7,99 €
'Jaspers verstehen' ist eine Einführung in die Philosophie Karl Jaspers´, in der der Leser mit der jasperschen Existenz zum Fragenden wird, der sich auf die Suche begibt nach Selbstsein und auf Wahrheit trifft in dem Moment, wo er sich bezogen weiß auf die Möglichkeiten in sich selbst und im anderen Menschen - Möglichkeiten, die darauf warten, im lebendigen Zusammenhang eines Ganzen Wirklichkeit zu werden im konkreten Leben, im Erfahrungsraum der Bewegung und Veränderung. Jaspers fördert Widerständigkeit gegen Entfremdung, indem er an den Einzelnen appelliert, sein Denken und Handeln, seine Sehnsucht nach Einheit und sein Eingriffspotential als Mensch substantiell in redlichem Bemühen auszuloten, indem er sich ansprechen lässt in seiner Bezogenheit auf den ihm aus der Transzendenz zugesprochenen ureigenen Grund in sich. In bleibender Unbedingtheit und schonungsloser, aber empathischer Wahrheitssuche sich offen haltender Kommunikation zeigt sich die werdende Existenz bereit auch zur notwendigen Relativierung des eigenen Standpunkts. Die jaspersche Existenz lernt auf ihrem Weg durch Wirrnisse, dass gerade auch ihr Scheitern eine Funktion hat und dass, wenn der Weg der Freiheit unmöglich erscheint, die Gewissheit bleibt, dass der ungangbar scheinende Weg unsere Aufgabe, dass das Nichtwegsehen, das Sichangehenlassen unser Menschsein selber ist - wie der Existenzphilosoph es immer wieder betont. Eine solche Philosophie erweckt das Bewusstsein von Verantwortlichkeit im Denken und Handeln. In behutsamen Schritten sich ganz auf das jaspersche Denken einlassend, gelingt der Autorin ein eindringlicher und adäquater Zugriff auf die Kerngedanken Karl Jaspers´ und der Leser trifft auf den Spannungsreichtum einer poetisch-transzendenzbezogenen und zugleich wirklichkeitsoffenen, ja wirklichkeitsverpflichtenden Philosophie, deren Aneignung sich in den jeweils konkreten geschichtlichen Situationen im Leben des einzelnen Menschen zu bewähren hat - er trifft auf eine Philosophie des Menschseins - auf eine Leidenschaft zur Wahrheit.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 331
Veröffentlichungsjahr: 2023
für Ruth Irmgard
Die Philosophie Karl Jaspers’
Eine Philosophie aus dem Leben und für das Leben – eine Existenzphilosophie
Der Mensch auf der Suche
Seinsberührung I
Das Problem der Subjekt-Objekt-Spaltung und die existentiell entscheidende Subjektivierungsleistung des Menschen
Seinsberührung II
Das Subjekt und der Anspruch eines Sollens
Seinsberührung III
Innewerden des Seins im Raum der Erfahrung – eine Philosophie der
Schwebe
Die Sprache Jaspers’ und die besondere Funktion der Metapher –
um indirekt zu treffen
Chifferlesen I
Die Transzendenz und ihre Chiffren – eine Vertiefung des Seinsbewusstseins
Chifferlesen II
Der Mensch ist Seele, die heimkehrt …
– existenzphilosophische Betrachtung romantischer Gedichte
Kommunikation als Grundelement der Wahrheitssuche – Offenheit, Selbstkritik und die Vermeidung von Hochmut
Der Philosophische Glaube
Hinter dem Horizont – die Philosophie des Umgreifenden und die Leitfunktion der Vernunft
Philosophisches Denken an der Grenze des Wissens – das Absolute Bewusstsein und der
Traum des Einen
Von der Funktion der Grenzsituation für das Werden der Existenz und der Antinomie als
Stachel des Philosophierens
Die Unvermeidbarkeit von Schuld im Licht der Freiheit
Von der
Notwendigkeit des Scheiterns
und dem
unbegreiflichen Vertrauen in den Grund der Dinge
Der Mensch muss Mensch werden – die Erfordernis der Humanisierung und politisches Engagement
Die Verantwortung bleibt
Die
Leidenschaft zur Wahrheit
Jaspers’ Philosophie des Lebendigen Realismus – ein
Philosophieren, mit dem wir tatsächlich leben
Anhang
Literatur
Kürzel
Nicht die Wahrheit,
in der irgendein Mensch ist
oder zu sein vermeint,
sondern die aufrichtige Mühe,
die er angewandt hat,
hinter die Wahrheit zu kommen,
macht den Wert des Menschen.
Gotthold Ephraim Lessing, Laokoon
„Der Augenblick heute steht auf des Messers Schneide. Wir haben zu wählen: entweder in den Abgrund zu stürzen der Verlorenheit des Menschen und seiner Welt und als Folge das Aufhören seines Daseins überhaupt – oder den Sprung zu tun durch Selbstverwandlung zum eigentlichen Menschen und seinen unabsehbaren Chancen.“1
Karl Jaspers (1883–1969), einer der großen Philosophen des 20. Jahrhunderts, formuliert diese zwei Möglichkeiten in einer Vorlesung 1964. Die Sorge gilt damals der Bedrohung der Menschheit durch Atomwaffen, sie gilt aber ebenso auch heute aufgrund der globalen Bedrohung durch die Klimakatastrophe und Kriege wie überhaupt zu jeder Zeit – denn der Mensch war und ist sich selber die Bedrohung und er findet hierin offensichtlich immer neue Varianten.
In seinem umfassenden Lebenswerk stellt Karl Jaspers immer wieder diese Grundfragen:
Wie geht der Mensch mit den jeweiligen Herausforderungen seiner Zeit um und wie versteht er seine Verantwortung?
Kann der Mensch ein sinnvolles, sich selbst verantwortendes, mit anderen Worten menschliches Leben führen?
Für den Prozess des nie endenden forschenden Denkens und sich engagierenden Handelns weist Jaspers der Philosophie eine leitende und unterstützende Funktion zu.
1 Karl Jaspers, Kleine Schule des philosophischen Denkens, Piper, München, Neuausgabe 1974, S. 182. (klschul)
Nach der früh vollzogenen Abgrenzung der Philosophie gegen Wissens- und Objektivitätsverabsolutierung in den Naturwissenschaften – er selbst hat in Medizin promoviert, als Psychiater universitär gearbeitet und sich als Psychologe habilitiert, zeigt Jaspers, dass Philosophie aus der „Betroffenheit im Leben selbst“2 erwachsen sollte.
Jaspers zufolge wird eine solche Philosophie des aufgeschlossenen Sich angehenlassens3 sinnvollerweise auch wahrgenommen in der Kontinuität der Überlieferung.
