Jenny Marx - Marlene Ambrosi - E-Book

Jenny Marx E-Book

Marlene Ambrosi

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Beschreibung

Jenny Marx war eine Frau, die aus dem Rahmen fiel. Jenny Marx, geborene von Westphalen, schockierte das Establishment ihrer Zeit. Die adlige Dame heiratete nicht nur den bürgerlichen Karl Marx entgegen den gesellschaftlichen Konventionen des 19. Jahrhunderts, sondern sie unterstützte auch aus Überzeugung ein Leben lang seine revolutionären Aktivitäten. Zusammen strebten sie die Weltrevolution an. Jennys Alltag wurde von Widrigkeiten überschattet. Jahrzehntelang war ihr Leben von materieller Not geprägt – und Familienfreund Friedrich Engels rettete sie nicht nur einmal aus finanzieller Bedrängnis. Schlimmste Schicksalsschläge wie den Tod von vier ihrer sieben Kinder überwand sie nur dank ihrer großen Liebe zu ihrem Mann – und für ihn war sie, wie auf ihrem Grabstein steht, „the beloved wife of Karl Marx“. In dieser umfangreichen Biografie entsteht das lebendige und durch Auszüge aus zeitgenössischen Quellen authentische Lebensbild einer außergewöhnlichen Frau.

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Seitenzahl: 786

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über die Autorin

Marlene Ambrosi studierte Germanistik und Geschichtswissenschaft an der Universität Konstanz und unterrichtete Deutsch und Geschichte an Gymnasien in Baden-Württemberg, Berlin und Rheinland-Pfalz. In Trier, der Heimatstadt von Jenny und Karl Marx, lebte sie von 1993 bis 2010; seitdem beschäftigt sie sich mit Jenny von Westphalen, der Ehefrau von Karl Marx.

Impressum:

© Verlag Michael Weyand GmbH, Trier

www.weyand.de, Tel. 0651/9960140

Gestaltung: Sabine König, Jennifer Neukirch

Fotos: Gabriela Böhm, Friedrich-Ebert-Stiftung, Verlag Michael Weyand, Wikipedia.de

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher schriftlicher Genehmigung des Verlages.

1. Auflage 3/2015

ISBN: 978-3-942 429-55-9

Die Autorin und der Verlag bedanken sich für Anregungen, Hinweise und Lektorat bei Beatrix Bouvier, Hans-Joachim Kann, Peter Vollmer, Gabriele Belker.

DIE FRAU KOMMT NICHT IMMER NACH DEM MANN

Jenny von Westphalen ist ein wenig bekannter Name. Liest man jedoch die Inschrift „the beloved wife of Karl Marx“ auf ihrem Grabstein, wird der Name zum Begriff. Fast ein halbes Jahrhundert lang gingen die adlige Dame von Westphalen und der bürgerliche Intellektuelle Marx gemeinsam durchs Leben. Auch auf dieses Paar trifft die Volksweisheit zu: „Hinter jedem großen Mann steht eine große Frau!“ Jenny Marx stand im Sinne dieser Worte hinter ihrem Mann, ein Leben lang. Sieben Jahre waren sie verlobt, 38 Jahre verheiratet, und rechnet man die Jahre der Kindheit und der Jugend hinzu, dann haben sich die beiden mehr als sechzig Jahre gekannt. Auf Jennys substantielle Bedeutung für Marx wies Friedrich Engels’´ Ausruf nach ihrem Tode hin: „Jetzt ist der Mohr auch gestorben!“ Der Mohr, wie Karl Marx in Familie und im Freundeskreis genannt wurde, benötigte sein Leben lang ihre Liebe, ihre Unterstützung für seine große Aufgabe und ihren Glauben an sein Genie. Ohne die Aufopferung seiner Frau wäre sein Leben anders verlaufen; vielleicht hätte er als schrulliger Professor oder als verkrachte Existenz sein Dasein gefristet, sich als Clochard unter den Brücken von Paris dem Alkohol ergeben oder seine Bestimmung in London als sonntäglicher Redner im Hyde-Park gefunden. Nur weil er sich Jennys unerschütterlicher Liebe sicher war, konnte er die Energie aufbringen, seine – und auch ihre – Ziele zu verfolgen.

