Jadewein 2: So silbern wie Tränen - Katelyn Erikson - E-Book

Jadewein 2: So silbern wie Tränen E-Book

Katelyn Erikson

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Beschreibung

**Eine Träne, so wertvoll wie das Silber des Meeres** Einst versteckte Ayjana nicht nur sich selbst, sondern vor allem ihre Magie vor anderen Menschen. Zu tief saß die Angst, dasselbe Schicksal wie ihr Vater zu erleiden. Doch als die Königin und ihr Sohn sie in einen Krieg verwickeln, der ihr das Liebste nimmt, muss Ayjana kämpfen. Ihre Suche nach Heilung für den Mann, für den sie so viel empfindet, führt sie immer tiefer in das Herz des Waldes. Dorthin, wo ein magischer See Ayjana vor Prüfungen stellt, die ihre schlimmsten Ängste zum Vorschein bringen. Nur wenn sie diese überwindet, hat sie die Chance, dem Mann ihres Herzens den Kuss der wahren Liebe zu schenken … Eine fantastische Märchenadaption Das Märchen der Brüder Grimm um ein Mädchen, das Stroh zu Gold spinnen muss, auf magische Weise neu erzählt. Seite um Seite wirst du tiefer in eine Welt gezogen, in der das Wissen um einen Namen mehr Macht bedeutet als das Tragen einer Krone. //Dies ist der zweite Band der märchenhaft-romantischen Buchserie »Jadewein«. Alle Romane der Fantasy-Liebesgeschichte bei Impress: -- Jadewein 1: So golden wie Stroh -- Jadewein 2: So silbern wie Tränen// Diese Reihe ist abgeschlossen.

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Veröffentlichungsjahr: 2020

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Katelyn Erikson

Jadewein 2: So silbern wie Tränen

**Eine Träne, so wertvoll wie das Silber des Meeres**Einst versteckte Ayjana nicht nur sich selbst, sondern vor allem ihre Magie vor anderen Menschen. Zu tief saß die Angst, dasselbe Schicksal wie ihr Vater zu erleiden. Doch als die Königin und ihr Sohn sie in einen Krieg verwickeln, der ihr das Liebste nimmt, muss Ayjana kämpfen. Ihre Suche nach Heilung für den Mann, für den sie so viel empfindet, führt sie immer tiefer in das Herz des Waldes. Dorthin, wo ein magischer See Ayjana vor Prüfungen stellt, die ihre schlimmsten Ängste zum Vorschein bringen. Nur wenn sie diese überwindet, hat sie die Chance, dem Mann ihres Herzens den Kuss der wahren Liebe zu schenken …

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Vita

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© Foto-Studio Becker

Katelyn Erikson wurde 1995 in Kasachstan geboren und lebt heute gemeinsam mit Mann, Hund und Pferd im ruhigen Rheinland. Sie schreibt seit sie fünf ist. Dabei wurde sie tatkräftig von ihrem Großvater unterstützt. Heute balanciert sie ihren Alltag munter zwischen ihrem Leben als tierische Mama, Ehefrau, Vollzeitberufstätige und Autorin. „Schlaf“ ist für sie ein Fremdwort.

Geliebtes Kind,

einst warst Du beschützt vor allen Gefahren,

denn wollten wir Dich vor Schrecken bewahren.

Heute bist Du erwachsen und wählst Deinen Pfad,

Doch passe auf, wer tobt und beklagt.

Denn Freund und Feind ist schwer zu trennen.

Auch Liebe und Hass sind schwer zu erkennen.

Drum geh mit Ruhe und Bedacht.

Denn wisse um Feinde und gebe acht.

Höre und merke, die größte Schwäche aller Zeit,

ist Dein Herz, mein Kind, für die Ewigkeit.

Kapitel 1

Mein Herz raste so schmerzhaft, dass ich glaubte, es würde jeden Moment aufhören zu schlagen. Tränen brannten mir in den Augen. Teils aufgrund meiner inneren Pein, teils durch den beißenden Wind, der mir ins Gesicht blies. »Halte durch«, flehte ich und warf immer wieder einen hektischen Blick zurück zum Karren, in dem zuvor die Waffen transportiert worden waren. Jetzt lag darin etwas viel Wertvolleres. Ein Leben, das mir zwischen den Fingern zerrann. »Um Himmels willen, bleib bei mir.«

Ich zwang mich dazu, mich wieder dem Weg zuzuwenden. Doch es fiel mir schwer. So schwer. All das, woran ich mich geklammert hatte, drohte vor meinen Augen zu verschwinden. Während sich die Muskeln des dunklen Wallachs, den ich ritt, mit jedem Schritt anspannten, hörte ich das laute Rattern hinter mir.

Doch ich konnte keine Rücksicht darauf nehmen, dass die Räder des Karrens beinahe abzufallen schienen, denn wenn wir es nicht rechtzeitig zum Wald schafften, wäre alles umsonst gewesen. Der Kampf, die Überzeugungsarbeit.

Mir blieb nichts anderes, als zu hoffen, dass der Mann, der mich mehr betrogen und belogen hatte, als es sonst jemand bisher getan hatte, überlebte.

»Wenn du stirbst, ich schwöre dir, dass ich dich wiederbeleben werde, nur um dich eigenhändig zu erwürgen.« Ich schluckte und dachte an die vergangenen Stunden. Daran, wie viel ich auf mich genommen hatte, um die Soldaten davon zu überzeugen, mir ein Pferd und einen Karren zu überlassen. Ihre Blicke waren mir nur allzu präsent. Einige hatten mich mitleidig angesehen. Andere wiederum feindlich oder, schlimmer noch, belustigt. Der Hohn war auf ihren Gesichtern gemeißelt gewesen. Stumme Worte der vergebenen Liebesmüh.

Doch ich hatte ihnen keine Beachtung geschenkt. Denn ein Teil meines Herzens ruhte in dem Karren und balancierte auf dem schmalen Grad zwischen dem Diesseits und Jenseits. Nein, ich gab ihn nicht auf. Das konnte ich nicht. Selbst wenn nichts mehr bliebe als Staub, würde ich zu den Göttern beten und um Gnade flehen.

»Nicht mehr lange«, versprach ich und wusste nicht, zu wem ich die tonlosen Worte sprach. Mich überzeugten sie längst nicht mehr und der in ein halbes Dutzend Decken gewickelte Mann würde sie ohnehin nicht hören. Schuld waren die Verletzungen. Er brauchte Ruhe, einen Heiler und allen voran ein Wunder. Was er nicht brauchte, war diese Höllenfahrt, durchgerüttelt in einem offenen Sarg von Karren.

Die Felder zogen vorbei in schier endloser Weite. Wohin ich auch sah, nur saftiges Grün. Doch der Schein trog. Unter den sich im Wind neigenden Grashalmen verbargen sich kratergroße Löcher auf dem Weg, die der Karren immer wieder mitnahm, sodass ein Ruck durch das knarrende Holz ging. Jedes Mal hoffte ich, dass die Räder den neuerlichen Schlag überstehen würden. Ebenso machte ich mir Sorgen um das Pferd. Doch ich hatte keine Zeit, musste weiter. Jede Sekunde war eine zu viel.

