Jenny, Helene, Marianne - Volker Elis Pilgrim - E-Book

Jenny, Helene, Marianne E-Book

Volker Elis Pilgrim

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Beschreibung

1990 schrieb die ZEIT zu Adieu Marx von Volker Elis Pilgrim: "…was Pilgrim zusammengetragen und geordnet hat, kombiniert, gegenübergestellt und offengelegt, ist überraschend genug." In neuer Bearbeitung und unter dem Titel Jenny, Helene, Marianne erscheint nun bei Osburg zum 200. Geburtstag von Karl Marx dieses Buch, mit dem Pilgrim Neuland in der Marx-Forschung betrat. Dass Marx' Gedanken nicht einmal im Ansatz in einer Rettung der Menschen und ihrer Welt gemündet sind, hängt mit der Misere seiner "Hausscheiße" (Marx über sein Privatleben) zusammen. Seine drei nachweisbaren sexuellen Beziehungen zu Frauen verliefen reaktionär-destruktiv. Seine Ehefrau Jenny starb mit dem Satz: "Karl, meine Kräfte sind gebrochen!" Die biografischen Kräfte aller seiner Kinder waren zermürbt: Vier starben im Kleinkindalter, von den drei erwachsenen Töchtern brachten zwei sich um und die dritte starb jung als resignierte Ehefrau. Den nicht-ehelichen Sohn Frederick mit seiner Magd Helene Demuth hat Marx verleugnet und verstoßen. Seine dritte Frau und zweite Magd, Marianne Kreuz, zwang er zur Abtreibung seines nächsten außerehelichen Kindes. Sie starb mit 27 Jahren an den Folgen des misslungenen Eingriffs im vierten Monat ihrer Schwangerschaft. Der Tod von Marianne Kreuz wurde zu seinem Kreuz. Marx' Kreativität brach zusammen. Und: Wenn die Männlichkeit so mit der Weiblichkeit umgeht, wie Marx es historisch rekonstruierbar vorgeführt hat, wird die Natur kaputt gehen.

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VOLKER ELIS PILGRIM

JENNY, HELENE,MARIANNE

DIE DREI FRAUEN VON KARL MARX

Überarbeitete Neuausgabe des 1990 unter dem Titel Adieu Marx. Gewalt und Ausbeutung im Hause des Wortführers erschienenen Buches.

Erste Auflage 2018© Osburg Verlag Hamburg 2018www.osburgverlag.deAlle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragungdurch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.Lektorat: Wolf-Rüdiger OsburgUmschlaggestaltung: Judith Hilgenstöhler, HamburgSatz: Hans-Jürgen Paasch, OesteDruck und Bindung: CPI books GmbH, LeckPrinted in GermanyISBN 978-3-95510-156-5eISBN 978-3-95510-162-6

INHALT

Sexus und Krankheit im Hause des Wortführers

»Mein Verhältnis zu meiner Umgebung ist mein Bewußtsein«

Jennys Entkräftung

Ungleiche Verhältnisse

Karl – Parasit, Sadist

Helenes Schweigen

Dürftige Belege

Verschlüsselte Briefe

Verletzung der Weiblichkeit

Logik der Magd

Formen des Wissens

Mariannes Wahrheit

Vertuschung eines Fakts

Differenz der Chroniken

Hauskrankheiten

Sprengung des Rahmens

Sturz des Propheten

Die Schuldwunde

Der Kreativitätsbruch

Masochistischer Messianismus eines infantilen Revoluzzers

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

SEXUS UND KRANKHEIT IM HAUSE DES WORTFÜHRERS

Mein Marx-Buch, erstmals erschienen 1990 unter dem Titel Adieu Marx, wurde hymnisch rezensiert: Eine Seite in Die Zeit, eine halbe Seite in der Süddeutschen, die FAZ stand dem in nichts nach. Es folgten an die dreißig Blätter. Einen Verriss bescherte dem Verlag und mir nur die Frankfurter Rundschau.

Trotz der Presse-Akklamation in Ost und West hatte das Buch einen ungünstigen Start. 1990 war Marx mit einem Mal nicht mehr im Zentrum des gesellschaftlichen Interesses. Außerdem spiegelt der Titel der Erstveröffentlichung Adieu Marx das Gefühl eines historischen Moments, war aber zu aussageschwach für einen Buchtitel.

Die Arbeit an dem Stoff geriet für mich zum Spannendsten, das ich bis dahin unternommen hatte, da mir zwei Entdeckungen im Leben von Karl Marx gelangen:

Erstens. Ich fand Marx’ verschlüsseltes Eingeständnis der Vaterschaft seines illegitimen Sohnes, Frederick Demuth, den Marx’ erste Magd Helene Demuth in seinem Haus gebar – zugleich das genaue Geburtsdatum, das das auf der Geburtsurkunde angegebene Datum (fünf Wochen später) als falsch entlarvt. Hand in Hand mit dieser Entdeckung gelang mir die Bloßlegung der Umstände, unter denen es während Jenny Marx’ mehrtägiger Abwesenheit aus London zur Zeugung von Freddy gekommen war.

Zweitens. Es gab eine zweite Schwangerschaft im Hause des Wortführers: Über ein Jahrzehnt nach der Schwangerschaft Helenes wurde die zweite Magd, Marianne Creutz, Helene Demuths 15 Jahre jüngere Halbschwester, mit einem Kind von Marx schwanger. Diesmal lebte der Marx-Intimus Friedrich Engels nicht mehr in London, der 1851 die Vaterschaft von Frederick Demuth offiziell übernommen hatte, um Marx’ bürgerliche Ehrbarkeit zu »decken«. Nun musste abgetrieben werden. Ehefrau Jenny wurde auf eine einwöchige Reise nach Frankreich geschickt. Der Eingriff misslang. Marianne Creutz starb Ende Dezember 1862 mit 27 im Hause Marx.

Karl versuchte, den Tod Mariannes als Folge einer »Herzkrankheit« zu kaschieren, was ihm 130 Jahre hindurch gelang. Der Fall und Karls Verhältnis mit Marianne kommen in der gesamten internationalen Marx-Biografik nicht vor, auch nicht in der neuesten Publikation von Jürgen Neffe 2017.

Das zweite nebenehelich sexuelle Geschehen im Hause des Wortführers war von außerordentlichem Einfluss auf Marx’ weiteres Leben:

a) Er wurde etwa 20 Jahre lang von Furunkulosis und Karbunkulosis »heim«-gesucht.

b) Nicht nur seine Gesundheit, sondern auch seine Identität als Erlöser der Arbeiter und Bauern (Marianne war das nicht-eheliche Kind einer Bäuerin!) brach zusammen. Das Redigieren des fast fertigen ersten Buches seiner geplanten Trilogie Das Kapital zog sich über vier Jahre lang hin und gelang Marx nur unter äußersten Schwierigkeiten. Er konnte danach kein Buch mehr schreiben.

Marx konzentrierte seine ihm noch verbliebene Energie auf die Orthodoxierung seiner »Lehre« und auf die Bekämpfung von »Abweichlern«. Er verabschiedete sich von sich als Innovator und Künstler und wurde Real-Politiker, sodass die Machthaber seines von ihm angebahnten »wissenschaftlichen Kommunismus« auf ihrer Identifikations-Rinne mit dem Politiker Marx nur noch runter-zurutschen brauchten, um ihre Gewaltherrschaften zu errichten.

Meine Studie über Marx ist ein Vorläufer von Hitler 1 und Hitler 2, war unter meinen Schriften zum ersten Mal keine reine Emanzipations-Philosophie, Familien-Kritik, Patriarchats-Theorie oder Erfahrungs-Praxis. Und diejenigen Erfahrungen, die zu Forschung und Ergebnis geführt haben, wurden im Text weggelassen, in dem das Wort »ich« nicht vorkommt.

Es handelt sich um eine Marx-Privatlebens-Kriminalistik, angewandt gegenüber dem größten gesellschaftlichen Veränderungsspezialisten, der 100 Prozent Stimmiges zum Kapitalismus hinterlassen hat und auch dazu, wie diese Gesellschaft abzuschaffen wäre. Vor 30 Jahren, als das Buch konzipiert, Karls Privatleben recherchiert und Dokumenten-gesichert präsentiert wurde, hat mich die Frage nach dem Scheitern des sich von Marx ableitenden Kommunismus interessiert, das sich mit dem Mauerfall angebahnt hatte.

