil Denise und Doris gleichzeitig gestolpert sind und das Salatbuffet umgerissen haben.«

»Schicki-Micki-Doppel-D?«

Ich grinste. Den Spitznamen meiner Lieblingsfeindinnen aus seinem Mund zu hören, ließ es mir warm ums Herz werden.

»Könnte sein, dass Toby etwas nachgeholfen hat. Immerhin haben die beiden Lizzy einen hexenliebenden Flamingo genannt.«

Jetzt musste auch Lucian schmunzeln. »Verstehe.«

Der sonnige Hexenmeister und meine beste Freundin waren nicht nur Gesprächsthema Nummer eins, sondern auch noch das süßeste Pärchen am Lyceum. So süß wie Diabetes auslösende drei Kilo Karamellbonbons, die man täglich gezwungen war zu konsumieren.

Ringfinger. »Außerdem habe ich endlich mein erstes Frei-Siegel hinbekommen.« Lucians Gesicht erhellte sich. Die Siegel, die man – je nach Bedarf – in die Luft oder auf Gegenstände zeichnete, waren eine komplizierte Mischung aus Mustern, Symbolen und Bannsprüchen. Um sie zu benutzen, musste man kein Primus sein, weswegen sie Hauptbestandteil der Jägerausbildung waren. Aber sie waren auch ziemlich vertrackt und gefährlich, denn schon der kleinste Fehler konnte schwerwiegende Konsequenzen haben.

»Und«, schloss ich meine Aufzählung und reckte meinen kleinen Finger in die Höhe, »ich habe im Training rausgefunden, dass ich eine ganz miserable Schützin bin. Schusswaffen sind einfach nicht mein Ding. Dafür bin ich zu –«

Lucians offene Hand unterbrach mich. Beinahe gleichzeitig klopfte es energisch an die Tür.

»Ari!« Die Stimme meiner Mum klang, als hätte ich etwas ausgefressen. Ganz schlechtes Timing.

Ich schnappte mir ein Buch vom Nachtkästchen und drapierte mich in eine Alibi-Leseposition.

Lucian lag noch immer neben mir. »Du musst verschwinden!«, zischte ich ihn an. Was auch immer er sonst tat, wenn er sich in Luft auflöste, jetzt wäre der perfekte Zeitpunkt dafür.

»Ich kann nicht«, meinte er ruhig.

»Was heißt, du kannst nicht?!« Wenn meine Mutter ihn hier sehen würde, wäre Hausarrest noch das geringste meiner Probleme. Ich sprang aus dem Bett. Im selben Moment wurde die Tür aufgerissen und meine Mum stand vor mir – wie eine Rachegöttin im Flanellmorgenmantel. Sie knipste das Licht an. Wunderbar! So konnte ich noch besser sehen, wie ihre Gesichtsfarbe eine besorgniserregende Achterbahnfahrt von Hochrot zu kreidebleich und wieder zurück machte.

»Ich wusste es«, presste sie hervor. Ihr Blick fing jedes Detail ein. Gerötete Lippen, spärliches Nachthemd, aufgewühlte Bettdecke und der unverschämt attraktive Unsterbliche darauf. Wenigstens war er angezogen.

»Wie kannst du nur?«, stammelte sie. Ihr akuter Schock funktionierte wie der Korken einer Sektflasche, die man zu fest geschüttelt hatte. Noch hinderte er sie und ihre Vorwürfe am Übersprudeln, aber lange würde er wohl nicht mehr halten.

»Mum! Ich bin volljährig. Ich kann tun, was ich –«

»Du poussierst mit einem Dämon! In meinen vier Wänden?! Und das nach allem, was dein Vater uns angetan hat?«

Und es ging los.

»Jahrelang hat dieses unmenschliche Ungeheuer in meinem Kopf herumgepfuscht. Er hat mich benutzt!«

»Mum, bitte!«

»Dieser Dämon hat mich entführt und misshandelt, aber nichts war so schlimm wie die lange Zeit, die er gewagt hat, so zu tun, als wäre er mein Ehemann!«

»Mum, wir haben doch darüber gesprochen!« Besser gesagt, hatte ich ihr eingebläut, dass es überlebenswichtig war, dieses Geheimnis nicht in die Welt hinauszuposaunen.

Schließlich hielt die Phalanx Thanatos für tot und glaubte, in ihrem Kerker würde stattdessen mein Stiefvater, der Omega-Chef Wilson Harris, schmoren. Nur jene, die an der Amsterdam-Mission beteiligt gewesen waren, wussten über die brandgefährliche Tatsache Bescheid, dass mein unsterblicher Vater Thanatos den Körper von Harris in Besitz genommen hatte, inzwischen aber – durch mich – wieder sehr sterblich war.

Was sollte ich sagen? Es war kompliziert …

Aber es war die einzige Möglichkeit, ein noch gefährlicheres Geheimnis zu wahren. Schließlich würde sonst die Frage aufkommen, wie ich einen Primus in einen Menschen verwandeln konnte. Und darauf hatte ich nun mal keine Antwort.

»Er hätte mich beinahe umgebracht. Er hätte dich beinahe umgebracht. Und bei Wilson hat er es geschafft!«

»Nicht so laut, Mum!« Unsere Wohnung mochte ja gegen übernatürliche Lauscher abgeschirmt sein, aber wenn sie noch weiter so schrie, würde es trotzdem das gesamte Lyceum mitbekommen.

»Er hat Wilson getötet und vorgegeben, dein Vater zu sein –«

»Er ist mein Vater!«, schnauzte ich zurück und bewirkte damit nur, dass meine Mum entsetzt Luft holte und die Taktik änderte.

»Schätzchen. Sag doch so was nicht, du hast nichts mit diesen niederträchtigen Monstern gemein. Monstern wie ihm«, keifte sie in Lucians Richtung, »die in unser Zuhause eingedrungen sind und mir falsche Erinnerungen eingepflanzt haben.«

In diesem Moment wünschte ich, Lucian könnte das noch immer. Allerdings hatte meine Mum wohl eine gewisse Resistenz entwickelt, seit Thanatos ihre Erinnerungen zurückgeholt hatte. Folglich musste ich mich mit herkömmlichen Argumenten begnügen.

»Er hat mir das Leben gerettet!«

»Kein Grund, gleich mit ihm ins Bett zu steigen!«

Das brachte das Fass zum Überlaufen.

»Ach und warum? Glaubst du, ich mache denselben Fehler wie du?« Ich ging auf sie zu, bis unsere Nasenspitzen sich fast berührten. »Da muss ich dich enttäuschen, ich bin im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte. Und Lucian ist nicht Thanatos.«

»Sie sind alle gleich! Sie verführen, sie lügen und sie betrügen. Der da schert sich einen Dreck um dich. Er benutzt dich, bis er dich nicht mehr braucht, und dann wirft er dich weg!«

Lucian räusperte sich. Offenbar hielt er das für den perfekten Moment, um sich in das Gespräch einzuklinken. In aller Seelenruhe rollte er sich vom Bett runter und kam mit ausgestreckter Hand auf meine Mum zu. Diese freundliche Geste passte zwar nicht ganz zu dem spöttischen Lächeln in seinen Mundwinkeln, aber man konnte ja nicht alles haben. Immerhin hatte sie ihn gerade mehrfach beleidigt.

»Ich glaube, wir wurden uns noch nicht wirklich vorgestellt, Beatrix. Mein Name ist Lucian. Oder wahlweise auch gottverdammter Dämon, unmenschliches Ungeheuer oder niederträchtiges Monster, wobei ich Lucian bevorzuge.« Je näher er kam, desto mehr presste sich meine Mum an den Türrahmen. Unter anderen Umständen hätte seine Selbstgefälligkeit meine Mum zur Weißglut getrieben, aber jetzt stand ihr nur blanke Panik im Gesicht.

»Herrgott nochmal, Mum! Er tut dir nichts.« Ein stetiges Pochen kündigte eine Migräneattacke an. Kein Wunder.

»Es ist sehr schade, dass Sie nicht unterscheiden können, wer Ihrer Tochter Gutes will und wer nicht.« Mit einem Schulterzucken senkte Lucian die verschmähte Hand und redete unbekümmert weiter. »Andererseits erklärt das natürlich, warum Sie als Mutter so lange versagt haben. Schließlich haben Sie zugelassen, dass Harris und Thanatos regelmäßig an Ari herumexperimentieren.« Seine Worte klangen beiläufig, aber ihr Inhalt war hochexplosiv. Ich schnappte nach Luft vor Schreck. Meine Mum schnappte nach Luft für eine empörte Antwort. Lucian kam ihr zuvor. »Und bevor Sie diese Gedankenkontroll-Geschichte wieder aufwärmen, seien Sie einmal ehrlich mit sich selbst: Sie wussten, dass etwas nicht stimmt. Instinkte – ob mütterlich oder nicht – lassen sich nämlich nicht unterdrücken. Zumindest nicht von einem Primus.«

Das saß. Lucian hatte genau das ausgesprochen, wozu ich bestimmt erst drei Jahre Therapie und wahrscheinlich sogar einigen Alkohol benötigt hätte.