„Die Überlieferung ist die mit nie aufhörender Erwartung erblickte Tiefe der schon gedachten Wahrheit, ist die Unergründlichkeit der wenigen großen Werke, ist die mit Ehrfurcht hingenommene Wirklichkeit der großen Denker. Das Wesen dieser Autorität ist, dass man ihr nicht eindeutig gehorchen kann. Es ist die Aufgabe, durch sie in eigener Vergewisserung zu sich selbst zu kommen, in ihrem Ursprung den eigenen Ursprung wiederzufinden.“4
Bei der Begegnung des Menschen mit den großen Werken der theologischen, philosophischen oder literarischen Überlieferung geht es Jaspers darum, dass wir das „Historische nutzen, um aus ihm zu hören, was uns selbst angeht“5.
Aufgabe und Lebensziel des jasperschen Menschen ist es, zu sich selbst zu kommen, sein Selbstsein zu verwirklichen. Einen Schritt in diese Richtung macht er, indem er in allem aufmerksam wird auf das, was ihn angeht. So können wir die Überlieferung nutzen dazu, dass wir „in Berührung“ kommen „mit dem Überhistorischen in der Historie“6. All gemein gültiges historisches Faktenwissen ist notwendig und behält seine Funktion, denn die „Erfassung der Objektivität des Faktischen ist (…) Bedingung, um das Überhistorische zu hören“7 und ohne konkretes Wissen würden wir nach Jaspers generell „irreal“8 sein.
Aber dieses Wissen sollte mich nicht dominieren, denn da ist noch etwas anderes – die Frage: Was betrifft mich selbst? Was ist wesentlich für mich?
Entscheidend ist also, dass wir das reine Wissen über Faktizität nicht verabsolutieren, denn:
„Wir sollen in Berührung kommen mit dem Wesentlichen. Das kann erst geschehen, wenn wir durch die Erscheinungen hindurch übergeschichtlich mit dem in Kommunikation kommen, was als Ernst9der Menschen so zu uns spricht, dass wir selber anders werden. Wo wir diese Sprache hören, ändert sich der Umgang mit den historischen Erschei nungen. (…) Wir folgen (…) dem, was uns bewegt zum Selbstwerden im inneren und äußeren Handeln.“10
Appell und Chance liegen dabei für Jaspers beim Einzelnen, den jeweiligen „Anspruch des Nichtallgemeinen“11 an sich selbst auch im „Sprechen durch allgemeine Begriffe“12 für sich als einzelner Mensch wahrzunehmen: Es ist der Anspruch des Selbstwerdens. Für Jaspers ist dieser Anspruch identisch mit dem Anspruch, wahr zu werden, sich selbst und anderen transparent in seinen Motiven, in klarer, aber immer wieder infrage zu stellender Orientierung – Selbstsuche ist für ihn Wahrheits suche.
„Wahrheit gewinnen heißt: eine Selbstverwandlung des Menschen zu vollziehen aus einem verworrenen, blindbewegten zu einem klaren Zustand seines Wesens in seiner von ihm erfüllten Welt.“13
Was du suchst,
ist das, was sucht.Franz von Assisi14
2 Karl Jaspers, Rechenschaft und Ausblick. Reden und Aufsätze, Piper, München 1951; darin: „Über meine Philosophie“, 1941, S. 341. (rechaus)
3 Zum Sichangehenlassen vgl. S. 29.
4 Karl Jaspers, Einführung in die Philosophie, Sammlung Piper, München, 1953; hier Aufl. 1961, S. 137. (einfphil)
5 Karl Jaspers, Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, 1. Aufl. 1962; hier Piper, München, 3. Aufl. 1984, S. 92. (philgl)
6philgl S. 92
7philgl S. 93
8philgl S. 93
9 Umschreibbar mit dem Begriff einer tiefgründigen Authentizität.
10philgl S. 93
11philgl S. 94
12philgl S. 94
13 Karl Jaspers, Von der Wahrheit, 1. Aufl. 1948; hier Piper, München Neuausgabe 1991, S. 3. (wahr)
14 Reshad Feild, Ich ging den Weg des Derwisch, Diederich-Verlag, Düsseldorf/Köln 1976; hier Fischer, Frankfurt/Main 1981, S. 97.
Der zentrale Punkt in der Rezeption des Historischen ist für Jaspers, die Aktivität des Selbstseins herauszufordern. Wir sollen auf das aufmerksam werden, was uns selber in einen Prozess der Veränderung hin zu uns selbst bringt.
So hat für das Denken des Philosophierenden nach dem Abspeichern der historischen Fakten die Wahrnehmung der Relevanz des historischen Textes für sich selber dringende Priorität. Im Prozess der Aneignung desselben bleibt ihm allerdings zu bedenken, dass keine „Vergangenheit (…) ihm sagen“15 kann, „wie er sich zu verhalten habe. Erweckt im Lichte erinnerter Vergangenheit hat er es selbst zu entscheiden.“16
Dieses die Eigenverantwortung weckende Denken ist in der jeweiligen Gegenwart des einzelnen Menschen verwurzelt und darin situationsverankert, denn nur
„im konkreten, zur Entscheidung zwingenden Augenblick, nicht im bloßen Nachdenken darüber wird es offenbar, was für einen Menschen den Vorrang hat.“17„Nur aus dem gegenwärtigen Philosophieren (…) kann eine Berührung mit der ewigen Philosophie in historischer Erscheinung gelingen.“18
Ewige Philosophie meint hier, dass es zu allen Zeiten Philosophien gegeben hat, die Wahrheiten aufgezeigt haben, die mich auch heute angehen, von denen ich mich berühren lassen kann, weil es auch meine Wahrheiten sind. Diese Wahrheiten gilt es zu suchen.
Der im Denken der Existenzphilosophie grundsätzlich zu Freiheit und Offenheit fähige Mensch ist nach Jaspers ein unendlich Fragender auf dem Weg zu seiner eigenen Wahrheit.
Mit „fragenden Anschauungen ist der Mensch erst eigentlich erwacht. Vorher lebte er in der Welt wie in einem Schleier, der nur verbirgt, was eigentlich ist. (…) Mit diesem Fragen macht der Mensch einen Sprung. Nun erst beginnt das Leben des eigentlichen Menschen. Er hat das Bewusstsein seiner Existenz gewonnen. (…)
Nun erst tritt der Mensch in das bewusste Wagnis seiner Geschichte. Es soll sich ihm zeigen, was ist. Es soll offenbar werden. Es kann nicht nichts sein. (…)
Es ist wechselweise: Der Drang zu wissen, was eigentlich ist, ist der Wille zu sich selbst; das Bewusstsein, selbst nicht eigentlich zu sein, drängt zum Sein.