In der DDR, der Sowjetunion und den anderen kommunistischen Staaten wurde das Andenken an Frau Jenny Marx als treue Gefährtin des großen Vordenkers gewürdigt. Informationen und Tatsachen aus dem Leben des Ehepaares allerdings, die dem marxistischen Wunschbild widersprachen, waren nicht genehm. Das Bild des großen Karl Marx und seiner Familie durfte nicht beschmutzt werden, der übervater sollte unbefleckt und seine Familie „heilig“ gehalten werden. Man wollte Marx nicht vom Sockel der Verehrung stürzen müssen, indem man über sein nicht immer untadeliges Privatleben berichtete. Seriöse Autoren verzichteten lieber darauf zu publizieren, als dass sie verschwiegen oder wider besseres Wissen vertuschten. Hinzu kam, dass in der Realität Gleichheit und Gleichberechtigung von Mann und Frau nicht wie in der Theorie gepriesen umgesetzt wurden. Die Frau an der Seite dieses Mannes fand als eigenständiges Wesen nur wenig Beachtung. Es gab zwar in der ehemaligen DDR Straßen und Einrichtungen, die den Namen „Jenny Marx“ trugen, aber dies war eher eine Reminiszenz an die verehrte Ehefrau des „Vaters des Kommunismus“, nicht an die Frau an sich.

Die vorgeblich „ideologiefreie“ Geschichtsschreibung in der Bundesrepublik Deutschland schenkte Frau Marx lange Zeit wenig Aufmerksamkeit. Sie wurde fast ausschließlich im Zusammenhang mit dem großen „Klassenfeind“ oder dem großen „Linken“ beurteilt, wiederum nur als Anhängsel von Karl Marx. Damit wird man dieser Frau nicht gerecht. Ihr Schicksal verdient eine eigenständige und differenzierte Betrachtung, denn: Jenny von Westphalen/Marx führte sowohl ein revolutionäres als auch ein höchst traditionell-bürgerliches Leben im 19. Jahrhundert.

TEIL I – KINDHEIT UND JUGEND

Die Familie von Westphalen

Die Familie von Westphalen war kein bedeutendes Adelsgeschlecht; niemand ahnte, dass ihr Name ausgerechnet durch eine geborene Frau von Westphalen weltberühmt werden würde. Diese Frau, Johanna Bertha Julie Jenny von Westphalen, kam, wie dem Taufregister der Marienkirche in Salzwedel zu entnehmen ist, am 12. Februar 1814, einem Freitag, zur Welt. Drei Tage später wurde sie im elterlichen Haus protestantisch getauft. Durch ihre Zugehörigkeit zum Adel, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts Gesellschaft und Staat dominierte, war sie privilegiert, auch wenn die Familie von Westphalen nicht reich war und auf der untersten Stufe in der Hierarchie des Adels stand.

Jennys Großvater, Christian Philipp Westphal, war aufgrund seiner Verdienste als Sekretär und Berater des Herzogs von Braunschweig im Mai 1764 von Kaiser Franz I. in den Reichsritterstand erhoben worden. Der „Edle von Westphalen“ heiratete Jane (Jean) Withart of Pittarow aus Edinburgh, deren Vorfahren der alten Adelsfamilie Chambpel/Argyll oder Argyle, so Jennys Schreibweise, angehörten. Die Aussteuer der schottischen Braut bestand aus kostbarem Tafelgeschirr, wertvollem Silberbesteck und Tischwäsche, verziert mit dem Monogramm der Herzöge von Argyll.

