Japan für Anfänger - Pico Iyer - E-Book

Japan für Anfänger E-Book

Pico Iyer

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Beschreibung

»Seit über dreißig Jahren lebe ich im Westen Japans, und zu meinem großen Entzücken weiß ich heute deutlich weniger als bei meiner Ankunft.« Folgerichtig zählt sich auch Pico Iyer, einer der großen Reiseschriftsteller unserer Zeit, vergnügt zu den Japan-Anfängern. Hier nun schöpft Iyer aus seinen vielen Er­fahrungen, aus Reisen, Gedanken, Lektüren, Gesprächen und eröffnet uns überraschende, pointierte Einblicke in die japanische Kultur. Mit Liebe für Details und ­Freude an Widersprüchen erhellt Iyer Japan-Neulingen ein ­faszinierendes Land, versierte Reisende werden es noch ­einmal mit anderen Augen sehen.

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Pico Iyer

Japan für Anfänger

Aus dem Englischen vonBeatrice Faßbender

Auf ihrer höchsten Stufe ist die Aufmerksamkeit das Gleiche wie das Gebet.

SIMONE WEIL

Mit Vorsicht zu genießen

AUF DEN STRASSEN

Rätsel der Ankunft

Passend gekleidet

Reich des Lächelns

Die perfekte Schauspielerin

Sich zurechtmachen

Teile und das Ganze

Aus der Zeit gefallen

AM SCHALTER

Kein Bett für die Nacht

Im Traum

Japan für Fortgeschrittene

Das 2,5-dimensionale Wesen

Zwischen den Torii-Toren

Stets zu Diensten

East Point

Auf der Suche nach einem »Ja«

Der Apfel im Garten

IM TEMPEL

Der leere Raum

Auf der Matte

Worte

Keine Worte

Was wird dir fehlen?

Menschenmengen

Im Garten

Frei von Wahl

Verantwortung tragen

Die Brücke des Zauderns

Auf dem Kopf

HINTER VERSCHLOSSENEN TÜREN

Was im Inneren liegt

Das schönere Geschlecht

Familie großgeschrieben

Die Kehrseite der Trauer

VOR DEM FENSTER

Die entlegene Insel

Spaziergang im Park

Fremdsein lernen

Genau wie wir

Ballspiele

AM HORIZONT

Geister der Vergangenheit

Plus ça change?

Das Ende, ein neuer Anfang

Brief eines Freundes

Verwendete deutsche Übersetzungen

Über den Autor

MIT VORSICHT ZU GENIESSEN

Seit über zweiunddreißig Jahren lebe ich im Westen Japans, und zu meinem Entzücken weiß ich sehr viel weniger als bei meiner Ankunft. Ein Land voller stromlinienförmiger Oberflächen bietet einem mehr oder weniger das, was man erwartet – und, unter der Oberfläche, so vieles, was man nicht erwartet, dass man nicht weiß, was man damit anfangen soll. Zugleich hat mir das Reich gesammelter Innerlichkeit jeden Tag gezeigt, dass, um mit Proust zu sprechen, »ein Wetterwechsel [genügt], um die Welt und uns selbst neuzuschaffen«.

Ich habe Japan weder studiert noch hier gearbeitet, und in Nara lebe ich mit einem Touristenvisum, damit mir mein Außenseiterstatus bewusst bleibt. Japanisch spreche ich in etwa wie eine Zweijährige, weil ich das, was ich kann, bei meiner Frau aufgeschnappt habe und weil im Japanischen das Wort für »ich« unterschiedlich ist, je nachdem, ob eine Frau oder ein Mann spricht. Aber ich lebe seit über zweiunddreißig Jahren mit meiner in Kyoto geborenen Frau zusammen – und unseren gänzlich japanischen Kindern –, größtenteils in einem anonymen Vorort, wo man keine anderen Ausländer zu Gesicht bekommt. In Japan spreche ich nur selten Englisch, und ohnehin hat mich das Land gelehrt, wie sehr das Wahrhaftige jenseits aller Sprachen liegt.