Das Selbstsein will, um selbst zu werden, über sich hinaus. Das erzeugt die unendliche Unruhe des Menschen.“19
Der existentiell suchende Mensch, möglicherweise ausgehend vom „fragenden Bewusstsein“20 eines „Nicht-eigentlich-Seins“21, fühlt sich plötzlich „betroffen“22und es „geschieht ein Sprung im Menschen“23, denn ihm wird bewusst, dass da etwas ist, womit die „Rationalität des Verstandes durchbrochen wird“24, dass da etwas ist, was ihn zu sich selbst führt, indem es sein Seinsbewusstsein verändert. Der Mensch will ab jetzt keine Verschleierung mehr, sondern es „soll sich ihm zeigen, was ist“25, damit er dann, auf dieser Grundlage, das Wagnis seines Lebens eingehen kann.
Existenzphilosophie hat das Leben des einzelnen Menschen als Angel punkt. Der Mensch stellt die Frage nach sich selbst in Verknüpfung mit der Frage nach dem Sein überhaupt, mit der Frage nach Wahrheit. Mit dieser Frage tritt der Mensch in einen Prozess ein. Er betritt seinen Weg, auf dem er die Wahrheit zwar nie „besitzen“26, aber ihr „entgegenwachsen“27kann.
Durch die Metaphorik des Entgegenwachsens, eines vital-organischen Prozesses mit der Richtung auf Wahrheit, unterstreicht Jaspers ein im Kontext existentieller Suche notwendiges Relativieren von nur scheinbar umfassend relevanter Rationalität. Das seine Wahrheitssuche bestimmende Ringen um Lebensadäquatheit ebenso wie um Bewusstheit ist nicht zu verstehen als starres Schlussfolgern und Argumentieren auf der Ebene der Ratio mit dem Ergebnis eines Wissens, sondern als lebendiger, organischer Prozess in gleichzeitiger „Klarheit des Suchens der Wahrheit im Ganzen.“28
Wenn Jaspers über Philosophie sagt, sie „spricht und gibt sich kund in der Entfaltung“29, so stellt diese Zuordnung keinesfalls einen Verzicht der Philosophie auf Klarheit in der Reflexion dar – im jasperschen Denken sind organische Entfaltung und gedankliche Klarheit Pole antinomischer Spannung und als solche Träger von Wahrheitssuche, deren bewusste Wahrhaftigkeit einseitige Verabsolutierungen30, etwa in Form von vorschnell eingrenzenden Definitionen, als wahrheitsinadäquat und damit unbefriedigend zurückweist: „An den Grenzen des Wissens (…) gilt statt des Entweder-Oder das Begreifen der Antinomien.“31
Einem solchen Ringen um Bewusstheit in der Wahrheitssuche auch angesichts menschlicher Schwächen und Rückschläge stellt Jaspers auf bauende Worte der Zuversicht zur Seite, wenn er schreibt:
„Gegenüber dem Kleinmut (…) gibt es die Kraft des Bewusst seins von der Wahrheit, die, obwohl man sie nicht hat, im Suchen nach ihr schon gegenwärtig ist.“32
In diesem Paradox der Identität von Suche und Gesuchtem in der Gegenwärtigkeit des Suchenden liegt der Schlüssel zur Wahrheit – im Erfahrungsraum des Lebens. Wenn der Mensch im Laufe seiner aufrichtigen Wahrheitssuche das Vertrauen erwirbt, dass er eine latente originäre Bezogenheit auf Wahrheit hat, die er in der jeweiligen Lebenssituation aktualisieren kann, dann erreicht er eine Lebenskonsistenz, die über die Idee eines von außen kommenden, dem Menschen auferlegten „Schicksal[s]“33 hinaus ist. Auf diese Weise nähert er sich auch seiner Eigenverantwortlichkeit: „Schicksal gewinnt der Mensch nur durch Bindungen“34, und zwar nicht durch die
„zwangsläufigen, solange sie als fremde ihn in seiner Ohnmacht treffen, sondern durch die ergriffenen, welche die eigenen werden. Diese halten sein Dasein zusammen, dass es nicht beliebig zerrinnt, sondern Wirklichkeit seiner möglichen Existenz wird.“35
Die Potenz der Gegenwart ist für den Menschen wenn nicht ganz, so doch in hohem Maße ausschöpfbar, wenn er sie nicht als zufällig empfinden muss, sondern sie eingebettet weiß in eine Ganzheit:
„Dann zeigt ihm Erinnerung seinen untilgbaren Grund, Zukunft den Raum, aus dem Verantwortung für sein gegenwärtiges Tun gefordert ist. Das Leben wird unbestimmbar ganz.“36
Und doch bleibt auch hier ein Rest und auch hier bleibt die existentielle Offenheit als Axiom jasperschen Denkens. Die werdende Existenz kennt die Trauer um die nicht ergriffenen Möglichkeiten, doch erst im „Bewusstsein unseres Menschseins [als] Unvollendetsein und Unvollendbarsein“37 vermögen wir zu begreifen, dass der Mensch sein Selbstsein erreichen kann gerade im Nichtperfekten. „Wir leben in der Zeit, das heißt: wir sind nie fertig, wir suchen und versuchen.“38
15 Karl Jaspers, Die geistige Situation der Zeit, 5. Aufl. 1932; hier de Gruyter, Berlin 1999, Abdruck der Aufl. von 1932, S. 184. (geistsit)
16geistsit S. 184
17klschul S. 100
18einfphil S. 137
19philgl S. 30 f
20 Karl Jaspers, Die Chiffern der Transzendenz, Schwabe, Basel 2011, S. 14. (chiff)
21chiff S. 14
22chiff S. 14
23chiff S. 14
24chiff S. 14
25philgl S. 31
26wahr S. 847
27wahr S. 847
28wahr S. 847
29 Karl Jaspers, Vernunft und Existenz – Fünf Vorlesungen, 1. Aufl. Piper München 1960, Neuausg. Mai 1973; hier Serie Piper, München 1987, S. 120. (vernunft)
30 Sowohl Antinomie als auch Verabsolutierung sind Kernbegriffe bei Jaspers und sind kontinuierlich zu vertiefen. Siehe u. a. den Abschnitt über die Grenzsituation.
31wahr S. 107
32 Karl Jaspers, Philosophie I. Philosophische Weltorientierung, 1. Aufl. Springer, Berlin/ Heidelberg 1932, hier Serie Piper München 1994, S. LV. (welt)
33geistsit S. 171
34 Jaspers meint nicht nur Bindungen an Menschen, sondern besonders an Ideen, Werte und Normen. S. Kapitel Seinsberührung II – Das Subjekt und der Anspruch eines Sollens.