Das vierte Kind des Paares, Johann Ludwig, Jennys Vater, wurde 1770 in Bornum am Elm im Landkreis Helmstedt geboren. Er absolvierte in Braunschweig das Collegio Carolino und anschließend in Göttingen ein Jurastudium. 1794 kehrte er als Assessor in die Fürstliche Kammer nach Braunschweig zurück und heiratete vier Jahre später Elisabeth Luise Wilhelmine Albertine von Veltheim, genannt Lisette. Um sich ausschließlich seinem neu erworbenen Gut Rondeshagen zu widmen, quittierte er den Staatsdienst, ersuchte aber wenige Jahre später um Wiederaufnahme und wurde 1805 Kammerrat in Blankenburg. Zwei Jahre später trafen ihn zwei schwere Schicksalsschläge. Seine Frau starb im August 1807 mit erst 29 Jahren und ließ ihn mit Ferdinand Otto Wilhelm Henning (23.04.1799 – 02.07.1876), Anna Elisabeth (Lisette), später verheiratete Krosigk (05.10.1800 – 01.08.1863), Carl (22.07.1803 – 08.03.1840) und Franziska (07.05.1807 – 16.04.1896) zurück. Der zweite Schicksalsschlag war die Liquidierung des Fürstentums Braunschweig–Wolfenbüttel durch Napoleon I. Um seine Existenz zu sichern, ließ sich Westphalen 1808 im neu errichteten Königreich Westfalen von der französischen Besatzungsmacht zum Generalsekretär des Präfekten in Halberstadt und 1809 zum Unterpräfekten im Distrikt Salzwedel verpflichten. Hier hatte er in einem stattlichen Haus seinen Amts- und Wohnsitz. Seine Mutter führte ihm und den beiden Söhnen den Haushalt, während die Töchter von Verwandten seiner verstorbenen Frau aufgezogen wurden: Lisette von ihrer Patin Frau von Asseburg und Franziska von Luise von Röder. Nach dem Tode seiner Mutter im Juli 1811 heiratete Ludwig von Westphalen am 30. April 1812 die 31-jährige bürgerliche Amalie Julia Caroline Heubel aus Salzwedel, Tochter des Fürstlich-Schwarzburg-Rudolstädtischen Hof-Stallmeisters. Caroline versuchte dem 13-jährigen Ferdinand und dem 9-jährigen Carl eine gute Mutter zu sein. „Ich habe vier geliebte Kinder von der verstorbenen Frau meines Mannes; die Söhne waren von früher Jugend unter meiner Leitung, und daher meinem Herzen doppelt werth“ 1, versicherte sie 1837 ihrem Vetter Friedrich Perthes. Der junge Carl akzeptierte die zweite Frau an der Seite des Vaters, während der pubertierende Ferdinand seine Vorbehalte hatte.

Geburtshaus von Jenny von Westphalen in Salzwedel

Es waren unruhige Zeiten zu Beginn des 19. Jahrhunderts, auch in Salzwedel. Nach der Niederlage Napoleons in Russland 1812 soll Unterpräfekt Westphalen zusammen mit anderen Bewohnern Salzwedels eine Abteilung russischer Kosaken, Verbündete der Preußen und Österreicher, als Befreier begrüßt und dadurch seine patriotische Haltung ausgedrückt haben. Dafür sei er hart bestraft worden. Als das französische Militär die Stadt zurückeroberte, sei er verhaftet worden und für kurze Zeit in Festungshaft nach Gifhorn gekommen.2

Die Völkerschlacht bei Jena und Auerstädt im Oktober 1813 beendete die wechselnden Besatzungen und Ludwig von Westphalen wurde Landrat in Salzwedel, nunmehr in preußischen Diensten. Diese Verpflichtung kam ihm sehr gelegen, da seine zweite Frau ihr erstes Kind erwartete. Als die Gutsbesitzer in der Altmark 1815 nach altem preußischem Recht wieder ihren Landrat selbst wählen durften, entschieden sie sich nicht für Westphalen, da sie ihm angeblich seine Tätigkeit in französischen Diensten nachtrugen und ihn als zu liberal empfanden. Die preußische Verwaltung suchte nach anderweitiger Verwendung für den Juristen.

Preußen hatte auf dem Wiener Kongress 1815 die Rheinlande und das ehemalige Kurfürstentum Trier zugesprochen bekommen und brauchte geschulte und nicht zu konservative Beamte für die neue preußische Rheinprovinz. Ludwig von Westphalen schien geeignet und wurde Erster Rat in der königlich-preußischen Provinzialregierung in Bezirk und Stadt Trier. Im Frühsommer 1816 trat Westphalen seine Arbeit in der Grenzstadt an.

1 Gemkow, Edgar von Westphalen, S.405

2 Dornemann, Jenny Marx, S.19

TEIL I – KINDHEIT UND JUGEND

Die Familie von Westphalen

Die Familie von Westphalen war kein bedeutendes Adelsgeschlecht; niemand ahnte, dass ihr Name ausgerechnet durch eine geborene Frau von Westphalen weltberühmt werden würde. Diese Frau, Johanna Bertha Julie Jenny von Westphalen, kam, wie dem Taufregister der Marienkirche in Salzwedel zu entnehmen ist, am 12. Februar 1814, einem Freitag, zur Welt. Drei Tage später wurde sie im elterlichen Haus protestantisch getauft. Durch ihre Zugehörigkeit zum Adel, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts Gesellschaft und Staat dominierte, war sie privilegiert, auch wenn die Familie von Westphalen nicht reich war und auf der untersten Stufe in der Hierarchie des Adels stand.