Antwort Eins: Zu viel Mann, zu wenig Frau, zu viel destruktiver Männerbund, zu wenig Geschlechter-Paritätik.

Antwort Zwei: Wenn das Persönlich-Private so miserabel läuft wie bei Marx, kann das Öffentlich-Politische niemals zum Besserwerden, zu einer Erneuerung der gesellschaftlichen Verhältnisse führen. Die bleiben dann nicht nur verheerend, sondern werden nach allen Revolutionen zum Zwecke gesellschaftlicher Veränderungen wieder destruktiv – derart bewirkt vom massenhaft unverändert gebliebenen reaktionären Charakter jedes Einzelnen, an irgendeiner Stelle Macht-habenden Mannes. Alle Revolutionen sind dafür ein Beispiel. Aus Unternehmer- und Monopol-Kapitalismus entstand in den Marxschen kommunistischen Systemen ein männerbündischer Staats kapitalismus, der mit der Umwelt noch weniger kooperierte, als es der Profit-Fabrikanten-Kapitalismus tut. Gemeinsam führten im 20. Jahrhundert beide Systeme zum angebahnten Untergang der Menschheit.

Dass Marx’ Gedanken nicht einmal im Ansatz in einer Rettung der Menschen und ihrer Welt gemündet sind, hängt mit der Misere seiner »Hausscheiße« (Karl über sein Privatleben) zusammen. Seine drei nachweisbaren sexuellen Beziehungen zu Frauen verliefen reaktionär-destruktiv. Seine Ehefrau Jenny kaputtgeritten, bis sie mit dem Satz starb: »Karl, meine Kräfte sind gebrochen!« Die biografischen Kräfte aller seiner Kinder zermürbt: Vier starben im Kleinkindalter. Von den drei erwachsenen Töchtern brachten sich die zweite und die dritte um und starb die erste in jungen Jahren als resignierte Haus- und Ehefrau nach der Absolvierung von sechs Geburten.

Den nicht-ehelichen Sohn Frederick mit seiner Magd Helene Demuth verleugnete und verstieß er, schob die Vaterschaft seinem Denkkumpan und Emotions-Adressaten Friedrich Engels unter und diktierte Freddys Mutter die Trennung von ihrem Kind.

Marx’ dritte Frau, seine zweite Magd, Marianne Creutz, zwang er zur Abtreibung seines nächsten außerehelichen Kindes und stieß damit seine größte eigene Tragödie an: Marianne starb mit 27 Jahren an den Folgen eines misslungenen Eingriffs im vierten Monat ihrer Schwangerschaft. Der Vorfall wurde von Karl so trickreich verheimlicht, dass er in der Marx-Forschung bis heute kein Thema ist.

Das Thema »Marianne« muss daher sein: Wenn die Männlichkeit so mit der Weiblichkeit umgeht, wie Marx es historisch rekonstruierbar vorgeführt hat, wird die Natur kaputtgehen. Karls extremste Aktion gegen eine seiner drei Frauen in seinem Londoner Haushalt schlug gegen seine eigene Weiblichkeit zurück. Der Tod von Marianne Creutz wurde zu seinem Kreuz. Marx’ Kreativität brach zusammen. Er konnte keine neue Schrift mehr beginnen, geschweige denn vollenden.

»DAS SEIN BESTIMMT DAS BEWUSSTSEIN.«1

Mein Bewusstsein von Marx’ Elend und demjenigen seiner drei Frauen ist mir in meinen Liebesbeziehungen mit Männern aufgegangen. »Von Haus aus« selbst ein Hetero, erklärte ich mit Anfang 30 dem »Patriarchat« auf besondere Weise den Krieg, weil ich selbst niemals in einen seiner unzähligen Kriege direkt oder indirekt ziehen wollte. Ich begab mich als trojanisches Pferd in naheste Verhältnisse zum herrschenden Geschlecht, das ich so, wie es sich gesellschaftlich und privat mir zeigte, nicht akzeptierte und desgleichen ich selbst von frühester Kindheit an nicht werden wollte. Da ich nicht verstand, woher das unmögliche Verhalten des bündischen Mannes kommt, wollte ich ihn von allen Seiten aus beobachten. Die intimste war auf die Dauer die enthüllendste. In Deutschland gibt es keinen Lehrstuhl für Männerforschung. Ich unterlief das System mit einem Lehrbett nach dem anderen, gemäß dem in Neuseeland gelernten Prinzip: »Wenn nicht so, dann anders!« In meinen homosexuellen Beziehungen gingen die Männer derart mit mir um, wie Karl mit Jenny es gezeigt hatte. Der Arbeitstitel meines Buches lautete: »Der Vampirmann. Wie ich zu Jenny Marx gemacht werden sollte«. Den »Vampirmann« brauchte ich dann aber für mein Buch über meine Entdeckung der vierten, der ätherleiblichen Schlafstörung. Den nächsten Titel Die Marx-Sisters in Verhöhnung der Marxisten benötigte ich für meine in Bielefeld uraufgeführte Oper, gemeinsam mit dem australischen Komponisten George Dreyfus, deren Inhalt Marxens kontroverse Nacht vor der Abtreibung seines Mariannen-Kindes ist.

Da mein Marx-Buch derart historisch-wissenschaftlich geriet, verbot sich der nun läppisch wirkende Vergleich zwischen einer horrend gequälten Hausfrau des 19. Jahrhunderts und mir als einem kessen Emanzipator der Jahrtausendwende, der aus jeder seiner Männer-Beziehung gestärkt ausgestiegen war. Von Mann zu Mann hatte ich mich dem Karl-Jenny-Zersetzungsvorgang biografisch verweigert und kam dadurch zu einer neuen Summe über das herrschende Geschlecht: Wenn Du, Mann, so weitermachst und mit Deinen Männerbünden in Kultur, Militär, Politik, Religion, Wirtschaft und Wissenschaft gegen Natur, die menschliche Sexualität und Deine eigene Weiblichkeit vorgehst, geht bald die menschliche Art zu Grunde. Da helfen Dir keine Pillen gesellschaftlicher Veränderung. Verändere Dich selbst!

»MEIN VERHÄLTNIS ZU MEINER UMGEBUNG IST MEIN BEWUSSTSEIN«

Die drei Liebesgefährtinnen des »Begründers des wissenschaftlichen Kommunismus«, seine sieben ehelichen Kinder, fünf seiner neun Enkel, sein engster Freund und Lebensgenosse und dessen zwei Partnerinnen starben eines qualvollen, gewaltsamen oder zu frühen Todes. Diese Menschen gehörten nicht nur zum familiären und persönlichen Umkreis des berühmtesten Mannes nach Jesus Christus, sie bildeten seinen unmittelbaren Lebenszusammenhang. Neunmaliges Kindersterben vor dem 10. Lebensjahr, fünfmal qualvolles Sterben an Krebs, zwei Selbstmorde, ein Herzschlag im Alter von 40 Jahren und der rätselhafte Tod einer jungen Frau im 27. Lebensjahr – achtzehn Todeskatastrophen um Karl Marx, der im Alter von 64 Jahren »ruhig und schmerzlos entschlummert«1.

Die Frage drängt sich auf: Wie hielt dieser Mann es mit dem »Kommunismus«, den er für die Menschheit erdachte, propagierte und erkämpfte? Was hatte er für ein Verhältnis zu seiner Umgebung? Denn – so bekannte er – »mein Verhältnis zu meiner Umgebung ist mein Bewusstsein«.

Dieser Satz aus der von Karl Marx und Friedrich Engels gemeinsam verfassten Streitschrift »Die deutsche Ideologie« wurde von den Autoren im Manuskript wieder gestrichen, von den Herausgebern der Marx-Engels-Werke als bedeutende Notiz vor dem Verschwinden gerettet und in einer Fußnote dem Text angefügt.2 Die bekenntnishafte Sentenz befindet sich drei Seiten nach dem Marxschen Kernsatz: »Nicht das Bewusstsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewusstsein.«3 – Eine materialistische Betrachtung, die Marx und Engels mit englischer Krämerweisheit zu präzisieren wissen: »Während im gewöhnlichen Leben jeder Shopkeeper sehr wohl zwischen Dem zu unterscheiden weiß, was Jemand zu sein vorgibt, und dem, was er wirklich ist, so ist unsre Geschichtschreibung noch nicht zu dieser trivialen Erkenntnis gekommen. Sie glaubt jeder Epoche aufs Wort, was sie von sich selbst sagt und sich einbildet.«4

In der gegenwärtigen Sozialismusdebatte, die für Millionen Menschen praktische Auswirkungen haben wird, kommt ein immer deutlicheres Misstrauen gegenüber den Führergestalten und Leitfiguren auf, gegenüber dem, was sie sagen und schreiben.