Meine Mum sah zu mir. Sie erwartete weder Bestätigung noch Schützenhilfe. Sie schämte sich. Lucian hatte voll ins Schwarze getroffen. Nur wäre meine Mum nicht meine Mum, wenn sie das auf sich sitzen lassen würde. Ganz egal ob sie einem Dämon, einem Eisbär oder einem Feuer speienden Drachen gegenüberstand.

»Verschwinde aus meinem Haus!«, forderte sie mit bebender Stimme. Ein charmantes Lächeln erschien auf Lucians Gesicht. Aber seine Augen blieben kalt.

»Das würde ich ja, wenn Sie Aris Tür nicht mit diesem netten Kunstwerk verschönert hätten.« Er deutete auf ein paar kaum erkennbare Linien, die an die Außenseite meiner Zimmertür gemalt waren. Mit … transparentem Nagellack?!

Ich besah es mir näher und erkannte sofort, was das war. Immerhin hatte ich heute zwei Stunden lang ähnliche Symbole in meinen Zeichenblock gekritzelt. Das war ein Frei-Siegel. Fehlerlos ausgeführt und dazu da, einen Unsterblichen einzusperren. Mit offenem Mund starrte ich von meiner Tür zu meiner Mutter und zurück.

»Hast du das gemacht?«

Fast schon trotzig wich sie meinem Blick aus.

»Mum!«

Ihr schnelles Schulterzucken sollte wohl so viel heißen wie »Ja, na und?«

»Woher weißt du, wie das geht?«

»Ich habe meine Quellen.«

Wie bitte?! »Wenn Victorius dir das beigebracht hat –«

»Was soll ich wem beigebracht haben?« Unser neuer Mitbewohner knipste das Licht im Flur an, während er seine Satin-Schlafmaske von der Stirn zog. »Und warum um alles in dieser wunderschönen Welt bringt ihr mitternächtlichen Rabauken mich um meinen Schönheitsschlaf?«

Gütiger Himmel, vielleicht sollte ich meinen Beziehungsstatus einfach online posten – für alle, die es noch nicht mitbekommen hatten. Meine Migräne stürmte in großen, polternden Schritten immer näher.

»Das hier«, meinte Lucian und legte seine Fingerspitzen auf das kaum sichtbare Siegel auf meiner Tür. Unter der Berührung des Primus flammten die Linien und Symbole auf.

Victorius’ Augen weiteten sich vor Entsetzen. Er brachte nur ein kleines Kopfschütteln zustande, was für einen Mann, für den das Wort Redeschwall überhaupt erst erfunden wurde, ein äußerst seltsames Verhalten war.

»Ich war das nicht.« Sein flehender Tonfall war für mich genauso ungewöhnlich wie die nicht verwendeten kitschigen Kosenamen, mit denen er normalerweise so gerne um sich warf. »Das musst du mir glauben.«

Was Lucian offenbar tat, denn er nickte mit leerem Blick. Seine Finger zogen eine gerade Linie nach unten und die Symbole zerflossen, als hätte er über ein frisches Gemälde gestrichen. So zerstört war das Siegel nutzlos. Es verglühte und ließ nur noch meine alte Zimmertür zurück. Dann wandte er sich wieder meiner Mum zu.

»Sie sollten besser nicht mit Mächten spielen, die Sie nicht verstehen, Beatrix.«

»Das ist genau der Rat, an den sich auch meine Tochter halten sollte«, schoss meine Mutter zurück, woraufhin Lucian freudlos auflachte.

»Ich liebe Ihre Tochter und hoffe aus ganzem Herzen, dass sie nicht nur mit mir spielt!«

Victorius japste. Sein Blick hetzte zwischen uns allen hin und her. Sein Verstand ratterte und ich wusste, dass er gerade eins und eins zusammenzählte, was Lucian, mich und unsere nun nicht mehr so heimliche Beziehung betraf.

»Ach du liebes Lieschen! Seid ihr von allen guten Geistern verlassen?«, rief er und schlurfte aufgeregt durch den Flur auf uns zu.

»Wenigstens einer, der meiner Meinung ist«, murmelte Mum.

Victorius packte mich an den Schultern. »Mein kleines Rosenblättchen, weißt du, worauf du dich da einlässt?«

Bäm, da war sie – meine Migräne.

»Ich dachte, du wärst über diese Teenager-Schwärmerei hinweg!«

»Du wusstest davon, Vic?!« Die Stimme meiner Mutter überschlug sich und der Druck auf meinen Schläfen wurde größer.

»Ich hatte es nur vermutet, Trixi-Mäuschen. Aber ich dachte nicht, dass Lucian dein kleines Töchterlein einer solchen Gefahr aussetzen würde.«

»Leute, es reicht!«, rief ich aufgebracht und schüttelte Victorius’ Klammergriff ab. »Ich weiß, dass es gegen die Gesetze der Liga verstößt, aber solange wir –«

»Welche Gesetze?!«, wollte meine Mutter wissen. Ich fasste mir an die Nasenwurzel und atmete tief durch.

»Als Brachion kann er Liebeleien haben, aber keine ernste Liaison. Wenn er also eben nicht gelogen hat – und Lucian lügt nie –, dann hat er Ari zum Tode verurteilt.«

Wunderbar, damit war die Katze aus dem Sack. Ich hielt Victorius zugute, dass er meiner Mum wenigstens die brutalen Details der Gesetze vorenthielt. Sie war auch so schon bleich wie die Wand.

»Oh Gott, Ari, was hast du dir nur dabei gedacht«, murmelte sie, bevor ihr Entsetzen in Wut umschlug. Mit erhobenem Zeigefinger ging sie auf Lucian los. »Du, du bist schuld! Du hast meine Tochter verführt!«

Ich wusste, dass Lucian meine Hilfe nicht benötigte, aber ich stellte mich meiner Mutter trotzdem in den Weg.

»Mum! Falls es dir entgangen ist, trachten mir sowieso alle nach dem Leben! Da macht einer mehr oder weniger nichts mehr aus.«

»Die Liga hat noch nicht einmal damit begonnen, dir nach dem Leben zu trachten, mein ahnungsloses Sonnenblümchen!«, rief Victorius. »Seit sie wissen, dass du Izara bist, suchen sie doch nur nach einem Vorwand, um dich unter ihre Gerichtsbarkeit stellen zu können. Und du servierst ihn ihnen auf dem Silbertablett!«

»Es ist nicht so, dass wir es uns ausgesucht hätten. Auf manche Dinge hat man nun mal keinen Einfluss«, schaltete sich Lucian ein. Die Dringlichkeit in seiner Stimme und die Botschaft zwischen den Zeilen war nicht zu überhören. Aber anders als meine Mum verstand Victorius, was Lucian damit andeutete. Ich trug sein Zeichen. Wir waren verbunden. Daran konnte auch eine erzwungene Trennung nichts ändern.

»Sagt mir, dass das nicht wahr ist«, hauchte Victorius. Keiner rührte sich.

»Worüber in Gottes Namen sprecht ihr da?« Meine Mum warf ihre Arme gen Himmel, während Victorius um seine Fassung rang. Fast schon benommen angelte er sich den Arm meiner Mutter und zog sie zur Tür.

»Komm, Trixi-Mäuschen. Lass uns ins Bett gehen. Morgen ist ein neuer Tag und dann können wir in Ruhe für alles eine Lösung suchen.«

»Kommt gar nicht infrage. Ich löse das gleich hier und jetzt!« Mit einem Blick, der nur so vor Gift triefte, riss sie sich los und fixierte Lucian. »Was auch immer zwischen euch läuft, es ist vorbei. Du bist hier nicht mehr willkommen, Dämon! Wenn ich auch nur den geringsten Verdacht hege, dass du meiner Tochter zu nahe kommst, dann – so wahr mir Gott helfe – werde ich dafür sorgen, dass du es bereust.«

Lucians Augen füllten sich mit schwarzen Schlieren. Ich seufzte innerlich. Natürlich würde er meiner Mum nichts antun, aber zur Deeskalation trug diese Zurschaustellung seiner Unsterblichkeit auch nicht gerade bei.

Lucian, bitte lass es gut sein, bat ich ihn in Gedanken.

Er ignorierte mich, während meine Mum immer weiter vor ihm zurückwich.

»Keine Drohung der Welt kann mich von Ihrer Tochter fernhalten.« Seine Stimme war randvoll mit kontrollierter Aggression. »Und wenn Sie Ari wegen Ihres persönlichen Rachefeldzugs in Gefahr bringen, wird Ihnen nicht einmal Gott mehr helfen können.«

Ein Luftzug und er war verschwunden. Zurück blieb meine sprachlose Mutter, die so gar nichts damit anfangen konnte, dass jemand einen theatralischeren Abgang hingelegt hatte, als sie es je können würde.

»Bist du jetzt zufrieden, Mum?«

»Nein, bin ich nicht.« Erstaunlich schnell fand sie wieder zu ihrer alten Schärfe. Mein Kopf drohte endgültig zu platzen.

