Jean Genet und der revolutionäre Diskurs in seinem historischen Kontext - Sara Izzo - E-Book

Jean Genet und der revolutionäre Diskurs in seinem historischen Kontext E-Book

Sara Izzo

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Beschreibung

Diese Arbeit befasst sich mit dem noch wenig erforschten politischen Spätwerk des französischen Autors Jean Genet (1910-1986) aus diskursanalytischer und feldtheoretischer Perspektive. Die Singularität und Ambivalenz seines im Mai '68 einsetzenden politischen Engagements wird in einem Vergleich mit den intellektuellen Bezugsgrößen von Jean-Paul Sartre und Michel Foucault einerseits und den gegenkulturellen Positionen von Allen Ginsberg und William S. Burroughs andererseits herausgearbeitet. Durch die historisch determinierte und diskursspezifische Kontextualisierung der vor dem Hintergrund weltweiter Protestbewegungen verfassten politischen und journalistischen Schriften werden die diskursiven Problemfelder einer gesamten Protestgeneration von ihren Anfängen bis zu ihrem allmählichen Niedergang beleuchtet. Einen Wandel markiert insbesondere die retrospektive literarische Bilanz Un captif amoureux (1986), wie die darin in Form eines intertextuellen Dialoges vollzogenen Umschreibungen und Umdeutungen des politisch-journalistischen Materials aufzeigen.

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Sara Izzo

Jean Genet und der revolutionäre Diskurs in seinem historischen Kontext

Herausgegeben von Wolfgang Asholt (Osnabrück), Hans Manfred Bock (Kassel), Andreas Gelz (Freiburg), Christian Papilloud (Halle)

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

 

 

 

 

Als Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn entstanden.

 

Umschlagabbildung: Jean Genet face à un policier, 1970. ©Fondation Gilles Caron/GAMMA RAPHO

 

© 2016 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.francke.de • [email protected]

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

 

Inhalt

Danksagung0 Einleitung1 Grundlagen: Methode, Korpus, Forschungsstand1.1 Methodisches Konzept1.1.1 Der Diskursbegriff bei Foucault und Bourdieu1.1.2 Aussagenspezifische Bezugssysteme: Foucaults ‚champ de possibilités stratégiques‘ und Bourdieus ‚espace des possibles‘ im Vergleich1.1.3 Prämissen der methodischen Anwendung: Die feldspezifische Positionierung von Jean Genet und die Bedeutung des revolutionären Diskurses1.2 Korpus1.3 Forschungsstand2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich2.1 Jean Genet im Fokus der medialen Öffentlichkeit: Zwischen revolutionärer Emblematisierung und Anonymitätsgebot2.2 Intellektuelle Handlungsentwürfe2.2.1 Genet und Sartre: Der Poet und der Philosoph2.2.2 Genet und Foucault: Kooperation im ‹Groupe d’information sur les prisons›2.3 Kritik an der Rechtsstaatlichkeit aus Sicht Genets, Sartres und Foucaults2.3.1 Zwischen ‚tribunal populaire‘ und ‚contre-procès‘ – Sartres und Foucaults Kritik an der Institution des Gerichtes2.3.2 Vor Gericht: Zur Problematik der Zeugenaussage2.3.3 «La Sentence» – Genets Kritik an der Rechtsprechung2.3.4 Zur Bedeutung strafrechtlicher Kategorien: politische Gefangene oder Strafgefangene?2.3.5 «Le Langage de la muraille» – Genets Antwort auf «Surveiller et punir»2.3.6 Zum Begriff der Gewalt2.4 Zwischenbilanz3 Genet und das gegenkulturelle Feld in den USA3.1 Genet, Ginsberg, Burroughs3.1.1 Genet als Inspirationsquelle für die Autoren der ‹Beat Generation›3.1.2 Genet, Ginsberg und Burroughs als Akteure der gegenkulturellen Öffentlichkeit in den USA3.1.3 Genets Selbstverständnis als ‚voyageur‘ und das poetische Konzept von Revolution im Vergleich zu Ginsbergs Perspektive des Reisenden3.2 Ereignis schreiben im Grenzbereich zwischen Journalismus und Literatur3.2.1 Varianten eines impressionistischen Journalismus: Genet und Burroughs als Reporter für «Esquire»3.2.2 Ereignisinspirierte Poesie: Ginsbergs Begriff der poetischen Reportage3.2.3 Exkurs: Genets journalistischer Pastiche des literarischen Realismus3.3 Antiamerikanische und antiwestliche Kritik aus der Sicht Genets, Ginsbergs und Burroughs’3.3.1 Der Vietnamkrieg als Symptom der amerikanischen Kultur3.3.2 Die Interpretation des Vietnamkrieges als sprachlicher Konflikt3.3.3 William S. Burroughs’ Cut-up-Methode und Genets Konzept der ‚écriture arachnéenne‘ als antiwestliche Schreibarten3.4 Zwischenbilanz4 Zur Metaisierung des revolutionären Diskurses in «Un captif amoureux»4.1 Der Einfluss der journalistischen Reportage auf «Un captif amoureux» am Beispiel von „Quatre Heures à Chatila“ und die ästhetischen Prinzipien der Zeugenschaft4.2 Autoreflexive Kritik zur eigenen Funktion in der Öffentlichkeit: die Transkription des Interviews als dialogische Selbstbefragung in «Un captif amoureux»4.3 Die Transposition des Selbstbildes als ‚voyageur‘ in eine makrokosmische Erzählperspektive4.4 Zur Umdeutung des Kanons in «Un captif amoureux»: Von der revolutionären Kunstform zum kriegerisch-musikalischen Täuschungsmanöver4.5 Die Interpretation der ‚écriture arachnéenne‘ als eine erinnerungsliterarische Gegenform zur westlichen Memoriakultur4.6 Zwischenbilanz5 ErgebnisseLiteraturverzeichnisI. Schriften von Jean GenetII. Schriften von William S. BurroughsIII. Schriften von Michel FoucaultIV. Schriften von Allen GinsbergV. Schriften von Jean-Paul SartreVI. Weiterführende Literatur

Danksagung

Entstanden ist die vorliegende Arbeit als Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. In Dank für die Unterstützung während der gesamten Promotion möchte ich die Arbeit meinen Eltern, meinem Bruder Sergio und Olivier widmen. Meinen herzlichen Dank möchte ich insbesondere meiner Doktormutter Prof. Dr. Mechthild Albert für ihre Zuversicht in mein Projekt und die motivierende wissenschaftliche Betreuung aussprechen. Zu Dank verbunden bin ich darüber hinaus meinem Zweitbetreuer Prof. Dr. Paul Geyer, der Vorsitzenden meiner Prüfungskommission Prof. Dr. Daniela Pirazzini und Prof. Dr. Michael Bernsen. Mein aufrichtiger Dank gilt Albert Dichy für unser Gespräch zu Beginn der Promotion, welches für die thematische Entwicklung des Projektes von Bedeutung war, sowie für die durch ihn ermöglichten Recherchen im Fonds Jean Genet des IMEC. Für die anregenden Diskussionen und gewinnbringenden Anmerkungen möchte ich auch allen Teilnehmern des von Prof. Dr. Mechthild Albert geleiteten Doktorandenkolloquiums danken, die den Entstehungsprozess der Arbeit konstruktiv begleitet haben. Mein besonderer Dank gilt Dr. Ulrike Becker und Dr. Elmar Schmidt für die kollegiale Hilfe zu Beginn des Veröffentlichungsprozesses. Ich danke meinem Bruder Sergio darüber hinaus für die korrigierende Lektüre der Arbeit. Meinen Freundinnen Elena, Jenny und Roxana danke ich für die moralische Unterstützung, die fachlichen Ratschläge und das stets offene Ohr.

0Einleitung

„J.G. cherche, ou recherche, ou voudrait découvrir, ne le jamais découvrir, le délicieux ennemi très désarmé, dont l’équilibre est instable, le profil incertain, la face inadmissible, […] je cherche l’ennemi déclaré.“1 Mit diesen Worten, die nicht nur in den sechsten und letzten Band seiner Werke, die politischen Reden und Texte, einleiten, sondern diesem auch seinen Titel geben, lässt sich Jean Genets Einsatz im politischen Zeitgeschehen metaphorisch als eine auf der politischen Bühne der Öffentlichkeit vorgenommene Suche nach dem erklärten Feind umschreiben. Ausgehend von den Ereignissen im Mai 1968 unterstützt er insbesondere die Black Panther Party in den USA und den palästinensischen Befreiungskampf, aber auch die Immigranten in Frankreich und die Rote Armee Fraktion. Er schreibt über den Vietnamkrieg und die Friedensdemonstrationen in den USA, die Willkür des französischen und amerikanischen Justizsystems und entwirft eine Kampagne gegen die Wahl von Giscard d’Estaing 1974. Seine Haltung der Konfrontation charakterisiert die gesamten zwischen 1968 und 1983 entstandenen politischen Schriften und Interventionen, die sich im Kontext eines historisch determinierten revolutionären Diskurses situieren lassen. Faszinierend und umstritten zugleich, formen sie das Substrat, auf dessen Basis sich sein ambivalentes politisches Profil nachzeichnen lässt. Gekennzeichnet durch seine Ablehnung jedweder seine schriftstellerische und gesellschaftskritische Haltung subsumierender Kategorien, lässt sich seine Sichtweise vor allem ex negativo bestimmen: nicht Intellektueller, sondern Poet, nicht Revolutionär, sondern Vagabund oder Reisender, nicht Beobachter der Gesellschaft, sondern ihr Kontrahent.