Jennys Großvater, Christian Philipp Westphal, war aufgrund seiner Verdienste als Sekretär und Berater des Herzogs von Braunschweig im Mai 1764 von Kaiser Franz I. in den Reichsritterstand erhoben worden. Der „Edle von Westphalen“ heiratete Jane (Jean) Withart of Pittarow aus Edinburgh, deren Vorfahren der alten Adelsfamilie Chambpel/Argyll oder Argyle, so Jennys Schreibweise, angehörten. Die Aussteuer der schottischen Braut bestand aus kostbarem Tafelgeschirr, wertvollem Silberbesteck und Tischwäsche, verziert mit dem Monogramm der Herzöge von Argyll.

Das vierte Kind des Paares, Johann Ludwig, Jennys Vater, wurde 1770 in Bornum am Elm im Landkreis Helmstedt geboren. Er absolvierte in Braunschweig das Collegio Carolino und anschließend in Göttingen ein Jurastudium. 1794 kehrte er als Assessor in die Fürstliche Kammer nach Braunschweig zurück und heiratete vier Jahre später Elisabeth Luise Wilhelmine Albertine von Veltheim, genannt Lisette. Um sich ausschließlich seinem neu erworbenen Gut Rondeshagen zu widmen, quittierte er den Staatsdienst, ersuchte aber wenige Jahre später um Wiederaufnahme und wurde 1805 Kammerrat in Blankenburg. Zwei Jahre später trafen ihn zwei schwere Schicksalsschläge. Seine Frau starb im August 1807 mit erst 29 Jahren und ließ ihn mit Ferdinand Otto Wilhelm Henning (23.04.1799 – 02.07.1876), Anna Elisabeth (Lisette), später verheiratete Krosigk (05.10.1800 – 01.08.1863), Carl (22.07.1803 – 08.03.1840) und Franziska (07.05.1807 – 16.04.1896) zurück. Der zweite Schicksalsschlag war die Liquidierung des Fürstentums Braunschweig–Wolfenbüttel durch Napoleon I. Um seine Existenz zu sichern, ließ sich Westphalen 1808 im neu errichteten Königreich Westfalen von der französischen Besatzungsmacht zum Generalsekretär des Präfekten in Halberstadt und 1809 zum Unterpräfekten im Distrikt Salzwedel verpflichten. Hier hatte er in einem stattlichen Haus seinen Amts- und Wohnsitz. Seine Mutter führte ihm und den beiden Söhnen den Haushalt, während die Töchter von Verwandten seiner verstorbenen Frau aufgezogen wurden: Lisette von ihrer Patin Frau von Asseburg und Franziska von Luise von Röder. Nach dem Tode seiner Mutter im Juli 1811 heiratete Ludwig von Westphalen am 30. April 1812 die 31-jährige bürgerliche Amalie Julia Caroline Heubel aus Salzwedel, Tochter des Fürstlich-Schwarzburg-Rudolstädtischen Hof-Stallmeisters. Caroline versuchte dem 13-jährigen Ferdinand und dem 9-jährigen Carl eine gute Mutter zu sein. „Ich habe vier geliebte Kinder von der verstorbenen Frau meines Mannes; die Söhne waren von früher Jugend unter meiner Leitung, und daher meinem Herzen doppelt werth“ 1, versicherte sie 1837 ihrem Vetter Friedrich Perthes. Der junge Carl akzeptierte die zweite Frau an der Seite des Vaters, während der pubertierende Ferdinand seine Vorbehalte hatte.

Geburtshaus von Jenny von Westphalen in Salzwedel

Es waren unruhige Zeiten zu Beginn des 19. Jahrhunderts, auch in Salzwedel. Nach der Niederlage Napoleons in Russland 1812 soll Unterpräfekt Westphalen zusammen mit anderen Bewohnern Salzwedels eine Abteilung russischer Kosaken, Verbündete der Preußen und Österreicher, als Befreier begrüßt und dadurch seine patriotische Haltung ausgedrückt haben. Dafür sei er hart bestraft worden. Als das französische Militär die Stadt zurückeroberte, sei er verhaftet worden und für kurze Zeit in Festungshaft nach Gifhorn gekommen.2