»Ich habe es ernst gemeint, als ich sagte –«

»Schluss jetzt!«, donnerte ich. »Was zwischen mir und Lucian läuft, geht dich nichts an!«

»Aber –«

»Es geht dich nichts an. Punkt. Aus! Und wenn du auch nur ein Sterbenswörtchen darüber verlierst, schwöre ich, dass du mich nie wieder siehst. Dann bin ich nämlich entweder tot oder mit Lucian auf der Flucht ans andere Ende der Welt.«

Meine Mutter sah mich so bestürzt an, dass ich meine Worte fast schon wieder bereute. Aber es musste sein. Dafür kannte ich sie zu gut. Selbst jetzt würde sie die Geschichte nur bedingt auf sich beruhen lassen.

»Haben wir uns verstanden?«

Ein abgehacktes Nicken war alles, was ich bekam.

»Gut. Und jetzt raus aus meinem Zimmer.«

Meine Miene war offenbar so überzeugend, dass ich damit jeden weiteren Protest im Keim erstickte. Victorius ging. Meine Mum folgte ihm – natürlich nicht, ohne ihre Laune am Lichtschalter und an der Tür auszulassen. Zittrig blieb ich im Halbdunkel meines Zimmers zurück.

Oh, das ist noch nicht vorbei …

Das ist so was von noch nicht vorbei …

Zwei starke Arme schlangen sich von hinten um mich. Lucian. Er war nie wirklich weg gewesen. Er hatte nur gewusst, dass meine Mum mich nicht in Ruhe lassen würde, solange er noch da war. Ich lehnte mich an seine Brust und badete in seinem Geruch. Augenblicklich ließ meine Migräne nach.

»Es tut mir leid«, flüsterte er.

»Wehe, du fängst jetzt auch noch damit an, wie aussichtslos das mit uns ist.«

»Daran hätte ich nie im Traum gedacht.« Er drehte mich um und zog mich an sich, bis er sein Kinn auf meinen Kopf legen konnte. Wie immer rückte seine Umarmung alle Probleme in weite Ferne.

»Ich wollte dir eigentlich nur einen schönen letzten Abend schenken, bevor ich gehen muss.«

Ein dicker Kloß bildete sich in meiner Kehle. Das hatte ich verdrängt. Morgen früh würde Lucian nach Patria aufbrechen – sozusagen in die Hauptstadt der Katakomben. Er wurde dorthin beordert, weil der Hohe Rat der Liga eine Art Untersuchungsausschuss zu Thanatos’ und Elektras Verrat einberufen hatte. Und sehr wahrscheinlich würde es auch darum gehen, was mit dem Halbblutmädchen mit der ewigen Seele geschehen sollte.

»Geh nicht«, bat ich leise. Ich wusste nicht, ob ich seine Reise in die Katakomben oder die heutige Nacht meinte, aber die Angst, dass er nicht zurückkommen würde, war einfach zu groß. Die Angst, nie wieder dieses unglaubliche Gefühl der Geborgenheit spüren zu können.

»Ich muss«, seufzte er – und hatte damit recht. In beiden Fällen. Wir sollten weder die Nerven meiner Mutter noch seinen Brachion-Eid überstrapazieren. Schließlich hatte er in letzter Zeit zu oft direkte Befehle des Hohen Rates missachtet und damit sein Leben aufs Spiel gesetzt. Er lehnte sich sowieso schon wieder sehr weit aus dem Fenster, indem er mich nicht nach Patria mitnahm. Trotz ausdrücklicher Vorladung.

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, also senkte ich meine Mauern und ließ Lucian all meine Gefühle spüren.

Seine Umarmung wurde fester – fast verzweifelt.

Denk dran, Kleines, hörte ich sein Flüstern in meinem Kopf. Ich bin immer nur einen Gedanken entfernt.

Kapitel 2

Ex-Freunde und Ex-Feinde

»Achte auf deine Deckung!«, schrie Coach Morton. Ich duckte mich. Der Handball verfehlte mich nur knapp und sauste an meinem Kopf vorbei. Wer sich diesen dämlichen Parcours ausgedacht hatte, war eindeutig sadistisch veranlagt. Ich stieß mich ab, erwischte das Seil und schwang mich auf den mannshohen Zylinder. Ein weiterer Ball verfehlte mich. Vier Sprünge, vier weitere Zylinder, dann lag der Balken vor mir. Eine eigentlich einfache Übung, wäre da nicht der Dauerbeschuss meiner Mitschüler gewesen. Ich hetzte los. Ein Ball erwischte mich am Schienbein. Die Menge johlte. Mist.

»Punkt für deine Gegner!«, rief der Coach. Ich rang um mein Gleichgewicht. Wer im Sand landete, bekam seine Strafe verdreifacht, und ich hatte ganz sicher nicht vor, den Rest meines Tages mit Extra-Runden um den Sportplatz zu verbringen. Noch drei Schritte, dann war ich auf der Netzbrücke. Jetzt hieß es, nicht in den Maschen hängen zu bleiben. Ich konzentrierte mich so sehr, dass ich den nächsten Ball nicht kommen sah. Er erwischte mich an der Schulter.

»Und noch ein Punkt. Was ist los mit dir, Ari?«

Am liebsten hätte ich dem Coach ins Gesicht geschrien, was tatsächlich mit mir los war. Dass mein Freund, der wenig für Diplomatie und noch weniger für Autoritäten übrighatte, gerade vor der übernatürlichen Version eines Disziplinarausschusses stand, der jederzeit und quasi mit einem Fingerschnippen sein Leben beenden konnte.

Dem nächsten Ball wich ich aus und schon trennten mich nur noch siebzehn Sprossen von der grünen Matte, die das Ziel markierte. Die Sprossen des Todes, wie Lizzy sie liebevoll getauft hatte. Orang-Utan-Feeling inklusive. Ich hangelte los. Doch je mehr ich mich wie ein Affe fühlte, desto mehr hinterfragte ich den Sinn dieser Aktion. Wenn nicht ein verkappter Indiana Jones oder Ninja Warrior unter uns war, würde niemand von uns in die Bedrängnis kommen, sich eine Leiter entlanghangeln zu müssen. Und dabei war das hier noch nicht einmal eine der exklusiven Phalanx-Klassen unter Ausschluss der NEMos, wie die Phalanx-Schüler die N-icht E-ingeweihten M-enschen nannten. Das hieß, hier lernten auch zukünftige Anwälte, Zahnärzte und Banken-Manager alles über das ›Hangeln unter Feindbeschuss‹. Pfft. Ich sollte nicht hier sein. Ich sollte mit Lucian in Patria sein und dafür sorgen, dass der Hohe Rat verstand, was wirklich passiert war.

Schmerz explodierte in meinem Magen, als ein Ball mich mit der Wucht einer Kanonenkugel traf. Ich krümmte mich. Meine Finger fanden keinen Halt mehr und ich landete sehr unsanft mit dem Hintern voran in der Sandgrube.

»Guter Wurf, Brendon!«, rief Coach Morton über das Grölen meiner Mitschüler. Ich stöhnte und ließ mich zurück in den Sand fallen. Es war fast ein Wunder, dass ich noch bei Bewusstsein war, so heftig hatte mich der Ball erwischt. Dass der Wurf von Brendon stammte, erklärte einiges, denn er war ganz sicher nicht mit normalsterblicher Kraft ausgeführt worden.

»Sorry, Ari.« Das Gesicht meines Ex tauchte über mir auf. »Aber du hast eine so attraktive Zielscheibe abgegeben, dass ich einfach nicht widerstehen konnte.«

»Das war gegen die Regeln«, keuchte ich immer noch benommen vor Schmerzen. Brendon war ein Adelphos, ein Phalanx-Jäger in Ausbildung, und stand kurz vor seinem Abschluss. Das bedeutete, dass er bereits zahlreiche Siegel besaß, die seine Kraft und seine Sinne auf ein übermenschliches Level hoben. Allerdings durfte er eigentlich keinen Nutzen daraus ziehen, solange NEMos anwesend waren. Schon gar nicht zu seinem eigenen Vorteil.

Brendon lächelte. »Ach komm schon, Ari. Streng genommen schummelst du doch auch, immerhin bist du ein halber Brachion. Keiner dieser Weichei-Würfe wäre dir gefährlich geworden. Ich hab also nur für ein bisschen Gerechtigkeit gesorgt.«

Mit Freude hätte ich ihm die Füße weggetreten und seiner selbstgerechten Visage ein kostenloses Sand-Peeling verpasst, aber Coach Mortons Pfeife rettete meinen Ex.

»Meine Damen und Herren, so gern ich auch zusehe, wie ihr euch an meinem Lieblingsparcours abmüht, die Stunde ist vorbei. Alle auf der Liste dürfen jetzt zu ihren Ehrenrunden antreten. Alle anderen ab unter die Dusche.«

Drei Treffer und ein Absturz bedeuteten neun Runden um den Sportplatz. Damit lag ich zwar im guten Mittelfeld, was die NEMos betraf. Für eine Phalanx-Schülerin und einen Halb-Brachion kam das allerdings einem Totalausfall gleich.