Einiges in diesem Buch mag jene ärgern, die Japan kennen; mich ärgert es meist selbst. Aussagen im einen Kapitel scheinen anderen im nächsten zu widersprechen, und was vermutlich in den Tempel gehörte, taucht im Abschnitt über Love Hotels auf und umgekehrt. Vieles, was ich Japan zuschreibe, gilt fraglos für weite Teile Ostasiens, und manches, was ich in Kyoto sehe, würde man in ländlicheren Gegenden nie finden.

Einerlei. Es handelt sich hier lediglich um Provokationen, Eröffnungssätze, die Sie zu eigenen, besseren Erwiderungen anregen sollen. Wie heißt es in den Tempeln von Kyoto: »Auch das Gegenteil einer großen Wahrheit ist wahr.« Ich habe versucht, meine Salven wie eine Reise anzuordnen, von den lauten, überfüllten Straßen über makellos hergerichtete Innenräume bis hinein in jene private Welt, in der man in Kategorien wie »Japan« oder »der Westen« nicht einmal denken kann. Wenn Sie aber dieses fächerförmige Buch nicht von vorn nach hinten lesen, mal in einem überfüllten Zug, mal in einem lautlosen Tempel, dann nehmen Sie das Land so auf, wie die meisten von uns es tun, taumelnd, vom Fremdartigen zum Vertrauten und wieder zurück.

Den Titel »für Anfänger« habe ich nicht nur gewählt, weil sich das Buch an Anfänger richtet, sondern vor allem, weil es von einem geschrieben wurde. Das Leben in Japan hat mich gelehrt, öfter »ich frage mich« zu sagen als »ich meine«. Die erste Regel für Ausländer in Japan lautet, nicht von dies-oder-das zu reden; die zweite lautet, nichts allzu ernst zu nehmen.

AUF DEN STRASSEN

RÄTSEL DER ANKUNFT

Beim Aussteigen am Bahnhof von Kyoto sieht man auf dem Schild über sich elf Pfeile. Sie zeigen nach links, rechts, geradeaus und nach hinten. In der Mitte prangt ein Fragezeichen.

Bahnsteig 0 befindet sich in der Nähe der Bahnsteige 31 und 32, und auf einer Tafel informiert ein großer »Restaurantführer«, dass es schon im Bahnhof hundertsieben Einkehrmöglichkeiten gibt. In unmittelbarer Nachbarschaft liegen zudem zweiundzwanzig Hotels, von denen eines allein fünfzehn Bankettsäle, fünfhundertsechzehn Zimmer, ein Halal-Menü, eine Klinik, ein Fotostudio und eine Kirche zu bieten hat.

So vieles ist verfügbar, kaum etwas ist zu finden. Man steckt in einer Art lebendig gewordener Webseite – überall ploppen Kästchen und Links auf, die zu einer Kunstgalerie und zur »Happy Terrace« führen, zum sechsstöckigen Postamt und dreizehnstöckigen Kaufhaus –, aber niemand hat einem das Passwort gegeben.

Ständig tauchen Fetzen von Englisch, Französisch, Deutsch auf, allerdings mehr oder weniger als Dekoration – wie Farben oder Klänge – und umgeben von Buchstaben in drei sich nicht überschneidenden Alphabeten. Am Ende kommen dabei hundertein Leute heraus, die tausendundzwei Sprachen sprechen, von denen sie keine einzige verstehen.

In Japan, heißt es, gibt es keine Adressen – oder, schlimmer noch, es gibt Nummernsammlungen, doch manchmal beziehen sie sich auf die Chronologie der Bebauung, manchmal auf etwas anderes. Wenn meine Tochter, meine Frau und ich die Adresse unserer alten gemeinsamen Wohnung aufschreiben, notieren wir jeweils völlig unterschiedliche Straßennamen.

Vor Ankunft des Westens gab es in Tokio doppelt so viele Einmündungen und Sackgassen wie Durchgangsstraßen. Eine Burgenstadt muss Angreifer verwirren. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Stadt entlang der Pfade wieder aufgebaut, die um die Trümmer von zerbombten Gebäuden herum entstanden waren, was das Terrain noch undurchdringlicher gemacht hat.