In dieser durch Abgrenzung bestimmten Selbstdefinition ist die vergleichende Grundstruktur der vorliegenden Untersuchung begründet. So kristallisiert sich Jean Genets öffentliche Position in bestimmten Personenkonstellationen besonders deutlich heraus. Seine politischen Aktivitäten in Frankreich lassen sich nicht ohne eine Kontrastierung mit Jean-Paul Sartre und Michel Foucault fassen, die dem intellektuellen Feld der sechziger und siebziger Jahre durch unterschiedliche Handlungsentwürfe seine Prägung geben. In den USA ist sein öffentliches Bild eng an die Autoren der Beat Generation gebunden, die als Bezugsgrößen im gegenkulturellen Feld agieren. Jean Genets politische Stellungnahmen sollen folglich als Elemente bestimmter Aussagensysteme und Korrelationsräume mit jeweils spezifischen diskursiven Gegenständen, Konzepten und Argumentationsmustern beleuchtet werden. Am Beispiel seiner zwischen 1968 und 1986 entstandenen Texte lässt sich auch ein Wandel des so ermittelten Diskurses nachzeichnen, der durch die Öffnung und den Verschluss des Möglichkeitshorizontes einer umfassenden gesellschaftlichen Veränderung bestimmt wird. Insbesondere in seinem letzten literarischen Werk Un captif amoureux von 1986 zieht Jean Genet eine Bilanz seines gesellschaftspolitischen Handelns, zu einem Zeitpunkt, als er die revolutionären Bewegungen in ihrer Endlichkeit erfasst. Mit der letzten Seite von Un captif amoureux, das kurz nach dem Tod seines Autors erscheint, schließt sich symbolisch auch ein Kapitel der Zeitgeschichte, deren Entwicklungen jedoch auf die Gegenwart ausstrahlen.

Es zeugt von Genets politischer Weitsicht, dass weiterhin jene Konfliktherde, auf die er in besonderem Maße sein Augenmerk richtete, ihren Platz in den aktuellen Schlagzeilen finden. Dazu zählen nicht nur der Nahostkonflikt, sondern auch die jüngst wieder aufkeimenden Rassenunruhen in den USA. „Amerika diskutiert wieder über Rassismus“2 – mit diesen Worten leitet beispielsweise der Historiker Manfred Berg in seinen Beitrag über die Proteste gegen die Polizeigewalt in Ferguson und Baltimore ein,3 in dem er einen direkten Vergleich mit den Unruhen in den sechziger Jahren anstellt.4 Man würde der politischen Schlagkraft von Genets Texten jedoch nicht gerecht, wenn man sich ihnen allein mit rationalen Erklärungsmodellen, wie etwa dem Bemessungskriterium der Weitsicht, des Scharfsinns, der Richtigkeit oder auch der Falschheit, nähern wollte. Denn was seine Haltung vor allem charakterisiert, ist die Radikalität seiner Position, welche auf dem Verständnis einer poetischen Negation basiert und in seinen Augen überhaupt erst eine neue Sichtweise eröffnen kann. Diese soll in der vorliegenden Arbeit mit dem methodischen Ansatz einer Verschränkung der Diskursanalyse nach Foucault und der Feldtheorie nach Bourdieu ergründet werden.

1Grundlagen: Methode, Korpus, Forschungsstand

1.1Methodisches Konzept

Der nachfolgende Vergleich des diskursanalytischen Ansatzes nach Michel Foucault und des feldtheoretischen Analyseansatzes nach Pierre Bourdieu zielt auf eine synthetische Verknüpfung beider Theoriemodelle ab. In zwei Stufen sollen Divergenzen und Berührungspunkte gegeneinander abgewogen werden. In einem ersten Schritt soll der in beiden Theorien grundsätzlich unterschiedlich konzipierte Diskursbegriff beleuchtet werden, um dann in einem zweiten Schritt die in Bourdieus Begriff des Möglichkeitsfeldes operationalisierbare Schnittmenge zu beschreiben.

1.1.1Der Diskursbegriff bei Foucault und Bourdieu

„Il n’y a pas de science du discours considéré en lui-même et pour lui-même.“1 Mit dieser Aussage setzt sich der französische Soziologe Pierre Bourdieu eindeutig von den methodischen Ansätzen Michel Foucaults ab. Dessen zwischen 1966 und 1970 in unterschiedlichen Phasen entwickelte Theorie der Diskursanalyse will sich von traditionellen Geschichtsmodellen abheben, indem das für letztere typische Denken in großen Einheiten und Kontinuitäten (Epochen, Jahrhunderten, kollektiven Mentalitäten, Bewegungen, Schulen, Gruppierungen), die Suche nach den Ursprüngen sowie das Verständnis der Souveränität des Subjektes in Frage gestellt werden. Die bei Foucault bewusst unpräzise und variabel gehaltene Definition des Diskursbegriffs unterliegt innerhalb seines Gesamtwerks einem bedeutenden Wandel. Während Foucault den Diskursbegriff in seinem Frühwerk im Kontext unterschiedlicher Themenbereiche praktisch anwendet, definiert er ihn in L’archéologie du savoir2 in Hinblick auf die Entwicklung eines Instrumentariums für die Diskursanalyse und rückt ihn in L’ordre du discours3 als machtorientierte Instanz vorübergehend ins Zentrum seiner machttheoretischen Überlegungen.4 Wie er in seiner Einleitung zu L’archéologie du savoir darlegt, setzt er sich in diesem Werk zum Ziel, das methodologische Grundgerüst seiner Diskursanalyse auszuarbeiten, welche bereits in früheren Studien Anwendung gefunden hat:

Ce travail n’est pas la reprise et la description exacte de ce qu’on peut lire dans l’Histoire de la Folie, la Naissance de la Clinique, ou Les Mots et les Choses. […] Il comporte aussi pas mal de corrections et de critiques internes. […] [D]ans Les Mots et les Choses, l’absence de balisage méthodologique a pu faire croire à des analyses en termes de totalité culturelle.5

Foucault betont in L’archéologie du savoir die bewusste Polyvalenz seiner Diskursdefinition:

Enfin au lieu de resserrer peu à peu la signification si flottante du mot ‚discours‘, je crois bien en avoir multiplié les sens: tantôt domaine général de tous les énoncés, tantôt groupe individualisable d’énoncés, tantôt pratique réglée rendant compte d’un certain nombre d’énoncés; et ce même mot de discours qui aurait dû servir de limite et comme d’enveloppe au terme d’énoncé, ne l’ai-je pas fait varier à mesure que je déplaçais mon analyse ou son point d’application, à mesure que je perdais de vue l’énoncé lui-même?6

Denn wie er hier verdeutlicht, bezeichnet der Terminus ‚Diskurs‘ bei ihm gleichsam das allgemeine Aussagengebiet, eine individualisierbare Aussagengruppe sowie die regulierte Praxis, die von einer bestimmten Zahl von Aussagen Rechenschaft ablegt. Daraus ergeben sich die einzelnen Bestandteile seines analytischen Werkzeugs, mithilfe dessen er auf unterschiedlichen Diskursebenen operiert. Die kleinste Einheit, auch „atome du discours“7 genannt, ist dabei die Aussage in ihrer Beschaffenheit als Aussagenfunktion in einem bestimmten Koexistenz- und Korrelationsraum mit anderen Aussagen, der als „champ discursif“8, diskursives Feld, oder auch als „groupement discursif“9, diskursive Gruppierung, beschrieben wird. Anhand dieses terminologischen Instrumentariums entwickelt Foucault schrittweise eine konkrete Definition, wonach der Diskurs sich aus Aussagen mit bestimmten Existenzmodalitäten und einem bestimmten Verbreitungs- und Verteilungsprinzip – auch als diskursive Formation bezeichnet – konstituiert. Die Fixierung des Diskursbegriffs als „ensemble des énoncés qui relèvent d’un même système de formation“10 ermögliche daher erst die Existenz eines spezifischen Diskurses wie beispielsweise des klinischen, ökonomischen oder psychiatrischen Diskurses.

Die Prämisse der Diskursanalyse nach Foucault ist jedoch die Suspendierung aller unmittelbaren und traditionellen Kontinuitätsformen – Werk, Buch, Disziplin, Individuum bzw. Autor – und der Verzicht auf den damit verknüpften Rückbezug auf die hermeneutische Frage nach der Absicht eines sprechenden Subjektes. Foucault setzt sich hingegen zum Ziel, durch die Fokussierung von Aussagen als Ereignisse an sich, ihre Besonderheit, ihre Existenzbedingung, ihre Korrelation mit anderen Aussagen auf Basis gemeinsamer Aussagengegenstände, -typen und -konzepte zu bestimmen, um sie so entsprechend ihrer diskursiven Formation neu gruppieren zu können. Die so determinierte diskursive Einheit wird folglich nicht durch die Verbundenheit einer den Aussagen bzw. den Sprechern gemeinsamen Ideologie, Theorie oder Wissenschaft hergestellt, sondern durch das rein diskursimmanente Bezugssystem. Die einzelnen Korrelationskomponenten wie Aussagengegenstand, -typ und -konzept unterliegen wiederum bestimmten Existenzbedingungen, die beispielsweise auf historischer, funktionaler oder korrelativer Ebene liegen können. Foucaults minutiöse Deskription der Möglichkeiten diskursiver Regelmäßigkeiten und der Formationsregeln einzelner Aussagenfelder bleibt strikt auf der Ebene des Diskurses und verzichtet explizit auf die Rückkoppelung an jedwede psychologische Individualität oder an traditionelle Erklärungsprinzipien ideengeschichtlicher Theorien. Dennoch trägt er den kulturrelevanten Determinanten von Raum und Zeit Rechnung. So ist für Foucault die diskursive Praxis

un ensemble de règles anonymes, historiques, toujours déterminées dans le temps et l’espace qui ont défini à une époque donnée, et pour une aire sociale, économique, géographique ou linguistique donnée, les conditions d’exercice de la fonction énonciative.11

Der historisch und geographisch fundierte Diskurs repräsentiert dabei stets ein begrenztes, mithin defizitäres System von Präsenzen, da nie alles Mögliche gesagt werden kann. Das Auftauchen von Aussagen, ihre Positivität, untersteht bestimmten Realitätsbedingungen, die Foucault als historisches Apriori bezeichnet und von dem Begriff des Archivs abgrenzt.12 Er unterstreicht dabei die unkonventionelle Juxtaposition, welche seinen Terminus ‚historisches Apriori‘ kennzeichnet und die Stefan Rieger als „ungewohnte Koppelung des Transzendentalen und des Historischen“13 interpretiert: „Juxtaposés, ces deux mots font un effet un peu criant; j’entends désigner par là un a priori qui serait non pas condition de validité pour des jugements, mais condition de réalité pour des énoncés.“14 Das Apriori bezieht sich in diesem Verständnis auf die „histoire […] des choses effectivement dites“15, wodurch die Komponente der zeitlich bestimmten Transformierbarkeit von Aussagensystemen erfasst wird. Mithilfe des Archivbegriffs beschreibt Foucault wiederum das „système général de formation et de transformation des énoncés“16 als ein Gesetz von Aussagemöglichkeiten. Das Archiv reguliert den Fortbestand und die Modifikation von Aussagen in der größtmöglichen Dimension, sodass es nie in seiner Totalität erfassbar ist, aber je beschreibbarer wird, desto klarer die Trennung von der Aktualität vollzogen ist.