»Du musst … dir keine Sorgen um … unsere Patria-Delegation machen«, japste Lizzy neben mir. Sie hatte nur drei Strafrunden aufgebrummt bekommen, röchelte aber jetzt schon wie bei einem Extrem-Marathon. »Mein Pa … hat das schon oft … gemacht.«

»Was?« Eigentlich hatte ich keine große Lust zu reden. Ich hasste Joggen. Die Dämmerung und der nahende Winter trugen auch nicht gerade zu meiner Stimmung bei. Ganz zu schweigen von den zwei Schatten, die versuchten, uns unauffällig zu folgen. Leibwächter. Zwar saß mein Vater hinter Schloss und Riegel, aber ich war trotzdem noch das Mädchen mit der sehr speziellen Seele. Izara. Verkörperung einer Primus-Legende, möglicher Auslöser eines Armageddons und stolze Trägerin stetig wachsender Kopfgelder. Lizzy hatte neulich gemeint, ich sei unter den Unsterblichen in etwa so beliebt wie der Ring aus Herr der Ringe – mitsamt den gleichen Lösungsoptionen: Entweder zerstören oder als Mittel zur Weltherrschaft an sich reißen.

Da fühlt man sich doch gleich besser.

Aus diesem Grund hat die Phalanx mir Asyl gewährt. Gleichzeitig waren die Sicherheitsvorkehrungen auf Alarmstufe Violett hochgestuft worden. Keine Ahnung, was das bedeutete, aber Lizzys Vater hatte eine ganze Einheit zusätzlicher Jäger im Lyceum stationiert und den NEMos als privaten Security-Dienst verkauft. Vorkehrungen wegen einer akuten Bedrohung. An einem Elite-Internat voller entführungsgefährdeter Kinder der Oberschicht erregte das wenig Aufsehen.

»Sich … wegen ’nem … Menschen mit der … Liga angelegt.«

»Ich bin kein Mensch.« Eine Tatsache, die sich im eingeweihten Lyceum genauso schnell verbreitet hatte wie in der Welt der Unsterblichen.

»Du hast … eine Seele – damit fällst du … in die Zuständigkeit … der Phalanx … – so lauten die … Vereinbarungen.« Abrupt blieb Lizzy stehen. »Okay. Schluss. Ich … kann nicht mehr.« Sie stützte sich mit einer Hand auf ihrem Knie ab, während sie mit der anderen durch die Luft fuchtelte. Grinsend trottete ich zu ihr zurück. Auch meine Leibwächter stoppten und begannen zur Tarnung mit Dehnübungen. Wie unauffällig.

»Zwei …einhalb Runden … gelten schon fast … als drei.«

»Ich bin mir sicher, dass Coach Morton das anders sieht.«

»Ist mir egal«, keuchte meine sporthassende Freundin. »Ich geh jetzt heim. Ich brauch … meinen Schönheitsschlaf, schließlich ist morgen … ein schwerer Tag für dich. Und es ist … meine Pflicht als deine beste … Freundin, topfit zu sein, … um dir beistehen … zu können.«

Kein Grund, mich schon jetzt daran zu erinnern.

»Wegen mir können wir den Ausflug gerne ausfallen lassen«, murrte ich.

»Netter Versuch …« Lizzy klopfte mir auf die Schulter und hinkte Richtung Parkplatz davon. »Denk an den extragroßen Milchkaffee … den ich dir als Belohnung versprochen hab!«, rief sie mir hinterher. Ich verdrehte die Augen. Wenn Lizzy sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnten sie keine zehn Pferde davon abhalten.

Frustriert setzte ich mich wieder in Bewegung. Meine Leibwächter hatten sich ihren Abend bestimmt anders vorgestellt, als von mir zu einem zusätzlichen Lauftraining verdonnert zu werden. Keine Ahnung, wer gerade Dienst hatte, aber morgen wusste bestimmt die ganze Einheit von meiner Schlappe.

Die Sonne war inzwischen untergegangen und färbte den Himmel hinter den Bergen in feuriges Orange. Mit einem elektrischen Krachen schaltete sich die Flutlichtanlage ein. Bis ich mit meiner Strafe fertig war, würde es bestimmt stockdunkel sein. Das einzig Gute daran war, dass ich so die perfekte Ausrede hatte, um das Abendessen mit Victorius und meiner Mum zu verpassen.

Ein seltsames Gefühl beschlich mich. Ein Frösteln, als würde der erste Schnee fallen. Trotzdem war mir nicht kalt. Ganz im Gegenteil, denn eine angenehme Wärme prickelte mir auf der Haut. Fast wie … schnell schob ich die schlechten Erinnerungen wieder in die finstere Ecke, aus der sie gekrochen waren. Seitdem ich erfahren hatte, dass ich acht lange Jahre heimlich überwacht und beschattet worden war, spielte mir mein Verstand manchmal Streiche. Feuer und Schnee. Es war immer Feuer und Schnee – die Energiesignatur eines ganz speziellen Unsterblichen. Aber dieser Unsterbliche war tot und das Schulgelände glich inzwischen einer Hochsicherheitsfestung … Ich beschleunigte meine Schritte, um wieder einen klaren Verstand zu bekommen. Lucians Abreise und das Chaos mit meiner Mum belasteten mich wohl mehr, als ich mir eingestehen wollte.

Abends mochte ich das Lyceum. Nur die Schüler, die in den Internatsgebäuden wohnten, waren noch auf dem Gelände. Und um diese Uhrzeit durften sich lediglich die Älteren noch außerhalb der Wohnheime aufhalten. Die seltene Ruhe und die in goldenes Licht getunkten Steinwände des alten Klosters mit all seinen Erkern, Türmen und Torbögen wirkten fast schon idyllisch.

Im Brunnenhof bremste ich meine Schritte. Hinter den Werkstätten würde gleich die ›Residenz‹ mit den Wohnungen der Lehrer auftauchen. Und dort erwartete mich eine mütterliche Du-hast-das-Essen-verpasst-Standpauke, auf die ich im Augenblick gut verzichten konnte. Kurzerhand änderte ich meine Route und lief an der Kulturvilla vorbei in die entgegengesetzte Richtung. Wenn ich schon Ärger bekommen sollte, dann konnte er sich wenigstens auch richtig lohnen.

An der Pforte zur Krankenstation verrichtete Igor seinen Dienst. Dem Namen nach hätte man einen wortkargen sibirischen Bären erwarten können, aber der Krankenpfleger glich in Aussehen, Stimme und Laune eher einem Chipmunk.

»Hallo, Ari!«, begrüßte er mich in gewohnt piepsigem Tonfall. »Schön, dass du auch mal wieder vorbeischaust. Aaron freut sich bestimmt über die vielen Besuche.«

Ich erwiderte Igors strahlendes Lächeln und schluckte die Zweifel an Aarons Freude runter. Der rothaarige Jäger lag seit Amsterdam im Koma. Er war damals durch einen unbekannten Zauber in Tiefschlaf versetzt worden. Natürlich hat die Phalanx weder Kosten noch Mühen gescheut, um ihn zu retten. Erfolglos. Keiner von uns sprach es aus, aber die Chancen, dass wir unseren Aaron jemals zurückbekommen würden, waren verschwindend gering.

»In einer Stunde endet die Besuchszeit. Dann solltest du besser raus sein, wenn ich den Alarm aktiviere«, ermahnte mich Igor, nachdem er mich durch die Sicherheitstür gelassen hatte.

»Alles klar!«, rief ich über die Schulter und verschwand schnellstens in den kargen Gängen der Krankenstation. Der mausgesichtige Igor konnte nämlich eine richtige Tratschtante sein, sofern man ihn nicht früh genug abwürgte. Dass ich über seine fünf Tanten, seinen kleinen Bruder und seine Verlobte namens Loretta Bescheid wusste, war dafür Beweis genug.

Vor Aarons Tür hielt ich inne. Das kühle Kribbeln an meiner Wirbelsäule warnte mich, dass sich dort drinnen außer dem schlafenden Jäger noch jemand anderes befand. ›Aaron freut sich bestimmt über die vielen Besuche …‹, hatte Igor gesagt. Vielleicht hätte ich ihm doch besser zuhören sollen?

Meine Wahrnehmung war inzwischen viel geübter als noch vor ein paar Wochen und ich konnte deutlich die Signatur eines Primus spüren. Er roch nach knisternden Pergamenten im Kerzenschein. Das erinnerte mich an einen sehr alten Unsterblichen mit Hang zu traditioneller asiatischer Mode und der Fähigkeit, Gedanken zu lesen. Ich zögerte. So gerne ich Ramadon wiedergesehen hätte, so gefährlich waren die Informationen, die sich seit unserem letzten Aufeinandertreffen in meinem Hirn angesammelt hatten. Wenn der Chronist das Versprechen brechen würde, das er mir damals in der Krypta gegeben hatte, und ohne meine Erlaubnis in meinen Gedanken stöberte, wären wir geliefert.