Im Zug nach Kyoto zeige ich meiner japanischen Frau eine niedliche Reklame voller Teddybären, einer mit einem Aufnäher, ein anderer neben einem knallroten Krankenwagen.

»Ja«, sagt sie. »da steht: Wenn man ein Kind sieht, das geschlagen wurde, soll man die Nummer da wählen. Wenn man das nicht macht, wird das Kind vielleicht sterben!«

»Und das Bild mit dem drolligen Fuchs und dem Bärchen, die miteinander tuscheln?«

»Ein Anwalt«, sagt Hiroko. »Er hilft, wenn man Unfälle hat.«

PASSEND GEKLEIDET

Ich besteige den Zug an einem Samstag und sehe eine Schar von Schulkindern in Uniform, reihenweise Geschäftsleute mit Namensschildern am Revers und Geschwader junger Frauen in dunklen Kostümen. Als ich den gleichen Zug am nächsten Tag besteige, begrüßen mich ein junger Typ, dessen nackte Füße in Leinenschuhen stecken, und sein Date, die in topmodischen Schneestiefeln neben ihm herstapft (in einer Gegend, in der Schnee so gut wie unbekannt ist). Alle spielen ihre Rolle, doch nach Feierabend treten auch enge Freunde mitunter in verschiedenen Stücken auf.

Daher haben japanische Paare in ihren Flitterwochen traditionell die gesamte Reise über aufeinander abgestimmte Outfits an. Selbst Mädchen tragen bei ihren sonntäglichen Shoppingtouren häufig die gleichen Frisuren, künstlichen Wimpern und weißen Stiefel. In Sachen Mode geht es dann weniger darum, hervorzustechen, sondern hineinzupassen, zumindest in die eigene Mikrogruppe.

Nachdem 1873 ein Kaninchen in Japan aufgetaucht war, setzte ein wahres Kaninchenfieber ein, so dass ein einziges Tier den Gegenwert von zwanzigtausend Dollar einbrachte.

Nachdem sich eine Frau 1970 vom Dach einer Tokioter Wohnanlage gestürzt hatte, stürzten sich rund hundertfünfzig andere Menschen vom selben Dach.

Für Ausländer bedeutet das: Hier machen Kleider keine Leute; sie markieren lediglich die Rolle. Rollen aber wechseln in Japan in Lichtgeschwindigkeit, wenn Leute im Gespräch mit der Kollegin, dem Assistenten, dem Chef eine radikal andere Stimme annehmen (und sogar ein anderes Wort für »ich« verwenden). Es sei trügerisch, heißt es im Englischen, ein Buch nach seinem Umschlag zu beurteilen – das gilt umso mehr, wenn es sich um ein fremdsprachiges Buch handelt, das, passend zu jedem Publikum, ein Dutzend Umschläge hat.

Im Jahr 1999 habe ich den Mann ausfindig gemacht, der Karaoke erfunden haben soll, um ihm mitzuteilen, dass meine Redaktion vom Time Magazine ihn unter die »100 Asiaten des Jahrhunderts« gewählt hatte. Daraufhin übergab er mir eine Visitenkarte, die seine Dienste als Hundetrainer anpries.

Die sanftmütige Matrone dort, gekleidet wie für den Kirchgang, die Hände im Schoß, sei, erklärt mir meine Frau, ein wildes Ding, zu allem bereit, und zwar mit jedem. Und dieses spindeldürre dreiundzwanzigjährige Model in Netzstrümpfen und mit perfektem Make-up hatte, wie sich herausstellte, so berichtet mir ihr erstaunter kalifornischer Freund, zuvor noch keine einzige Beziehung.

Auf Reisen im Ausland muss ich meine Frau stundenlang überreden, sich nicht zu schick zu machen, weil sich sonst alle um uns herum underdressed fühlen. Für den Weg zum Geldautomaten ein Designer-Outfit überzustreifen ist für sie ebenso ein Zeichen von Höflichkeit, wie zu einer Beerdigung schwarz zu tragen oder in ganzen Sätzen zu sprechen.