Die von Bourdieu diagnostizierte Inexistenz einer Wissenschaft des Diskurses impliziert die Kritik an Foucaults Diskursanalyse, um sich dem Diskursbegriff aus soziologisch-pragmatischer Perspektive zu nähern. Im Gegensatz zu Foucault verwehrt sich Bourdieu der terminologischen Verwendung traditioneller Analyseeinheiten nicht und postuliert die Rückbeziehung der Werke auf die Sprecher sowie ihre Einbettung in das soziale Gefüge der Gesellschaft:

[L]es propriétés formelles des œuvres ne livrent leur sens que si on les rapporte d’une part aux conditions sociales de leur production – c’est-à-dire aux positions qu’occupent leurs auteurs dans le champ de production – et d’autre part au marché pour lequel elles ont été produites (et qui peut n’être autre que le champ de production lui-même) et aussi, le cas échéant, aux marchés successifs sur lesquels elles ont été reçues.17

In Bourdieus Diskursverständnis sollen die spezifischen Eigenschaften eines Diskurses analog zur sozialen Position des Sprechers bzw. Akteurs gedeutet werden, so dass der Diskurs zum einen als ein sozial bedingtes Konstrukt aufgefasst wird und zum anderen aus sprachtheoretischer Perspektive hergeleitet wird. In Ce que parler veut dire entwickelt Bourdieu den Diskursbegriff maßgeblich in Abgrenzung zur strukturalistischen Sprachwissenschaft, indem er ‚Diskurs‘ als sozialabhängigen, stilistisch gekennzeichneten Idiolekt bezeichnet:

Ce qui circule sur le marché linguistique, ce n’est pas la langue, mais des discours stylistiquement caractérisés, à la fois du côté de la production, dans la mesure où chaque locuteur se fait un idiolecte avec la langue commune, et du côté de la réception, dans la mesure où chaque récepteur contribue à produire le message qu’il perçoit et apprécie en y important tout ce qui fait son expérience singulière et collective.18

Als sozialbedingt distinguierte Kommunikationsformen definiert, zirkulieren Diskurse nach Bourdieu innerhalb spezifischer Felder. Beispielsweise sind Diskurse einzelner politischer Gruppierungen dem politischen Feld zuzurechnen, während literarische Werke grundsätzlich im kulturellen bzw. intellektuellen Feld zirkulieren. Unabhängig von jedweder Spezifität nimmt das Feld in Bourdieus Verständnis die Funktion eines Kräftefeldes ein, innerhalb dessen unterschiedliche Akteure Stellung beziehen:

Le champ est un réseau de relations objectives (de domination ou de subordination, de complémentarité ou d’antagonisme, etc.) entre des positions […]. Chaque position est objectivement définie par sa relation objective aux autres positions, ou, en d’autres termes, par le système des propriétés pertinentes, c’est-à-dire efficientes, qui permettent de la situer par rapport à toutes les autres dans la structure de la distribution globale des propriétés.19

Diese Prämisse bedingt die Gliederung des Feldes in zwei zueinander homologe Bereiche, den Bereich der Stellungen (espace de positions) und den Bereich der Stellungnahmen (espace de prises de position), wodurch die Relationalität zwischen Diskurs und Akteur expliziert wird:

Toutes les positions dépendent, dans leur existence même, et dans les déterminations qu’elles imposent à leurs occupants, de leur situation actuelle et potentielle dans la structure du champ […]. Aux différentes positions […] correspondent des prises de position homologues, œuvres littéraires ou artistiques évidemment, mais aussi actes et discours politiques, manifestes et polémiques, etc.20

Letztlich determiniert das Konzept des Feldes maßgeblich die Kategorisierung von Diskursen, welche im Unterschied zum diskursanalytischen Ansatz nach Foucault nicht aus sich selbst heraus gedeutet werden, sondern in Rückbindung einerseits an den individuellen Sprecher und andererseits an das feldbedingte Sozialgefüge seiner Entstehung. Erst durch diese feldspezifische Homologiestellung von Stellungnahmen und Akteuren treten unterschiedliche diskursive Ausprägungen in Erscheinung. Die feldspezifische Lokalisierung und Klassifizierung von Diskursen intendiert ein Analysemodell, das unterschiedliche Ansätze berücksichtigt: den direkten Zusammenhang zwischen Individualbiographie und Werk, die immanente Werkinterpretation und die ein Ensemble von Werken in Beziehung setzende intertextuelle Analyse.21 Indem einzelne Positionsnahmen zueinander in Beziehung gesetzt werden, rücken bei Bourdieu der distinktive Antrieb bestimmter Diskurse eines Feldes sowie der Distinktionswert der entsprechenden Akteure in den Vordergrund, was Joch/Wolf zu Recht als besondere Errungenschaft des feldtheoretischen Ansatzes bezeichnen.22 Tatsächlich postuliert Bourdieu die Lektüre und Interpretation „à travers le système des écarts par lequel elle [une œuvre, S.I.] se situe dans l’espace des œuvres contemporaines“23, um der Singularität seiner Textualität in angemessenem Rahmen Rechnung zu tragen. Somit lässt sich der Diskurs nach Bourdieu als zweifach gefiltertes Produkt beschreiben: Als sowohl akteur- wie auch feldbezogenes Konzept24 spiegeln sich in ihm der spezifische Habitus des Sprechers sowie die für das jeweilige Feld epochenspezifischen Frage- bzw. Problemstellungen.

Die fundamentale Differenzierung zwischen einem Bereich der Stellungnahmen und einem Bereich der Stellungen im feldtheoretischen Ansatz indiziert innerhalb der methodischen Kontrastierung Bourdieus und Foucaults den essentiellen Unterschied beider Denkmodelle. Bourdieu postuliert damit die Integrität der von Foucault als zu suspendierende traditionelle Einheit bewerteten Subjektsouveränität und folglich in Hinblick auf die Literaturwissenschaft auch die Zusammengehörigkeit der Aussagen eines Autors zu einem Werk. Jene bei Foucault diskreditierten Entitäten wie Werk, Autor und Disziplin konstituieren bei Bourdieu die analytische Grundlage einer kultursoziologischen Interpretation. Dennoch existiert zwischen beiden Ansätzen eine Schnittmenge, die im Folgenden herausgearbeitet wird. Vorausgesetzt nämlich, dass man den von Bourdieu abgesteckten Bereich der Stellungnahmen in seiner epochenspezifischen Feldbezogenheit fokussiert, lässt sich eine gewinnbringende Kombination beider Theorien rechtfertigen. Es sollen daher nun die beiden Diskurskonzepte unter dem Blickwinkel dessen betrachtet werden, was Bourdieu zunächst als „kulturelles Unbewusstes“25 und schließlich als „Raum der Möglichkeiten“26 bezeichnet, um in einer daran anknüpfenden synthetischen Schlussfolgerung den besonderen Mehrwert dieser theoretischen Verknüpfung für die praktische Anwendung herauszustellen.

1.1.2Aussagenspezifische Bezugssysteme: Foucaults ‚champ de possibilités stratégiques‘ und Bourdieus ‚espace des possibles‘ im Vergleich

Zunächst 1984 in einem Text zum literarischen Feld thematisiert1 und dann in einem kultursoziologischen Vortrag 1986 an der Princeton University wiederaufgegriffen,2 beschreibt Bourdieu den für die Analyse kultureller Produktionsfelder entscheidenden Raum der Möglichkeiten, den „espace des possibles“, der als Produkt der eigenen Geschichte des Feldes das „univers des problèmes, des références, des repères intellectuels (souvent constitués par des noms de personnages phares), des concepts en -ismes, bref, tout un système de coordonnées“3 festlegt. Bourdieu leitet jenes das jeweilige Feld konstituierende gemeinsame Bezugssystem mit den aus ihm resultierenden Frage- und Problemstellungen diachron her und beschreibt es darüber hinaus als ein netzartiges Konstrukt, das die Produzenten einer Epoche und eines Kulturraums zueinander in Beziehung setzt. Dieser gemeinsame Korrelationsraum wird von Bourdieu als gemeinsames System intellektueller Koordination, als „système de références communes, de repères communs“4 bezeichnet, wonach die einzelnen Positions- oder Stellungnahmen als Entscheidungen zwischen den im Feld gegebenen Möglichkeiten, nämlich als „les choix entre les possibles“5, figurieren. Wenn auch Bourdieu hier Stellungnahmen bzw. Diskurse in ihrer Subjektbezogenheit determiniert und damit Foucaults Diskursanalyse diametral gegenüberzustehen scheint, so leitet er doch das mithin intertextuell fundierte Koordinationssystem basierend auf den Interdependenzbeziehungen zwischen den Werken, welches der Bereich der Stellungnahmen darstellt, unter Rekurs auf Foucault her. Dabei bezieht sich Bourdieu auf eine Erklärung Foucaults für den Cercle d’épistémologie von 1968, in der er die theoretischen Grundannahmen seiner Diskursanalyse zu erhellen sucht.6 In abgeänderter Form wird diese von Bourdieu kommentierte Textpassage zum strategischen Möglichkeitsfeld ein Jahr später von Foucault in L’archéologie du savoir wiederaufgenommen.7 Als Kriterien zur Bestimmung einer diskursiven Einheit nennt Foucault das „système des points de choix qu’il [le discours, S.I.] laisse libre à partir d’un champ d’objets donnés, à partir d’une gamme énonciative déterminée, à partir d’un jeu de concepts définis dans leur contenu et dans leur usage“8. Dieses Verteilungsprinzip so genannter zur Auswahl stehender Entscheidungspunkte bezeichnet Foucault als „champ de possibilités stratégiques“9, als Feld strategischer Möglichkeiten, bzw. als „loi de formation et de dispersion de toutes les options possibles.“10 Es systematisiert die Streuung gegebener Diskursgegenstände, Diskurstypen und der diskursimmanenten Konzepte, anhand derer spezifische diskursive Einheiten messbar werden. Foucault betrachtet das Feld strategischer Möglichkeiten folglich als eine Komponente, welche die Neugruppierung von Aussagemengen zu diskursiven Formationen ermöglicht. Im Gegensatz jedoch zu Bourdieus Verständnis eines Raums der Möglichkeiten repräsentieren die im Feld der strategischen Möglichkeiten erfassten Entscheidungspunkte keine zur Auswahl stehenden Ideen oder Meinungen, wie Foucault in seinem Artikel anhand evolutionstheoretischer Positionierungen verdeutlicht: „On aurait donc tort sans doute de chercher dans ces faits d’opinion des principes d’individualisation d’un discours.“11 Foucaults Bestimmungskriterien dienen nicht so sehr der Interpretation eines kultur- und epochenspezifischen Aussageninhaltes, als vielmehr dem Erfassen diskursstrukturierender Charakteristika jenseits vorab bestimmter diskursiver Einheiten. Als Formations- und Streuungsgesetz aller möglichen Optionen setzt es weniger auf Einheitlichkeit und Konsens als auf Dispersion:

Ne seraient-ce pas les différentes possibilités qu’il [le discours, S.I.] ouvre de ranimer des thèmes déjà existants, de susciter des stratégies opposées, de faire place à des intérêts inconciliables, de permettre, avec un jeu de concepts déterminés, de jouer des parties différentes? Plutôt que de rechercher la permanence des thèmes, des images et des opinions à travers le temps, plutôt que de retracer la dialectique de leurs conflits pour individualiser des ensembles énonciatifs, ne pourrait-on pas repérer plutôt la dispersion des points de choix, et définir en deçà de toute option, de toute préférence thématique un champ de possibilités stratégiques?12

Das Feld der strategischen Möglichkeiten gehört folglich neben dem Objekt der Aussage, der Form und dem Typ der Verkettung von Aussagen und dem System der Streuung von Begriffen zu den insgesamt vier Konstanten einer diskursiven Formation.13 Diese legt so genannte „Populationen von Aussagen“14 unabhängig von sichtbaren Einheiten frei bzw. regruppiert sie und konstruiert somit ein neues Beziehungssystem vormals unsichtbarer Relationen. Die auf einem System geregelter Unterschiede und Streuungen konstituierte diskursive Formation postuliert auf rein diskursimmanenter Ebene jene von Bourdieu als „système des écarts“15 beschriebene Singularität unterschiedlicher feldspezifischer Positionen bzw. Stellungnahmen und ihre Beziehung zueinander.

Trotz dieser Ähnlichkeiten in Hinblick auf die Relationalität von Aussagen bzw. Stellungnahmen beleuchten beide Theorien eine unterschiedliche Auffassung von diskursiven Korrelationsräumen, denen sie sich aus unterschiedlichen Perspektiven nähern. Dies zeigt sich unter anderem an Bourdieus Kritik an Foucaults diskursstrukturellem Erklärungsprinzip. Während Bourdieu Foucaults „Feld der strategischen Möglichkeiten“ analog zu seinem eigenen Verständnis eines „Raumes von Möglichkeiten“ in Form eines epochen- und kulturspezifischen intellektuellen Bezugssystems deutet, distanziert er sich jedoch ansonsten prinzipiell von dessen Grundsätzen.16 Anders als Bourdieu behauptet, ist das „Feld der strategischen Möglichkeiten“ bei Foucault jedoch noch keine épistème an sich, sondern eine Beschreibungs- und Identifikationskomponente einer diskursiven Formation:

Et lorsque, dans un groupe d’énoncés, on peut repérer et décrire un référentiel, un type d’écart énonciatif, un réseau théorique, un champ de possibilités stratégiques, alors on peut être sûr qu’ils appartiennent à ce qu’on pourrait appeler une formation discursive.17

Foucault beschreibt vielmehr „ce système à quatre niveaux, qui régit une formation discursive et doit rendre compte non de ses éléments communs mais du jeu de ses écarts, de ses interstices, de ses distances – en quelque sorte de ses blancs, plutôt que de ses surfaces pleines“18, basierend auf der oben beschriebenen Streuung von Diskursgegenständen, Diskurstypen und Diskurskonzepten, als jene Positivität, die er in L’archéologie du savoir dann als historisches Apriori konzeptualisiert.19 Die Systematisierung bestimmter Aussagenmengen zu diskursiven Formationen formt einen begrenzten Kommunikationsraum, einen

espace relativement restreint, puisqu’il est loin d’avoir l’ampleur d’une science prise dans tout son devenir historique, […] mais espace plus étendu cependant que le jeu des influences qui a pu s’exercer d’un auteur à l’autre, ou que le domaine des polémiques explicites.20

Die Kommunikation erfolgt Foucault zufolge über die Positivität der Aussagen, welche durch das Konzept des historischen Apriori beschreibbar wird. Die von Bourdieu evozierte épistème schlägt sich in ebendiesem von Foucault beschriebenen Positivitätsparadigma von Aussagen nieder, dem gegenüber die Aussagenproduzenten keinerlei Bewusstseinsvermögen haben, wie Foucault im Folgenden verdeutlicht:

Les œuvres différentes, les livres dispersés, toute cette masse de textes qui appartiennent à une même formation discursive, – et tant d’auteurs qui se connaissent et s’ignorent, se critiquent, s’invalident les uns les autres, se pillent, se retrouvent, sans le savoir et entrecroisent obstinément leurs discours singuliers en une trame dont ils ne sont point maîtres, dont ils n’aperçoivent pas le tout et dont ils mesurent mal la largeur – toutes ces figures et ces individualités diverses ne communiquent pas seulement par l’enchaînement logique des propositions qu’ils avancent, ni par la récurrence des thèmes, ni par l’entêtement d’une signification transmise, oubliée, redécouverte; ils communiquent par la forme de positivité de leurs discours. Ou plus exactement cette forme de positivité (et les conditions d’exercice de la fonction énonciative) définit un champ où peuvent éventuellement se déployer des identités formelles, des continuités thématiques, des translations de concepts, des jeux polémiques. Ainsi la positivité joue-t-elle le rôle de ce qu’on pourrait appeler un a priori historique.21

Das Feld strategischer Möglichkeiten dient der eigentlichen Analyse von Aussagen und der Konstituierbarkeit von Diskursen, wohingegen das historische Apriori auf die Realitätsbedingung von Aussagenpräsenzen abzuheben versucht. Innerhalb des Kommunikationsraums bleibt das historische Apriori für die in ihm befindlichen Aussagenproduzenten eine unreflektierbare Variable.

Bourdieu deutet Foucaults „champ de possibilités stratégiques“ insofern seinem eigenen Ansatz entsprechend, als darin kein Werk „en dehors des relations d’interdépendance qui l’unissent à d’autres œuvres“22 existiere, kritisiert aber an Foucaults Ansatz die absolut autonome Struktur jener von ihm als Möglichkeitsfeld gedeuteten épistème.23 Durch Foucaults Annahme der Autonomie und Transzendenz des Systems würden nämlich „les oppositions et les antagonismes qui s’enracinent dans les relations entre les producteurs et les utilisateurs des œuvres considérées“24 in den Ideenhimmel verlagert. Die von Foucault diagnostizierte Autoreferentialität des diskursiven Systems verwehre die Berücksichtigung möglicher Veränderungen, „à moins de lui accorder une propension immanente à se transformer, comme chez Hegel, par une forme mystérieuse de Selbstbewegung.“25 Bourdieu hingegen versteht den Raum der Möglichkeiten als ein für die Akteure eines Feldes verschiedene Problemstellungen und intellektuelle Orientierungspunkte bereithaltendes System, dessen Dynamik nicht alleine im Bereich der Stellungnahmen liegt, sondern der Positionierung der einzelnen Akteure zukommt. Bourdieu verknüpft folglich in seiner Feldtheorie verschiedene theoretische Methoden miteinander, wie er selbst erklärt:

C’est ainsi que l’on peut conserver tous les acquis et toutes les exigences des approches internalistes et externalistes, formalistes et sociologistes en mettant en relation l’espace des œuvres […] conçu comme un champ de prises de position qui ne peuvent être comprises que relationnellement, à la façon d’un système de phonèmes, c’est-à-dire comme système d’écarts différentiels, et l’espace des écoles ou des auteurs conçu comme système de positions différentielles dans le champ de production. […] Ainsi se trouvent d’emblée résolus plusieurs problèmes fondamentaux et en premier lieu le problème du changement.26

Triebfeder der Veränderung ist bei Bourdieu das Subjekt als Produzent von Diskursen, womit er sich bewusst von Foucault abgrenzt und sowohl der Pluralität und Konkurrenz von Ordnungsstrukturen zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt, als auch der historisch bestimmten prozessualen Transformation derselben Rechnung trägt.27 Tatsächlich betrachtet Bourdieu die Akteure als aufeinander einwirkende Kräfte im Feld, wodurch sich eine konfliktive Grundsituation zwischen jenen die Feldstruktur stützenden einerseits und jenen sie destabilisierenden Elementen andererseits abzeichnet. Das durch den Raum der Möglichkeiten festgelegte Universum der Probleme, der Bezugnahmen, der intellektuellen Orientierungspunkte verbindet die Akteure einer Epoche, wobei Bourdieu jene epochenmarkierende Kategorie in einem frühen Text von 1966 vermittels des Konzeptes des kulturellen Unbewussten noch anders definiert.28 Bereits zu diesem frühen Zeitpunkt konstatiert er den Rekurs auf einen Kodex von Gemeinsamkeiten in Problemen, Tagesfragen, Denkstilen und Wahrnehmungsformen innerhalb eines Feldes in einer bestimmten Epoche, jedoch überwiegt hier die implizite kulturelle Basis einer stillschweigend vorausgesetzten Axiomatik der Verständigung und des Fühlens, welche die Grundlage der „intégration logique d’une société et d’une époque“29 instituiert. Bourdieu unterscheidet zwischen den stillschweigend vorausgesetzten und den ausdrücklich postulierten Credos, welche den Bodensatz epochenspezifischer Stellungnahmen konstituieren. In der Entwicklung seiner theoretischen Axiome invertiert er dann die Prädominanz beider die Epoche charakterisierenden Komponenten: Nicht mehr das kulturelle Unbewusste als Verinnerlichung geistiger Schemata, sondern die gemeinsame Problematik in Form der Gesamtheit der Stellungnahmen unifizieren eine Epoche: „Ce qui fait l’unité d’une époque, c’est moins une culture commune que la problématique commune qui n’est autre chose que l’ensemble des prises de position attachées à l’ensemble des positions marquées dans le champ.“30 Mit anderen Worten: Die Einheit einer Epoche wird durch den gemeinsamen Raum der Möglichkeiten konstituiert. Die in diesem Zitat postulierte Präponderanz der gemeinsamen Problematik gegenüber der Kultur zeigt, dass Bourdieu sich stärker auf die diskursiv manifeste Zirkulation des gemeinsamen Kodex einer Epoche, Gesellschaft oder Generation konzentriert als auf jene Bewusstseinskategorie, die man mit Assmann als identitätssichernde, mentale Disposition bezeichnen könnte, nämlich der

in gemeinsamer Sprache, gemeinsamem Wissen und gemeinsamer Erinnerung kodierte und artikulierte kulturelle Sinn, d.h. der Vorrat gemeinsamer Werte, Erfahrungen, Erwartungen und Deutungen, der die ‚symbolische Sinnwelt‘ bzw. das ‚Weltbild‘ einer Gesellschaft bildet.31

Bourdieu hierarchisiert hier den expliziten und den impliziten Referenzhorizont einer Epoche.