»Sollte ich die Ursache für dein Zögern sein, wäre ich in höchstem Maße daran interessiert, den Grund dafür zu erfahren«, schallte seine glockenklare Stimme auf den Gang hinaus. Kurz darauf öffnete sich die Zimmertür wie von Zauberhand. Ein ägyptisch aussehender Junge in einem grünen Kimono stand an Aarons Krankenbett. Seine rechte Hand schwebte wenige Zentimeter über dessen Brust. Sirrende Energie ließ die Luft in dem kleinen Zimmer vibrieren, bis der Chronist seine Hand unvermittelt schloss und den Zauber beendete. Der plötzliche Druckabfall sog mir die Luft aus den Lungen und ließ meine Ohren knacksen.

»Als hätte jemand Stränge von Primus- und Hexen-Magie genommen und zu einem modernen Kunstwerk verflochten«, murmelte er zu sich selbst. Dabei wirkte er unangebracht fasziniert.

»Kannst du ihm helfen?«, wollte ich wissen. Sofort ruhte der kühle Blick des Chronisten auf mir und sezierte mich bis ins Mark. Meine Mauern waren intakt, aber Ramadon wäre zweifelsohne in der Lage, sie mit einem Fingerschnipsen zu durchbrechen. Er war der älteste Primus, dem ich je begegnet war, und selbst jetzt – im Ruhezustand – hatte seine Macht eine beunruhigende Wirkung auf meine Nervenenden.

»Ich könnte den Bann mit Gewalt zerschlagen, doch wäre es sehr schade um diese reizvolle Kreation.«

Ein paar perplexe Augenblicke verstrichen, bevor ich den Sinn seiner Worte sortiert hatte. Ich musste mich erst wieder daran erinnern, dass ich seine Begeisterung für Aarons Misere nicht unter normalsterblichen Moral-Aspekten bewerten durfte.

»Abgesehen davon würde der Jäger es voraussichtlich nicht überleben. Das wäre wohl kaum in deinem Sinne.«

Damit wandte sich der Chronist ab und sank umgeben von grünen Kimono-Stoffwellen auf einen geblümten Besuchersessel nieder.

»Verschwenden wir unsere Zeit nicht mit Tatsachen, die wir beide nicht ändern können. Ich bin hier, um Lucians Aussage bezüglich des Jägers zu überprüfen«, meinte er und bedachte Aaron mit einem sanften Fingerzeig. »Der Hohe Rat erwartet meine Einschätzung.«

Dann war Lucian also mitten in seiner Befragung. Und man schien ihm nicht zu glauben …

»Lucian lügt nicht.« Ich hatte keine Ahnung, warum ich das Bedürfnis hatte, ihn hier und jetzt vor dem Chronisten und einem komatösen Jäger zu verteidigen, aber ich kam nicht gegen diesen inneren Drang an. Obwohl ich noch nicht einmal wusste, was genau er dem Hohen Rat erzählt hatte.

Ramadon legte seinen Kopf schief und beobachtete jedes Detail meines Unbehagens. Wie schon bei unserem ersten Zusammentreffen kam ich mir plötzlich vor wie das menschliche Studienobjekt eines Aliens. Keine Regung, kein Blinzeln. Nur der interessierte Blick aus uralten Augen.

»Ich weiß«, sagte er schließlich. Auf seinem Gesicht erschien etwas, das einem Lächeln sehr nahekam. »Jeder Primus kennt den närrischen Wahrheitsschwur, den Lucian geleistet hat, um seinen Vater gegen sich aufzubringen.«

Ich runzelte die Stirn. Das war neu. Bislang hatte ich gedacht, Lucian hätte einfach eine aufrichtige Ader und einen dramatischen Hang zur Wahrheit. Aber scheinbar steckte da weit mehr dahinter.

Ramadon interpretierte meinen überraschten Gesichtsausdruck falsch und fügte hinzu: »Die Familie Ankou verfügt seit Jahrhunderten über ein gewisses Skandalpotenzial und den damit verbundenen Unterhaltungswert.« Er strich sich seinen Kimono glatt, wodurch er seltsam weiblich wirkte. »Ähnlich euren Windsors.«

Jetzt hätte ich fast laut aufgelacht. Das Bild von Lucian als Königshaus-Sprössling war genauso absurd wie die Vorstellung, dass Ramadon sich mit royaler Klatschpresse beschäftigte. Allerdings verdrängte meine Sorge schnell jedes andere Gefühl. Wenn Lucian einen Schwur geleistet hatte, der ihn zur Wahrheit verpflichtete, war es nur eine Frage der Zeit, bis wir aufflogen. Und dabei machte ich mir weniger Gedanken um Thanatos oder meine unerklärlichen Fähigkeiten als um unsere verbotene Beziehung.

»Mach dir keine Sorgen. Lucian beherrscht das Spiel mit der Wahrheit besser als jeder andere und der Hohe Rat hat schon seit Jahrhunderten nicht mehr die richtigen Fragen gestellt.«

Ein Tritt in den Magen hätte mich nicht weniger aus dem Konzept gebracht. »Wolltest du dich nicht aus meinen Gedanken fernhalten?«, fauchte ich Ramadon an.

Eine elegant geschwungene Augenbraue wanderte in die Höhe.

»Das war nur eine logische Schlussfolgerung. Ich halte meinen Schwur. Kein Primus, der noch einen Funken Ehre in sich trägt, würde sein Wort brechen.«

Aus schmalen Augen sah er mich an. Er fühlte sich scheinbar in seinem Stolz genauso verletzt wie ich in meiner Privatsphäre. Es kostete mich meinen ganzen Mut, seinem Blick standzuhalten. Schließlich gab Ramadon einen seltsamen Laut von sich, der wohl ein Seufzen hätte werden sollen.

»Allerdings gestehe ich, mich selten so verlockt gefühlt zu haben.« Der Chronist stand auf. Es war eine schlichte Bewegung, doch die Aura seiner Macht wurde dadurch so präsent, dass ich fast zurückgewichen wäre. »Rätsel liegen in der Luft«, fuhr er fort. »James weicht meinen Fragen geschickt aus und deine Freundin Felizitas meidet meine Gesellschaft. Sie vernachlässigt ihre Aufgaben in der Krypta. Sehr wahrscheinlich, um ihre Erinnerungen vor meinen Fähigkeiten zu schützen. Ihr Vater weiß nichts davon, also nehme ich an, dass ihr eure Geheimnisse nicht nur vor den Primus zu verbergen versucht.«

Unglücklicherweise traf er damit genau ins Schwarze. Lizzy, Toby und die Jäger hatten verabredet, sich vom gedankenlesenden Ramadon fernzuhalten. Jimmy mit seiner angeborenen Immunität gegen Primus-Kräfte hätte ihr Verhalten eigentlich decken sollen, war damit aber nicht sonderlich erfolgreich gewesen.

»Lizzy ist sicher nur –« Der Chronist hob seine Hand und schnitt mir damit das Wort ab.

»Ich habe keine Frage gestellt, also bedarf es keiner Antwort.« Er kam auf mich zu und das Prickeln seiner Macht wurde so intensiv, dass mir das Atmen schwerfiel. »Ich erlaube mir kein Urteil über die Klugheit eures Vorgehens. Aber du sollst wissen, dass jedes Geheimnis irgendwann seinen Preis kosten wird. Bist du bereit, ihn zu zahlen?«

Was für eine Frage! Ich hatte mir die Geheimniskrämerei nicht ausgesucht. Was konnte ich denn dafür, dass meine Seele und meine Gefühle für Lucian irgendwelchen verschrobenen Unsterblichen nicht in den Kram passten?!

»Mir bleibt wohl nichts anderes übrig.«

Bedächtig nickte Ramadon.

»Meine Einladung an dich gilt noch immer. Ich würde mich freuen, dich in der Krypta willkommen heißen zu dürfen. Die Welt ist im Wandel und du solltest dich vor jenen in Acht nehmen, die ihren Platz darin in Gefahr sehen. Dazu zähle ich mich nicht.« Mit diesen Worten überrollte mich eine Welle schwarzen Lichts. Ich blinzelte und der Chronist war verschwunden. Zurück blieb ein Berg an Fragezeichen und ein schlafender Aaron.

Ich ließ mich müde auf den geblümten Sessel plumpsen und dachte über Ramadons Warnung nach. War ich wirklich bereit, den Preis zu zahlen, den all das mich kosten würde? Mein Leben stand auf dem Spiel. Gut, damit konnte ich umgehen. Aber würde ich auch das Leben meiner Freunde riskieren? Aaron sah so friedlich aus mit seinen verstrubbelten Haaren und den wilden Sommersprossen. Ich konnte mir nur zu gut vorstellen, dass er jeden Moment aufwachen und mich für meine Zweifel tadeln würde. »Bilde dir nur nicht zu viel auf deine Seele ein, Ari«, würde er wahrscheinlich sagen. »Ich treffe meine Entscheidungen immer noch selbst.«

Aber er würde wohl nie wieder aufwachen. Meinetwegen.