35geistsit S. 171
36geistsit S. 171
37wagnis S. 315
38wagnis S. 315
Wir haben den Menschen auf der Suche nach dem für ihn Wesentlichen kennengelernt am Beispiel seines Umgehens mit der Überlieferung. Wenn historische Texte etwas aufzeigen, das ihn betreffen, ihn angehen und letztlich ihn verändernd inspirieren kann, haben sie ihre Funktion erfüllt und erweisen sich durch ihre Wirkung als überzeitlich gültige Werke.
Des Weiteren habe wir Komponenten des Prozesses der Entfaltung der Wahrheitssuche des Menschen in den Blick bekommen.
Um Jaspers’ Existenzphilosophie nachzuvollziehen, blicken wir nun einmal grundsätzlich auf die Erkenntnisprozesse des Menschen in ihrer Entwicklung.
Im Denken Jaspers’ ist es im ersten Schritt wichtig, sich auf die Weltorientierung zu fokussieren, auf das Objektive des Daseins und damit auch auf die allgemeingültigen Ergebnisse der Naturwissenschaften. Der Mensch zeigt sich als dominiert von der Ratio. Schon hier findet sich in Jaspers’ Existenzphilosophie die erste Phase der Subjektivierung, des sich aneignenden Zugriffs eines Subjekts auf ein Allgemeines: „das Objektive wird subjektiv im Anerkanntsein“39 durch einen Einzelnen. Ein solches verstandesmäßiges Geltenlassen etwa der Ergebnisse der Naturwissenschaften ist im Denken Jaspers’ die noch zu relativierende Grundlage für alles Weitere, hat aber als solches schon den hilfreichen Nebeneffekt, dass der Mensch, wenn er – „vor unwahren Lösungen sich bewahrend“40 – objektive Tatsachen respektiert, leichter der Gefahr eines rein subjektiven Irrationalismus41, unter Umständen voller persönlicher Verabsolutierungen und Fehleinschätzungen, entgeht. Aber sind mit der Anerkennung des Objektiven alle Fragen des Menschen beantwortet?
Nein – denn er will mehr. Er spürt: „Der Mensch ist (…) mehr, als er von sich weiß und wissen kann“.42
Der entscheidende Faktor in diesem erwachenden Selbstbewusstsein ist das Bewusstsein der menschlichen Freiheit und darin das Bewusstsein, mit diesem Bewusstsein ein ganz außergewöhnliches, nur dem Menschen eigenes Instrument der Selbsterkenntnis und Lebensführung zu besitzen – wir befinden uns hiermit im Zentrum der Existenzphilosophie.
„Mir denkend bewusst, bin ich zugleich gewiss: ich bin frei. (…) Ich bin ich selbst in meiner Freiheit, indem das, wodurch ich frei bin, durch meine Freiheit selber gespürt und zugleich mit meiner Freiheit gedacht wird.“43
Wenn sein Freiheitsbewusstsein erwacht ist, will der Mensch mehr, will er über sein bisheriges Schema der Selbstwahrnehmung hinaus, um sich als mögliche Existenz frei reflektierend sowie aktiv sinnvoll ent scheidend und handelnd erleben zu können. Durch diese Freiheit kann der Mensch sich selbst und der Welt selbstbestimmt und selbstbestimmend gegenübertreten. Wichtig ist hier der Jaspers zufolge dem Menschen innewohnende und ihn in seinem Werden antreibende Impuls, nach Sinn und Gehalt seines Tuns zu fragen. Ihm ist bewusst geworden, dass diese nicht aus rein naturwissenschaftlichem Faktenwissen ableitbar sind, dass jedoch gerade sie eine entscheidende Bedeutung haben für ihn als Menschen.
Aber woher sind Sinn, Gehalt und Substanz des Handelns zu gewinnen?
Der sinnsuchende Mensch kommt auf die Idee, sich dem Sein als Ganzem zuzuwenden. Er will grundsätzlich Klarheit über das Sein an sich, um Klarheit für sich selbst zu gewinnen.
Jedoch: Dass der Mensch laut Jaspers in der Subjekt-Objekt- Spaltung steht, bedeutet, dass seinem Erkenntnishunger in Bezug auf das Sein im Ganzen erkenntnistheoretisch eine Grenze gesetzt ist. Denn: der Philosophierende kann das umfassende Sein nicht rational erfassen – schon wenn er es als Objekt anvisiert und definiert, wird es zum abgegrenzten Teilaspekt. Diesem Nichtwissenkönnen des abstrakten Seins entsprechend verzichtet Jaspers auf das Erstellen einer begrifflich fixierenden Ontologie44.
„Ontologie als Wissen und Wissenwollen dessen, was das Sein eigentlich ist, in der Form einer Begrifflichkeit, welche es konstruktiv darbietet, würde für uns zur Vernichtung des eigentlichen Seinssuchens möglicher Existenz in der transzendenten Bezogenheit ihrer Entscheidung werden. Ontologie täuscht durch die Verabsolutierung von Etwas, wovon das Andere sich herleiten soll. Sie fesselt an objektiv gewordenes Sein und hebt Freiheit auf. (…) Ontologie muss aufgelöst werden, damit die Rückkehr zur Konkretheit gegenwärtiger Existenz dem Einzelnen offen wird.“45
Der Mensch muss also noch einmal neu ansetzen, um Klarheit über sich selbst zu erhalten. Unbefriedigtsein in Bezug auf die offensichtlich mangelnde Relevanz des materiellen Daseins für das menschliche Selbstverständnis und Handeln sowie die Unerkennbarkeit des Seins an sich haben bei Jaspers nicht Resignation zur Folge, sondern sind ihm Appell, das bisher Erarbeitete durch eine neue Stufe auf der Spirale des Denkens aufzugreifen, wobei der Begriff der Konkretheit – normalerweise ein Parameter wissbarer Faktizität – in neuem, existenzphilosophisch entscheidendem Bezug steht: es handelt sich um die Rückkehr zur Konkretheit – jetzt als Spannungsfeld für lebendige Existenz: als Lebens- und Entscheidungsraum. Ein Raum, der mich fordert.
Die zweite und entscheidende Phase der Subjektivierung ist an dieser Stelle erreicht: es ist der Schritt weg von der reinen Konkretheit des Daseins und weg von der reinen Abstraktheit des Begriffes, der in diesem Prozess von seiner Determiniertheit innerhalb einer fixierenden Katego rienlehre gelöst wird. Die in Bewegung geratene und grundsätzlich offen bleibende Verbindung von Dasein und Begriff vollzieht sich in der Gegenwärtigkeit der Existenz, der mit dieser jeweils punktuellen Sub jektivierungsleistung eine entscheidende Rolle in der Welt zufällt: auf den Menschen als werdende Existenz kommt es an im Weltgeschehen und er wird und will sich nicht mehr damit herausreden, dass etwas objektiv so und damit unbeeinflussbar sei – auch er selber nicht. Es heißt für ihn, sich einzumischen, es heißt, nachzudenken und Entscheidungen zu treffen in der Gegenwärtigkeit der jeweiligen geschichtlichen Situation.