Die gemeinsame, im Interdependenzsystem des Feldes der Stellungnahmen manifeste und explizit fassbare Problematik einer Epoche unterliegt in Bourdieus Vorstellung einem konstanten Wandel, da sich der Raum der Stellungnahmen durch das Hinzutreten eines Akteurs modifiziert:

Concrètement, cela signifie que […] son existence ‚pose, comme on dit, des problèmes‘ aux occupants des autres positions, que les thèses qu’il affirme deviennent un enjeu de luttes, qu’elles fournissent l’un des termes des grandes oppositions autour desquelles s’organise la lutte et qui servent à penser cette lutte.32

Durch die strukturell angelegte Möglichkeit des Wandels existiert der Raum der Stellungnahmen selbst im Modus der Potentialität.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich Bourdieu bei der Definition seines feldspezifischen Möglichkeitsraums als „univers des problèmes, des références, des repères intellectuels“33 an Foucaults diskursstrukturierendem Formations- und Verteilungsgesetz möglicher zur Wahl stehender Punkte („points de choix“34) orientiert, dabei jedoch Foucaults Konzept des Feldes der strategischen Möglichkeiten mit der diesem übergeordneten Vorstellung einer diskurs­ordnenden épistème vermischt. Die durch die Gesamtheit aller Stellungnahmen indizierten Konfliktbereiche eines Feldes determinieren die Zugehörigkeit zu einer Epoche, wobei sich das Feld der Stellungnahmen als netzartiger Korrelationsraum und Bezugssystem präsentiert. Wenn auch grundsätzlich vergleichbar mit Foucaults Vorstellung der Positivität von Aussagen innerhalb einer diskursiven Formation, wird bei Bourdieu allerdings nicht die Bedingung von Aussagen in Form eines historischen Apriori fokussiert, sondern vermittels der Aktivität und Dynamik der zugehörigen Akteure bzw. Autoren und deren feldspezifischer sowie gesellschaftlicher Positionierung. Kombiniert man das diskursanalytische Konzept Foucaults mit dem feldtheoretischen Bourdieus, kann man sagen, dass sich innerhalb des Feldes der Stellungnahmen diskursive Formationen eruieren lassen. Der sich dadurch konstituierende sowohl implizite als auch explizite Kommunikations- und Korrelationsraum determiniert die gemeinsame Zugehörigkeit der Akteure zu einer bestimmten Epoche. Die Stellungnahmen entfalten in ihrer Positivität eine Einheit durch die Zeit hindurch, welche mit Foucault als historisches Apriori bezeichnet werden kann. Obgleich sich die Gruppierung der Stellungnahmen bei beiden Theoretikern unterscheidet, soll in der nachfolgenden Analyse das Prinzip der feldspezifischen Eingrenzung und der diskursiven Formation miteinander verflochten werden. Berücksichtigt werden muss dabei die unterschiedliche Auffassung der Möglichkeitsdynamiken bestimmter Aussagenpositionen im Korrelationssystem, die sich in der praktischen Anwendung jedoch als durchaus vereinbar erweisen. Denn während Foucault unabhängig von den durch Subjekte, Werke, Disziplinen, etc. gegebenen Einheiten aus einem Gesamtdiskurs entsprechend der Korrelation gemeinsamer Diskursgegenstände, -typen und -konzepte diskursive Formationen herausarbeitet, nimmt Bourdieu eine feldspezifische Eingrenzung von Stellungnahmen vor, die homolog zu den zugehörigen Akteuren deutbar wird. Der Raum der Möglichkeiten wird bei Bourdieu daher durch die einzelnen Akteure selbst erweitert und steht daher im Modus der Potentialität, wohingegen bei Foucault der Aussagenpositivität durch ihr charakteristisches Merkmal als Ereignis ein Möglichkeitspotential zukommt. Was bei Bourdieu sozialpragmatisch als subjektbezogene Möglichkeit reguliert ist, muss bei Foucault transzendent als objektive Möglichkeit beschrieben werden.35 Foucaults Fokussierung (positiv) realisierter Aussagen impliziert gleichsam die Negativpositionen, nämlich jene nicht realisierten Aussagen, welche einen Bereich des Unsagbaren beschreiben. Die Trennung zwischen dem zu einem gegebenen Zeitpunkt Sagbaren und Unsagbaren lässt sich alleine durch die regulierende Instanz des Archivs in seiner Funktion als „loi de ce qui peut être dit“36, als „système qui régit l’apparition des énoncés comme événements singuliers“37, kurzum als System der Aussagbarkeit erklären. Als „repository of the historical a priori of a given period which conditions the practices of exclusion and inclusion that are ingredient in all social exchange“38, so Flynn, kommt dem Archiv eine rein strategische oder strukturelle Funktion zu. Es aktiviert keine Aussagenmöglichkeiten, sondern ermöglicht aus einer zeitlich von der diskursiven Realisierung abgehobenen Perspektive die Beschreibung von nicht mehr der Aktualität zugehörigen Diskursen. Dynamiken werden folglich nicht geschaffen, sondern anhand der Beschreibung von diskursiv realisierten Brüchen und Zäsuren sichtbar gemacht. Im Folgenden soll aufgezeigt werden, wie sich die beiden theoretischen Ansätze in der themenspezifischen praktischen Anwendung zusammenfügen und für die Analyse nutzbringend auswerten lassen.

1.1.3Prämissen der methodischen Anwendung: Die feldspezifische Positionierung von Jean Genet und die Bedeutung des revolutionären Diskurses

Die beiden unterschiedlichen Konzepte des Möglichkeitsfeldes finden bei Foucault und Bourdieu in der Vorstellung eines aussagenspezifischen Korrelationsraums eine Schnittmenge, die den Ausgangspunkt für die sich anschließende Analyse formen soll. Die textuelle Grundlage bildet ein Korpus politischer, teils journalistischer, teils literarischer, Schriften Jean Genets, sodass sich die Untersuchung um eine Autorenpersönlichkeit innerhalb der gesellschaftspolitisch ereignisreichen Jahrzehnte der 1960er und 1970er Jahre zentriert.

Anhand seiner zwischen 1968 und 1983 entstandenen Texte soll ein historisch determiniertes Aussagensystem herausgearbeitet werden, das auf der Basis textueller Interdependenzbeziehungen in Erscheinung tritt. Trotz dieser Autorenzentrierung, welche den diskursanalytischen Prämissen entgegenläuft und daher einen flexiblen Umgang erfordert, können Foucaults Bestimmungskriterien nutzbar gemacht werden: Gemeinsame Diskursobjekte, -konzepte und -typen repräsentieren wichtige Marker einer diskursiven Einheit. Die historische Situierung von Genets Stellungnahmen erfolgt durch das Erfassen von Interdependenzverhältnissen sowohl auf der personalen, als auch auf der textuellen Ebene. Die interpersonalen Relationen ergeben sich aus dem zeithistorischen und biographischen Kontext und determinieren auch die textuellen Referenzen. So werden in einem ersten Schritt beispielsweise ausgewählte, in konkreten, zeitpolitischen Situationen entstandene Schriften Genets mit vor demselben historischen Hintergrund verfassten Texten Michel Foucaults und Jean-Paul Sartres einerseits sowie solchen Allen Ginsbergs und William S. Burroughs’ andererseits kontrastiert. Der so abgesteckte Kommunikationsraum zwischen den Autoren soll in Analogie zu Bourdieus Konzept feldspezifisch strukturiert werden. Genets politische Positionsnahmen werden daher in einem ersten Teil im intellektuellen Feld in Frankreich und in einem zweiten Teil im gegenkulturellen Feld in den USA situiert. Insbesondere jener Aspekt aus Bourdieus Feldanalyse, wonach stets der Einzelpersönlichkeit ein feldspezifischer Distinktionswert zuerkannt und der Bereich der Stellungnahmen in Homologie zu den Einzelpositionen betrachtet wird, erweist sich in Hinblick auf die so komplexe und schillernde Autorenpersönlichkeit eines Jean Genet als gewinnbringend. Wie die Analyse aufzeigt, kennzeichnet sich seine Positionierung in beiden Feldern tatsächlich durch eine ostentative und strategische Desertion.