Der Zusammenbruch der Menschen innerhalb des Marxschen Beziehungsgeflechts, die Entkräftung der Kinder, das lebenslange Selbstopfer der Erwachsenen, die sich auf ihn als Person und als Denker vollständig einließen, steht in einem Widerspruch zum Miteinander, dem Ur-Sinn von »Kommunismus«.

Beim Bonzensturz 1989 ist offensichtlich geworden: Alle abgesetzten Führer ähneln einander. Die Vermutung liegt nahe, dass es nicht nur Ähnlichkeiten zwischen den Führenden untereinander gibt, sondern auch zwischen dem Urvater und den sich auf ihn berufenden Adepten.

Karl Marx betrachtete sich als »Haupt« – konkret der Internationalen Arbeiterassoziation.5 Aus den Zeugnissen seiner Selbsteinschätzung wird deutlich, dass er sich als geistigen Führer der »kommunistischen« Bewegung verstand, als Zentralstelle und Ursprung, als einen Mann, dessen Gedanken verwirklicht und dessen Anweisungen befolgt werden sollten.

Er sah sich nicht nur so, er baute auch an dieser Position, die er nach seinem Tode ein Jahrhundert lang unangefochten einnahm und noch heute innehat. Er ist Bezugspunkt aller kommunistischen Parteien, war Kreator eines Weltglaubens, ein Moses, wurde zeitweilig sogar wahrgenommen als eine Art Gottvater.

Es wäre allen entthronten »Nachfolgern« gegenüber unfair, den Urvorsitzenden weiter unbescholten wie bisher sitzen zu lassen. Schon beim ersten Blick auf die Extreme – Spitzenposition und Umfelddesaster – entsteht der Verdacht: der »General(rat)sekretär« hatte ein ausgeprägt zentralistisches und ein unterentwickelt kooperatives Verhältnis zu seiner Umgebung.

Am Beispiel seines Verhaltens gegenüber seinen drei Frauen soll Karl Marx’ Verhältnis zu seiner Umgebung untersucht werden.

JENNYSENTKRÄFTUNG

UNGLEICHE VERHÄLTNISSE

Karl Marx stellt eine der »gewaltigsten« Männlichkeiten dar, mit der sich fast die gesamte Männergesellschaft beschäftigt hat, gleichgültig ob sie nach seinen Doktrinen zu leben versuchte, wie die eine Hälfte der Welt, oder ob sie ihm voluminöse kritische Bücher widmete, wie die andere Hälfte.

Jenny von Westphalen ist eine der gequältesten Weiblichkeiten, im Vergleich zu Karl Marx nahezu unbekannt geblieben. Hunderte von Büchern sind über sein Werk erschienen, Dutzende über sein Leben – über Jenny bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts hingegen kein einziges!1 Dabei wäre Karl ohne sie nicht denkbar. Sie war nicht nur fast vierzig Jahre lang seine Partnerin, sondern bereits von Jugend auf mit ihm verbunden. Er machte an ihrer Seite Phasen seiner Entwicklung durch, verlobte sich mit ihr, als er achtzehn war, heiratete sie in seinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr, starb fünfzehn Monate nach ihrem Tod. Sie war sein »Sekretär«2, half ihm bei den Korrespondenzen. Sie schrieb seine Werke ab, übersetzte seine kaum lesbare Handschrift für den Drucker. Mit Ausnahme der russischen Biografie von Vinogradskaja gab gab es über sie jahrzehntelang nur die in der DDR verbreitete Gartenlaubengeschichte ihres Lebens, verfasst von Luise Dornemann, seit den fünfziger Jahren veröffentlicht in mehr als zehn Auflagen. Erst Mitte der siebziger Jahre brachte Graf Schwerin von Krosigk, Enkel von Jennys Halbschwester Lisette, eine Biografie mit neuen Familieninformationen heraus. Mitte der achtziger Jahre folgte eine weitere von Heinz Frederick Peters.

Gegenstand feministischer Arbeiten konnte Jenny nicht werden, weil sie zu wenig Eigenständigkeit erkennen ließ, zu nah »an der Seite ihres Mannes« lebte, von frauenrechtlerischen Gedanken weit entfernt war.

Erst 1989 erschien ein Buch mit ihren Erinnerungen und einigen ihrer Briefe (Schack). Jenny führte einen umfangreichen Briefwechsel, der immer noch nicht in einer eigenen Ausgabe gesammelt vorliegt.

Ein Teil von Jennys Briefen wurde als »Beilage« in Bänden der voluminösen Ausgabe der Marx-Engels-Werke (MEW) veröffentlicht. Diese Zeugnisse halten sich jedoch fast ausschließlich im Tenor ihrer Sekretärsschreiben »Mein Mann hat gesagt«.

Die in der umfassenden Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) chronologisch mitveröffentlichten Briefe Jennys sind nur mühevoll zusammenzusuchen.

Desinteresse und Unachtsamkeit im Umgang mit Jenny allenthalben: jahrzehntelang liefen drei Bilder einer anderen Frau, die für Jenny gehalten wurde, um die Welt. Noch heute spuken diese Fotos, die nicht Jenny darstellen, durch die Veröffentlichungen. Es ist Gertrud Oppenheim, die Frau des Arztes und Marx-Freundes Ludwig Kugelmann.

Der russische Forscher Boris Rudjak entdeckte 1988 die Verwechslung. Die Familien Marx und Kugelmann waren miteinander befreundet. Karl sah die Kugelmanns zum ersten Mal im April 1867 in ihrem Hannoveraner Haus, traf sie später des Öfteren, besuchte sie und verbrachte mit ihnen 1874 einen Kuraufenthalt in Karlsbad, scherzte mit Gertrud und ließ sie als »Frau Gräfin« in seinen Briefen an Ludwig Kugelmann grüßen. Fotografien wurden ausgetauscht.

Der Urenkel Jennys, Frederic Longuet, schenkte 1863 dem Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU ein Album seiner Großmutter, Jenny Longuet, das über 100 Fotos von Familienangehörigen und Freunden enthält. Longuet bezeichnete irrtümlicherweise drei Fotos von Gertrud Kugelmann als Porträts seiner Urgroßmutter Jenny von Westphalen Marx.

Nachdem das Versehen aufgedeckt wurde, bleibt unverständlich, wie es entstehen konnte, denn die echte Jenny hatte ein schmaleres Gesicht als die vermeintliche. Auch Nasenform, Mund, Augenstellung und Haaransatz unterscheiden Jenny und Gertrud deutlich voneinander.

Vergleichbares Umgehen mit Karl – undenkbar: Jemand kommt mit einigen Fotos und sagt: »Das ist Karl!« Die Beschenkten freuen sich, verteilen die neuen Bilder und schreiben: »Das ist Karl!« Nach 20 Jahren stellt sich heraus, es war doch nicht Karl, sondern Ferdinand Lassalle. Ehe es zu solch einem Eklat gekommen wäre, hätten hochkarätige Sachverständige die Objekte um- und umwälzen und auf den neuen Fotos die Identität des Abgebildeten mit Karl als sicher bestätigen müssen. Boris Rudjak hat die genaue Analyse nun durchgeführt, die Rückseiten der Fotos untersucht, die dort angegebenen Ortsbezeichnungen und Jahreszahlen mit den biografischen Daten Jennys verglichen und Ungereimtheiten von der Spanne eines Jahrzehnts festgestellt. Darüber hinaus entzifferte er Namen von hannoveranischen Fotoateliers, die Jenny zu der Zeit der Aufnahme nicht hätten ablichten können, weil sie nachweislich in London war.

Jenny führte mit Karl eine schiefe Ehe, wie sie im Männerland üblich und beispielhaft ist.

Bevor Aspekte von Karls Verhältnis zu Jenny näher betrachtet werden können, muss die grobe Struktur ihrer beider Biografie dastehen.

Karls Werk kennen (in trivialisierter Form) alle, Karls Leben in großen Zügen viele, Jenny kennt kaum jemand. Um diesem Ungleichgewicht etwas entgegenzusetzen, wird gezeigt, wie die Geschichte des Paares vom ausgebeuteten Teil, von Jennys Seite her, ablief.