Zwei von fünf japanischen Männern zupfen ihre Augenbrauen – und die ersten Geishas, im dreizehnten Jahrhundert, waren Männer. »Trage am besten Rougepulver in der Ärmeltasche bei dir«, rät ein Samurai-Handbuch aus dem achtzehnten Jahrhundert. »Mitunter haben wir beim Ausnüchtern, Hinlegen oder Aufstehen eine ungute Farbe.«

»Meine Frau sagte, sie habe in Japan keinen einzigen echten Mann gesehen«, erzählt mir ein amerikanischer Freund, der in Tokio aufgewachsen ist – »bis sie einen Kabuki-Spieler kennenlernte, der auf Frauenrollen spezialisiert war.«

Nur Einfältige würden meine Nachbarn »doppelgesichtig« nennen; sie verfügen über ein enormes Repertoire an Gesichtern, um mit jeder Situation umzugehen, und wir, die wir dieses Phänomen Mutter, Chef und Freundin gegenüber mit jeweils völlig anderen Worten beschreiben, können nur zu dem Schluss kommen, dass wir kaum anders sind, nur weniger vielseitig.

Der Buddha selbst war bemüht, in verschiedenen Situationen Widersprüchliches zu sagen, denn was bei einer Schar von Mönchen taugt, ist bei einer Gruppe von Kaufleuten sinnlos. Was wir »Unbeständigkeit« nennen, spricht in Wahrheit für einen beständigen Wunsch, das Angemessene zu tun.

REICH DES LÄCHELNS

In Japan werden Mädchen darauf trainiert, den rechten Ohrring mit der linken Hand anzustecken, weil es reizvoller aussieht.

Zudem werden junge Frauen in Japan darauf trainiert, so fröhlich und süß – so mädchenhaft – wie Teenager zu wirken. Da unsereins oft versucht, möglichst kultiviert zu wirken, sind wir mitunter unsicher, wie wir mit Leuten umgehen sollen, die darauf aus sind, möglichst unschuldig und blauäugig zu wirken.

Ein gefeierter französischer Semiotiker hat ein aberwitziges Buch über Japan namens Das Reich der Zeichen geschrieben; ihm entging dabei, dass Japan in Wahrheit ein Reich des Lächelns ist und Lächeln menschlicher, anziehender und emotional sehr viel komplexer als jedes Zeichen.

»Die Namen von Jaguar-Modellen klingen immer wie Raketen«, stellt Paul Beatty in Der Verräter fest. »XJ-S, XJ8, E-Typ. Die Namen von Hondas klingen, als wären sie von Pazifisten und Botschaftern der Humanität ausgebrütet worden. Der Accord, der Civic, der Insight.«

Japan glaubt an die Betonung des Positiven – die Schwarzmärkte nach dem Krieg waren als »Schönwettermärkte« bekannt, eine Tokioter Mülldeponie hieß »Trauminsel« –, weil es weiß, dass Buddhas Erste edle Wahrheit die Realität des Leidens postuliert. Wenn eine Figur in einem Film von Yasujiro Ozu lächelt, sagt das mehr über Traurigkeit aus als jedes Schluchzen oder Zucken.

»Ihr Europäer findet es beschämend, eure Körper zu enthüllen«, erklärte ein japanischer Gastgeber seinem Besuch, einem Schriftsteller, in den 1920er Jahren, »eure Gedanken aber enthüllt ihr ohne jede Scham. Alle wissen, wie Mann und Frau geschaffen sind, daher schämen wir uns nicht, unsere Körper zu entblößen. Wir finden es ungehörig, unsere Gedanken zu entblößen.«

Wenn im öffentlichen Japan nichts persönlich ist, ließe sich daraus folgern, dass Japan ein unpersönliches Land ist. Doch wenn die Frau in der winzigen Patisserie einem ein wunderschönes Lächeln zuwirft und viele lange Minuten darauf verwendet, das 1,50 Euro teure Éclair in eine rosa Schachtel zu legen, samt einer Tüte mit Eis, damit das Gebäck auf dem langen Heimweg nicht schmilzt, die Schachtel in jahreszeitlich passendes Papier einzuschlagen und mit einer Schleife (Farbe nach Wunsch) unter einem Aufkleber zu verschließen, befindet man sich in Wahrheit im Reich des Überpersönlichen. Alles ist zutiefst persönlich; es hat nur nichts mit einem selbst zu tun.