Kaum merklich stieg der Weg an. Ich realisierte erst, dass ich einen Hügel hochritt, als der Wallach schnaubte, langsamer wurde und sich meine Sitzhaltung veränderte. Sosehr es mir missfiel, ich zügelte deutlich das Tempo und gönnte dem Tier eine Schrittpause. Das war ich ihm schuldig und wurde sogleich belohnt, als ich sah, was hinter der Steigung verborgen lag. Der dunkle Wald. Endlich!

Seine schwarzen Baumkronen waren so hoch, dass es den Anschein erweckte, als würden sie den Himmel küssen. Die Bäume waren größer als jedes Haus, das ich bislang gesehen hatte, und standen so dicht aneinandergereiht, dass es war, als würde ich auf ein düsteres Gemälde blicken, bei dem der Künstler keine hellen Farben benutzt hatte. Selbst aus der Entfernung spürte ich die eisige Kälte. Dieser Ort trug seinen Namen zu Recht.

»Da ist er«, hauchte ich und sah erneut zurück, um sein blasses, mit Schweißperlen besetztes Gesicht zu betrachten. Er sah so elend aus. Halb tot. Wie ein Bauer, eingehüllt in dreckige Decken, die sich längst mit seinem Blut vollgesogen hätten, wenn ich nicht mit letzter Kraft einen Zauber gesprochen hätte.

Wie von selbst hatten sich die Wunden zumindest oberflächlich geschlossen. Sein Lebenselixier war dort geblieben, wo es hingehörte, und doch atmete er noch immer flach. Röchelnd. Sterbend. Denn die Entzündungen tief in seinem Fleisch waren geblieben.

Ich schluckte schwer die Tränen hinunter und sah wieder nach vorn. »Los«, hauchte ich und spürte, wie sich das Pferd erneut in Bewegung setzte.

Sanft trieb ich den Wallach an und bat leise um Vergebung. Es brannte mir auf der Seele, dieses arme Tier über eine so lange Strecke zu scheuchen. Noch dazu, wenn es eine Last ziehen und ein Gewicht auf seinem Rücken tragen musste, obgleich ich nicht schwer war.

»Bald kannst du ruhen«, versprach ich und klopfte ihm steif den Hals. Meine Bewegungen fühlten sich mechanisch an. Alles tat mir weh. Jeden Satz des Tieres federte ich mit Gelenken ab, die nach Erholung schrien. Ich brauchte eine Pause. Dringend. Doch die durfte ich mir nicht gönnen. Nicht jetzt, wenn es um jeden Augenblick ging.

Wir näherten uns zunehmend dem Wald. Das leise Stöhnen hinter mir jagte einen Schauder über meinen Rücken. Doch dieses Mal sah ich nicht zurück. Die gesamte Strecke über hatte er zwischendurch wehleidige Laute von sich gegeben. Einerseits wünschte ich mir, ihn häufiger zu hören, um zu wissen, dass er lebte. Andererseits sehnte ich mich nach Stille, um hoffen zu können. Beten, dass er nicht litt. Aber die Angst vor seinem Tod war größer. Darum ertrug ich sein Klagen, so, wie er den Schmerz aushalten musste. Wir kämpften. Jeder für sich und doch gemeinsam. Für dasselbe Ziel: sein Überleben.

»Schneller, mein Junge«, trieb ich das Pferd an. Am Rande meiner Wahrnehmung bemerkte ich, dass die Sonne erstaunlich tief über dem Boden stand. Sie würde bald untergehen. Ihr rötliches Licht tauchte die Welt in einen unnatürlichen Glanz. Wie in einem Märchen von weit entfernten Ländern. Nichts deutete auf den Albtraum hin, der mich plagte. Die Vögel zwitscherten fröhliche Lieder. Blumen blühten kräftig violett und verbreiteten einen süßlichen Duft. Selbst die Wolken wirkten weich und flauschig.

Nur eines spiegelte den Sturm in meinem Inneren wider: der Wald, dem wir uns mit jedem Hufschlag näherten. Bedrohlich und düster verschluckte er jeden Lichtstrahl und der Gesang der Vögel verstummte zunehmend. Die wohligen Düfte wurden von kaltem Wind davongeweht.

Aiyana.

Erschrocken hielt ich die Luft an und sah mich um, aber es war niemand zu sehen. Irritiert runzelte ich die Stirn. »Wer ist da?« Ich widerstand dem Drang, das Tempo zu zügeln, und ritt weiter. Stattdessen behielt ich meine Umgebung skeptisch im Blick.

Flieh.

Gänsehaut glitt mir über den Körper. Ein kalter Schauder griff mir in den Nacken und lief eiskalt die Wirbelsäule hinab. Die Warnung war beinahe physisch spürbar.

Kehre um.

»Nein«, sagte ich laut und umklammerte die Mähne des Wallachs noch fester. Meine Fingerknöchel traten weiß hervor. Ich zitterte am ganzen Körper.

Du begehst einen großen Fehler.

Die Stimme klang traurig. Nah und doch fern. »Wer bist du?« Noch immer war niemand zu sehen. Fast glaubte ich, mir die Worte eingebildet zu haben, aber ich spürte etwas. Eine körperlose Präsenz. Sie war da, wie die Luft zum Atmen. Nicht zu sehen – und doch da.

Rette dein Leben. Es ist zu spät, um für seins zu kämpfen.

»Nein!« Das konnte ich nicht. Ich versuchte die Worte zu ignorieren, aber sie bissen sich in meinem Verstand fest und weckten Gefühle, die ich nicht haben wollte. Zweifel. Unsicherheit. Hoffnungslosigkeit.

Zu gern hätte ich mich abgewandt und wäre einen anderen Weg geritten. Einen, der in meinen Wald führte und nicht in den vor mir. Nach Hause. Dorthin, wo ich mich sicher und geborgen fühlte. Wo es keine Gefahren gab, die mir hinter jeder Ecke auflauerten. Zurück zu meiner Lichtung, zu Mutter, zu all den Tieren, die ich liebte. Einfach nur weg von hier.

Geh, zischte die Stimme mit einem Mal so laut, dass ich vor Schreck beinahe vom Pferd gefallen wäre. Hektisch sah ich mich um. Das Ergebnis blieb dasselbe.

»Wer bist du, verdammt noch mal?« Keine Antwort. Angespannt runzelte ich die Stirn. Weder wusste ich, welchem Geschlecht der Sprecher zugehörig war, noch konnte ich ein Alter heraushören. Es schien, als seien die Worte in meinem Kopf. Neutral und eigensinnig. Vielleicht bildete ich sie mir lediglich ein. Ein Spukgespenst meiner Angst.

Doch ich glaubte nicht daran. Vielmehr beschlich mich der Verdacht, dass es sich um jemanden handelte, den ich kannte. Oder zumindest um jemanden, der mich kannte, denn die Präsenz fühlte sich seltsam vertraut an. Aber wer könnte es sein?

Du wirst sterben.

»Das ist mir egal«, knurrte ich.

Lügnerin.

Ertappt schloss ich die Augen, ehe ich sie hektisch wieder aufriss, da der Wallach in diesem Moment leicht wegknickte. Ich zügelte das Tempo zum Wohle des Tieres. Mir lief die Zeit davon. Ihm lief die Zeit davon. Doch es würde mir nichts nützen, das Pferd bis zur vollkommenen Erschöpfung zu treiben. Mühsam beugte ich mich vor und klopfte aufmunternd den muskulösen Hals.