Jenny wird am 12. Februar 1814 in Salzwedel geboren. Sie ist das erste Kind der Caroline Heubel, verheiratet seit dem 30. April 1812 mit dem Witwer und Vater von vier Kindern aus seiner ersten Ehe, Ludwig von Westphalen.

Die Familie zieht 1816 nach Trier, weil Ludwig in der westlichsten Provinz Preußens ein Regierungsamt übernehmen soll.

1817 bekommt Caroline ihr zweites Kind, die Tochter Laura, die 1821 stirbt. 1819 wird der Sohn Edgar geboren (gestorben 1890).

Ludwig von Westphalen und Heinrich Marx – Rechtsanwalt und »Königlich preußischer Justizrat«, der Vater von Karl – sind miteinander befreundet. In Jennys Jungmädchenjahren unternimmt sie mit Karl und ihrem Vater Spaziergänge, die für Karl zu seinen schönsten Erlebnissen gehören, weil er in Ludwig einen geistigen Förderer und Anreger seiner dichterischen und politischen Neigungen findet. Jennys Bruder Edgar und Karl sind Freunde und besuchen bis zum Abitur dieselbe Klasse des Gymnasiums.

Schon früh erblüht Jenny zu einer männerumschwärmten Schönheit. Das bekannteste Bild von ihr – das erste, das erhalten geblieben ist – zeigt sie auf einem Gemälde als Ballkönigin. Nach einem der vielen durchtanzten Feste verlobt sie sich 1831 siebzehnjährig mit dem Leutnant Karl von Pannwitz. Die Verlobung wird nach kaum einem halben Jahr aufgelöst.

1836 verlobt Jenny sich heimlich mit ihrem Jugendfreund Karl, dem Sohn des von ihr geliebten und verehrten Vaterfreundes Heinrich Marx. Sie ist zweiundzwanzig, der Bräutigam achtzehn – Student der Rechtswissenschaft. Von der Verlobung wissen zunächst nur Karls Vater und seine Schwester Sophie. 1837 wird die Verlobung öffentlich bekannt gemacht. 1838 stirbt Heinrich Marx, 1842 Ludwig von Westphalen.

Nach dem Tod ihres Mannes zieht Caroline von Westphalen mit ihren Kindern Jenny und Edgar für eine kurze Zeit nach Bad Kreuznach. Im Beisein der Mutter heiraten dort Jenny und Karl am 19. Juni 1843, nachdem Karl sein Studium in Berlin mit einer philosophischen Doktorarbeit abgeschlossen und ein halbes Jahr die Redaktion der Rheinischen Zeitung in Köln geleitet hat. Im März 1843 hatte Karl versucht, die Rheinische Zeitung vor dem Verbot durch die preußische Regierung zu bewahren, indem er seinen Posten als Chefredakteur aufgab. Vergebens.

Im Oktober 1843 übersiedeln Jenny und Karl nach Paris, weil Karl gemeinsam mit Arnold Ruge die Zeitschrift Deutsch-Französische Jahrbücher herausgeben will, von der im Februar 1844 nur eine einzige Nummer erscheint.

Am 1. Mai 1844 bringt Jenny in Paris ihr erstes Kind, ihre Tochter Jenny, zur Welt.

Mit dem »todkranken Kinde«3 reist Jenny im Juni 1844 zu ihrer Mutter Caroline, die wieder nach Trier gezogen ist, und kehrt im September mit der gesunden Tochter und der Amme Gretchen nach Paris zurück.

Im Januar 1845 werden Karl und Jenny aus Paris ausgewiesen. Die preußische Regierung hatte beim französischen Außen- und Innenminister, François Guizot, einen Ausweisungsbefehl gegen Karl erwirkt. Karl war ein (sporadischer) Mitarbeiter der Exilzeitschrift Vorwärts, die ein Attentat auf den preußischen König begrüßt hatte. Grund genug für die preußische Regierung, gegen Mitglieder der Zeitschrift vorzugehen.

Am 3. Februar 1845 verlässt Karl Paris und geht nach Brüssel.

Um die Reise bezahlen zu können, muss Jenny ihre Möbel und einen Teil ihrer Wäsche verschleudern. Sie folgt Karl mit der Tochter Jenny Anfang Februar 1845 nach Brüssel.

Im April 1845 schickt Caroline ihr Hausmädchen, Helene Demuth, nach Brüssel. Von diesem Zeitpunkt an bis zum Tode von Jenny und Karl lebt Helene mit ihnen zusammen.

Jenny reist im Juni 1845 mit Helene und ihrem einjährigen Baby in ihre Heimatstadt Trier zu ihrer Mutter, kehrt Mitte September nach Brüssel zurück, um am 26. September 1845 ihre zweite Tochter Laura zur Welt zu bringen, die den Namen ihrer im Alter von vier Jahren gestorbenen Schwester Laura erhält.

Caroline erkrankt im Februar 1846. Jenny fährt zu ihrer Mutter nach Trier und pflegt sie gesund, bleibt bei ihr bis etwa April 1846, während Helene den Haushalt in Brüssel versorgt.

Am 3. Februar 18474 bringt Jenny in Brüssel ihr drittes Kind, ihren ersten Sohn, zur Welt, dem sie den Namen ihres Bruders Edgar gibt.

Am 2. März 1848 erlässt der belgische König den Befehl, dass Marx Brüssel und das Land binnen 24 Stunden zu verlassen habe. Ihm werden Verbindungen zu Aufständischen in Deutschland und zur französischen Februarrevolution vorgeworfen. In der Nacht vom 3. zum 4. März 1848 dringt Polizei in die Wohnung der Marxens ein und verhaftet Karl. Jenny ersucht Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens um Hilfe, wird von einer Wache ergriffen, eine Nacht ins Gefängnis geworfen, am nächsten Tage einem zweistündigen Verhör unterzogen und danach ebenfalls ausgewiesen.

Wieder verkauft sie den größten Teil ihrer Habe und folgt Karl. Die nächste Station ist Paris, wo die Marxens seit der Februarrevolution offiziell wohnen dürfen, dann ziehen sie mit Helene und ihren Kindern nach Köln. Im Frühjahr 1848 haben Aufstände in Deutschland für Marx günstige Bedingungen geschaffen. Er übernimmt in Köln die Position des Chefredakteurs der Neuen Rheinischen Zeitung. Die erste Ausgabe erscheint am 31. Mai/1. Juni 1848. Im September desselben Jahres wird die Neue Rheinische Zeitung verboten, im Oktober von Marx doch wieder herausgebracht. Er ist eine Weile Vorsitzender des Kölner Arbeitervereins.

Im Frühjahr 1849 gewinnt er den Prozess, der von den Behörden gegen die Neue Rheinische Zeitung angestrengt wurde. »Aufreizung zur Rebellion« lautete der Vorwurf. Marx muss jedoch das Blatt im Mai 1849 einstellen. Er hatte für den Anlauf der Zeitung Schulden machen müssen, die er ohne Einnahmen nicht tilgen kann. Jenny verkauft abermals ihre Möbel, diesmal um die gerichtliche Pfändung aller ihrer Habe und der Bibliothek Karls abzuwenden.

Marx wird im Mai 1849 als Staatenloser aus Deutschland ausgewiesen. Jenny wohnt mit ihren Kindern und Helene vorübergehend in Trier bei ihrer Mutter, hält sich zwischenzeitlich bei Freunden in Bingen und Frankfurt am Main auf. Dort versetzt sie ihre Silbersachen im Pfandhaus, um sich, Helene und ihre drei Kinder ernähren zu können. Karl geht im Juni 1849 von Köln nach Paris. Jenny folgt ihm mit Helene und den Kindern im Juli. Die Familie lebt von einer Spende über 400 Franc. Ferdinand Lassalle hatte unter rheinischen Freunden eine Sammlung veranstaltet.

Im August 1849 wird Marx von der französischen Regierung in die Bretagne verbannt. Daraufhin emigriert er nach London. Im September 1849 folgen ihm Jenny, Helene und die drei Kinder Jenny, Laura und Edgar.

Am 5. November 1849 bringt Jenny in London ihr viertes Kind, den Sohn Heinrich Guido, zur Welt.

Im März 1850 werden Karl und Jenny aus ihrer Wohnung geworfen, weil sie die Miete nicht bezahlen können, ihr gesamter Haushalt wird gepfändet. Sie kommen in der billigen Pension »Deutsches Hotel« unter. Jennys Mutter schickt etwas Geld. Die junge Familie findet Zuflucht in zwei Zimmern, die ein Bekannter ihnen zur Verfügung stellt.