Kapitel 3

Der König ist tot, …

Ich konzentrierte mich auf die Spitzen meiner Pumps, um die herrschaftliche Treppe unfallfrei hinter mich zu bringen. Außerdem umringten uns die Jäger so dicht, dass ich sonst unweigerlich auf einen fremden Hintern hätte starren müssen. Lizzy war weniger rücksichtsvoll. Sie versuchte es zwar hinter ihrer ernsten Miene und dem strengen Dutt zu verbergen, aber sie genoss die Rückansicht meiner Leibwächter in vollen Zügen.

»Denk daran, was mein Pa gesagt hat.« Ihr Flüstern hallte bis in den letzten Winkel der stuckverzierten Decken. »Nichts unterschreiben und möglichst wenig reden.«

Ich rollte mit den Augen. Sie sollte sich besser selbst an ihren Rat halten. In diesem überfrachteten Palast hatten die Wände sicherlich Ohren. Es war ohnehin kaum vorstellbar, dass es sich um ein simples Bürogebäude handelte. Genau genommen rechnete ich jeden Augenblick damit, dass die Queen ums Eck spazierte.

»Ein Wort von dir, und wir bringen dich hier raus«, raunte Ryan mir zu und lockerte mit zwei Fingern seinen Hemdkragen. Anders als die übrigen Jäger schien sich der tätowierte Hüne in seinem schicken Anzug nicht sehr wohlzufühlen.

»Schon klar. Lass es uns einfach hinter uns bringen«, meinte ich. Ryan nickte und richtete seinen Blick wieder auf die Umgebung. Bis Gideon aus Frankreich zurück war, war ihm – sehr zu meiner Freude – die Verantwortung für meine Sicherheit übertragen worden. Und der Jäger mit dem Irokesen-Schnitt nahm seine Aufgabe sehr ernst. Wir hatten das Lyceum mit drei gepanzerten SUVs und einer halben Phalanx-Armee verlassen. Alle schwer bewaffnet und in Alarmbereitschaft.

Ein geschniegelter Sekretär eilte auf uns zu und teilte die Jäger vor mir wie Moses das Rote Meer. Ich ignorierte den Tumult und konzentrierte mich stattdessen auf den Neuankömmling, der mich mit einem gekünstelten Lächeln begrüßte.

»Sie müssen Miss Harris sein.«

Der junge Mann mit Seitenscheitel sprach gedämpft, als wäre in dieser barocken Empfangshalle jedes zu laute Wort ein Sakrileg.

»Morrison«, korrigierte ich ihn. »Ich habe nach der Scheidung den Namen meiner Mutter angenommen.«

Das Auge des Sekretärs begann zu zucken. Sein Fehler schien ihm fast schon körperliche Schmerzen zu bereiten. »Selbstverständlich. Bitte folgen Sie mir, Miss Morrison. Sie werden bereits erwartet.«

Mit einem flüchtigen Blick streifte er meine Leibwächter-Armada, verlor aber kein Wort darüber. Offensichtlich war man hier Klienten mit ausgefallenen Sicherheitsbedürfnissen gewohnt. Erst als wir eine Tür erreichten, durch die locker ein Linienbus gepasst hätte, stoppte er meine stummen Schatten.

»Leider müssen Ihre Begleiter draußen warten. Seien Sie versichert, dass Ihnen bei Rottenbach&Partner keinerlei Gefahr droht. Sie können also getrost –«

»Keine Chance«, knurrte Ryan. Sein Tonfall hatte zur Folge, dass sich zwei Damen erschrocken ans Herz griffen, während weiter hinten eine Bürotür missbilligend ins Schloss gezogen wurde.

Erstaunlicherweise hielt der Sekretär Ryans tödlichem Blick wacker stand.

»Sie müssen entschuldigen, aber eine Testamentsverlesung ist eine private Angelegenheit. Nur der engste Kreis darf zugegen sein. Wir bei Rottenbach&Partner tun alles, um die letzten Wünsche unserer verstorbenen Klienten zu erfüllen.«

»Soweit ich weiß, war der letzte Wunsch meines Vaters, mich tot zu sehen«, klärte ich ihn auf. »Sie werden also verstehen, dass sich mein Vertrauen in Ihre Kanzlei in Grenzen hält.«

Ein wenig bleich geworden nestelte der Sekretär an seiner Krawatte. Sein zuckendes Augenlid hatte sich inzwischen in exzessives einseitiges Blinzeln gesteigert. »Oh, das tut mir sehr leid für Sie. In diesem Fall ist es vermutlich vertretbar, Ihnen eine Begleitperson zu erlauben. Wäre das denn für Sie akzeptabel?«

Ich sah zu Ryan. Er schien damit nicht glücklich zu sein, nickte aber. Sofort zogen sich die übrigen Jäger zurück und postierten sich an strategisch wichtigen Punkten im Foyer. Lizzy sah mich aufmunternd an und setzte sich geschäftig wie eine Fernsehanwältin auf einen Diwan gegenüber der Linienbus-Tür. Die Botschaft war klar: Unter den gegebenen Umständen ließ sie Ryan den Vortritt.

Also dann, auf in den Kampf.

Drinnen erwartete mich ein prächtiger Audienzsaal, in dessen Mitte ein Tisch stand, der in seinen Ausmaßen König Artus’ Tafelrunde würdig gewesen wäre. Anders konnte man den Koloss von Möbelstück einfach nicht beschreiben. Der Sekretär beeilte sich, mir einen Kaffee oder Cappuccino oder Espresso oder Tee oder Saft oder Wasser ohne oder mit Kohlensäure anzubieten. Da ich nicht gut genug aufgepasst hatte, entschied ich mich für Letzteres, während sich eine ältere Dame an einer antiken Schreibmaschine bereit machte, das nun Folgende zu protokollieren.

»Miss Harris, endlich lerne ich Sie kennen. Ich habe schon so viel von Ihnen gehört«, hallte eine gebrechliche Stimme durch den Raum. Ein Mann, dessen Falten selbst eine Rosine in den Schatten stellten, hinkte auf mich zu und streckte mir seine Hand entgegen. Ich ergriff sie, korrigierte ein weiteres Mal meinen Namen und verkniff mir die Frage, was er denn von mir gehört hatte. Ich war nicht hier für Small Talk.

Dr. Rottenbach höchstpersönlich – wie sich der Rosinen-Mann vorstellte – schien mir meine Einsilbigkeit nicht übel zu nehmen. Er strich seinen Nadelstreifenanzug glatt und humpelte zu seinem Platz an der Artus-Tafel.

»Setzen Sie sich, Miss Morrison.« Seine vage Geste in Richtung der freien Stühle bedeutete wohl, dass ich die Qual der Wahl hatte. Allerdings hastete der Sekretär an mir vorbei und stellte mein Wasserglas am gegenüberliegenden Ende des riesigen Tisches ab. Tja, da blieb nur zu hoffen, dass der betagte Notar ein gutes Gehör hatte. Sonst würde das jetzt gleich eine ziemliche Plärrerei werden. Ich warf Ryan einen unbehaglichen Blick zu. Er zwinkerte ermutigend zurück, bevor er wieder zur finster dreinschauenden Salzsäule neben der Eingangstür wurde.

»Sie müssen entschuldigen, dass alles so lang gedauert hat. Bei Todesfällen im Ausland kommt das leider ab und an vor, besonders wenn sich die Identifikation der sterblichen Überreste derartig kompliziert darstellt. Hat die Polizei Sie über die Ermittlungen auf dem Laufenden gehalten?«

Ich nickte und ignorierte den mitleidsvollen Gesichtsausdruck, den der runzlige Notar wohl seiner jahrzehntelangen Übung verdankte.

»Gut, dann lassen Sie uns beginnen. Ihr Cousin ist auch schon hier, also steht der Testamentsverlesung nichts mehr im Wege.«

Ich wollte mir gerade meinen Stuhl zurechtziehen, als der Sinn von Dr. Rottenbachs unverfänglichen Worten bei mir ankam. Meine Alarmglocken schrillten.

Ich hatte keinen Cousin.

Eine Bewegung am Fenster ließ mich erstarren. Beim Hereinkommen war mir die Gestalt im Gegenlicht nicht aufgefallen. Jetzt prasselte der Geruch von Feuer und Schnee auf meine Sinne ein. Meine Nackenhaare standen zu Berge.

Ein leises Lachen traf mich mit der Wucht eines Güterzuges. »Sie müssen die Überraschung meiner lieben Cousine verzeihen, Dr. Rottenbach. Ich glaube nicht, dass sich Ari an mich erinnern kann«, sagte der Fremde und drehte sich um.

Und ob ich mich an ihn erinnerte. In allen Einzelheiten. Ich hatte ihn kämpfen sehen. Ich hatte ihn töten sehen. Ich hatte ihn sterben sehen. Und trotzdem stand er nun vor mir.