»Das machst du gut, mein großer Junge«, murmelte ich. Als er ein Schnauben von sich gab, zupfte ein schwaches Lächeln an meinen Lippen. »Wir sind gleich da.« Ich sah an der schwarzen Mähne vorbei zum ebenso dunklen Wald. Er ragte vor uns empor und hieß uns düster willkommen. Entschlossen presste ich die Lippen aufeinander und fixierte den Weg.

Sterben. Du wirst sterben.

»Halt den Mund«, fauchte ich.

Ich habe dich gewarnt.

»Verrate mir endlich, wer du bist!« Aber die Stimme antwortete nicht. Stattdessen strafte sie mich mit Schweigen. Doch ich war mir sicher, dass jemand da war. Obwohl ich niemanden sehen konnte, spürte ich eine fremde Anwesenheit. Etwas ging vor sich, was ich mir nicht erklären konnte. Das war nicht ungewöhnlich in Niewedaj. Unfassbare Phänomene gab es hier zur Genüge.

Als wir endlich die erste dichte Baumreihe erreichten, atmete ich tief durch. Nicht vor Erleichterung, denn der schwierige Part fing gerade erst an.

»Brrr«, murmelte ich und zügelte das Tempo, bis wir zum Stehen kamen.

Mit steifen Gliedern stieg ich ab und tätschelte ein letztes Mal den Pferdehals, bevor ich zu Fuß schwankenden Schrittes voranstolperte.

»Hallo?« Ich drückte die schmerzenden Schultern zurück und ballte die Hände immer wieder zu Fäusten, in der Hoffnung, die tauben Finger dadurch wieder locker zu bekommen. »Ich heiße Ayjana und brauche dringend Hilfe.«

Die einzige Antwort blieb das leise Blätterrascheln in den Baumkronen. Tränen brannten mir in den Augen. Bis hierhin hatte ich es geschafft. Weiter hatte ich nicht nachgedacht. Mein Plan hatte lediglich umfasst, ihn irgendwie in diesen Wald zu bringen. Der Rest hätte sich ergeben. Wie kopflos ich doch war!

»Mein Freund liegt im Sterben. Wir brauchen die Hilfe des ehrwürdigen Hains.« Verzweiflung brandete in mir auf, als mir noch immer niemand antwortete. Ich starrte so angespannt in die Tiefe des Waldes, dass mir schwindelig wurde.

Was hast du dir erhofft?

»Da bist du wieder«, murmelte ich.

Dachtest du wirklich, dass du herkommen und Hilfe erfahren würdest? Einfach so?

Mein Mund wurde trocken. Das Wesen hatte recht. Bisher hatte ich blind den Weg hinter mich gebracht, in der Hoffnung, vor Ort mehr zu erfahren. Doch die Gerüchte um diesen Wald waren alles andere als vertrauenerweckend.

Wer hierherkommt, erfährt Leid und Pein. Niemand kehrt lebendig zurück.

»Doch«, protestierte ich und ballte die Hände erneut zu Fäusten. »Zwölf haben es geschafft.«

Gerüchte.

»Wahrheiten«, entgegnete ich entschieden und drückte die Schultern zurück. Es gab keine Zeit für Trauer und Zweifel, auch wenn mir die Tränen in den Augen brannten. »Im Hain des lebenden Todes werde ich finden, wonach ich suche. Das Wasser dort hat heilende Kräfte.«

Und wie willst du es finden? Mit einem erschöpften Gaul und einem sterbenden Mann in einem unhandlichen Karren?

Ein Stich ging mir durchs Herz. Verflucht sei die Stimme der Vernunft. »Mir wird schon etwas einfallen«, murmelte ich und ignorierte meine eigene Naivität.

Für Zweifel blieb kein Raum. Stattdessen starrte ich in den Wald und hoffte, darin einen Weg zu finden, den ich würde passieren können. Eine erste Träne lief mir über die Wange. Sie fühlte sich heiß an, als würde sie sich in meine Haut brennen. Doch ich wischte sie nicht weg. Sie erinnerte mich daran, weshalb ich hier war. Dass ich noch fühlte, noch lebte. Solange dem so war, gab es Hoffnung, dass ich es schaffte. Irgendwie.

»Bitte«, hauchte ich, kehrte zum Pferd zurück, griff nach den Zügeln und ging los.

Leise setzte sich mit dem Wallach auch der Karren in Bewegung. Als ich zurücksah, hob das Tier majestätisch den Kopf. Mit wachsamen intelligenten Augen betrachtete es mich, während es mir Schritt für Schritt folgte. Dabei ging der Wallach etwas schneller als ich, sodass er mit den Nüstern meine Wange berühren konnte. Ich blieb stehen.

»Verzeih mir, dass du diese Tortur mit mir durchstehen musst.« Er gab ein Schnauben von sich und schüttelte den Kopf, wobei die prächtige Mähne über meine Haut peitschte. Ich verzog das Gesicht und ein Lächeln stieg in mir hoch.

Kehre zurück.

»Nein.«

Es wird dir nichts nützen, allein in den Wald zu gehen. Versteh, dass niemand findet, wonach er sucht, wenn er sich nicht beweist.

»Irgendwie werde ich es schaffen. Jetzt zurückzukehren bringt mir nichts.«

Und wie willst du den Weg ausmachen?

»Irgendwie werde ich ihn schon finden«, sagte ich, schloss die Augen und lehnte die Stirn gegen die Wange des Pferdes. Sein warmer Atem traf meinen Arm. Die Anwesenheit des Tieres gab mir Trost.

»Wie wäre es mit einem Handel?«

Erschrocken fuhr ich herum. Alarmiert stellte ich mich hüftbreit hin und ging in eine leicht gebückte Haltung über. Sofort sondierte ich die Umgebung, aber es war niemand zu sehen. Meine Finger prickelten aufgrund der Magie, die sich pulsierend in meinen Adern bewegte, bereit, jederzeit hervorzutreten und mich zu beschützen. »Wo bist du? Zeige dich.«

»Ist die Frage, wer ich bin, nicht viel interessanter?«

Ein scheußliches Kichern erklang und jagte mir eine Gänsehaut über den Körper. Es hörte sich kratzig und viel zu hoch an, sodass es mir in den Ohren schmerzte. Obwohl ich alles um mich herum absuchte, konnte ich niemanden finden. Dabei hatte ich das Gefühl, dass dieses Wesen in meiner unmittelbaren Nähe war.

Dem Klang der Stimme zufolge hätte der Mann direkt vor mir stehen müssen, aber da war niemand. Stattdessen starrte ich in die Leere. Ich warf schnell einen Blick über die Schulter, um mich zu vergewissern, dass Rowen noch da war, ehe ich meine Magie freiließ.

Sofort spürte ich ein Echo im Herzen, als meine Kräfte erwachten. Wie selbstverständlich ließ ich den Staub auf dem Boden aufwirbeln, indem ich meinen Fokus auf diesen Teil des Waldes legte. Mit einem Fingerstreich schwebte Staubkorn für Staubkorn in die Höhe, bis eine dichte Schicht die Welt um mich herum grau färbte.

Dann umkreiste sie mich, das unruhig schnaubende Pferd und die Bäume, bis sich direkt vor mir eine Gestalt abzeichnete, die sich den Arm vor das Gesicht hielt, um den Dreck nicht in die Augen zu bekommen. Sofort erklang wütend klingendes Gezeter.