Im August 1850 reist Jenny nach Holland zu Lion Philips, einem reichen Onkel von Karl, und bittet ihn um Hilfe. Der Onkel verweigert jede finanzielle Unterstützung. Jenny kehrt mit leeren Händen nach London zurück.

Der einjährige Sohn, Heinrich Guido, stirbt im November 1850. Er ist das erste der vier Kinder, die in den nächsten sieben Jahren sterben werden.

Im Dezember 1850 ziehen die Marxens mit Helene und den übrig gebliebenen Kindern Jenny, Laura und Edgar in eine möblierte Zwei-Zimmer-Wohnung ohne Klosett, Bad und fließendes Wasser, in der sie bis Ende 1856 bleiben.

Jenny bringt am 28. März 1851 ihr fünftes Kind zur Welt, eine Tochter, der sie den Namen ihrer Halbschwester Franziska gibt.

Im »Frühsommer des Jahres 1851« wird Jennys Stiefsohn, Frederick Demuth, geboren, die Mutter ist Helene. Sie bleibt im Haushalt der Marxens. Ihr und Karls Sohn muss jedoch bei Pflegeeltern aufwachsen.

Helene weigert sich, über den Vater ihres Kindes zu sprechen. Als ihre Schwangerschaft offensichtlich wird, reist Karl Mitte bis Ende April 1851 nach Manchester zu seinem Freund Friedrich Engels, um ihn zu bitten, die Vaterschaft zu übernehmen. Friedrich willigt ein. Sein angeblicher Sohn bekommt ihm zu Ehren den Namen »Frederick«.

Ob Jenny jemals – und wenn ja, wann – von Karls Vaterschaft etwas erfuhr, kann nicht mit Sicherheit rekonstruiert werden. In ihren »Kurzen Umrissen eines bewegten Lebens«, geschrieben 1865, macht sie eine Andeutung, die sich auf Fredericks Geburt beziehen kann: »In den Frühsommer des Jahres 1851 fällt noch ein Ereignis, welches ich nicht näher berühren will, daß aber sehr zur Vermehrung unsrer äußren und innren Sorgen beitrug.«5

Im April 1852 stirbt Jennys Tochter Franziska. Sie war erst zwölf Monate alt. Jenny und Karl durchleben während der folgenden zwei Jahre in ihrer Londoner »Asylanten«-Wohnung die Zeit ihrer größten Not.

Im Juli und August 1854 reist Jenny zu ihrer Mutter nach Trier.

Am 16. Januar 1855 bringt Jenny in London ihr sechstes Kind zur Welt, ihre Tochter Eleanor.

Ihr achtjähriger Sohn Edgar stirbt am 6. April 1855.

Ende 1855 macht Jenny zwei Erbschaften – vom Bruder und von einer englischen Verwandten ihres Vaters.

Im Mai 1856 reist Jenny mit ihren Töchtern Jenny, Laura und Eleanor nach Trier zu ihrer Mutter, um deren Geburtstag im Juni mit ihr zu feiern. Nach kurzer Krankheit stirbt Caroline im Beisein der Tochter am 23. Juli 1856.

Eine weitere Erbschaft, die Jenny von ihrer Mutter zufällt, ermöglicht es der Familie Marx im Oktober 1856, ein Haus am nördlichen Stadtrand von London zu beziehen.

Jenny erkrankt Ende 1856 an einem Nervenleiden und muss monatelang das Bett hüten. Sie ist wieder schwanger.

Im Frühjahr 1857 wird Marianne Creutz, die zweiundzwanzigjährige Halbschwester von Helene – das letzte Dienstmädchen von Jennys Mutter –, in den Marxschen Haushalt aufgenommen. Sie lebt bis zu ihrem plötzlichen Tod Ende 1862 fünf Jahre lang mit der Familie zusammen.

Am 6. Juli 1857 bringt die dreiundvierzigjährige Jenny ihr siebtes und letztes Kind zur Welt, das nach zwei Tagen stirbt. Sie ist gebrochen, bleibt weiter krank.

Jenny kommt nicht wieder zu sich. Wochenlang ist sie bettlägerig, ist »außerordentlich verstimmt, was ich ihr au fond de coeur, under present auspices nicht verdenke, obgleich es mich ennuyiert«6, schreibt Karl am 16. Juli 1857 an Friedrich.

Die »gegenwärtigen Umstände« (»present auspices«) können nur Probleme im Innenverhältnis der Eheleute Marx sein, denn die äußeren Umstände sind seit ihrem vierzehnjährigen Zusammenleben erstmals zufriedenstellend. Karl und Jenny hätten dank der drei Erbschaften genug Geld zum Leben gehabt. Sie bewohnen mit ihren Töchtern ein großzügiges Haus in bester Lage, werden versorgt von zwei Hausangestellten.

Jenny kränkelt in den folgenden Jahren immer häufiger, leidet an Depressionen, bleibt wochenlang im Bett.

Im November 1860 – Jenny hatte gerade Korrekturen zum Manuskript »Herr Vogt« abgeschrieben und dem Drucker geschickt – erkrankt sie an den schwarzen Pocken. Sie fiebert, liegt im Todeskampf, kommt wieder zu sich, wird gesund, ist aber für ihr weiteres Leben durch Narben entstellt.

Im Jahre 1861 reist Karl nach Berlin, um seine Rückkehr nach Deutschland vorzubereiten. Er erhält jedoch keine Aufenthaltserlaubnis auf Dauer. Die Familie bleibt in London.

Jenny reist im Dezember 1862 nach Paris zu einem Freund, den sie um Geld bitten möchte. Kurz vor ihrer Ankunft hat ihn der Schlag getroffen. Jenny kehrt zurück nach London. Einige Stunden vor ihrem Eintreffen stirbt ihr Hausmädchen Marianne.

Bei Karl brechen im November 1863 zum ersten Mal gefährliche eitrige Geschwüre aus, die operiert werden müssen, »und von da schwebte er noch längere Zeit in Lebensgefahr«7.

Ende November 1863 stirbt in Trier Karls Mutter Henriette. Er reist im Dezember nach Deutschland und regelt die Erbschaftsangelegenheiten.

Der neuerlich ererbte Wohlstand macht es möglich: Karl, Jenny, Helene und die Töchter residieren seit März 1864 in einem herrschaftlichen Haus.

Im Mai 1864 stirbt Karls Freund Wilhelm Wolff, der ihm und Jenny ein großes Vermögen hinterlässt.

Friedrich hat Erfolg mit seiner Firma in Manchester und finanziert das Leben der Familie Marx nun regelmäßig mit größeren Geldbeträgen.

Im Frühjahr 1865 trifft Jennys Bruder Edgar aus den USA in London ein. Er ist abgerissen und heruntergekommen und bleibt bei Schwester und Schwager, bis er sich gekräftigt hat und Anfang November nach Berlin weiterzieht. Dort wird er von seinem Halbbruder Ferdinand unterstützt und endet nach dessen Tod als Sozialfall.

1867 erscheint das Hauptwerk von Karl Marx, »Das Kapital«, Band 1.

In den siebziger Jahren festigt Marx seine Position als »Begründer des wissenschaftlichen Kommunismus«, als einer »der größten Denker der Neuzeit«8.

Im April 1868 heiratet die Marx-Tochter Laura den französischen Arzt und Sozialisten Paul Lafargue.

Ab November 1868 finanziert Friedrich den gesamten Haushalt der Marxens. Er zahlt 35 Pfund monatlich, darüber hinaus kommt er für alle ihre Schulden auf.

Im September 1872 reist Jenny zusammen mit Karl und Eleanor nach Den Haag zum 5. Kongress der Ersten Internationale.

Die älteste Tochter Jenny heiratet im Oktober 1872 den französischen Publizisten und Kommunarden Charles Longuet. Im selben Jahr verlobt sich Eleanor gegen den Willen des Vaters mit dem französisch-baskischen Kommunisten und Revolutionskämpfer Prosper Olivier Lissagaray.

In den Jahren 1874 bis 1876 fährt Karl nach Karlsbad zur Kur, wird 1874 und 76 von seiner jüngsten Tochter Eleanor begleitet, die zu Magersucht neigt und an Depressionen leidet.