Die Völkerschlacht bei Jena und Auerstädt im Oktober 1813 beendete die wechselnden Besatzungen und Ludwig von Westphalen wurde Landrat in Salzwedel, nunmehr in preußischen Diensten. Diese Verpflichtung kam ihm sehr gelegen, da seine zweite Frau ihr erstes Kind erwartete. Als die Gutsbesitzer in der Altmark 1815 nach altem preußischem Recht wieder ihren Landrat selbst wählen durften, entschieden sie sich nicht für Westphalen, da sie ihm angeblich seine Tätigkeit in französischen Diensten nachtrugen und ihn als zu liberal empfanden. Die preußische Verwaltung suchte nach anderweitiger Verwendung für den Juristen.

Preußen hatte auf dem Wiener Kongress 1815 die Rheinlande und das ehemalige Kurfürstentum Trier zugesprochen bekommen und brauchte geschulte und nicht zu konservative Beamte für die neue preußische Rheinprovinz. Ludwig von Westphalen schien geeignet und wurde Erster Rat in der königlich-preußischen Provinzialregierung in Bezirk und Stadt Trier. Im Frühsommer 1816 trat Westphalen seine Arbeit in der Grenzstadt an.

1 Gemkow, Edgar von Westphalen, S.405

2 Dornemann, Jenny Marx, S.19

Die neue Heimat – eine Stadt mit wechselvoller Geschichte

Der neue Wohnort Trier war die älteste Stadt Deutschlands; im Jahre 17 v. Chr. als Augusta Treverorum unter Kaiser Augustus gegründet, war sie im 3. Jhd. eine der vier Hauptstädte des Römischen Reiches, in der unter anderem Kaiser Konstantin residierte. 80.000 Einwohner zählte sie in ihrer Blütezeit als römische Metropole.

Nach dem Zusammenbruch des Römischen Weltreiches versank Trier nicht in der Bedeutungslosigkeit, sondern behielt sein Ansehen durch seinen Bischofssitz, den ältesten in Deutschland. Der Bischof von Trier gehörte zusammen mit seinen geistlichen Kollegen aus Köln und Mainz zu den sieben einflussreichen Kurfürsten, den Säulen des Reiches, die von 1356 bis 1806 den deutschen (römischen) König wählten, das Oberhaupt des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Um weltliche Macht zu demonstrieren, ließen sich die Kurfürsten Schönborn und Walderdorff im 18. Jahrhundert u.a. nach Plänen von Balthasar Neumann eine repräsentative Residenz erbauen, angegliedert an die ehemalige römische Palastaula – die heutige Konstantinbasilika.

Der Kurfürstliche Staat war feudalistisch geprägt, aber die Bevölkerung Triers verteidigte ihre Stadtrechte. 1785 wurde Kurfürst Clemens Wenzeslaus von Sachsen über den auf Freiheit von staatlicher Vormundschaft und Selbständigkeit gerichteten Geist der Bürgerschaft informiert. Daher verwundert es nicht, dass die Forderungen „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ der französischen Revolution von 1789 zunächst auf Zustimmung stießen.