»Da bist du also«, murmelte ich und klatschte in die Hände. Sofort legte sich die Schmutzschicht auf den Körper des kleinen Wesens, dessen empörte Laute zunehmend anschwollen. Wie wild schlug es mit den Fäusten in die Luft, während das Schimpfen durch Husten abgelöst wurde.

»Genug!« Mit einer herrischen Geste durchbrach der Fremde meine Magie, sodass die Erde zu Boden fiel. Er klopfte sich den klobigen Körper ab, sodass sich unter ihm ein dunkler Kreis aus Dreck sammelte. Je mehr Staub zu Boden ging, desto mehr verschwand er vor meinen Augen. Hier und da blieben Flecken auf ihm haften, sodass sich das Wesen nicht von Neuem unsichtbar machen konnte.

Noch während es sich reinigte, schimmerte die erste Haut durch, dann die Kleidung. Aus groben Umrissen wurden Details. Glieder wurden sichtbar, ebenso Haare und Gesicht, bis der Mann den Mantel der Unsichtbarkeit abgelegt hatte.

Doch fast wünschte ich mir bei den wild funkelnden Blicken, dass er sich wieder unsichtbar machen würde. Denn wütende giftgrüne Augen fixierten mich aus einem hässlichen Gesicht, übersät mit Warzen, Pusteln und Muttermalen.

»Das war nicht nett«, knurrte er. Es klang feindselig.

»Genauso wenig, wie sich unsichtbar mit jemandem zu unterhalten«, entgegnete ich finster.

»Touché.« Er schüttelte sich wie ein Hund. Als er damit aufhörte, war er wieder weitestgehend sauber. Dann fuhr er sich mit den riesigen breiten Händen über das Gesicht und zog sich am dicken Ohrläppchen.

»Bist du ein Zwerg?« Erschrocken wich ich zurück, als der kleine Mann einen zornigen Schrei ausstieß.

»Sehe ich etwa wie einer aus?« Er starrte mich mit zunehmender Verärgerung an.

»Nun ja«, stammelte ich und räusperte mich. »Du bist ziemlich klein«, erklärte ich und verkniff mir die Ergänzung, dass Zwerge für ihre Hässlichkeit bekannt waren.

Grimmig verschränkte der Mann die Arme vor der Brust. »Ich bin ein Gnom«, erklärte er. Bevor ich fragen konnte, wo der Unterschied war, fuhr er fort. »Du hast also ein Problem und ich biete dir einen Handel an, aber alles, woran du denken kannst, ist die Frage, ob ich ein Zwerg bin?«

Verdattert starrte ich ihn an. »Nein, natürlich nicht.«

»Aha.« Er runzelte die Stirn, wodurch sich die buschigen Augenbrauen über der Nase berührten, sodass es aussah, als hätte er eine fette haarige Raupe auf dem Gesicht. »Natürlich.« Er grinste spöttisch. Als er wie selbstverständlich auf den Karren zuging, stellte ich mich ihm alarmiert in den Weg. Seine plötzliche gute Laune war genauso schnell verschwunden, wie sie gekommen war. Jetzt schürzte er erneut verärgert die Lippen.

Verstimmt runzelte ich die Stirn. »Mein Freund ist schwer verletzt und braucht dringend Hilfe.«

»Die du dir von dem Hain des lebenden Todes erhoffst?« Sein lautes Lachen tat mir in den Ohren weh, aber ich widerstand dem Drang, mir die Hände auf diese zu pressen. Stattdessen leckte ich mir über die Oberlippe und nickte.

»Es soll einen heilenden Trank in der Quelle des lebenden Todes geben.«

»Ah ja. Und da dachtest du dir, dass du hier hereinspazierst, gegen eine Baumrinde klopfst, mit den Wimpern klimperst und schon bekommst du eine Ampulle mit Heilwasser?«

Ich senkte den Blick und biss mir auf die Unterlippe. So, wie er es formulierte, hatte ich wohl noch naiver geklungen, als ich mich ohnehin fühlte. »Nun ja«, murmelte ich und wurde prompt von dem Gnom unterbrochen, als er mich erneut schallend auslachte, bevor er sich mit dem Zeigefinger gegen das dicke Kinn tippte. Dabei starrte er mich aus giftgrünen Augen an, die im Vergleich zu seiner Kartoffelnase winzig wirkten.

»Sei ehrlich. Hast du es dir so vorgestellt?«

»Nicht so ganz«, antwortete ich knapp. »Ich möchte nicht unhöflich sein, aber mir bleibt keine Zeit.« Nervös sah ich zurück zum Karren, von wo aus leises Stöhnen erklang. Das Fieber musste gestiegen sein.

»Ich kann dir helfen«, schlug der Gnom unverwandt vor. Doch seinem diebischen Grinsen nach zu urteilen, würde die Unterstützung nicht ohne eine Gegenleistung erfolgen. Ein »Handel«, wie er zuvor gesagt hatte. Doch keine Leistung ohne Preis.

»Was willst du dafür?« Wachsam musterte ich ihn und schob mich etwas mehr zwischen ihn und den Karren.

»Warum denken immer alle, dass ich etwas will?«, fragte er und stöhnte theatralisch. Doch als ich nicht darauf reagierte, verdrehte er die Augen. »Selbstverständlich will ich keine Gegenleistung für meine ehrenwerte Unterstützung.«

»Irgendwie glaube ich dir nicht.« Skeptisch beäugte ich den hinterlistig dreinschauenden Gnom.

»Das tut weh.« Er fasste sich an die Brust und verzog das hässliche Gesicht zu einer noch hässlicheren Grimasse. »Mein armes Herz«, jammerte er.

»Keine Zeit«, erinnerte ich ihn finster, woraufhin er die Augen verdrehte und seine gekrümmte Haltung aufgab.

»Ist ja gut«, brummte er. »Spielverderber.« Er schnalzte mit der Zunge. »In der Tat mache ich nichts ohne entsprechende Entlohnung. Doch in diesem besonderen Fall mache ich eine Ausnahme.« Er verbeugte sich so tief vor mir, dass er mit der Knollennase den Boden berührte.

Vertraue ihm nicht.

»Wie komme ich zu dieser Ehre?«, fragte ich wachsam, während ich von Neuem die körperlose Präsenz spürte. Wie eine stützende Hand, die sich auf meine Schulter legte.

»Nun ja.« Er richtete sich wieder auf und grinste diebisch. »Bist du nicht die Tochter des einzig wahren Zauberers?« Meine Nackenhaare stellten sich auf. Mir wurde schlagartig übel, während ich den Rücken durchdrückte und mich aufrecht hinstellte. Eine dunkle Vorahnung breitete sich in mir aus. Doch als ich nicht antwortete, bestätigte ich seine Vermutung. Mit gierigem Blick trat der Gnom einen Schritt näher. »Du bist es, nicht wahr? Die Tochter des Mannes, dessen Name niemand kennt. Der Schatten. Der Rächer. Der Mörder.«

»Genug. Ich kenne die Namen, die ihm gegeben wurden. Was hast du mit ihm gemein?«

Seine Augen blitzten boshaft. »Einst hat er mir geholfen und gesagt, dass irgendwann sein Kind vor der Schwelle dieser Welt stehen und um Hilfe bitten würde. Meine Schuld sei beglichen, wenn ich dem Mädchen den Weg weise. Die Luft um dich herum schmeckt nach seiner Magie.« Die Zungenspitze des Gnoms glitt zwischen den dicken Lippen hervor. Dieser Anblick erinnerte mich an eine Schlange, die züngelnd die winzigen Partikel in der Luft aufnahm, um von der Welt zu kosten. »Also? Bist du es?«

Gib acht.