In der Philosophie Jaspers’ wird der Schritt von der Ontologie zur Periechontologie46 gemacht. Jaspers unterstreicht die Tragweite dieses Schrittes in seinem Denkgebäude:
„Der Schnitt in unserem Seinsbewusstsein, der mit der Umwendung vom ontologischen zu periechontologischem Philosophieren geschieht, kann kaum überschätzt werden. Wenn keine Konstruktion des Ganzen mehr gilt, kein Weltbild absolut ist, keine geschlossene Kategorienlehre mehr möglich ist, so sind wir zurückgeworfen auf das ganz Gegenwärtige. In dieser Gegenwärtigkeit vollzieht sich mit der Alloffenheit und dem Allverbinden der Vernunft die Schärfe der Entscheidung der Existenz in ihrem geschichtlichen, unablösbaren Tun.“47
Was für mich als einzelnen Menschen zählt, ist somit nicht eine sowieso unmögliche theoretische Erkenntnis eines abstrakten Seins, sondern meine eigene Erfahrung des Seins in der Gegenwärtigkeit der jeweiligen Situation. Auf diese Weise ist es nicht mehr abstraktes Sein, sondern durch subjektive Anverwandlung – Jaspers nennt es Aneignung48 – „Sein für mich“49.
In solcher Bezogenheit des Seins auf mich selbst gelange ich zum Bewusstsein meiner Teilhabe am Sein und das im Denken Jaspers’ so wichtige Selbstsein kann sich als Prozess des Werdens entwickeln. In der jeweiligen Erfahrung realisiere ich, dass ich mehr bin als berechenbares Dasein in Gestalt eines fertigen Charakters, nämlich dass ich frei entscheiden kann nach meinem Willen, dass ich meine Möglichkeiten auslotend erweitern kann. Was in meinen Horizont und Aktionsradius tritt, wird wichtig für mich, wenn ich spüre, dass ich es selber will und kann. Die jeweilige Situation appelliert an die in mir liegenden Möglichkeiten, indem sie das ganze Subjekt mit seiner Aufnahmebereitschaft für das Eigentliche, Wesentliche, mit anderen Worten das Sein, involviert.
Existieren heißt, diese Möglichkeiten zu ergreifen und somit zur Wirklich keit zu bringen. Bedingung für Jaspers ist, dass ein solches Handeln aus sich selbst heraus geschieht in wahrhaftiger Suche nach Wahrheit50.
„Damit Sein für uns sei, ist Bedingung, dass in der Spaltung von Subjekt und Objekt durch Wahrnehmung, Phantasie und Vorstellung, Erleben, überhaupt Erfahrung das Sein präsent werde. (…) Auf der einen Seite steht die Leibhaftigkeit der Realität, (…). Auf der anderen Seite steht die gegenwärtige Erfüllung des Erlebens. Ich vollziehe, was das Sein ist, wenn es Sein für mich ist. Es genügt nicht, dass die Sonne scheint; ich muss sie scheinen sehen, und das ist mehr als eine Sinneswahrnehmung des Auges, es ist ein Geschehen der ganzen Subjektivität, deren Stimmung, Ergriffenheit, Beseeltheit die Seele der sonnendurchstrahlten Welt fühlt.“51
Das Sein wird präsent gleichzeitig in der Leibhaftigkeit der Realität und in dem über das Dasein hinaus am Sein partizipierenden Subjekt, das diese Realität erlebt. Es wird präsent „durch persönliche Vollzüge je einzelnen Daseins“52, also durch Entscheidungen und Handlungen im Kontext des konkreten Lebens des einzelnen Menschen. Es geht hier um Durchleben von Erfahrungen, die das ganze Subjekt aktivieren.
Identität und Einheit53 klingen an, wenn Beseeltheit des Subjekts die Seele der Objektivität der Welt fühlt – Jaspers ist auch Romantiker.
Das Objektive muss also nicht nur in seiner Gegenständlichkeit als berechenbares Dasein da sein, sondern vom Subjekt erfahren werden, um in dieser Erfahrung intuitiv erkannt werden zu können als auch das eigene Sein, als powervolle Wirkkraft des Lebens. Es geht hierbei auch um die grundlegende Anerkennung der „Erscheinungshaftigkeit des Daseins“54. Ich bin es, dem das Sein im Dasein erscheint – ein Vorgang, der nicht “zu bisherigem Wissen ein neues einzelnes Wissen“55 hinzufügt, sondern „einen Ruck im Seinsbewusstsein im Ganzen“56 erwirkt, wenn wir das uns erscheinende Sein zwar nicht rational erfassen, jedoch begreifen und dann uns adaptierend ergreifen.
Die Rolle der Existenzphilosophie
Diese Philosophie hilft als Existenzerhellung dabei, sich solcher Prozesse bewusst zu werden, denn durch die Möglichkeit transzendierenden Denkens57 „erhellt“ sie „einen Raum, in dem wir alles Seiende als uns entgegenkommend erst finden.“58
Diese Philosophie „macht fühlbar ein im transzendierenden Denken in direkt Getroffenes.“59 Diese Philosophie verhilft uns zu der Erkenntnis:
„Das Erste bleibt für uns die geschichtliche Gegenwart von Daseinserfahrung, Idee, Liebe: darin kommen wir zu uns. Unser philosophisches Bewusstsein erleuchtet und ermöglicht. Was ist, ist für uns nicht als das Umgreifende, das wir wissen, sondern als die Gegenwart des Hier und Jetzt in ihrer Tiefe bis zum Ursprung.“60
Brisant wird der Vorgang der Subjektivierung, wenn ich mir klarmache, dass auch ich als Mensch Dasein bin, also durch mich selbst zur Erscheinung des Seins – des Umgreifenden – werden kann:
„Aber nie hört völlig auf, dass ich als Dasein über das Dasein hinaus sein und es daher im Ganzen spüren kann. Wenn ich es so als Dasein zu erfahren vermag, dann bin ich sogleich nicht mehr nur dieses Dasein. Dann kann ich es als das Umgreifende erhellen, das ich bin und in das ich, indem ich es weiß, doch nicht restlos verloren bin. (…) Das Sichfinden des Daseins ist ein Urrätsel: dieses Dasein ist der Punkt des Lichtes, das im Dunkel des grundlosen Alls als Dasein sich selbst und die Welt zur Erscheinung bringt. Was das Sein ist, ist uns nur im Schein dieses Lichtpunktes, der wir sind, zugänglich.“61
Ich bin nicht nur der, dem das Sein erscheint, sondern auch der, der das Sein im Dasein erscheinen lässt. Ich kann es als das Umgreifende erhellen, denn ich bin der Lichtpunkt! In dieser Erhellung vollziehe ich auch das „Mich-mir-selbst-zur-Erscheinung-bringen“62, komme in Kontakt mit dem „substantiellen Grund in mir“63 und erkenne, dass dieses Berühren meines Grundes mich zum Bewusstsein meiner Freiheit führt: ich bin als Dasein über das Dasein hinaus! In der Überschreitung der Determiniertheit werde ich gleichzeitig verantwortlich für mein Sein und für mein Werden im offenen Prozess des Lebens, denn in der Erfahrung eigenen inneren und äußeren Handelns entstehe ich durch mich selbst. In dieser Identität mit mir selber kann ich mein Leben als gelungen wahrnehmen – meine Möglichkeiten werden zu Wirklichkeit durch mich.