Genet betritt die politische Bühne Frankreichs erstmals während der studentischen Unruhen im Mai 1968, erwehrt sich jedoch von Beginn an einer öffentlichen Funktionalisierung seiner Persönlichkeit für bestimmte politische Zielsetzungen. Obgleich er sich im Zuge der gesellschaftlichen Umwälzungen bewusst von seinem literarischen Werk distanziert, beansprucht er auch weiterhin die Denomination als Poet für sich, die ihm gegenüber Sartre und Foucault als Differenzierungsmodell dient. So berichtet Edmund White in seiner monumentalen Biographie, dass Genet die Publikation eines zeitkritischen Artikels mit den Worten verweigert:

I don’t want to publish anything about France. I don’t want to be an intellectual. If I publish something about France, I’ll strike a pose as intellectual. I am a poet. For me to defend the Panthers and the Palestinians fits in with my function as a poet. If I write about the French question I enter the political field in France – I don’t want that.1

Genets Sonderweg spiegelt sich entsprechend in seinen zwischen 1968 und 1983 publizierten, aber auch unveröffentlichten Texten und Werken wider, die von diesem essentiellen Spannungsverhältnis zwischen einem rein poetischen Anspruch und der politischen Intentionalität zeugen, wodurch die ohnehin komplizierte Verortung seines Werks erschwert wird. Innerhalb der Untersuchung seiner Position im intellektuellen Feld wird die offensive Abkehr von etablierten intellektuellen Modellen problematisiert, welche in seinem Verhältnis zu Sartre und Foucault erkennbar wird. So betont Sylvain Dreyer beispielsweise die bewusst auf Dissens angelegte Verteidigung der palästinensischen Zielsetzungen und das in ihr zum Ausdruck gebrachte problematische Verhältnis zu Sartres Persönlichkeit sowie zu seinem Konzept des Engagements: „La question palestinienne semble attirer l’écrivain d’abord par sa puissance de dissensus. Il est permis de penser qu’elle constitue notamment l’occasion de rompre avec son mentor Sartre, en soldant une relation complexe et ambivalente […].“2 Darüber hinaus muss auch dem Bedeutungswandel der gesellschaftlichen Funktion des Intellektuellen insgesamt Rechnung getragen werden. Die sich ab Mitte der 1960er Jahre abzeichnende Krise des französischen Universitätswesens manifestiert sich in einem allgemeinem Infragestellen etablierter Autoritäten, darunter der Lehrenden und der universitären Intellektuellen, erklärt aber die Eskalation der studentischen Protestbewegung im Mai 1968 nicht hinreichend.3 Das spontane Aufbegehren stellt den Kulminationspunkt eines unterschiedliche weltpolitische Geschehnisse umfassenden gesellschaftlichen Umbruchs dar. Die in ihrer Vehemenz überraschenden Proteste drängen die französischen Intellektuellen nicht nur zu einer Positionierung, sondern auch zu einer Beleuchtung ihrer eigenen Rolle und Funktion innerhalb der Protestbewegung. Die Intervention der Intellektuellen lässt sich daher mit Ory/Sirinelli über den soziokulturellen Wandel der französischen Gesellschaft deuten, der sich wiederum auf diskursiver Ebene in den Stellungnahmen einzelner Intellektueller niederschlägt.4 So beschreiben Ory/Sirinelli die veränderte Haltung der Intellektuellen am Beispiel Sartres,5 der 1970 die ‚Auflösung‘ des Intellektuellen als Verteidiger universeller Werte und die Hinwendung zum ‚konkreten Universellen‘, d.h. einer Überwindung des intellektuellen Separatismus, postuliert.6 Der Wandel des intellektuellen Feldes zeichnet sich aber auch insbesondere durch das Auftreten Michel Foucaults ab, der mit seinem Konzept des spezifischen Intellektuellen dem in der Figur Jean-Paul Sartres verkörperten moralischen Universalitätsanspruch das Prinzip des intellektuellen Expertentums entgegenstellt. Es lassen sich folglich unterschiedliche intellektuelle Handlungsentwürfe identifizieren, welche als feldspezifische Orientierungspunkte fungieren. Die Gegenüberstellung von Genet, Sartre und Foucault lässt sich auch durch die Solidarisierung dieser drei Akteure in gemeinsamen Projekten und Aktionen rechtfertigen. Ihre Interventionen beispielsweise im Rahmen unterschiedlicher Strafprozesse gegen politische Dissidenten beruhen auf der epochenspezifisch determinierten Kritik an der Rechtsstaatlichkeit und lassen sich wiederum zu einer diskursiven Formation gruppieren. Sie bedienen vor dem Hintergrund der Übertragung von strafrechtlichen Problemstellungen in den öffentlichen Diskussionsraum den fundamentalen Topos des intellektuellen Engagements, der in Frankreich bis zu Voltaires öffentlichen Stellungnahmen zu bestimmten Prozessen, wie etwa der Affäre Jean Calas im 18. Jahrhundert, zurückreicht und auch vor allem in der Dreyfus-Affäre als Geburtsstunde des Intellektuellen verankert ist.7

Jean Genets Verortung im gegenkulturellen Feld in den USA, das aus dem Anspruch erwächst, ein alternatives Wertesystem zu begründen, lässt sich als ambivalent beschreiben. Auf politischer Ebene kann seine Haltung durch eine grundsätzlich dissoziative Position charakterisiert werden, insofern er die politische Axiomatik seines öffentlichen Engagements für die Black Panthers negiert und eine Typisierung als Revolutionär zurückweist. Indem er aber seine poetische Entpflichtung unter Bezugnahme auf den Existenzentwurf des Vagabunden begründet, bedient er damit zugleich einen gegenkulturellen Topos, der seine Bezugsgrößen in den amerikanischen Autoren der Beat Generation hat. Wie jene wird Genet als Vordenker und Akteur der Gegenkultur wahrgenommen. Im Unterschied zu seinem dissensuellen Verhältnis zu den französischen Intellektuellen verbindet Genet und die amerikanischen Autoren Allen Ginsberg und William S. Burroughs das literarische Schaffen, wie auch Véronique Lane hervorhebt: „De tous les leaders de mouvements révolutionnaires qu’il [Genet, S.I.] ait connus (Fraction armée rouge, Black Panthers, Palestiniens), Burroughs et Ginsberg sont en effet, les seuls ‚littéraires‘.“8 Dieser kreative Berührungspunkt determiniert auch die gemeinsame Berichterstattung über den demokratischen Parteitag in Chicago im August 1968, welche prototypisch die besondere Problematik der poetischen Codierung innerhalb der dem Wesen nach der objektiven Sachlichkeit verschriebenen journalistischen Texte bei Genet abbildet. Im textuellen Bezugssystem zwischen Genet, Ginsberg und Burroughs kristallisiert sich maßgeblich eine antiamerikanische und antiwestliche Kritik heraus, die als diskursive Formation repräsentativ für das gegenkulturelle Feld ist, insofern sich dieses nämlich in Opposition zur normativen Kultur der amerikanischen Gesellschaft definiert. Gemeinsamer Diskursgegenstand ist dabei vor allem der Vietnamkrieg, der als Ausdruck der amerikanischen Gesellschaft verstanden wird und als Vehikel dient, um deren Ablehnung zu manifestieren.

Genets feldspezifische Positionierung wird folglich sowohl im Kontext der historischen Entwicklungen, als auch im Verhältnis zu anderen politisch aktiven Persönlichkeiten vorgenommen. Deren vor dem Hintergrund der weltweiten Proteste – gegen beispielsweise den Vietnamkrieg, den Imperialismus, den Kapitalismus, soziale Missstände und freiheitsunterdrückende Machtinstitutionen – hervorgebrachte Stellungnahmen bilden ein gemeinsames epochenspezifisches, textuelles Referenzsystem. Was hier als revolutionärer Diskurs bezeichnet werden soll, lässt sich folglich über die zeithistorisch bedingten Problemstellungen eines spezifischen Feldes der Stellungnahmen definieren und differenziert sich in unterschiedliche Teildiskurse mit charakteristischen Diskursgegenständen aus, wie etwa die Kritik an der Rechtsstaatlichkeit, die antiamerikanische Kritik oder die Diskussion einzelner Interventionsformen. Es muss jedoch betont werden, dass dieser revolutionäre Diskurs nicht mit einem Revolutionspostulat gleichgesetzt werden darf.

Hinsichtlich der Analyse der Texte soll grundsätzlich keine Abkoppelung vom jeweiligen Autor stattfinden. Einzelne Positionsnahmen können interreferentiell als positiv oder negativ rekurrierbare Problemstellungen fungieren. Berücksichtigt werden muss dabei auch die Transformierbarkeit des revolutionären Diskurses, der beispielsweise zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Genets Artikel über die Rote Armee Fraktion 1977 aus rezeptionskritischer Perspektive manifest wird. Es soll daran gezeigt werden, wie die für die in den frühen 1970er Jahren typische Argumentationsstruktur einer Kritik an den machtstaatlichen Institutionen unter Bezugnahme auf das Gewaltkonzept in den Bereich des Unsagbaren absinkt und somit eine gesellschaftliche Umkehr indiziert wird. Somit wird die Dynamik des diskursiven Wandels sowohl durch Bourdieus Prinzip einer subjektbezogenen Möglichkeit beschrieben, insofern sich der feldspezifisch abgegrenzte Kommunikationsraum als Möglichkeitsfeld durch die Stellungnahmen einzelner Akteure durchgliedert und transformiert, als auch durch Foucaults Konzept der objektiven Möglichkeit, welches die historischen Brüche und Diskontinuitäten epistemologisch aufzeigt.

In einem abschließenden Kapitel liegt der Schwerpunkt schließlich auf der Entwicklung einzelner diskursiver Konzepte, die in Genets letztem Werk Un captif amoureux von 1986 eine literarische Aufarbeitung erfahren und in einem metatextuellen Verweissystem transformiert werden. Es soll die These aufgestellt werden, dass seine im Kontext des revolutionären Diskurses entstandenen Interventionen innerhalb literarischer Rahmenbedingungen metaisiert werden. Voraussetzung ist dabei die zeitliche Distanz zu den eigenen politischen Aktivitäten, welche aus einer rückblickenden Perspektive bespiegelt werden. Durch werkexterne Verweise auf textuelle Interventionen werden Konzepte aus dem politischen Kontext kommentiert und umgeschrieben. Mit dieser literarischen Bilanz seines eigenen Engagements besiegelt Genet seinen Austritt aus der politischen Öffentlichkeitssphäre.

1.2Korpus

Das Korpus der vorliegenden Untersuchung umfasst vornehmlich zwischen 1968 und 1986 redigierte, veröffentlichte sowie unveröffentlichte Schriften Jean Genets und konstituiert die analytische Grundlage für seine Situierung im intellektuellen sowie im gegenkulturellen Feld dieser Zeit. Dabei wird auch eine Vielzahl bislang kaum beachteter Texte und Manuskripte erschlossen. Daneben wird auf die inzwischen zum Kanon der politischen Untersuchungen zu Genet gehörenden Werke L’Ennemi déclaré1 und Un captif amoureux2 rekurriert. L’Ennemi déclaré wurde 1991 zum ersten Mal publiziert und versammelt als sechster Band der bei Gallimard erschienenen Werkausgabe Genets zwischen 1964 und 1985 entstandene politische, aber auch literaturkritische Artikel, Schriften und Interviews. Diese ist in jedem Fall der Vollständigkeit wegen der 2010 anlässlich des 100-jährigen Jubiläums bei Gallimard erschienenen Taschenbuchausgabe vorzuziehen.3 In einem Anhang enthält diese umfassende Ausgabe beispielsweise zwei wichtige, nur noch im Englischen existierende und daher ins Französische rückübersetzte Artikel Genets, die zusätzlich in der englischen Fassung betrachtet werden sollen. Die in L’Ennemi déclaré vereinten Texte unterscheiden sich nicht nur entsprechend ihrem politischen Entstehungskontext, sondern weisen auch stilistische Differenzen auf. Pragmatische Texte alternieren mit literarischen Texten, journalistischen Berichterstattungen und Interviews, die alle eine differenzierte Lektüre verlangen, da ihnen unterschiedliche Kommunikationssituationen und -strategien zugrunde liegen.