Sogar verliebt, während einer längeren Beziehung mit einem Japaner, fragte sich die britische Romanautorin Angela Carter »von Zeit und Zeit: In welchem Maße wird die Vortäuschung von Gefühlen, ihre restlos überzeugte Behauptung, authentisch?«

Schließlich sehen die Briten gern geflissentlich über den Part hinweg, der ihnen in der nationalen Pantomime zugeteilt ist; im prä-ironischen Japan ist ernst sein wirklich alles. Stil ist weniger der Feind der Ehrlichkeit, wie Oscar Wilde meinte, als vielmehr deren öffentlicher Ausdruck.

Meine Freunde in Japan sind versierter darin, für Fotos zu posieren, aufs Stichwort zu singen, ja eine Bühne zu betreten, als so gut wie alle meine Bekannten im Westen. Doch fragt man sie nach ihren Gedanken oder Gefühlen, wirken sie beklommen und sagen nichts.

Der japanische Künstler Takashi Murakami hat sich dadurch einen Sturm globaler Anerkennung beschert, dass er seine Ausstellungen Ego nannte, dass er mitten in seinen Ausstellungen Shops eröffnete, dass er für eine einzige Arbeit dreizehn Millionen Dollar erhielt, obwohl die Arbeiten nicht mehr aus seiner Hand stammen.

Doch als ich anlässlich eines Podiumsgesprächs in Los Angeles einen ganzen Tag mit Murakami verbrachte – er betrat die Bühne gekleidet wie ein Comic-Clown –, wurde mir klar, was für eine bedächtige und präzise, zutiefst japanische Seele er ist, selbst wenn er das Gegenteil spielt. Er wurde still, beinahe ehrfürchtig, als ich vom Anime-Regisseur Hayao Miyazaki sprach, den er seinen »Guru und Mentor« nannte; seine Promotion in klassischer japanischer Malerei hatte ihn in jenen Traditionen geschult, die, wie ich begriff, Murakami-san nun auf den Kopf stellte.

Das serufu-esutimu,1 das er ausstrahlte – »Ichbezogenheit wurde mir zum Neubeginn«, hatte der Romancier Natsume Soseki hundert Jahre zuvor behauptet –, war, so erkannte ich, ganz einfach seine Art, sein Land daran zu erinnern, nicht an die schüchterne und bescheidene Rolle zu glauben, die es auf der Weltbühne angenommen hat.

Ein traditionelles japanisches Haus – ein klassisches Ich – besteht aus lauter beweglichen Raumteilern und Separees. Wobei die Abwesenheit von Schlössern und Vorhängen das Individuum keinen Moment lang vergessen lässt, dass es Teil eines größeren Ganzen ist.

So verwandelt ein Raumteiler, ein Shoji, eine Persönlichkeit in eine Silhouette, ein Film von Ozu zeigt uns archetypische Figuren – die Tochter, der Vater, die Nachbarin –, die wie eine Commediadell’Arte-Truppe von einem Film zum nächsten weiterziehen. Jahrelang verheimlichte mir meine Frau den Namen ihrer Chefin; von dieser Chefin als »Abteilungsleiterin« zu sprechen nahm der Kommunikation auf eine Weise die Schärfe, wie es »Nakata« nie vermocht hätte.

Dies wiederum bedeutet, dass die meisten japanischen Bilder weniger das individuelle Drama thematisieren als vielmehr die große Leinwand (der Natur, der Zeit, der Götter), vor der es sich abspielt. Man muss nur einen Holzschnitt von Hiroshige betrachten – oder ein Haiku lesen –, und man bekommt weniger einen Menschen zu sehen als vielmehr das Vergehen der Zeit, den fallenden Schnee, ein Gefühl von Einsamkeit.