Jaspers zufolge ist von entscheidender Bedeutung, dass diese Freiheit existenzbetonten Lebens sich gleichzeitig an eine klare Werte orien tierung bindet, die in Korrespondenz steht zum substantiellen Grund der Existenz und die seinem sich vor sich selbst verantwortenden Leben Sinn und Richtung gibt in der Verwirklichung von Menschlichkeit.64
Dem sinnsuchenden Menschen ist nun bewusst, dass Lebensmaxime und Werte, Sinn und Gehalt seines Handelns ihm aus seinem Leben erwachsen, wenn er nur in Offenheit bereit ist, sich ganz auf den substan tiellen Grund in sich und dazu auf die Engagement einfordernde Gegenwärtigkeit seiner jeweiligen Lebenssituation einzulassen: Für gelingendes Leben gibt es im Denken Jaspers’ allerdings keine Sicherheit – der Horizont bleibt offen und der Weg ist nicht vorgezeichnet:
„In einer Welt, die in allem fragwürdig geworden ist, suchen wir philosophierend Richtung zu halten, ohne das Ziel zu kennen.“65
Der Mensch kann versuchen, in einer problematischen Situation über die Akzeptanz objektiver Gegebenheiten hinaus sich um eine von Empathie allen Beteiligten gegenüber geleitete, vernünftige Lösung zu bemühen, denn „Vernunft ist nicht das gleichgültige Geltenlassen von allem, was vorkommt, sondern das aufgeschlossene Sichangehenlassen“66 der Probleme meiner Mitmenschen und auch der Probleme im öffentlichpolitischen Bereich.
In diesem Sichangehenlassen liegt das entscheidende Inbezugsetzen von Subjektivität und Objektivität, nämlich die
„zweite und eigentliche Subjektivierung (…): das Richtige wird mir wichtig, das Wirkliche geht mich an. Die Objektivität des Wahren ist die Wesentlichkeit des Richtigen, nicht mehr bloß seine Geltung.“67
Wir rühren hier an den Kern der Existenzphilosophie, in der Objektivität und Subjektivität ein schöpferisches Gemenge eingehen unter der Regie des Menschen, der sich in der kreativen, in der Gegenwärtigkeit sich vollziehenden Subjektivierungsleistung als Existenz erfährt, denn erst
„auf dem Boden der Existenz wird Objektivität zur gegenwärtigen Wirklichkeit, wenn sie ihre bloße Möglichkeit in der Identität mit existentiellem Selbstsein aufhebt.“68
Das ist Identitätsphilosophie auf höchstem Niveau, ist romantisches Erbe69: Die in der Objektivität latente Möglichkeit wird identisch mit der Subjektivität der Wirklichkeit der Existenz, die darin, also in der Ver wirklichung der sowohl in der Objektivität als auch in der Subjektivität liegenden Möglichkeit, ihr Selbstsein realisiert.
Eine entscheidende Wendung nimmt der Vorgang der Subjekti vierung des Objektiven, wenn der Mensch das für ihn selbst Wesentliche darin erfasst als dasjenige, das ihm auf dem existentiellen Weg seines Lebens Räume öffnet70, dasjenige, das sein Selbstsein zu fördern vermag, weil es ihm entspricht, ihm affin, ihm verwandt ist in seiner Substanz.
39 Karl Jaspers, Existenzerhellung, 1. Aufl. 1932, Springer, Berlin/Heidelberg; hier Piper 1994, S. 344. (exist)
40exist S. 337
41wahr S. 746: Das „Irrationale (…) wird ergriffen, als ob es bessere Wahrheit und Wirklichkeit sei. Das Abenteuer und die Sensation des Ungewöhnlichen wirken wie ein Gleichnis des Wahrseins, obgleich sie ohne Gehalt einer Geschichtlichkeit, weil ohne Not und Müssen, ins Nichtige zerrinnen“.
42 Karl Jaspers, Das Wagnis der Freiheit, Piper, München 1996; aus dem Aufsatz „Über meine Philosophie“ (1941), S. 51. (wagnis)
43philgl S. 32
44 Systematische Lehre vom Sein.
45 Karl Jaspers, Philosophie III. Metaphysik, 1. Aufl. 1932, hier Piper, München, Januar 1994, S. 161 ff. (meta)
46 Vgl. wahr S. 160 f; hier findet sich eine systematische Kontrastierung von Ontologie und Periechontologie.
47wahr S. 161
48 Ein zentraler Begriff bei Jaspers. „Der Ursprung des Philosophierens liegt im Verwundern, im Zweifel, im Bewusstsein von Verlorenheit. (…) Plato und Aristoteles suchten aus der Verwunderung das Wesen des Seins. Descartes suchte in der Endlosigkeit des Ungewissen das zwingend Gewisse. (…) Jede der Betroffenheiten hat ihre Wahrheit, je in dem geschichtlichen Kleid ihrer Vorstellungen und ihrer Sprache. Wir dringen in geschichtlicher Aneignung durch sie zu den Ursprüngen, die noch in uns gegenwärtig sind.“ (einfphil S. 14)
49wahr S. 1023
50 Den Werten Wahrhaftigkeit und Wahrheit kommt in Jaspers’ Denken ein hoher Stellenwert zu: „Ist Wahrheit der letzte Sinn für den Menschen in der Welt? Ist Wahrhaftigkeit die letzte Forderung? Wir glauben es, weil die Wahrhaftigkeit, die rückhaltlos offen ist und nicht in Meinungen verlorengeht, zusammenfällt mit Liebe.“ (klschul S. 174)
51wahr S. 1022 f
52exist S. 337
53 S. die Abschnitte Innewerden des Seins im Raum der Erfahrung – eine Philosophie der Schwebe sowie Chifferlesen I u. II.