Das gestern am Sportplatz war also keine Einbildung gewesen. Und auch die Male davor …

Ich hatte keine Ahnung, wie das möglich war, aber es kostete mich meine gesamte Selbstbeherrschung, nicht gleich meinen Aziam zu ziehen und ihn noch einmal über die Klinge springen zu lassen.

»Tatsächlich?«, unterbrach Dr. Rottenbach meine gewalttätigen Fantasien. »Dann sollte ich Sie natürlich vorstellen. Miss Morrison, das ist Benedikt Black, der Sohn Ihrer verstorbenen Tante.«

Ich hatte keine Tante. Ich hatte keinen Cousin. Und das war ganz sicher nicht Benedikt Black, der gerade mit den Händen in den Hosentaschen auf mich zuschlenderte. Als er eine davon herauszog und mir unter die Nase hielt, zuckte ich zurück.

Keine Waffe. Nur eine Hand.

Ari, reiß dich zusammen, sonst fängt Ryan gleich einen Kampf an, den er nicht gewinnen kann. Ich konnte von Glück sagen, dass der Jäger den ehemaligen Bluthund meines Vaters nicht erkannt hatte. Andernfalls wäre das Ganze hier schon längst in ein Gemetzel ausgeartet. Trotzdem spürte ich Ryans nervöse Wachsamkeit.

»Hi, Cousinchen«, sagte Tristan mit einem spöttischen Lächeln auf den Lippen. Er wusste nur zu gut, in welche Zwickmühle er mich brachte. Solange ich die vielen Unschuldigen im Gebäude nicht in Gefahr bringen wollte, würde mir wohl nichts anderes übrig bleiben, als sein Spielchen mitzuspielen.

Widerwillig griff ich nach seiner Hand.

»Nett, dich kennenzulernen, Benedikt.«

Sein Händedruck war warm und fest. Seltsamerweise entspannte ich mich sofort. Wenn ich richtiglag, war Tristan in den letzten Wochen oft genug in meiner Nähe gewesen. Er hätte nicht bis heute warten müssen, um mir etwas anzutun. Oder?

»Ist lange her, Ariane. Als wir uns das letzte Mal von Angesicht zu Angesicht begegnet sind, warst du noch ein kleines Mädchen.«

Ich entwand ihm meine Hand und verstaute sie in den Taschen meines Jacketts. Sonst hätte ich ihm für seine provokative Anspielung die Augen ausgekratzt. Immerhin war es gerade mal zwölf Tage her, seit er mich im Auftrag meines Vaters entführt hatte.

»Zu schade, dass wir uns unter so tragischen Umständen wiedersehen«, fuhr er unbeirrt fort. »Der arme Onkel Wilson – dabei war dein Vater ein so guter Autofahrer.«

Sein Zynismus war unüberhörbar, aber ich ließ mir nichts anmerken. Meine Mauern waren bis zum Anschlag oben. Selbst wenn Tristan mit seinen undefinierbaren Fähigkeiten meine Gefühle hätte lesen können, wäre ihm nichts Verdächtiges aufgefallen.

»Seinem Schicksal kann man wohl nicht entkommen«, murmelte ich. Tristan hielt meinen Blick fest. Seine Kiefer arbeiteten, als ließe er sich den Geschmack meiner Worte auf der Zunge zergehen.

»Scheint so.«

Dr. Rottenbach bemerkte die Spannung zwischen uns nicht. Oder aber er ignorierte sie. Ganz Bürokrat zitierte er uns an die Artus-Tafel und begann mit seinem notariellen Blabla. Ich bemühte mich, halbwegs zu folgen, obwohl meine Aufmerksamkeit immer wieder zu Tristan abdriftete. Er sah noch genauso aus wie in der Nacht in den Katakomben und trotzdem hatte er sich verändert. Vielleicht lag das auch daran, dass ich zum ersten Mal die Zeit hatte, ihn in Ruhe zu betrachten – ungefesselt, unverletzt und ohne herumfliegende Steinbrocken. Der Typ war ein einziges Bündel von Gegensätzen. Seine raspelkurzen Haare wirkten militärisch, seine Gesichtszüge kantig, aber seine grauen Augen strahlten eine so tiefe Traurigkeit aus, als hätten sie unendliches Leid gesehen. Ihn umgab eine faszinierende Sanftheit, während jede Bewegung eine Zurschaustellung von Dominanz war. Er schien entschlossen und gleichzeitig unsicher, sympathisch und gleichzeitig eiskalt. Schließlich hatte er keine Sekunde gezögert, mir eine Waffe an den Kopf zu halten und den Abzug zu drücken.

»… deshalb bat mich Mr Harris, Sie beide hier und heute einzuladen. Die Verwaltung seines Nachlasses kann man durchaus als komplex bezeichnen. Aber machen Sie sich keine Sorgen, Mr Harris hat alle nötigen Vorkehrungen getroffen, um …«

Eigentlich interessierte mich der letzte Wille meines Vaters herzlich wenig. Ich wusste nicht mal, ob das Testament von meinem Stiefvater Wilson Harris stammte oder von meinem unsterblichen Erzeuger Thanatos. Es war mir auch egal. Ich war ohnehin nur auf Wunsch von Lizzys Vater hier. Die Phalanx brauchte Informationen darüber, was aus Omega Inc. werden würde und ob die Firma weiterhin eine Gefahr für uns darstellte.

Tristans Auftauchen war im Grunde Antwort genug, auch wenn Dr. Rottenbach meine Befürchtung noch einmal bestätigte.

»In Anbetracht des Alters und der Entwicklung seiner Tochter Ariana hielt mein Klient es für angebracht, ihr lediglich einen Pflichtteil zukommen zu lassen. Diese trotzdem beachtliche Summe wird in einen Treuhand-Fonds angelegt, auf den sie mit Erreichen des fünfundzwanzigsten Lebensjahres Zugriff erhält. Die Firma und sämtliche anderen Vermögenswerte meines Klienten gehen an seinen Neffen Benedikt Black unter der Bedingung, dass er Omega Inc. in seinem Sinne weiterführen möge.«

Ich spürte, wie Ryan sich hinter mir anspannte. Er mochte Tristan nicht erkannt haben, aber er verstand nur zu gut, was Dr. Rottenbachs Worte bedeuteten. Unsere Feinde hatten einen neuen Anführer und er saß in diesem Moment mit mir an einem Tisch.

»Mein Klient bat mich außerdem nur Wochen vor seinem überraschenden Ableben um einen kleinen Zusatz in seinem Testament. Es handelt sich um einen Gegenstand von hohem Wert, den ich bislang für Mr Harris verwahrt hatte. Dieser Gegenstand …«, Dr. Rottenbach gab seinem Sekretär ein Zeichen, woraufhin der mit einem silbernen Tablett herbeieilte, »… sollte ebenfalls an seine Tochter Ariane gehen. Sie wüsste schon etwas damit anzufangen, hatte er gemeint.«

Der Sekretär hielt mir das Tablett unter die Nase. Darauf stand eine kleine Schatulle. Sie war wirklich schön: mit Intarsien aus verschiedenen Holzarten und einem metallenen Riegel. Tristan betrachtete sie aus schmalen Augen. Was auch immer darin war, er wusste davon nichts.

»Ari, ich glaube, es wäre besser, wenn du nicht –«

Seine Warnung ließ mich innehalten. Im gleichen Moment sprang der Riegel der Schatulle wie von Zauberhand zurück. Tätowierte Hände packten mich. Etwas explodierte und hüllte alles in grelles grünes Licht. Dann folgten ein Knistern, ein Scheppern und Stille.

Als ich die Augen wieder öffnete, sah ich nur eine breite Brust mit Krawatte.

»Alles in Ordnung, Morrison?«, erkundigte sich Ryan. Ich nickte und lugte über seine Schulter.

Nichts in dem Raum deutete darauf hin, dass es gerade eine Explosion gegeben hatte. Kein Feuer, keine Rußflecken oder beschädigte Möbel. Nur eine weinende Protokollantin und Dr. Rottenbach, der mit offenem Mund auf die Stelle starrte, an der eben noch sein Sekretär gestanden hatte. Dort lag jetzt auf dem Boden das silberne Tablett und darauf eine wieder ordentlich verriegelte Schatulle. Von dem geschniegelten Mann war keine Spur mehr zu finden.

»Ich … muss mich entschuldigen, Miss Morrison. So etwas hätte bei Rottenbach&Partner nicht passieren dürfen«, stammelte der Notar, nachdem er seine Fassung wiedergefunden hatte. Zum ersten Mal fragte ich mich, wie viel der Rosinen-Mann von den Machenschaften meines Vaters und den Primus wusste. Immerhin schien er nicht im Mindesten überrascht darüber, was seinem Sekretär zugestoßen war, sondern nur, dass es geschehen war. »Ich habe von den Eigenschaften dieses Objektes keinerlei Kenntnis gehabt und hätte es niemals in Ihre Nähe gebracht, wenn ich gewusst hätte, da-«

»Ja, ja, schon verstanden. Sie wollen damit nichts zu tun gehabt haben«, unterbrach Ryan ihn grob. »Sind wir jetzt hier fertig?«

»Aber natürlich«, beeilte sich Dr. Rottenbach zu sagen. Tristan schob sich in mein Blickfeld und nahm mir die Sicht auf den verschwundenen Sekretär.