»Ja.«

Törichtes Kind.

Ich verspannte mich.

»Gut«, schnurrte der Gnom. »Dann kann ich nach so vielen Jahren endlich meine Schuldigkeit begleichen und frei sein. Frei von jeglichen Verpflichtungen und Versprechen.« Er leckte sich über die Lippen.

»Worin bestand seine Hilfe?«, fragte ich leise. Obwohl die Zeit drängte, musste ich es wissen, um einschätzen zu können, ob ich diesem Mann vertrauen konnte.

Doch er schüttelte den Kopf. »Das werde ich dir vielleicht ein anderes Mal erzählen. Dann, wenn kein Leben davon abhängt, denn sonst habe ich meinen Teil der Abmachung nicht eingehalten.«

Ich öffnete den Mund, schloss ihn aber wieder, ohne etwas gesagt zu haben.

Meine Reaktion schien ihn zu belustigen. Die Knopfaugen funkelten schelmisch. »Vor einigen Jahren hat er mir aus einer misslichen Lage geholfen«, erklärte er kryptisch. »Sagen wir, ich stehe in seiner Schuld. Mehr brauchst du wirklich nicht zu wissen, sonst wirst du ganz böse von deinem Vater denken. So viel sei dir gewiss: Er hat mich vor dem Leben unter einer Brücke gerettet.«

»Wie kannst du mir helfen?« Unruhig trat ich von einem Bein aufs andere. Das leise Stöhnen hinter mir wurde zu einem röchelnden Husten, der zunehmend einem Krächzen glich. Nicht mehr lange – und ich würde ihn endgültig verlieren …

»Dieser Wald«, erklärte der Gnom und deutete zurück, »ist magisch, aber das dürfest du bereits wissen. Sonst wärst du schließlich nicht hier, nicht wahr?« Er grinste breit. Doch als ich ihm ungeduldig zunickte, verdrehte er die Augen. »Menschen«, brummte er. »Immer so kurz angebunden.«

»Ich würde mich liebend gern mit dir unterhalten, aber du hörst selbst, dass es drängt«, zischte ich. Ich biss die Zähne so fest aufeinander, dass ich glaubte, mir jeden Moment den Kiefer zu verrenken.

»Drei Aufgaben musst du erfüllen. Du musst dabei über dich selbst hinauswachsen und die richtige Entscheidung treffen«, erklärte er kryptisch. »Erst wenn du diese Prüfungen bestehst, wirst du Hilfe erfahren.«

»So viel Zeit habe ich nicht.« Verzweiflung umklammerte mein Herz so fest, dass mir übel wurde. »Bis ich alles bestanden habe, wird er tot sein.«

»Falls du sie bestehst«, korrigierte mich der Gnom und riss an seinem viel zu langen Ohrläppchen. »Aber keine Sorge.« Er zog einen lumpigen Beutel hinter seinem Rücken hervor, der mir bislang nicht aufgefallen war. Darin kramte er herum, bis er ein Fläschchen mit einer türkisfarbenen Flüssigkeit in der Hand hielt. »Hier. Das muss er trinken.«

Zögerlich trat ich einen Schritt näher und nahm die Ampulle entgegen. »Was ist das?«

»Jadewein«, erklärte er. »In seiner konzentriertesten Form.« Wachsam blickte mich der Gnom an.

Ich öffnete die Phiole und roch daran. Angespannt ging ich zum Karren, kletterte auf diesen und betrachtete das Gesicht, welches so unfassbar bleich und leblos wirkte.

»Sieben Tage hast du Zeit, um die Aufgaben zu bestehen und dem Bürschchen dort die Medizin zu geben. Solltest du es binnen dieser Zeit nicht schaffen, wird nicht nur er sterben.« Der Gnom grinste noch breiter als zuvor. Mit Entsetzen erkannte ich die spitzen Zähne in seinem Mund. Das Gebiss eines Raubtieres. Mit glühendem Blick trat er auf mich zu und senkte die Stimme zu einem Unheil verkündenden Flüstern. »Wenn du die Prüfungen nicht bestehst, wird er sterben und du, meine Teure, wirst einem grausamen Tod erliegen. Immer und immer wieder. Denn dieser Wald lebt von der Qual der Unwürdigen.«

Ich schluckte schwer und sah vom Gnom zu dem Mann, für den ich durch die Hölle gehen würde. Zärtlich strich ich durch sein Haar.

»Es wird alles gut«, hauchte ich. »Halte durch, Rowen.«

Kapitel 2

Noch während ich mit mir selbst rang, roch ich erneut an der Phiole. Tatsächlich. Es war Jadewein. Doch niemand konnte mir garantieren, dass neben dem Extrakt noch etwas anderes beigemischt war. Gift zum Beispiel.

Tu es.

Irritiert runzelte ich die Stirn. »Bist du dir sicher?«, murmelte ich so leise, dass der Gnom mich unmöglich hören konnte.

Ja.

Die Zweifel blieben. »Jadewein allein wird ihm nicht helfen«, sagte ich leise.

»In der Tat. Doch es wird ihm das Leid nehmen und ihn für die kommenden sieben Tage vor dem Tod schützen. Die Magie des Waldes reagiert empfindsam auf eine solch mächtige Pflanze. Ihm wird für eine Woche nichts geschehen. Das verspreche ich dir.«

Zweifelnd betrachtete ich den Gnom. Sein Wort hatte für mich keinen Wert, denn es waren bloße Buchstaben, aneinandergereiht und ausgespuckt. Ohne Blutsbund oder Ähnliches. Niemand konnte mir garantieren, dass er die Wahrheit sprach, aber wenn ich ihm nicht glaubte, würde Rowen definitiv sterben.

Er hat recht.

Ich schloss die Augen und atmete tief ein, bevor ich all meine Zweifel über Bord warf. Mir war bewusst, dass ich naiv handelte. Dem Wort eines fremden Gnoms oder einer körperlosen Stimme zu glauben grenzte an Wahnsinn. Aber mir blieb keine andere Wahl.

»Rowen«, flüsterte ich und beugte mich über ihn. Behutsam befühlte ich seine glühende Stirn. Das Gesicht war rot und nass. Er zitterte am ganzen Körper, obwohl ich viele Decken um ihn gelegt hatte. Den Mund hielt er zu einem stummen »O« geöffnet, aber er gab keine Klagelaute mehr von sich. Kein gutes Zeichen. Ein letztes Mal sah ich zum Gnom, der mir auffordernd zunickte, bevor ich Rowen im Nacken stützte und seinen Kopf leicht anhob. »Trink«, bat ich und hielt ihm die Phiole an die Lippen. Behutsam neigte ich das Gefäß und flößte ihm geduldig Tropfen für Tropfen ein.

Es dauerte, bis der Inhalt in Rowens Rachen verschwunden war. Insbesondere, da er kaum schluckte und nicht bei Bewusstsein war. Alles musste über den Speichel gehen. Doch obwohl ich mir Zeit ließ und eine gefühlte Ewigkeit brauchte, lief immer wieder etwas von dem Trank am Mundwinkel entlang heraus.