1877 nehmen Vater und Tochter die Mutter mit zur Kur, diesmal nach Bad Neuenahr. Jenny ist zum ersten Mal seit 21 Jahren wieder in Deutschland. Nach dem Tod ihrer Mutter hatte sie ihr Heimatland nicht mehr gesehen.

Jenny vereinsamt zusehends. Ihre Töchter fühlen sich mehr dem Vater verbunden, der von Spannungen zwischen ihnen und Jenny schon 1868 berichtet.

Ab 1875 eskalieren Jennys Schwächen und Leiden zu einer ernsten Krankheit. Die Verdauungsstörungen, die Karl von dieser Zeit an erwähnt, präzisieren sich als Leberkrebs.

1880 verlässt die Tochter Jenny mit Mann und drei Söhnen England und zieht nach Argenteuil bei Paris. Vorausgegangen war eine Amnestie für die Kommunekämpfer, zu denen Charles Longuet gehört hat.

Jenny reist im Sommer 1881 mit Karl und Helene nach Frankreich, um ihre Tochter Jenny und ihre Enkelkinder noch einmal zu sehen, kehrt zurück nach London und stirbt dort am 2. Dezember 1881. Ihre letzten Worte: »Karl, meine Kräfte sind gebrochen!«9

Karl irrt umher, reist, geschwächt von Krankheiten, nach Nordafrika, Frankreich und in die Schweiz, zeitweilig begleitet von seinen Töchtern Laura und Eleanor.

Anfang Januar 1883 stirbt Tochter Jenny in Frankreich an Blasenkrebs.

Von diesem Schlag erholt Karl sich nicht mehr. Er verliert den Lebensmut, erleidet am 14. März 1883 einen Kreislaufkollaps und entschläft friedlich am Nachmittag desselben Tages.

Karl schreibt am 13. August 1866 an Paul Lafargue: »Wenn ich mein Leben noch einmal beginnen müsste, … würde ich nicht heiraten. Soweit es in meiner Macht steht, will ich meine Tochter vor den Klippen bewahren, an denen das Leben ihrer Mutter zerschellt ist.«10

Ein in jeder Hinsicht ungewöhnlicher Satz für einen Mann, der in der sozialistischen Ikonographie eine Bilderbuchehe führte und noch weitere fünfzehn Jahre führen wird.

Jahrzehntelang protokolliert Karl akribisch den Niedergang seiner Ehefrau, ihren Kräfteschwund, ihr Zerbrechen.

Seit Karl und Friedrich Ende 1850 ihre oft tägliche Korrespondenz aufnehmen, berichtet Karl dem Freund auch über Jennys Leiden. Im Unterschied zu Karls Schilderungen seiner körperlichen Bedingungen, die im Teil »Mariannes Wahrheit« eine Rolle spielen werden, bleiben die Notate zu Jennys Wohl und Weh konturlos. Pflichtschuldig leiert Karl die Ereignisse herunter, zeigt sich missmutig, verärgert, gelangweilt: Schon wieder …! Immer noch …! Nicht zum Aushalten!

In diesem Klageritual finden sich nur zwei medizinische Anhaltspunkte: Verdauungsstörungen und Husten.

Was hat Jenny wirklich? Sie ist »leidend«, »schwach«, »krank«, »körperlich herunter«, »bettlägerig«, »unwohl«, »nervös zerrüttet«, »nutzlos irritabel«, »sehr herunter«. Ihr »Nervensystem« ist »angegriffen«, ihr »Zustand« »gefährlich«, sie »magert ab«, »liegt im Bett«, hat »Zustände«. Oft benutzt Karl die Steigerungsform: Jenny sei »noch leidender« und »schwächer« als zuvor.

Auch wenn Jenny ein Kind erwartet, ist sie nicht etwa guter Hoffnung, sondern »geht«, wie Karl lamentiert, »der Katastrophe entgegen«. Im Unpräzisen schafft es Karl, präzise zu sein. Jenny ist nur schwach und wird immer schwächer. Wochen-, monate- ja manchmal jahrelang keine Auffälligkeit und dann plötzlich wochen- und monatelang anhaltend die ominösen Entkräftungssignale.

Die Zeugnisse vor November 1850 erwähnen pauschal: Frau und Kinder krank. Das passiert mitunter, kommt überall vor. Nichts Besonderes:

9. Dezember 1847: »Nicht nur, dass meine Frau samt den Kindern krank ist.«11

17. August 1849: »… wenn nicht meine ganze hier anwesende Familie krank und ich so behindert gewesen wäre.«12

17. Juli 1850: »Eine Krankheit meiner Frau machte meine Abreise immer un[möglich].«13

Zu Beginn der Chronik Ende 1850 wird es anders. Die Litanei offenbart etwas Grundsätzliches, das nicht spezifizierbar ist:

23. November 1850: »Sie befindet sich in einer wirklich gefährlichen Aufgeregtheit und Angegriffenheit. Sie hatte das Kind selbst gestillt und unter den schwierigsten Verhältnissen mit den größten Opfern sich seine Existenz erkauft.«14

31. März 1851: »Gleichzeitig ist meine Frau niedergekommen am 28. März. Die Entbindung war leicht, dagegen liegt sie jetzt sehr krank da, mehr aus bürgerlichen als physischen Gründen.«15

2. April 1851: »Meine Frau … ist sehr angegriffen.«16

31. Juli 1851: »Ich wäre längst auf der Bibliothek fertig. Aber die Unterbrechungen und Störungen sind zu groß, und zu Haus, wo alles immer im Belagerungszustand sitzt und Tränenbäche mich ganze Nächte durch ennuyieren und wütend machen, kann ich natürlich nicht viel tun. Meine Frau tut mir leid. Auf sie fällt der Hauptdruck, und au fond hat sie recht.«17

2. August 1851 (an Joseph Weydemeyer): »Meine Frau geht unter, wenn es lange so fortdauert. Die beständigen Sorgen, der allerkleinlichste bürgerliche Kampf reibt sie auf …« – »… daß meine Frau, die leidend ist und in dem unerfreulichsten bürgerlichen Elend vom Morgen bis abends sitzt und deren Nervensystem angegriffen ist …«18

24. November 1851: »Du begreifst, daß ich bei sehr brouilliertem Familywesen erst jetzt einige Zeilen an Dich richte.«19

13. Juli 1852: »Meine Frau ist sehr leidend, magert ab und hustet.«20

8. September 1852: »Meine Frau ist krank, Jennychen ist krank, Lenchen hat eine Art Nervenfieber. Den Doktor kann und konnte ich nicht rufen, weil ich kein Geld für Medizin habe.« »Mein Haus ist ein Lazarett, und die K[rise] wird so störend, daß sie mich zwingt, ihr meine allerhöchste Aufmerksamkeit zu schenken.«21

18. September 1852: »Meine Frau ist körperlich mehr herunter als je, d. h. reine Schwäche.«22

28. September 1852: »Ich denke übrigens, daß er [Georg Weerth], abgesehn den leidenden Zustand meiner Frau, mir nicht tiefer in die Karten gesehn hat.«23

25. Oktober 1852: »Ich versichre Dir, wenn ich die Leiden meiner Frau und meine eigne Ohnmacht ansehe, so möchte ich dem Teufel in den Rachen laufen.«24

3. Juni 1854: »Jetzt, wo ich wieder auf dem Damme und die Kinder wieder alle aus dem Bette sind, wenn auch noch nicht aus dem Hause, ist meine Frau, wahrscheinlich infolge der Nachtwachen und Krankheitspflege, sehr herunter …«25

13. Juni 1854: »Meine Frau liegt zu Bette.«26

21. Juni 1854: »Während die Krankheit meiner Frau mitten in einer Krise …« – »Da der Zustand meiner Frau gefährlich war – und noch bedenklich ist – …«27

10. November 1854: »… da meine Frau seit 3 Tagen bettlägerig ist …«28

13. Februar 1855: »… meine usual secretary hat sich infolge des kalten Wetters nicht so rasch vom Bette wieder erhoben, wie das sonst der Fall zu sein pflegte.«29

30. März 1855: »Meine Frau war seit einer Woche so krank wie nie vorher von geistiger Erregung.«30

16. Mai 1855: »Meine Frau ist sehr leidend.«31

18. Mai 1855: »Seit gestern abend ist meine Frau bettlägerig.«32

3. Juli 1855: »Meine Frau noch sehr leidend. «33

30. Oktober 1856: »… meine Frau krank seit den letzten Monaten.«34

2. Dezember 1856: »Meine Frau mediziniert noch fortwährend, und so ist stets noch große Störung im Haus, so daß ich schwer zum Schreiben komme.«35