54einfphil S. 77
55einfphil S. 78
56einfphil S. 78
57 Vgl. Philosophisches Denken an der Grenze des Wissens – das Absolute Bewusstsein und der Traum des Einen.
58wahr S. 160
59wahr S. 160
60wahr S. 161
61wahr S. 63 f
62wahr S. 134
63wahr S. 136
64 Dass das Finden der für sich selbst gültig sein sollenden Werte problematisch sein kann, wird im nächsten Kapitel angesprochen.
65welt VII ff
66wahr S. 115
67exist S. 344
68exist S. 344
69 Der von Jaspers geschätzte romantische Philosoph F. W. J. Schelling (1775–1854) konzipierte in seiner Naturphilosophie Geist und Natur als Einheit von Idealität und Realität sowie die Einheit von Subjektivität und Objektivität in der Intention, das Absolute zu fassen. Vgl. Schelling, F. W. J., Ideen zu einer Philosophie der Natur, München 1927, Bd. 1, S. 706: “Die Natur soll der sichtbare Geist, der Geist die unsichtbare Natur sein. Hier also, in der absoluten Identität des Geistes in uns und der Natur außer uns, muss sich das Problem, wie eine Natur außer uns möglich sei, auflösen.“ (Wikipedia 3/2020)
70 Diesen durch seine Bildlichkeit eingängigen Ausdruck verwendet Jaspers, wenn er zum Beispiel über Chiffern sagt, sie „öffnen Räume des Seins. Sie erhellen, wozu ich mich entschließe.“ (philgl S. 153)
Ein Beispiel für die Bezugnahme des Subjekts auf eine Objektivität ist sei ne Auseinandersetzung mit dem Anspruch eines Sollens, hier beispiels weise verkörpert in Forderungen und Gesetzen eines Staates als exemplarische „Objektivität“71.
Die Objektivität des Staates gerät möglicherweise verstärkt ins Visier des Subjekts, wenn dieses – insbesondere gilt das für junge Er wachse ne, die ihren Weg im Leben noch nicht gefunden haben – ein „Medi um [des] Gemeinsamen“72 sucht, wenn es “in die Welt“73 treten will, der es „angehören kann“74. Um nicht in „weltlose[r] Einsamkeit ohne Inhalt“75 nur dahinzuleben, sucht es für sein Handeln „die Richtung gebende Objektivität als ein Sollen“76.
Eine durch ein noch unerfahrenes, haltsuchendes Subjekt schlicht und fraglos akzeptierte Übernahme ohne den notwendigen Aneignungsprozess mit der Konsequenz der Überarbeitung oder Ablehnung der Objektivität kann jedoch fatale Auswirkung haben, wie etwa im National sozialismus – für Jaspers lange Zeit Raum der Erfahrung – deutlich wur de. Ein moralisch nicht verankertes Sollen, statt aus weltloser Einsamkeit ohne Inhalt zu erlösen, bringt nur scheinbar Erfüllung durch Gehalt und Sinn – und dies ausschließlich in der Perspektive des Subjekts, das gleichzeitig mit dem Sollen sein erst im Keim präsentes Selbst verschleiert, um die angebliche Erfüllung nicht infrage stellen zu müssen.
Das von außen auf das Subjekt treffende Sollen vermag die in der Selbstverschleierung widerstandlose, absolut aufnahmebereite Leere des erregt-erwartungsvollen und darin verführbaren Subjekts zu füllen mit hohler Moralität, die in dieser Hohlheit gleichzeitig auftritt mit dem Anspruch und dem Versprechen höchster, wenn nicht singulär sich über alles andere erhebender Werthaftigkeit von absoluter Geltung. Hier vollzieht sich das Gegenteil von Erfüllung. Indem die vom Wunsch nach Absolutheit durchdrungene Noch-Leere des jungen Menschen trifft auf zementierte Leere der Objektivität, findet statt eines Zuwachsens von Sinn und Gehalt eine Potenzierung von Leere statt. Diese neue Qualität der Leere, der Abwesenheit von wirklicher Moralität, ist potentiell hochgefährlich und wird in einem totalitären Unrechtsstaat, aus dem heraus diese Leere ja bereits erwirkt wurde, zum Verhängnis dadurch, dass die Diskrepanz der Scheinmoralität zu wahrhafter Moralität sich extrem vergrößert hat. In seiner gleichzeitig wachsenden Hilflosigkeit, entstanden durch die Zerbröckelung seines bereits ansatzweise vorhandenen eigenen moralischen Fundaments durch vereinnehmendes Herandrängen fordernder und Erfüllung versprechender Objektivität, identifiziert sich der Mensch, der auch nicht immer jugendlich sein muss, immer mehr mit dem vermeintlich Rettung bringenden Sollen. In seiner Schwäche glaubt er nach der sich selbst vergessenden Unterwerfung an seine Auserwähltheit und leitet einen Dominanzanspruch daraus ab.
Statt durch ein nicht nur scheinhaft moralisches Sollen einen Zuwachs an Stärke und Wirklichkeitsnähe zu erfahren, wird er, der sich dem Sollen wirklichkeitsblind unterworfen hat, eventuell ohne je sein Selbst in den Blick bekommen zu haben, zum Instrument für totalitäre Machthaber, den totalen moralischen Zusammenbruch jetzt selbst in seinem Denken, seinen Entscheidungen und seinen Handlungen unterstützend, immer in der Illusion, ein wertvoller, bis hin zu anderen Menschen überlegener Mensch zu sein.
In dieser Illusion hat der in seiner Schwachheit nach Stärke sich sehnende Mensch ein extremes Maß der Entfremdung von sich selber erreicht. In diesem „Dunkel (...) der Verlorenheit, wenn er ohne Liebe gleichsam ins Leere starrt“77, in dieser „Selbstvergessenheit“78 bedarf es Jaspers zufolge „eines Sichherausreißens, um sich nicht zu verlieren an die Welt, an Gewohnheiten, an gedankenlose Selbstverständlichkeiten, an die festen Geleise.“79 Eine solche Umkehr in der Lebensführung bedarf der Kraft eines „Entschluss[es], den Ursprung wach werden zu lassen, zurückzufinden zu sich und im inneren Handeln nach Kräften sich selbst zu helfen.“80
Doch wie ist es dann zu verstehen, wenn der Philosoph unterstreicht: „Existieren bedeutet: Objektivität zu verlangen und sie anzuerkennen“.81
Die Antwort lautet: Da es für Jaspers Wahrheit nur in der Polarität von Antinomien gibt, wäre Jaspers nicht Jaspers, wenn es mit einer fraglosen Übernahme des Sollens durch das Subjekt sein Bewenden hätte. Die vom Existenzphilosophen positiv bewertete subjektive Anerkennung eines Objektiven unterscheidet sich grundlegend vom Überwältigtwerden durch starre Indoktrination. Findet hier moralische Aushöhlung statt, so begründet Jaspers das Verlangen des Subjekts nach Objektivität: „Existenz erfüllt sich in der Objektivität.“82
Existieren impliziert für ihn zwar zunächst die Anerkennung der Objek ti vi tät, dann jedoch gilt es, diese „Objektivität nicht bestehen zu lassen als nur, soweit sie der wahre Ausdruck des existentiellen Weges für diese Subjektivität ist.“83
Nur in der Subjektivierung der Objektivität kann Existenz ihren Weg der Erfüllung gehen und das Selbst auf seine Möglichkeiten des Wirklichwerdens treffen.