Erst als nichts mehr da war, ließ ich ihn in die Decken sinken und zog mich zurück. Meine Hand war feucht. Ich wischte den Schweiß an meiner Hose ab, die ich zwischenzeitlich angezogen hatte. Ich fühlte mich seltsam darin. Irgendwie fehl am Platz und zeitgleich gut. Befreit. Anders als in einem Kleid.

»Und jetzt?« Ich fragte den Gnom, sah jedoch zu Rowen. Seine Atmung wurde bereits tiefer, langsamer. Angst befiel mich. Sorge, ihn doch vergiftet zu haben.

Ich schluckte trocken und ergriff seine Hand. Verzweifelt klammerte ich mich an die feuchten Finger und beobachtete die rasante Entwicklung. Rowen glühte noch immer, aber bei Weitem nicht mehr so schlimm, wie noch vor wenigen Augenblicken. Selbst das Röcheln hörte auf. Fast, als würde etwas seine Atemwege freilegen. Jedoch wachte er nicht auf. Als würde er in einem tiefen Schlaf schlummern. Jedoch bezweifelte ich, dass ihn ein Kuss wecken würde und all das Grauen ungeschehen machen konnte.

»Jetzt?« Der Gnom lachte krächzend. Er wartete, bis ich ihn ansah, bevor er fortfuhr: »Jetzt beginnt deine erste Prüfung. Folge mir.« Er wandte sich ab und marschierte zielsicher in den Wald.

Ich zögerte, bevor ich widerstrebend Rowens Hand losließ und zum Wallach ging, der geduldig an Ort und Stelle geblieben war. Mit zittrigen Händen griff ich nach den Zügeln und setzte mich in Bewegung. Artig folgte er mir in die Tiefen des Waldes. Doch schon bald wurde der Weg durch dicke Wurzeln und eng stehende Bäume erschwert, sodass wir immer wieder gezwungen waren, einen Umweg zu gehen, damit wir mit dem Karren weiterkamen.

Je tiefer wir in dieses Gebiet eindrangen, desto dunkler wurde es. Die Baumkronen waren so hoch und dicht, dass kaum Sonnenlicht den Boden erreichte. Die Temperaturen sanken zunehmend, bis mein Atem deutlich sichtbar vor meinem Gesicht zu erkennen war.

»Wie weit ist es noch?«, fragte ich den Gnom, der munter unter hohem Wurzelwerk hindurchtauchte oder leichtfüßig über Felsen sprang, die gut doppelt so hoch waren wie er selbst. Dabei nahm er keine Rücksicht darauf, dass ich aufgrund des Karrens nicht so flexibel war wie er.

»Warum so ungeduldig?«, fragte er scheinheilig und grinste mich an.

»Warst nicht du es, der mir sagte, dass ich lediglich sieben Tage Zeit hätte, um die Prüfungen zu meistern?«, entgegnete ich gereizt.

Der Gnom schnaubte, gab mir aber keine Antwort. Stattdessen sprang er aus meinem Sichtfeld, sodass ich mit einem Fluch auf der Zunge weitereilte.

»Warte!«

Der Wallach schnaubte angestrengt. Lange würde er den unebenen Weg nicht mehr meistern können.

»Halte durch, mein Großer«, bat ich ihn und klopfte ihm zum wiederholten Male den Hals. »Bitte.« Er sah mich an, und als hätte er verstanden, schnaubte er, bevor er einen Schritt schneller trabte. Dankbar eilte ich neben ihm her und hielt ihm, so gut es ging, die tief hängenden Zweige aus dem Weg. Teils mit Händen, teils mit Magie. Doch je länger wir unterwegs waren, desto mehr verließen auch mich die Kräfte. Mir war kalt, ich hatte Hunger und fror. Lediglich Rowens kritischer Zustand trieb mich an nicht stehen zu bleiben.

»Da wären wir.«

Erleichtert sah ich bei diesen Worten auf und blieb irritiert stehen. Es war eine kahle Lichtung, auf die gräulich grünes Licht fiel. Seltsame Vögel mit drei Augen und aschfahlem Gefieder saßen in den Bäumen und starrten mich feindselig an. Ein ungewöhnlich tiefes »Uhu« erklang aus der Ferne, gefolgt von einem Laut, der nach brechenden Knochen klang. Mir wurde schlecht vor Angst. Mein Körper zitterte, aber ich konnte nicht sagen, ob vor Kälte oder Furcht. Womöglich eine Mischung von beidem.

»Wo sind wir?«

»Im Wald.«

Ich ballte die Hände zu Fäusten. »Das weiß ich.«

»Warum fragst du dann so blöd?« Der Gnom sah mich ungerührt an und bohrte mit dem kleinen Finger im Ohr herum.

»Was soll ich hier?«, fragte ich, zu erschöpft, um mich zu streiten.

»Ausruhen.« Der Gnom schnipste mit den Fingern. Äste flogen von allen Seiten in die Mitte der Lichtung, stapelten sich und gingen von selbst in bläuliches Feuer auf.

Ich befreite das Pferd von seinem Geschirr. Mitleid überkam mich, als ich mit den Fingern über das schweißnasse Fell strich. Statt mir selbst eine der Decken zu nehmen, warf ich diese über den Rücken des Wallachs und kraulte ihn zärtlich zwischen den Ohren. »Das hast du gut gemacht«, lobte ich ihn. Er musterte mich, bevor er den Kopf senkte und zu grasen anfing.

Ich wandte mich ab und ging zum Karren. Mit letzter Kraft zog ich diesen mithilfe meiner Magie näher ans Feuer, jedoch weit genug weg, damit die Funken nicht übergehen und alles in Brand setzen konnten. Erst dann ließ ich mich erschöpft nieder und lehnte mich mit dem Rücken gegen das zusammengeschraubte Holz des Karrens. »Also?« Müde sah ich zum Gnom.

»Schlaf«, schnurrte er.

»Daran ist wohl kaum zu denken. Ich muss eine Prüfung bestehen.«

»Drei, um genau zu sein«, korrigierte er mich besserwisserisch.

»Das ist mir bewusst.« Ich seufzte. »Wer wird sie mir stellen? Woher weiß ich, dass es eine Aufgabe sein wird?«

»Du wirst es wissen, wenn es so weit ist«, antwortete der Gnom kryptisch und wandte sich ab.

»Warte!« Mühsam richtete ich mich auf. Dabei schrie mein Körper nach Schlaf. »Wo gehst du hin?«

»Natürlich nach Hause, du Dummerchen.« Er starrte mich an, als hätte ich den Verstand verloren. Dann wandte er sich ab und verschwand ohne ein weiteres Wort in den Schatten der Bäume.

Wieder auf mich allein gestellt schlang ich mir die Arme um den Körper. Angespannt sah ich mich um. Obwohl ich müde war und mich am liebsten auf dem weichen Erdboden zusammengerollt hätte, war an Schlaf nicht zu denken. Je länger ich dasaß, desto mehr Geräusche hörte ich: Knacken von Holz, Schreie, die weder menschlich noch tierisch zu sein schienen, Rufe, die sich sowohl nach Kampfankündigungen als auch nach Warnungen anhörten. Mich schauderte, als ich in rot glühende Augen sah, die mich aus der Dunkelheit anstarrten. Ich hatte das Gefühl, als würde das Wesen jede meiner Bewegungen in sich aufnehmen.