Die revolutionären Ereignisse hatten dann allerdings schwerwiegende Folgen für Trier. Im Verlauf des ersten Koalitionskrieges wurde die Stadt am 9. August 1794 von französischen Truppen eingenommen, der Kurstaat aufgelöst. Die Bevölkerung musste demütigende Requisitionen und Kontributionen über sich ergehen lassen, musste ohnmächtig hinnehmen, dass der Universitätsbetrieb eingestellt und die Mehrzahl der Kirchen, Stifte und Klöster säkularisiert wurden. Nach der Auflösung des Kurstaates ließ Napoleon das kurfürstliche Palais zur Kaserne degradieren, und bei dieser Regelung blieb es bis 1918! Im Frieden von Lunéville 1801 wurden vier linksrheinische Departements geschaffen und Trier zur Hauptstadt des Departements de la sarre erhoben. Die Bewohner/innen erhielten die französische Staatsbürgerschaft. Sie arrangierten sich mit den neuen Gegebenheiten und profitierten davon, dass ihre Stadt wirtschaftliches, politisches und kulturelles Zentrum der Region wurde. Die Errichtung einer Porzellanmanufaktur, die allerdings nur zwölf Jahre bestand, die Intensivierung der Tuchfabrikation und der Zugang zum französischen Markt für alle Produkte wie den Moselwein steigerten den Wohlstand und förderten den inneren Frieden. Das für die vier neuen Departements zuständige Appellationsgericht (1803 bis 1819) erhöhte Triers Bedeutung. Die fremden Herren waren nicht beliebt, aber auch nicht so sehr verhasst, weil Napoleons Regime zwar absolut war, aber auch liberale Züge hatte. Nach dem „code civil“ war ein jeder, unabhängig von seiner Religion, vor dem Gesetz gleich und konnte sich im Rahmen der Gesetze frei entfalten. Nach Napoleons Niederlage war die Prosperitätsphase beendet und die Bevölkerung musste sich auf eine neue Fremdherrschaft einstellen. Die am 6. Januar 1814 von preußischen Truppen eingenommene Stadt kam nach den Bestimmungen des Wiener Kongresses zum Königreich Preußen. Trier wurde Garnisonsort und Sitz eines Regierungspräsidenten, der im Palais Walderdorff residierte. Die meisten Trierer/innen, darunter Heinrich Marx, begrüßten die Niederlage der Franzosen, was jedoch keine uneingeschränkte Akzeptanz des Preußentums bedeutete. In den gebildeten Kreisen wurde die französische Kultur der preußischen als überlegen erachtet. Man sprach nach wie vor gerne französisch, las, so auch Heinrich Marx, französische Zeitungen und die Werke Voltaires und Racines und trauerte dem „code civil“ nach. Einen Hauch fortschrittlichen Geistes versuchte man zu bewahren, beispielsweise im 1806 gegründeten Trierer Theater, das Schauspiele von Goethe, Schiller, Lessing und Kleist aufführte, und in der seit 1816 existierenden „Casino-Gesellschaft“, die für die wohlhabende Oberschicht Vorträge, Theateraufführungen und Bälle veranstaltete.

12.000 Menschen lebten um 1816 in Trier, darunter 200 Juden und 300 Protestanten, zu denen die Familien Marx und Westphalen gehörten. Für die Katholiken der Stadt waren sie andersgläubige Außenseiter, und da die meisten von ihnen Repräsentanten der preußischen Verwaltung oder des Militärs waren, wurden sie doppelt kritisch beäugt.

Die Familie von Westphalen bezog in der Neugasse 389, heute Neustraße 83, ein Haus, das einem wichtigen Amtsträger angemessen war und der Familie genügend Platz bot.

In Trier gehörte Ludwig von Westphalen zu den Honoratioren der Stadt und war mit 1.800 Talern Jahresgehalt der bestbezahlte Justizangestellte. Dies bedeutete allerdings nicht, dass die Familie zu den vermögenden gehörte. Da der Vater keine Einkünfte aus Gütern bezog, basierte die Existenzgrundlage der Familie auf seiner Entlohnung, die besser gewesen wäre, wenn er erfolgreicher Karriere gemacht hätte. Dem war nicht so. Der Beamte soll zwar sehr fleißig und kenntnisreich gewesen sein, aber seine Darstellungen waren zu ausschweifend und umständlich und er soll rechthaberisch agiert haben. Vielleicht war auch Westphalens kritisch-liberale Einstellung, die ihn einst für das Amt prädestiniert hatte, nach Etablierung der preußischen Macht seinem Aufstieg hinderlich. 1824 wurde seine wirtschaftliche Lage mit „kein Vermögen“ eingestuft und 1832 hieß es in den Konduitenlisten der Regierung: „Das Vermögen ist sehr unbedeutend“. Dennoch kann man sagen, dass Westphalens gut situiert waren.

Es ist nicht bekannt, mit welchen Titeln die Mitglieder der Familie von Westphalen in Trier förmlich angesprochen wurden. Philipp Westphal war in den Reichsritterstand aufgenommen worden. Er konnte sich Ritter oder Edler nennen und vor seinen Nachnamen ein „von“ stellen, aber nicht den Titel Baron führen. Dennoch wird Jenny von Westphalen/Marx auch in diesem Buch als „Baronesse“ bezeichnet, aus folgenden Gründen: 1. ihre Tochter Eleanor berichtete Wilhelm Liebknecht, dass ihr Vater nicht müde geworden sei, „uns von dem alten Baron von Westphalen zu erzählen“. 2. Auch Enkel Edgar Longuet bezeichnete seine Urgroßmutter als „Baronin von Westphalen“. 3. Karl Marx selbst nannte seine Frau nachweislich „Baronesse“. So schrieb er ihr 1864: „ ... nimm Dich mit Deinen Baronessekarten in acht“, womit Visitenkarten mit dem Aufdruck: „Mme. Jenny Marx née Baronesse von Westphalen“ gemeint waren, und 1878 sprach er in einem Brief an Sigismund Schott von der „Ex-Baronesse von Westphalen“. Die Mitglieder der Familie von Westphalen werden vermutlich in Trier Baron, Baronin oder Baronesse genannt worden sein und Karl Marx hat diese Benennung übernommen.1