Der vermutlich Mitte der 1970er Jahre entstandene, erst 2010 unter dem Titel La Sentence4 bei Gallimard veröffentlichte Text repräsentiert eine weitere wichtige und noch kaum interpretierte Textquelle. Dieser ursprünglich titellose Text wird in einer Gegenüberstellung des Originalmanuskripts als Faksimile und seiner transkribierten Fassung illustriert. Es handelt sich bei La Sentence um einen fragmentierten Text, der bereits einige Textpassagen inkludiert, die Genet später in Un captif amoureux integriert. Er ist daher sehr aufschlussreich für die schriftstellerische Methode und Herangehensweise sowie für die im dritten Teil der Arbeit analysierte literarische Rekontextualisierung von politischen Diskursobjekten.

Weitere zu Genets Lebzeiten unveröffentlichte Artikel bzw. Briefe oder Essays befinden sich als Faksimiles in dem anlässlich des 20-jährigen Todestages von Jean Genet publizierten Ausstellungskatalog.5 Es handelt sich hier teilweise um politische, teilweise um kunst- bzw. literaturkritische Reflexionen, die ebenfalls Eingang in die nachstehende Analyse finden werden.6

Die vom IMEC publizierte Dokumentensammlung zum G.I.P., dem von Foucault initiierten Groupe d’information sur les prisons, in dem sich auch Genet für eine kurze Zeitspanne engagierte, hält drei weitere kaum rezipierte, teilweise zu Lebzeiten des Autors nicht veröffentlichte Schriften bereit.7 Diese erweisen sich gerade für die intertextuelle Aufarbeitung der komplexen Relation zwischen Genet und Foucault als äußerst gewinnbringend.

Als Analysegrundlage fungiert ebenfalls eines der unveröffentlichten, im IMEC befindlichen Drehbücher mit dem Titel Le Langage de la muraille aus dem Jahre 1981. Dieses nicht publizierte Werk markiert einerseits Genets Distanzierung von einer literarisch-künstlerischen Werkproduktion in der Folge von Mai ’68, nimmt aber andererseits in Hinblick auf die Aufarbeitung des diskursiven Bezugssystems und der Positionierung im intellektuellen Feld eine Schlüsselstelle ein. Aufgrund der komplizierten Autorenrechte müssen Inhalte dieses Werks vor allem paraphrasiert werden.8

Bei der Auswertung des hier präsentierten Korpus muss zum einen die jeweilige Textgattung berücksichtigt werden. Zum anderen muss dem Anspruch Rechnung getragen werden, wonach auch die journalistischen Schriften Genets ein poetisches Potential besitzen. Diese stehen jedoch zugleich im Kontext bestimmter editorischer Zielsetzungen und erschließen einen spezifischen Leserkreis. So müssen beispielsweise die politischen Leitlinien der jeweiligen Zeitung, ihre Adressaten und der Entstehungskontext bei der Deutung bemessen werden. Die gesamten politisch intentionierten Publikationen lassen sich zudem als öffentliche Interventionen charakterisieren. Unabhängig von ihrer Funktion als Reportage, persönlicher Kommentar oder themenorientierter Essay liefern sie nicht einfach einen Beitrag zu bestimmten zeithistorischen Ereignissen oder Fragestellungen, sondern tragen vor allem zu ihrer diskursiven Konstruktion bzw. Dekonstruktion bei. Darunter thematisieren einige Artikel die spezifische Verknüpfung von Poesie und Politik und nehmen daher eine Schlüsselposition ein.

Neben den pragmatischen und journalistischen Interventionen finden auch die als literarisch zu klassifizierenden Texte Betrachtung. Grundsätzlich voneinander zu unterscheiden sind dabei Genets bewusst unveröffentlichtes Drehbuch und das kurz nach seinem Tod erschienene Werk Un captif amoureux. Während Le Langage de la muraille eine teilweise fiktionale, teilweise dokumentarische Bedeutung zukommt, ist das Genre seines letzten Werks hingegen nur schwer zu benennen. In seiner gattungsspezifischen Hybridität zwischen autobiographischem Roman über das Zusammenleben mit den Palästinensern, literarischer Reportage über die politischen Ereignisse und Ziele ausgewählter revolutionärer Gruppierungen, symbolischem Reisebericht in Form einer Odyssee durch das politische Zeitgeschehen und Liebesgedicht eines Barden der palästinensischen Revolution vermischen sich unterschiedliche Erzählhaltungen und -stile. Durch die retrospektive Erzählperspektive wird nicht nur auf Sujets und Fragestellungen einzelner journalistischer Texte rekurriert, sondern die politischen Stellungnahmen selbst werden zugleich implizit reflektiert. Diese metadiskursive Betrachtungsweise lässt sich als konstitutive Komponente dieses letzten Werks von Jean Genet beschreiben und greift ein Vorhaben auf, das der Autor hinsichtlich der Publikation ausgewählter politischer Schriften und Reden seiner letzten Lebensjahre 1984 bei Claude Gallimard vorbrachte und das in einem kurzen Vorwort in L’Ennemi déclaré erläutert wird:

Une fois rassemblés et redactylographiés la plupart de ces écrits ou de ces interventions orales, dont la publication s’était échelonnée sur une vingtaine d’années, son intention était d’opérer un choix et, en quelque sorte, de les refondre sans tenir compte de la chronologie, pour mettre en lumière les réflexions et convictions qui avaient orienté ses prises de position. Plutôt que le ralliement à une idéologie, référant à une morale politique, il évoquait plus volontiers le hasard et la curiosité. Jean Genet n’a jamais donné une forme définitive à ce projet. Mais d’y avoir songé l’a sans doute incité à chercher la composition originale d’une œuvre où viendraient s’inscrire, comme les pièces d’un puzzle, les notes prises durant ses voyages et ses longues périodes de solitude, inspirées de ses observations, de ses rencontres et de sa perception, lucide, d’un monde en mouvement; d’où son dernier ouvrage, Un captif amoureux […].9

Nicht nur die Idee einer strukturellen Vernetzung einzelner Textfragmente spielt jedoch eine entscheidende Rolle, sondern auch die rückblickende Betrachtung seiner politischen Interventionen. Der Faktor der zeitlichen Distanz repräsentiert dabei das Fundament eines autoreferentiellen und selbstkritischen Kommentars, anhand dessen der Wandel des revolutionären Diskurses fassbar wird.

1.3Forschungsstand

Grundsätzlich handelt es sich bei der Aufarbeitung des politischen Engagements von Jean Genet um einen verhältnismäßig jungen Untersuchungsgegenstand, der sich mit Erscheinen der beiden Werke Un captif amoureux1986 sowie L’Ennemi déclaré1991 entwickelt.

Neben einigen frühen Untersuchungen zu essentiellen – stilistischen und motivischen – Leitgedanken der politischen Schriften1 kristallisiert sich vor allem die Frage nach der Situierung dieses letzten Werks von Jean Genet innerhalb seines Gesamtwerks heraus. Dabei liegt der Schwerpunkt zunächst vornehmlich auf der Relektüre des bereits etablierten Roman- und Dramenwerks, ausgehend von den noch wenig erforschten politischen Werken. In diesem Sinne sind die Studien zum Motiv der Revolution in Genets Werk bzw. vor allem in seinen Dramen2 und zu seiner Strategie des Betrugs zu lesen, die Fredette vermittels der vergleichenden Lektüre von Un captif amoureux und Pompes funèbres beschreibt.3 Auch die in einer Spezialausgabe des Esprit créateur vereinten Beiträge zur Tagung „Jean Genet, littérature et politique“ verfolgen diese Zielsetzung und wählen daher eine zwischen den politischen Texten und ausgewählten Dramen und Romanen vergleichende Perspektive, wie der Herausgeber Patrice Bougon betont:

It seems today, that such posthumous texts will allow us to reread Genet’s complete work under a different light. If the majority of the contributions in this issue concern Un captif amoureux and L’Ennemi déclaré, other texts are also called upon where their political and ethical dimensions are seen as dominant.4

Auch die Sonderausgabe der Yale French Studies zum Thema Genet: In the language of the Enemy verfolgt einen ähnlichen Ansatz, wobei jedoch hier der Stellenwert der politischen Schriften in einzelnen Beiträgen stärker untermauert wird.5 Mehr noch gilt dies für den im selben Jahr erschienenen Sammelband Flowers and Revolution, der zudem einige Reden, Interviews und einen Brief von Genet an Allen Ginsberg beinhaltet,6 sowie für die Untersuchung von Pascale Gaitet mit dem Titel Queens and Revolutionaries7. Obwohl sich eine allmähliche Ausdifferenzierung der literaturwissenschaftlichen Untersuchung des Spätwerks nachzeichnen lässt, repräsentiert auch die Annäherung zwischen Spätwerk und Dramen einerseits bzw. Romanen andererseits in Hinsicht auf die Politik weiterhin einen wichtigen Forschungsschwerpunkt.8 Grundsätzlich lässt sich das gesamte Werk Jean Genets in verschiedener Hinsicht als politisch einstufen, wobei jedoch für die vorliegende Untersuchung insbesondere jene Studien von Bedeutung sind, die den Fokus auf Genets Spätwerk legen. Dies schließt natürlich nicht die Rezeption prägnanter Studien zu Teilaspekten aus, die sich eher dem Frühwerk widmen, jedoch auch einen Gültigkeitsanspruch für das zu untersuchende Korpus haben. Exemplarisch zu nennen wäre hier das Werk des Foucault-Spezialisten Didier Eribon, das wichtige Hinweise für die Inbezugsetzung Foucaults und Genets offenbart.9