»Ari, wir sollten miteinander reden.«

»Kommt gar nicht infrage«, brummte Ryan und drängte mich Richtung Ausgang.

»Ari, bitte!«

Mein Beschützer ignorierte sowohl Tristan als auch den sehr um seinen Ruf besorgten Notar, der uns händeringend verfolgte.

»Kann ich etwas für Sie tun, Miss Morrison? Meine Limousine könnte Sie –«

»Kein Bedarf!«, donnerte der Jäger und warf die Tür hinter uns ins Schloss. Ich sah gerade noch, wie Tristan in die Hocke ging und Thanatos’ letztes Geschenk an mich grimmig musterte.

Als die Geländewagen der Phalanx vorfuhren, stellte Lizzy ihre Befragung über den verschwundenen Sekretär und meinen ›Cousin‹ ein. Ich war ihr weitestgehend ausgewichen, schließlich kannte ich meine Freunde gut genug. Wäre Tristans Name gefallen, hätte Ryan mit blanker Klinge das Notariat gestürmt und wäre mitten in sein Verderben gerannt. Und Lizzy hätte ihn angefeuert wie ein Cheerleader. Trotz all des Trainings und des übernatürlichen Tunings waren die Jäger immer noch menschlich und Tristan war … anders. Dass nicht einmal Lucian ihn hatte umbringen können, machte mir mehr Angst, als ich mir eingestehen wollte.

Meine Stimmung war eindeutig auf dem Tiefpunkt. Zumindest dachte ich das, bis ich in den SUV einstieg. Die beiden Jäger, die uns auf den Rückbänken erwarteten, katapultierten meine Laune noch mal drei Etagen tiefer.

»Na, wieder mal Freunde gemacht?«, murmelte Anoushka. Die Jägerin gehörte zu der Einheit, die Lizzys Vater ans Lyceum beordert hatte. Sie war nicht unbedingt mein größter Fan – was auf Gegenseitigkeit beruhte. Zu ihrer Verteidigung musste man sagen, dass der Akzent der kühlen Russin jedes ihrer Worte wie eine Kriegserklärung klingen ließ. Was nicht hieß, dass es nicht tatsächlich auch so war …

»Freunde sind was Tolles«, presste Lizzy durch ein strahlendes Lächeln, während ihre glitzerbestäubten Nägel sich in das Leder der Sitze gruben. »Aber das kannst du ja nicht wissen.«

Anoushkas Blick war vernichtend. Trotzdem hielt sie sich zurück. Die Jägerin hatte sich viel zu sehr im Griff, als dass sie auf Lizzys Provokationen eingegangen wäre. Noch eine Eigenschaft, die ich an der brünetten, etwas zu männlich geratenen Amazone mit dem ausgeprägten Akzent hasste. Das und ihre Distanziertheit, ihre Disziplin, ihre Regeltreue, ihre Hartherzigkeit, ihre Selbstverliebtheit, ihre Ansichten, ihr Getue … – oh, wir würden wohl nie Freundinnen werden.

Die Autos setzten sich in Bewegung und ich konnte hören, wie über Funk das neue Ziel durchgegeben wurde. Anoushkas zu stark gezupfte Augenbrauen schnellten in die Höhe.

»Ihr wollt JETZT Kaffee trinken?!«

Ach herrje, richtig … Lizzy hatte es versprochen. Und sie nahm ihr Versprechen sehr ernst. Aber nach allem, was dem armen Sekretär passiert war, schien mir das tatsächlich etwas unangebracht.

»Oh ja, genau das wollen wir jetzt tun. Sich am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen, ist eine tolle Sache. Solltest du auch mal probieren«, konterte Lizzy, bevor ich Anoushka recht geben konnte. »Dann klappt’s vielleicht auch mit den Freunden.«

Innerlich seufzte ich. Damit war die Entscheidung wohl gefallen. Schließlich verlangte der Freundinnen-Kodex von mir, gegenüber fiesen russischen Jägerinnen stets einer Meinung zu sein.

»Der Notar wird sich schon darum kümmern, dass sein kleiner Gehilfe aus der Zantum-Kassette befreit wird«, kommentierte Brendon ungefragt. »Also kein Grund zur Sorge.«

Ja, mein Ex war auch mit von der Partie. Übliches Vorgehen in der Phalanx, die auf jeder Mission mindestens einen ihrer Azubis mitnahm. Eine andere Art des Berufspraktikums sozusagen. Ich hatte das Glück, gleich drei meiner Mitschüler in meiner Leibwächter-Truppe zu wissen – von denen einer auch noch meine Jungfräulichkeit auf dem Gewissen hatte. Juchhuuu!

Brendon zwinkerte mir auf widerliche Weise zu, als müsste ich ihm für sein Einschreiten dankbar sein. Dass für den Sekretär Hoffnung bestand, war zwar tatsächlich neu für mich, trotzdem konnte ich nichts als Ekel für den Typen empfinden.

»Deine Frisur ist ein bisschen durcheinandergeraten«, ergänzte er. »Irgendwie wild. Gefällt mir. Du solltest deine Haare öfter so tragen.«

Anoushka verdrehte melodramatisch ihre Augen, während Lizzy ein Würgegeräusch von sich gab. Samt passender Gestik. Ich war versucht, es den beiden gleichzutun, zumal sich lediglich eine Strähne aus meinem Zopf gelöst hatte.

»Seit wann interessiert dich irgendetwas oberhalb meiner Brüste?«, fauchte ich ihn an.

Was zwischen Brendon und mir gelaufen war, konnte man schlicht unter ›ganz großer Fehler‹ verbuchen. Er hatte mich damals abserviert und erst kürzlich seine Meinung geändert. Jetzt glaubte er, mit dämlichen Sprüchen und Aktionen wie gestern beim Hindernis-Parcours seine Männlichkeit unter Beweis zu stellen. Damit ich ihn zurücknahm.

Pustekuchen. Nie im Leben.

»Du übertreibst, Ari«, schnurrte Brendon und beugte sich zu mir vor. »Auch deinen hübschen Mund fand ich damals schon zum Anbeißen.«

Bevor ich reagieren konnte, schnellte Anoushkas Arm vor und schob ihn grob auf seinen Platz zurück.

»Die Anweisungen waren unmissverständlich.«

Sie wartete nicht auf eine Antwort, sondern richtete ihre dunklen Augen wieder auf die vorbeirauschende Welt hinter den getönten Scheiben.

»Vollidiot«, zischte Lizzy mit einem Kopfschütteln, bevor sich ein unangenehmes Schweigen ausbreitete, das den Rest der Fahrt anhielt. Ich versuchte Brendons freches Grinsen zu ignorieren, indem ich ebenfalls aus dem Fenster starrte. Leider half das nur sporadisch. Die ganze Zeit über konnte ich seine Blicke auf mir spüren.

Nach einer guten Stunde Brechreizbekämpfung bremste der Wagen endlich. Fluchtartig schnallte ich mich ab und zog schon am Türgriff, als Brendon mich am Handgelenk packte. Ich funkelte ihn wütend an.

»Ryan will erst Bann-Siegel im Café anbringen lassen, um unerwünschte Besucher fernzuhalten«, rechtfertigte er sich und tippte an den Funksender in seinem Ohr. Noch immer spielte ein überlegenes Lächeln in seinen Mundwinkeln.

»Lass. Mich. Los.«

»Ich mache mir doch bloß um deine Sicherheit Sorgen«, sagte er, kam meinem Wunsch aber nach. Sehr langsam und nicht ohne jede Sekunde Hautkontakt auszukosten.

Plötzlich wurde die Tür von außen aufgerissen. Sofort verschwand sämtliche Arroganz aus Brendons Gesicht. Eine große tätowierte Hand packte ihn und zog ihn nach draußen. Dann ging eine heftige Erschütterung durch den ganzen Wagen, als wäre jemand dagegengedonnert worden.

»Hältst du dich für was Besseres?«, knurrte Ryans Stimme. Lizzy sah mich grinsend an. Ihr gefiel das Hörspiel.

»Nein.« Brendons Antwort war kaum mehr als ein Flüstern.

»Warum glaubst du dann, direkte Befehle missachten zu dürfen? Und das auch noch in der Gegenwart deines Vorgesetzten?«

Ich rutschte tiefer in meinen Sitz. Sosehr Brendon den Anschiss verdient hatte, ich fühlte mich trotzdem unwohl. Meine privaten Angelegenheiten regelte ich lieber selbst und definitiv nicht in aller Öffentlichkeit. Leider war ›Öffentlichkeit‹ ein dehnbarer Begriff bei Jägern wie Ryan, für die es dank Siegel kein Problem war, Gespräche ein Auto weiter zu belauschen.