Ich kniff die Augen zusammen und versteckte das Gesicht hinter den Händen. Nein, ich war nicht mutig. War es nie gewesen. Am liebsten hätte ich den Wald fluchtartig verlassen und all das hinter mir gelassen. Aber ich konnte nicht. Rowen hatte mir das Leben gerettet. Jetzt lag es an mir, es ihm gleichzutun.

»Ich fürchte mich«, gestand ich leise. Wem die Worte galten, wusste ich nicht. Vielleicht mir. Vielleicht auch diesem Ding, das mich vermutlich noch immer anstarrte. Womöglich behielt ich deswegen die Augen geschlossen. Um nicht zu sehen, was dort draußen auf mich lauerte, obwohl genau dies die falsche Reaktion war. »Was soll ich nur machen, Rowen?« Ich raufte mir das Haar. »Wie kann ich dich retten?« Seine einzige Antwort war der ruhige, gleichmäßige Atem, für den ich unfassbar dankbar war. Seine Klagelaute hätte ich allein tief im finsteren Wald nicht ausgehalten.

Du wirst hier sterben. Ich habe dich gewarnt.

Erschrocken riss ich die Augen auf und sah mich um. Wie nicht anders zu erwarten, blieb die Stimme körperlos. »Wo bist du? Wer bist du?« So angestrengt ich auch lauschte, ich hörte nichts. Alles blieb stumm. Als hätte die Stimme sämtliche Geräusche verschluckt.

Mühsam stand ich auf. Meine Glieder waren steif und schmerzten. So mussten sich alte Menschen fühlen. Ich schleppte mich zu Rowen, kletterte umständlich in den Karren und schmiegte mich auf den Decken an seinen Körper. Eine winzige Träne lief mir über die Wange, gefolgt von einer zweiten und einer dritten. Ich schluchzte nicht, gestand es mir nicht ein, inmitten des Waldes einen Nervenzusammenbruch zu bekommen.

Denn der würde kommen, wenn ich den Damm in meinem Inneren brechen ließe. Der Kraft der Gefühle war ich in diesem Augenblick nicht gewachsen. Dabei war mir bereits jetzt schlecht, fast schon speiübel. Es war die Verzweiflung, die mich antrieb und zugleich zurückriss. Zweifel an diesem Unterfangen plagten mich und vermischten sich in meinem Inneren zu einem zerstörerischen Chaos.

»Bleib bei mir«, bat ich und vergrub das Gesicht an Rowens Brust. »Bitte.« Wenn ich ehrlich zu mir selbst war, dann waren es egoistische Wünsche. Natürlich wollte ich nicht, dass er starb. Selbstverständlich sollte es ihm wieder gut gehen. Doch tief in meinem Herzen wusste ich, dass der wahre Grund meines Unterfangens der war, dass ich nicht allein sein konnte, dass ich Rowen brauchte, damit ich nicht wieder einsam war.

Wie schwach ich doch war! Wie erbärmlich. Er, der mich beschützt hatte, kämpfte um sein Leben, während ich mein eigenes betrauerte. Ich war nicht die Heldin in dieser Geschichte. Ich war der Dreck unter den Füßen der wahren Retter, der Prinzen und Prinzessinnen, die für das Recht und Überleben anderer kämpften. In meinen Adern floss das Blut einer Bösewichtin.

Wir waren keine ehrenhafte Familie. Zwar waren wir stark, insbesondere mein Vater. Durchaus. Doch er war ebenso egoistisch wie ich. Nie hatte er etwas ohne Gegenleistung getan, nie hatte er aus freien Stücken und mit offenem Herzen anderen geholfen. Er war auf den eigenen Profit aus gewesen und hatte sich mehr um sich selbst gekümmert als um andere. Uns mit eingeschlossen.

War ich genauso?

Zweifel plagten mich. Mir drehte sich alles. Am liebsten hätte ich das Negative, das in mir schlummerte, herausgewürgt, mich übergeben, bis nichts mehr da war, wofür ich mich schämen müsste. Aber das konnte ich nicht. Genauso wenig, wie ich mein verschmutztes Blut gegen reines tauschen konnte.

»Bleib bei mir«, flüsterte ich …

***

Dass ich eingeschlafen war, merkte ich erst, als mich plötzlich jemand berührte. Sofort sprang ich auf und schlug instinktiv zu, aber meine Hand wurde noch in der Luft abgefangen. Funken sprühten aus meinen Fingern, aber sie prallten an dem dunklen Körper vor mir ab.

»Lass mich los«, knurrte ich und erweckte das Feuer in mir. Sofort setzte sich meine Faust wie selbstverständlich in Brand und die Flammen gingen bis zum Handgelenk, an dem mich der Angreifer festhielt.

Ein hölzernes Kreischen erklang, als das Feuer auf den Körper vor mir überging, erst auf seine Finger, dann den Arm entlang, bis es ihn zur Gänze eingehüllt hatte. Am liebsten hätte ich mir die Ohren zugehalten, um dem schrecklichen Laut zu entgehen. Stattdessen entwand ich mich dem Griff des Fremden. Geistesgegenwärtig stieß ich ihn weg, doch nicht nur von mir, sondern auch vom Karren, der viel zu leicht Feuer fangen konnte.

Der Angreifer taumelte noch einige Schritte zurück, während seine Schreie zunehmend anschwollen. Dabei riss er sich hektisch den schwarzen Umhang vom Körper und offenbarte etwas, was mich sprachlos machte.

Dort, wo Haare hätten sein sollen, befanden sich Efeuranken. Sie fielen in langen dicken Blattbüscheln bis zu den Hüften, wo sich winzige grüne Knospen schlängelten. Die Arme waren biegsame Äste, die Finger Zweige. Sofort fasste ich mir ans Handgelenk und zuckte zusammen. Dicke Striemen zeichneten sich auf meiner Haut ab.

Das Schlimmste war jedoch nicht der von der Natur gestaltete Körper, sondern das Gesicht. Es war zur Gänze aus Rinde, genauso wie der Rumpf und die Beine. Zwei schwarze Knopfaugen starrten mich ausdruckslos an. Eine Nase gab es nicht – und dort, wo der Mund hätte sein sollen, befand sich lediglich ein Loch. Entsetzt starrte ich es an, während der Laut von eben nun in ein ohrenbetäubendes Kreischen umschlug. Kopfschmerzen breiteten sich in mir aus, doch ich floh nicht. Konnte es nicht. Wegen Rowen.

Angespannt hielt ich die Luft an, während ich mich vor dem Karren positionierte, als das Feuer um das Wesen herum plötzlich kleiner wurde.

»Mist.« Augenblicklich stellte ich mich breitbeinig hin und hob die Fäuste, bereit zum Kampf.

Vor meinen Augen erlosch das Feuer. Dort, wo die Rinde gerade noch gebrannt hatte, waren lediglich dunkle Rußflecken. Weder blätterte etwas ab, noch schien das Wesen sonst irgendwelche bleibenden Schäden zu haben.

Der Schrei hörte abrupt auf. Dennoch dröhnte es in meinem Schädel weiter. Ich verzog das Gesicht, als stattdessen ein tiefes Brummen einsetzte und zunehmend lauter wurde, bis ich mich nicht länger konzentrieren konnte. Ich stöhnte und kniff die Augen zusammen, während mich das Gefühl überkam, dass mein Kopf jeden Moment explodieren würde. Ich taumelte und konnte mich kaum noch auf den Beinen halten. Etwas schien mein Gleichgewicht zu stören.