Hinsichtlich der politischen Schriften im engeren Sinne sind die nachfolgenden Untersuchungen hervorzuheben. Eine eigentümliche Verquickung biographischer, historiographischer und literaturwissenschaftlicher Gesichtspunkte prägt Hadrian Laroches zunächst 1997 unter Leitung Jacques Derridas geschriebene und veröffentlichte Dissertation, die 2010 in der Reihe Champs Biographie in einer überarbeiteten Fassung neu aufgelegt wurde.10 Laroche beschreibt Jean Genets politisches Engagement chronologisch innerhalb des historischen Kontextes unter Bezugnahme auf die politischen Grundsätze der revolutionären Bewegungen der Black Panthers in den USA und der Palästinenser, welche Genet unterstützte. Allerdings handelt es sich nicht um eine Biographie, sondern vielmehr um eine leitmotivische Aufarbeitung bestimmter, für Genets Engagement paradigmatischer Charakteristika. Somit trägt Laroche der Singularität des Werks Rechnung, ohne seine historische Bedingtheit zu ignorieren. In Hinblick auf eine Situierung Jean Genets im politischen Zeitgeschehen ist Hadrian Laroches Werk im Vergleich zu anderen Studien mit einem analogen Konzept herausragend. Eine wesentlich kürzere, kaum berücksichtigte Untersuchung von Gourgouris Stathis verfolgt einen ähnlichen Ansatz, wobei die historische Situierung stärker auf geschichtstheoretischen Grundlagen basiert und dadurch einen Perspektivwechsel eröffnet.11 Eine überzeugende Untersuchung einzelner politischer Texte in Hinblick auf das Motiv des Reisens realisiert Jérôme Neutres, obgleich seine sich auf Genets Gesamtwerk stützende Studie eine prozessuale Entwicklung seiner nationalen Entfremdung zum Ausgangspunkt nimmt.12 Neutres bezieht sich darin auch auf die unveröffentlichten Drehbücher und leistet damit einen wichtigen Beitrag in Hinblick auf die Analyse dieser schwer zugänglichen Texte. Negative Kritik an Genets politischen Schriften übt Éric Marty. Seine umstrittene Abhandlung über Genets vermeintlichen Antisemitismus13 gibt Anlass zu einer weiteren umfassenderen Studie, in der Marty Genet die Unmöglichkeit einer positiven politischen Haltung attestiert, die nicht mit dem traditionellen Nihilismus der Intellektuellen zu verwechseln sei.14 Marty kritisiert Genets Versuch, Ethik und Verantwortung durch die Poesie zu substituieren und kontrastiert seine Haltung mit der Sartres und Camus’.

Malgorns Einschätzung, „[l’]année du centenaire apporte peu de révélations“15, muss in Anbetracht der Vielzahl erschienener Publikationen und Veranstaltungen sicher relativiert werden. Zur publikationsnahen Rezeption von Un captif amoureux ist 2010 unter Leitung von Agnès Fontvieille-Cordani und Dominique Carlat die sehr hilfreiche Zusammenstellung einer Art Pressespiegel entstanden, der eine wichtige Auswahl kritischer Kommentare des Werks bereithält,16 und beispielsweise eine rezente Studie zur kaum untersuchten gattungstheoretischen Einordnung dieses Werks angeregt hat.17 Anzuführen ist vor allem auch Balcázar Moreno, der mit einer Fokussierung der Trauerarbeit und der Erinnerungspolitik in Genets Gesamtwerk eine originelle Annäherung an das Politische und das Poetische gelingt.18 Ihr Forschungsansatz richtet sich sowohl gegen eine Entpolitisierung von Genets Werk zugunsten einer rein ästhetischen Deutung, als auch gegen eine zu starke Gewichtung des politischen Engagements und versucht die Kategorie des Politischen als eine spezifische Form von Gemeinschaft umzudeuten. Diese Umdeutung des Politischen in einem spezifisch Genet’schen Sinne stellt, unabhängig von der Thematik des Todes und der Erinnerung, einen gewinnbringenden Anstoß dar. Auch die Initiative der Reevaluierung der politischen Schriften unter Rekurs auf die ästhetischen Schriften konstituiert einen innovativen Ansatz. Der Gedanke einer Zusammenführung von Politik und Poesie beherrscht auch das unter Leitung von Albert Dichy und Véronique Lane organisierte Symposium von 2010 mit dem Titel „Jean Genet politique, une éthique de l’imposture“, welches die sich auch auf rhetorisch-literarischer Ebene abzeichnende Strategie des Verrats und Betrugs zum Schlüsselmoment eines näheren Verständnisses des politischen Engagements erhebt. Die Vorträge kennzeichnen sich vornehmlich durch Reflexionen zur Problematik von Ethik und Politik. Betont werden muss, dass die Verquickung von Politik und Poesie keine grundsätzlich neue Erkenntnis darstellt,19 aber den gegenwärtigen Forschungstenor bestimmt. Davon zeugt auch der unter der Herausgeberschaft von Ralph Heyndels erschienene Sammelband, welcher die Bereiche der Ästhetik und Politik unter dem Leitgedanken der Passion zusammenführt und eine Vielzahl interessanter Untersuchungen zur übergeordneten Thematik einer Politik des Verlangens bei Genet vereint.20

Die anlässlich des Jahrestages 2010 veranstaltete Tagung „Jean Genet und Deutschland“ legt einen Schwerpunkt auf die rezeptionsgeschichtliche Aufarbeitung von Genets Werk in Deutschland.21 Insbesondere die Beiträge zu Genets Artikel über die Rote Armee Fraktion sowie zu seinem Interview mit Hubert Fichte 1975 werden in der vorliegenden Untersuchung an entsprechender Stelle berücksichtigt werden. Dies gilt auch für weitere sehr nutzbringende Artikel zu einzelnen für die Analyse relevanten Fragestellungen.22 Daneben sollen hier noch einige kürzlich publizierte Werke näher Betrachtung finden. Zum intellektuellen Engagement in Frankreich vor dem Hintergrund der Revolutionen in Kuba, Vietnam und Palästina liefert Sylvain Dreyer einen wichtigen Beitrag, obgleich er sich in seiner Untersuchung zur literarischen und filmischen Aufarbeitung dieser Revolutionen auf ein umfangreiches Korpus, bestehend aus einer Vielzahl von Werken unterschiedlicher Autoren und Regisseure, stützt.23 Genet wird bei ihm im Kontext des palästinensischen Freiheitskampfes im Lichte von Un captif amoureux rezipiert, wohingegen die übrigen politischen Schriften von Jean Genet nicht zum Korpus zählen. Innerhalb seiner Untersuchung kommt Un captif amoureux insofern ein bedeutender Stellenwert zu, als Dreyer das Werk als Endpunkt einer Entwicklung des literarischen Engagements in Frankreich bewertet, die sich in einer allmählichen Abkehr von Sartres Modell als selbstkritische Form des Engagements herausbildet. Seine Unterscheidung zwischen den in der Tradition Sartres benannten „œuvres engagées“ und dieser neuen Form der „œuvres engagées critiques“ wird in dem sich anschließenden analytischen Teil diskutiert.24 Genannt werden muss auch die Arbeit von Tang mit dem vielversprechenden Titel May 68 and French Literary Production: A Periodization of Modern Revolutionary Writing in the Works of Conrad Detrez, Monique Wittig, and Jean Genet25. Tang betont die Bedeutung von Mai ’68 im Werk dieser drei Persönlichkeiten, konzentriert sich bei Genet aber ebenfalls vornehmlich auf Un captif amoureux, das allerdings aus einer rückblickenden und distanzierten Haltung verfasst wird. Da Tang damit argumentiert, dass die revolutionären Schriften aus dem Zeitgeist von Mai ’68 erwachsen, sich in Un captif amoureux aber vielmehr ein Umschwung nachzeichnet, ist Dreyers Ansatz dahingehend kohärenter und kann daher für die nachfolgende Analyse besser nutzbar gemacht werden.

Erwähnenswert für die Forschung über Genet ist auch der kürzlich von Marie-Claude Hubert herausgebrachte Dictionnaire Jean Genet26. Die vielseitigen und facettenreichen Einträge behandeln beispielsweise auch einzelne politische Texte, die bislang kaum aufgearbeitet wurden, und bieten daher innerhalb der Analyse einige wichtige Impulse. Eine umfassende historisch determinierte und diskursspezifische Kontextualisierung gerade der politischen Texte und Reden von Jean Genet liegt bislang nicht vor. Die Tatsache, dass gerade in den jüngsten wissenschaftlichen Veröffentlichungen, wie beispielsweise von Mairéad Hanrahan und von Alex Lussier,27 zu spezifischen journalistischen Texten Einzelanalysen vorgenommen werden, zeigt die Notwendigkeit und Relevanz einer näheren Betrachtung dieses heterogenen Textkorpus. Dabei ist auch das gegenwärtige Forschungsdesiderat einer Annäherung von Poesie und Politik in Genets Spätwerk von Bedeutung, da sich innerhalb dieses Spannungsbereichs Genets politischer Sonderweg konturieren lässt. Die diskursive Einordnung des Spätwerks ausgehend von einer Gegenüberstellung von Genet und Michel Foucault sowie Jean-Paul Sartre einerseits und der amerikanischen Autoren Allen Ginsberg sowie William S. Burroughs andererseits soll aufzeigen, dass Genets politische Texte innerhalb eines bestimmten Möglichkeitsfeldes bzw. diskursiven Bezugssystems zu situieren sind. Diese Inbezugsetzung ist bislang weitestgehend unerforscht. Genets Rückschau auf die eigene Positionierung bzw. die metadiskursive Betrachtung seines eigenen politischen Diskurses in Un captif amoureux erweisen sich zudem auch in gattungsspezifischer Hinsicht als Erkenntnis bringend.

2Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich

Wie die Historikerin Ingrid Gilcher-Holtey in ihrer Studie zur Wirkungschance von Intellektuellen in Ereignis- und Handlungskonstellationen der deutschen und französischen Geschichte vom 18. bis zum 20. Jahrhundert unter Bezugnahme auf Max Weber und Pierre Bourdieus Feldtheorie herausstellt,

problematisieren die Konstellationsanalysen die Rolle des Intellektuellen als Vordenker und Vermittler von Deutungs-, Wahrnehmungs- und Klassifikationsschemata der sozialen Welt. Sie rekonstruieren politische Interventionsschemata sowie Distinktions- und Definitionskämpfe um das Mandat des Intellektuellen.1

Nach Bourdieu besteht eine Interdependenz zwischen der Autonomisierung des literarischen bzw. kulturellen Feldes im 19. Jahrhundert und der Genese des Intellektuellen, nämlich in Form des den Anschluss an soziale und politische Gesellschaftsproblematiken suchenden Schriftstellers oder Künstlers.2