Indem man einzelne Figuren verschwimmen lässt – das ist das Geheimnis der Märchen von Oscar Wilde sowie vieler Romane von Kazuo Ishiguro –, verwandelt man ein »er« oder »sie« in ein »wir«.

Junge Gesellschaften misstrauen allem Künstlichen; ältere – und nur wenige sind erfahrener als Japan – wissen, dass uns, in einer Welt, in der Schmerz nie fern ist, womöglich nur das Künstliche bleibt.

1Selbstbewusstsein; das japanische Wort kommt erkennbar aus dem Englischen (self-esteem). [Anm. d. Ü.]

DIE PERFEKTE SCHAUSPIELERIN

In einer nebligen Nacht Anfang März fuhren Hiroko und ich hinauf nach Tokio. Eine alte Freundin hatte uns zur Japan-Premiere des Films Die Eiserne Lady von 2011 eingeladen, mit Meryl Streep als Margaret Thatcher. Veranstaltungen dieser Art sind für uns, in unserem vergessenen Vorort, alles andere als alltäglich, und als wir unsere Plätze mittig in einer Reihe einnahmen und dabei ehemalige japanische Premierminister und deren Gattinnen streiften, hörte ich hier und da Gemurre über den zerzausten Inder und seine jugendlich wirkende japanische Begleitung. Die meisten von ihnen waren wegen des Vergnügens hier, eine britische Regierungschefin auf der Leinwand zu erleben, mit der sie im wahren Leben beruflich zu tun gehabt hatten.

Vor dem Film kam Meryl Streep heraus und sprach ein paar einleitende Worte. Sie war über die Maßen liebenswürdig und charmant und souverän. Hiroko und mich aber schockierte etwas anderes. Zehn Tage zuvor hatten wir sie bei der Oscar-Verleihung im Fernsehen gesehen, wo sie ihren Preis in einem wenig schmeichelhaften Goldkleid entgegennahm, das es fertigbrachte, sie wie eine Matriarchin aussehen zu lassen, die Patentante der jüngeren Schönheiten, die vor ihr im Publikum saßen. Jetzt, keine dreihundert Stunden später, starrten wir die hinreißendste junge Schönheit an, die wir je gesehen hatten, groß und schlank, im kleinen Schwarzen, mit goldenem Haar, das ihr über den Rücken fiel.

Unsere Vermutung war, dass sie sich bei den Oscars bewusst zurückhaltend gekleidet hatte; ihre ersten Worte nach der Preisverleihung waren: »Ich hatte das Gefühl, halb Amerika stöhnen zu hören: ›Oh nein! Ach, komm, was soll das denn? Die schon wieder?‹« Zudem hatte sie ein ähnlich geräumiges Goldkleid getragen, als sie neunundzwanzig Jahre zuvor ihren letzten Oscar erhalten hatte. Aber bei allem, wofür Meryl Streep berühmt ist – ihren Intellekt, ihre Dialekte, ihre Ausdauer, ihre politische Courage sowie den Maskenbildner, der sie seit, Stand damals, siebenunddreißig Jahren in perfekte Ebenbilder von Karen Silkwood und Tania Blixen verwandelte –, hatten wir nie von ihrer umwerfenden Schönheit gehört.

Nach dem Abspann lud unsere Freundin uns zu einem Abendessen in kleiner Runde mit dem Star, der Regisseurin und einer weiteren Freundin ein, hoch oben im Hotel, in dem sie wohnten. In den folgenden drei Stunden waren Hiroko und ich bei all dem zugegen, was wir uns von der versiertesten Schauspielerin der Welt womöglich erhofft hätten, und bei noch viel mehr: Sie war spritzig und zugänglich, verletzlich, ja betörend. Ihre Berühmtheit tat sie anscheinend gleichgültig ab und sprach mit uns, so kam es uns vor, ebenso offen und herzlich wie mit ihren Freunden. Doch als sie am Ende des Abends aufstand und, selbst die Kellner überragend, das leere Restaurant durchmaß, wurden wir wieder daran erinnert, dass wir uns fünfundvierzig Stockwerke über dem Boden befanden.