18. März 1857: »Meine Frau ist sehr unwohl, und die sämtlichen Verhältnisse des Hauses in solcher Krisis, daß der Kopf mir zu sehr schwirrt zum Schreiben!«36

9. April 1857: »Meine Frau war während der letzten Wochen noch leidender, als sie es seit Monaten ist, und der trouble im Haus war groß.«37

23. April 1857: »Für meine Frau brauche ich jetzt schon seit sechs Monaten fortwährend den Arzt. Sie ist in der Tat sehr herunter.«38

8. Mai 1857: »Meine Frau geht mehr und mehr der Katastrophe entgegen, und da wird ihr der Schreiberdienst immer schwieriger.«39

15. Juni 1857: »Meine Frau sehr leidend.«40

29. Juni 1857: »Meine Frau noch im status quo … dazu … Haussorgen, schwere.«41

24. Juli 1857: »… meiner Frau, deren recovery sehr langsam, und die eher täglich schwächer wird …«42

2. Juli 1858: »… meine Frau ist auch sehr unwoh l.«43

15. Juli 1858: »… Hausjammer. Meine Frau ist nervös zerrüttet durch den Dreck …« – »… der tägliche Druck und das Gespenst einer unvermeidbaren Schlußkatastrophe sie verfolgt.«44

21. November 1860: »Meine Frau liegt seit Montag nieder an einem sehr bösartigen Nervenfieber.«45

23. November 1860: »Meine Frau befand sich seit vielen Wochen in einem außerordentlich nervösen Zustand …«46

26. November 1860: »… daß die Ansteckung einzig zu erklären aus der übertriebnen Nervenaufregung, worin sie sich seit vielen Monaten befand.«47

28. November 1860: »… indem meine Frau schon vor ihrer Krankheit allerlei nervous complaints hatte …« – »… ihr Nervenzustand sei so gewesen, daß er« – der Arzt – »diese Krankheit einem Nervenfieber oder ähnlichem, wozu es gekommen sein würde, vorziehe.«48

30. Oktober 1861: »… meine Frau ist ernsthaft unwohl.«49

20. November 1861: »Meine Frau ist[…] sehr angegriffen, und ich fürchte, die Sache nimmt schlimmen Ausgang, wenn der struggle noch lange.«50

9. Dezember 1861: »Meine Frau hatte gefährliche Nervenzustände, und Dr. Allen war sehr erschrocken während einiger Tage. Er weiß oder ahnt vielmehr, wo der Schuh drückt, ist aber zu delikat, um Ungehöriges zu sagen. Die arme Frau ist noch sehr leidend.«51

18. Juni 1862: »Meine Frau sagt mir jeden Tag, sie wünschte, sie läge mit den Kindern im Grab …«52

9. April 1863: »Meine Frau ist seit zwei Wochen bettlägerig und fast ganz taub, der Teufel weiß, woher.«53

31. August 1864: »Meine Frau hatte letzte Woche starken Anfall von Cholerine, der einen Augenblick gefährlich zu werden schien.«54

11. Juli 1868: »Das hier im Haus herrschende temper ist nicht grade für Rekonvaleszenten gemacht. Meine Frau ist dabei auch nicht auf dem Strumpf und daher nutzlos irritabel.«55

30. November 1868: »Wie unangenehm die Zustände hier im Haus seit den letzten Monaten wurden, siehst Du daraus, daß Jennychen [Tochter] – hinter meinem Rücken – sich als Stundengeberin bei einer englischen Familie engagiert hat … So sehr fatal mir die Sache … war …, gab ich sie unter … Vorbehalt zu, weil ich vor allem gut fand, daß Jennychen durch irgend eine Beschäftigung zerstreut und namentlich aus den 4 Wänden hier geschafft werde. Meine Frau hat seit Jahren – aus den Umständen erklärlich, aber deswegen nicht angenehmer – ihr temper durchaus verloren und quält mit ihrem Jammer und Reizbarkeit und bad humour die Kinder zu Tode, obgleich keine Kinder in a more jolly way alles ertragen.«56

1. Mai 1869: »Meine Frau ist noch sehr unwohl …«57

8. Mai 1869: »… war meine Frau sehr unwohl.« – »… ganz taub …«58

1870 endet Karls Berichterstattung über Jennys Krankheiten. Friedrich ist von Manchester nach London gezogen, regelmäßiges Briefeschreiben erübrigt sich. Es gibt nur noch vereinzelte Mitteilungen in Karls sporadischen Briefen an Friedrich und andere Personen.

Seit 1875 treten die ersten Anzeichen einer »gefährlichen« Krankheit auf. Karl ist nicht mehr ärgerlich, sondern beunruhigt. Seine Schilderungen bleiben aber auch in dieser Zeit undeutlich. Die Krebskrankheit wird noch nicht angesprochen:

10. Mai 1875: »Dein [Jennys] Unwohlsein hat uns alle sehr geängstigt; doch hoffe ich, daß es jetz nach dem Castor-oil [Rizinusöl] und mit dem schönen Wetter sich verzogen hat.«59

26. Juli 1876: »… meine Frau schrieb, daß sie sehr unwohl … Meine Frau war noch sehr leidend, als wir ankamen; etwas besser, als wir sie verließen.«60

23. Juli 1877: »Du weißt, daß meine Frau ernsthaft an Verdauungsstörungen leidet …«61

8. August 1877: »Meine Frau ist keineswegs in befriedigenden Gesundheitsverhältnissen.«62

15. Juli 1878: »Meine Frau ist ernsthaft krank, muß wahrscheinlich nach Karlsbad …«63

4. September 1878: »Meine Frau ist schon mehrere Wochen da [im Seebad Malvern], sie ist arg unwohl …«64

10. April 1879: »… war meine Frau so krank, daß die Ärzte bezweifelten, ob sie den Anfall übersteht …«65

3. September 1879: »In der Tat ist meine Frau nur sehr langsam improving …«66

10. September 1879: »Meine Frau noch immer sehr langsam voran …«67

14. November 1879: »Meine Frau ist immer noch gefährlich krank …«68

27. Juni 1880: »… ich hätte London auch bereits verlassen … wenn eine sehr bedenkliche Krankheit meiner Frau mich nicht verhindert.«69

30. August 1880: »… war vorher mit ihr in Manchester zur Konsultation bei meinem Freund Dr. Gumpert. Sie leidet an gefährlicher Leberkrankheit.«70

12. September 1880: »Eine Krankheit meiner Frau, unter der sie schon seit langem litt, verschlimmerte sich plötzlich so, daß ein verhängnisvolles Ende drohte.«71

5. November 1880: »… nun schon über Jahre dauernden lebensgefährlichen Krankheit meiner Frau.«72

13. November 1880: »Familiäre Sorgen, hervorgerufen durch eine sehr gefährliche Krankheit meiner Frau …«73

8. Dezember 1880: »Meine Frau wird, wie die meisten kranken Menschen, deren Leiden chronischen Charakter angenommen hat, zuweilen plötzlich unfähig, das Bett zu verlassen …«74

19. Februar 1881: »Aber das Schlimmste ist, daß der Zustand meiner Frau täglich gefährlicher wird, obwohl ich mich an die berühmtesten Ärzte Londons gewandt habe …«75

2. Juni 1881: »Leider nimmt ihre Krankheit mehr und mehr einen verhängnisvollen Charakter an.«76

6. Juni 1881: »… daß es für die Krankheit, an der sie leidet, keine Heilung gibt, und sie wird in der Tat schwächer.«77

2. Juli 1881: »Der Gesundheitszustand meiner Frau, der täglich kritischer wird, erfordert, daß ich ständig bei ihr bin …«78

Als ob erst seine letzte Reise mit Jenny nach Frankreich Karl in eine Balance von Distanz und Nähe bringt, wird er überraschend fähig, Jennys Krankheit eindrucksvoll zu beschreiben:

27. Juli 1881: »Die Reise von London nach Dover verlief so gut, als zu hoffen war; d. h. meine Frau, die sehr unwohl war, als wir von Maitland Park aufbrachen, merkte keine unvorteilhafte Veränderung infolge der Fahrt … Sie landete in Calais in besserem Zustand, als sie London verlassen hatte, und beschloß weiterzureisen … Zwischen Amiens und Creil fühlte sie Herannahn der Diarrhöe, und das Eingeweideumwühlen ward auch stärker. In Creil hält der Zug nur 3 Minuten, doch hatte sie knapp die Zeit, das Nötige zu verrichten … Sie war sehr leidend, findet sich aber heute morgen (wenigstens jetzt, about 10 o’clock) besser, als es in London zu selber Zeit der Fall zu sein pflegt.«79