Hier findet im Gegensatz zum angesprochenen Objektivierungspro zess eines sich unterwerfenden Subjekts Subjektivierung auf neuer Stufe statt, extreme, besitzergreifende Annäherung des Subjekts an die Objektivität, die im Zugriff nicht mehr isolierte, reine, fraglos bestehende objektive Objektivität bleiben kann, sondern durch den Einzelnen zum Ausdruck wie auch zur Weiterentwicklung seiner selbst sich anverwandelt, also subjektiviert wird. Dass das Zusammenführen antinomischer Begriffspaare84 ein Grundzug jasperschen Denkens ist, hängt mit der Konzeption des Umgreifenden85 und dem darin enthaltenen Einheitsgedanken zusam men.
Die Forderung der Objektivität ist also am Maßstab des Subjektiven zu messen: entspricht es mir, was ich hier tun soll? Will ich es wirklich? So können beispielsweise die Normen und Gesetze eines Staates – was besonders in Unrechtsstaaten relevant wird – nicht einfach vom Bürger dieses Staates übernommen werden. Jeder einzelne Mensch hat die Verantwortung für sich und sein Handeln. Jaspers unterstreicht, dass es wichtig ist, im jeweiligen Fall zu prüfen und zu unterscheiden,
„ob ich das Medium des Gemeinsamen annehme als Bedingung meines Daseins in der Gesellschaft und es in jeder Besonderheit zu relativieren bereit bin, oder ob ich mich ihm faktisch unterwerfe, mein Sein nur habe, soweit ich mit dem Allgemeinsamen identisch bin, bevor ich ich selbst war.“86
Wieder einmal wird deutlich, dass das Selbstsein eines Menschen ein Angelpunkt in der Philosophie Jaspers’ ist: Es geht hier darum, dass ich mich nicht an die möglicherweise fragwürdige, unethische Norm anlehne, mit Freud gesprochen als schwaches Ich an das angeblich starke Überich. Dass ich mich nicht unbesehen mit der Norm identifiziere, bevor ich zu mir selber gefunden habe. Die Normen einer Gesellschaft sind auf den subjektiven, persönlichen Prüfstein zu stellen, sind gegebenenfalls zu relativieren durch den einzelnen Menschen, indem er bei seinen Wertungen und Entscheidungen den Anspruch des Sollens mit seinem eigenen Wollen vergleicht – kann ich den Ansprüchen des Staates folgen, ohne mich aufzugeben? Halte ich die Ansprüche an mich für ethisch vertretbar? Kann es eine Annäherung geben? Es ist Sache der Existenz, hier ihren eigenen Weg zu finden:
„Ist das Sollen eine vorgefundene Welt ethisch gültiger Gesetze des Handelns, nach denen ich mich zu richten habe, so ist es reine Objektivität. Existentielles Sollen ist in der Gestalt der Aneignung durch eine Subjektivität (…). Ob das objektive Sollen Anerkennung findet, ist noch Entscheidung der Existenz, von der aus das Gesetz des Sollens in dieser geschichtlichen Lage als Ausdruck ihres Wollens ergriffen wird (…). Ich bin als Subjekt ruhig, wenn ich folge, unruhig, wenn ich widerstrebe, enthusiastisch, wenn ich faktisch im Einklang mit dem Sollen bin.“87
Die Subjektivierung der Objektivität, die konkrete, sich in eigener Verantwortung vollziehende subjektive Verwirklichung eines objektiven Sollens durch einen Einzelnen in einmaliger Situation, ist in vollem Maße und zur Zufriedenheit der Existenz gelungen, wenn das existentielle Wollen im Einklang mit dem objektiven Sollen ist. In einem Unrechtsstaat ist dieses eher unwahrscheinlich, denn hier ist für einen wahrhaftigen88 Menschen wichtig, dass er seine Unabhängigkeit bewahrt, indem er in Kontakt zu kommen und zu bleiben versucht mit einem “tiefere[n] Sollen der Existenz“89 aus sich selber heraus, das sich „gegen ein zu all gemeiner Formel verfestigtes Sollen wenden“90 kann.
Für das Verständnis des jasperschen Subjektivierungsbegriffes ist unerlässlich festzuhalten, dass gleichzeitig mit dem prometheischen Zugriff auf das Objektive für die Existenz grundsätzlich der Anspruch eines Sollens bestehen bleibt. Dieser Anspruch wird nicht etwa einer anarchischen, willkürlich und selbstherrlich handelnden Subjektivität geopfert. Das objektive Sollen muss allerdings durch die Subjektivierung hindurchgehen, denn ohne diese ist es ohne inhaltliche Tiefe und somit für das Subjekt, wenn auch nicht zwangsläufig schädlich und vernichtend, so doch uninteressant und öde: „Suche ich Festigkeit im Wissen von den allgemeinen Notwendigkeiten, so kann ich verzweifeln an seiner Gehaltlosigkeit“.91
Gehalt bekommt die Notwendigkeit erst dadurch, dass sie in der Adaptierung angenommen wird durch das Subjekt. Dieses existentielle Ergreifen transformiert das objektive Sollen zu unbedingtem oder existentiellem Sollen. In diesem Prozess des subjektivierenden Sichaneignens kommen Sollen und Wollen – im günstigsten Fall ohne gravierende Restdifferenzen – sich näher bis zum Identischwerden. Erst auf dieser Grundlage kann die Gültigkeit der Norm vom Subjekt für sich als substan tiell anerkannt oder abgelehnt werden: „Die Normen erfahre ich, weil mit meinem Selbst identisch, als evident gültig.“92
Gleichzeitig erwächst dem Subjekt Verantwortung für das dem unbedingten Sollen entspringende Handeln, ist doch das Selbstsein in volviert und somit die mögliche Schuld nicht mehr ablenkbar auf eine abstrak te oder konkrete Autorität oder einen anderen Menschen.
„Das unbedingte Sollen ist das autonome der Freiheit der Existenz, die sich selbst hört, und darin in bezug auf ihre Transzendenz steht. Was sie als das Rechte hört, ist ihr Selbstsein.“93
Analog dazu, dass es für mich gilt, das „Sein für mich“94 zu entdecken, finden wir hier die Existenz, die sozusagen ihr Sollen „als das Rechte hört“ und die „in bezug auf ihre Transzendenz“95