Ohne es bewusst zu merken, sank ich langsam in die Knie. Mühsam hob ich die Augenlider, aber aufgrund der Tränen konnte ich lediglich verschwommen erkennen, dass sich das Wesen mir näherte. Seine Schritte gingen in dem dröhnenden Lärm unter, der schlagartig verschwand, als ich das Bewusstsein zu verlieren drohte.

»Du bist ziemlich hartnäckig.«

Benommen hockte ich auf allen vieren und starrte auf meine Hände, die sich langsam wieder deutlicher abzeichneten. Einzelne Tränen liefen mir über die Wangen zur Nasenspitze und tropften von dort zu Boden. Ich grub die Finger in die lockere Erde und biss mir auf die Zunge. Das Denken fiel mir so unfassbar schwer. Das Konzentrieren noch mehr.

Ein metallischer Geruch kroch mir in die Nase. Zittrig berührte ich die Haut oberhalb meines Mundes. Dort war eine seltsame warme Nässe. Als ich meine Finger betrachtete, erkannte ich Blut.

»Das wird wieder verheilen.«

Füße, halb aus Fleisch, halb aus Rinde, traten in mein Sichtfeld. Vor meinen Augen verwandelten sich die Baumstümpfe in nackte Füße. Mühsam sah ich auf und begegnete dem Blick eines Mannes, dessen dunkelbraune Haut zunehmend heller wurde, bis sie blass wie Alabaster war und fein wie Pergament wirkte. Hauchzart erkannte ich die Adern darunter. Anmutig ragte er vor mir empor. Eine dichte Uniform lag eng an seinem Körper an. Obwohl sie nach Blättern in den unterschiedlichsten Grüntönen aussah, wirkte sie fest und robust. Wie eine naturbehaftete Rüstung.

»Wer bist du?«, fragte ich leise, während ich versuchte Kraft zu sammeln. Unter größter Willensanstrengung stand ich schwankend auf. Den Blick wandte ich dabei kein einziges Mal von den ebenmäßigen Gesichtszügen und kristallklaren Augen ab, die wie Diamanten funkelten. Ein Lichtstreif in der finsteren Nacht.

»Ich heiße Aldon, Herr der Bäume und des Waldes, den du unbefugt betreten hast.« Seine Stimme klang sanft und geschmeidig, der Blick warm und doch schneidend. Eine melodische Warnung lag in seinen Worten verborgen. Eine feine Nuance, kaum hörbar – und doch war sie da.

Angespannt wich ich einen Schritt zurück, näher in Richtung Rowen. »Verzeih, wenn ich nicht hätte herkommen dürfen. Doch ich benötige dringend Hilfe.« Ich deutete zum Karren. »Mein Freund ist schwer verwundet worden.«

»In einem Krieg der Menschen. Einem Kampf, der nicht hätte sein müssen.« Aldon runzelte die Stirn. »Was haben wir mit deinem Volk zu tun? Weshalb sorgst du dich um einen Menschen, wo du doch zu den magischen Wesen dieser Welt gehörst?«

»Er ist anders«, versicherte ich und hörte im selben Moment, wie hohl meine Worte klangen. Leer, ohne Fülle, ohne Herz. Es waren nur aneinandergereihte Buchstaben mit fehlendem Inhalt. Es waren Taten, die zählten. »Was kann ich tun, um sein Leben zu retten?«

Aldon neigte den Kopf und sein fließendes silbernes Haar fiel ihm über die Schulter. Es ähnelte einem Wasserfall aus Mondlicht und ging ihm bis zu den Hüften. Sofort dachte ich an die Knospen, die gerade noch statt der Strähnen seinen Körper umschmeichelt hatten. »Was weißt du über diesen Ort?«, fragte er mit einem väterlichen Lächeln. Dabei wirkte er äußerlich kaum älter als ich.

»Dass kaum jemand ihn lebend verlassen hat – und wenn, dann gereinigt und stärker als zuvor.« Ich schloss die Augen und dachte an all die Geschichten, die mir meine Eltern über diesen Wald erzählt hatten. Darüber, dass es kaum Überlebende gab. Bislang waren nur zwölf bekannt, verteilt auf Jahrhunderte langer Geschichte, und ich würde die Dreizehnte werden.

»Ebenso wirst du wissen, dass Tausende ihr Leben in dem Versuch gelassen haben, eigennützigen Zielen einen Schritt näher zu kommen?« Aldon kam geschmeidig auf mich zu. Obwohl ich hätte schwören können, dass er lediglich zwei Schritte gegangen war, hatte er den Abstand zwischen uns bereits hinter sich gebracht.

Er griff nach meinem Haar und zwirbelte die Locke zwischen den Fingern. Dabei sah er auf mich herab und neigte den Kopf. Zugleich beugte er sich über mich, kam mir näher, sodass ich den frischen Atem roch. Seine verführerisch geschwungenen Lippen waren den meinen unfassbar nah. Es ging ein zarter Geruch von ihm aus, der mich lockte. Schnell hielt ich die Luft an und nickte.

»Das weiß ich«, hauchte ich.

Aldon lächelte. »Bist du dir sicher, dass das Leben dieses Jungen es wert ist, dein eigenes zu riskieren?«

»Ja«, antwortete ich ohne zu zögern. Ich wusste selbst nicht, woher diese Entschlossenheit kam. Doch allein bei dem Gedanken, Rowen zu verlieren, hätte ich erneut in Tränen ausbrechen können. Ja, ich war mir sicher, dass ich diesen Weg für ihn beschreiten wollte.

»Gut«, murmelte Aldon. Es lag so viel Gefühl in diesem einen Wort. Trauer, aber auch Neugierde. Ein leises Versprechen über Leben und Tod.

»Was muss ich tun?« Mein Herz schlug schneller. Der Duft von Kiefernnadeln umgab mich. Es dauerte einen Atemzug, bis ich begriff, dass der Geruch von Aldon kam. Dem Beschützer des Waldes. In ihm schien all das Leben vereint zu sein.

Zärtlich strich Aldon mit dem Fingerrücken über meinen Hals. Es war eine warme Berührung, voller Hingabe und Verlockung. Hitze breitete sich in mir aus, die auch Hingebung in mir erweckte. Meine Finger kribbelten. Es wäre zu einfach, die Hand in seinem Haar zu versenken und meinen Mund auf seinen zu legen, mich ihm zu nähern, während er mich hielt und mir versprach, dass alles gut werden würde. Je länger ich in seine Augen sah und je tiefer ich seinen Duft einsog, desto mehr schien ich mich in diesem Augenblick zu verlieren.

Aber das wollte ich nicht. Es war nicht der Sinn meines Aufenthaltes hier. Widerstrebend schüttelte ich den Kopf und kniff die Augen zusammen, bevor ich neuerlich die Luft anhielt und wartete, bis das Brennen meiner Lunge mich wieder zur Vernunft gebracht hatte.

Kontrolliert atmete ich weiter, darauf bedacht, mich nicht erneut in Aldon zu verlieren. Entschlossen drückte ich seine Hand weg und trat einen Schritt zurück. »Wie sehen die Aufgaben aus?«, fragte ich mit fester Stimme und wackeligen Knien.

Aldon wirkte überrascht und schien es nicht einmal verbergen zu wollen. Ein Lächeln schlich sich auf seine Züge. »Interessant«, murmelte er.