August 1881: »Wir erleben hier von Tag zu Tag dieselben Wechselfälle wie in Eastbourne, nur mit dem Unterschied, daß plötzlich entsetzliche Schmerzen eintreten, wie namentlich gestern: Unser Doktor Dourlen, der ein ausgezeichneter Arzt ist und glücklicherweise ganz nah bei uns wohnt, griff sofort ein und wandte eins der heroischen Opiummittel an, die Donkin mit vollem Bewußtsein in Reserve hielt.« – »Die ›temporären Besserungen‹ hindern natürlich nicht den natürlichen Fortschritt des Übels, aber sie täuschen meine Frau und befestigen Jenny – trotz meiner Einsprache – in dem Glauben, daß der Aufenthalt in Argenteuil möglichst lange währen müsse. Ich weiß die Sache besser und stehe um so mehr Angst aus.«80

9. August 1881: »Der Zustand wie gewöhnlich, bald unerträglich, bald stundenlang besser. Bei fortdauernder Abmagerung Zunahme der Schwäche. Gestern kleine Blutung an Hautstelle, was Doktor als Symptom von Schwäche betrachtet. Ich sagte ihm, wir müßten ernsthaft an Rückfahrt denken; er sagt, man könne noch einige Tage zusehn vor definitivem Entschluß. Sie selbst hat mir den Streich gespielt, da ich ihr von Rückfahrt Ende dieser Woche sprach, Masse Wäsche fortzugeben, die vor Anfang nächster Woche nicht returniert wird.«81

1. Oktober 1881: »Die jeden Tag der Katastrophe näherrückende, fatale Krankheit meiner Frau verhindert’s.«82

Es wäre Karl zuzutrauen, daß er Jennys Leiden all die Jahre in stereotypen Wiederholungen herausgestrichen hat, um Friedrich wie am Fließband um Geld bitten zu können. Aus dem Briefwechsel Marx/Engels geht hervor, dass Karl geübt ist im Schnorren. Doch Karl bittet Friedrich auch unabhängig von Jennys Krankheiten um Geld – in jedem dritten Brief tut er das. Und er berichtet genauso regelmäßig von Jennys Erholungen. Friedrich kann sich also zumeist ein recht gutes Bild von Jennys jeweiliger Verfassung machen, zumal Karl seine Berichterstattung mit zitierten Arztkommentaren stützt.

Es gibt auch genug schriftliche Äußerungen von Jenny selbst, die Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit offenbaren: Jenny an Karl, der sich in Manchester bei Friedrich aufhält, 19. Juni 1852: »Und unterdessen sitze ich hier und gehe zugrunde … Ich bin so angegriffen, daß ich kaum schreiben kann … Ich kann mich nicht mehr 8 Tage durchhalten, sonst sitz’ ich obdach- und brotlos hier. Die Sache ist jetzt auf den höchsten Punkt gestiegen … Ich sitze hier und weine mir fast die Augen aus und weiß keine Hilfe … Mein Kopf hält nicht mehr zusammen. 8 Tage hab’ ich wider meine Kräfte gesammelt, nun kann ich nicht mehr …«83

Jenny an Ernestine Liebknecht, 19. Januar 1863: »… wenn man so lange, lange Jahre fast nur Sorgen, Qualen u. Angst kennt, wenn Tod, Krankheit u. Elend miteinander abwechseln, um das Herz bis ins Innerste zu erschüttern, die Stimmung zu verdüstern u. den frischen Lebensmuth zu lähmen …«84

Jenny an Ernestine Liebknecht, 13. Oktober 1863: »… ich war aber während der Zeit [ab März 1863] u. noch lange nachher so leidend u. körperlich herunter, daß mir jede geistige Anstrengung, selbst das Schreiben eines kleinen Briefes, lästig und anstrengend war. Neben starken nervösen Kopfschmerzen litt ich auch an fast totaler Taubheit, ein Leiden, dessen Schrecklichkeit ich Ihnen … leider nicht zu schildern brauche.«85

Jenny an Ernestine Liebknecht, Ende Januar 1866: »… ich bin in dem Jahre ganz schreibscheu geworden, und alle die Sorgen und Mühen und Quälereien, die ich in der Zeit wieder durchgemacht, haben mich oft so melancholisch und trübselig gemacht, daß ich alle Lust zum Schreiben und Aussprechen verlor.« »Im vorgerückteren Alter wird das Anschließen stets schwerer und schwerer, und man zieht sich zuletzt am liebsten mit all seinen Schmerzen und Sorgen, seinen getäuschten Hoffnungen in sein stilles Selbst zurück.«86

Jenny an Ernestine Liebknecht, 14. Oktober 1866: »… ich habe selbst so viel in frühern Lebensjahren durch politische Verfolgungen gelitten, daß ich recht gut weiß, was das alles heißt; aber ganz offen gesagt, gibt es im täglichen Leben viel schreckliche[re] Kämpfe und Leiden als die selbst so eklatanter politischer Natur.«87

Jenny an Ludwig Kugelmann, 24. Dezember 1867: »Ich war in dem letzten ]ahr viel leidend und habe auch leider in der letzten Zeit viel von meinem ›Glauben‹, meinem Lebensmut eingebüßt. Es war mir oft schwer, mich aufrechtzuhalten.«88

Jenny an Wilhelm Liebknecht, 26. Mai 1872: »Uns Frauen fällt in allen diesen Kämpfen der schwerere, weil kleinlichere Teil zu. Der Mann, er kräftigt sich im Kampf mit der Außenwelt, erstarkt im Angesicht der Feinde, und sei ihre Zahl Legion, wir sitzen daheim und stopfen Strümpfe. Das bannt die Sorge nicht, und die tagtägliche kleine Not nagt langsam aber sicher den Lebensmut hinweg. Ich spreche aus mehr als 30jähriger Erfahrung, und ich kann wohl sagen, daß ich den Mut nicht leicht sinken ließ. Jetzt bin ich zu alt geworden, um noch viel zu hoffen.«89

Jenny an Johann Philipp Becker, 16. und 20. August 1876:

»Ist’s doch schon gottsjämmerlich miserabel, nicht mehr jung und frisch und ›gut‹ zu sein, das fühlt man besonders, wenn zum Alter nun auch noch Krankheit hinzukommt, und das war in der letzten Zeit bei mir der Fall … Ich habe seit Monaten so sehr am Kopf etc. etc. gelitten, daß ich oft ganz duselig und verdattert war …«90

Jenny an Friedrich Adolph Sorge, 20. oder 21. Januar 1877: »… und so lebt man weiter und weiter mit dem wunden und doch stets hoffenden Herzen, bis es zuletzt ganz stillesteht und ewiger Friede da ist.«91

Jenny an Eleanor und Karl Marx, November 1877: »Kopf und Füße sind all right, nur ist das Zentrum der Maschine, der Kessel, wo gebraut wird, noch immer nicht in full working order … da kam am Montag, ohne alle äußre Veranlassung, wieder ein bedeutender Rückfall, der mich sehr ängstigte … Der Doktor hatte bei den ersten Untersuchungen auch daran gedacht [an Wassersucht]. Es ist mehr Wind als Wasser.«92

Jenny an Ferdinand Fleckles, 29. September 1880: »… ich begreife oft nicht, wie ich mich nach oft 6-stündigem Schlaf morgens so elend fühlen kann … Obgleich ich mich seit einigen Wochen unwohler fühle und es mir vorkommt, als ob die Leber mehr drücke und die Stiche häufiger sind …«93

Karl quälte sich jahrzehntelang mit einem Leberleiden. Jenny starb daran. Jennys Leberkrebs kommt zu eben jener Zeit zum Ausbruch, da Karl nicht mehr über Leberbeschwerden klagt:

23. Juli 1877 – Karl an Friedrich: »Du weißt, daß meine Frau ernsthaft an Verdauungsstörungen leidet …« – »Zudem ist mein Übel jetzt viel weniger lever …«94

Die Fotos aus den letzten Jahren zeigen Jenny mit wächsernem Gesicht, glasigem oder bitterem Blick. Ihre Hände sind verkrampft und geschwollen.

KARL – PARASIT, SADIST