1 Limmroth, Jenny Marx. Die Biografie, S.23 und Mohr und General, S.142 und S.327

Kinderjahre

Die Jahre 1816 bis 1830

Der Umzug von Salzwedel nach Trier tangierte die zweijährige Jenny wenig, da sich ihr unmittelbares Umfeld nicht veränderte. Mutter, Vater, Großvater Heubel und Bruder Carl blieben fest an ihrer Seite, kümmerten sich liebevoll um sie. Ferdinand, der älteste Bruder, begleitete die Familie nicht an die Mosel, sondern studierte nach dem Abitur, das er 1816 noch in Salzwedel ablegte, in Halle, Göttingen und Berlin.

Geburtshaus von Jenny von Westphalen in Salzwedel

Jenny bekam weitere Geschwister: Am 16. März 1817 wurde Helena Laura Cecilia Charlotte Friederike geboren und am 26. März 1819 Gerhard Julius Oscar Ludwig Edgar. Ansonsten ist wenig bekannt über Jennys erste Lebensjahre. Als Vierjährige litt sie unter „einer Kopfkrankheit“, „einem fatalen Ausschlag“, der immer wieder ausbrach und mit den Mitteln der Zeit bekämpft wurde. Der Vater beschrieb in einem Brief an die Geheimrätin von Asseburg, bei der seine Tochter Lisette lebte, die Prozedur: „Bei der armen reizbaren Jenny beschränken wir uns auf das Herausziehen mit der Pincette und auf öfteres Einsalben mit Butter, Schwefel, Lauge und Waschen mit schwarzer Seife.“ 1 Kein Wunder, dass sie auf diese Behandlungsmethode äußerst unwirsch reagierte. Wenn man sie nicht solchermaßen quälte, war sie, wie der Vater wiederum Frau von Asseburg berichtete, ein Prachtkind: „Jenny ist sehr possierlich und macht uns viel Spaß; sie singt recht niedlich und spricht … – ein ganz undeutsches Kauderwelsch, was sie nur von der Dienerschaft gelernt haben kann, da sie wegen ihres Ausschlages gar nicht mit anderen Kindern Gemeinschaft hat und fast nicht aus dem Hause kommt.“ 2 Das belastete das kleine Mädchen wenig. Sie war ein glückliches Kind, das im Mittelpunkt der Familie stand und genügend Gesellschaft hatte.

Klein-Jennys fröhliches, unbeschwertes Leben wurde durch eine Krankheit ihrer jüngeren Schwester jäh unterbrochen. Tage, vielleicht auch Wochen lang erlebte sie als Siebenjährige die wachsenden Sorgen um die kleine Schwester, die Hoffnungen und die Hilflosigkeit der Eltern. Am 3. April 1821 starb Laura mit vier Jahren an Stickhusten und schleichendem Fieber. Jenny vermisste ihre Spielkameradin und schloss sich nun noch inniger dem kleinen Bruder Edgar an.

Der Vater widmete ihr gerne seine Zeit, schließlich war sie die einzige Tochter, die bei ihm aufwuchs, deren Größerwerden er erleben durfte. Er vermittelte dem wissbegierigen Kind erste Kenntnisse in Lesen und Schreiben und als „Halbschotte“ war er daran interessiert, dass seine Kinder seine Muttersprache lernten.

Ob Jenny eine Schule besuchte, ist unbekannt. Die 1. Evangelische Pfarrschule in Trier kam für das adlige Fräulein nicht in Frage, da nur ein Lehrer für 100 Schülerinnen zuständig gewesen sein soll. Die Erziehungs- und Bildungsanstalt von Mme. de Staël oder das Institut von Thekla Bochkoltz schienen geeigneter, aber vermutlich blieb sie zu Hause, zumal die Schulpflicht nur für Jungen galt. Später durfte sie vielleicht dem Unterricht beiwohnen, der Bruder Edgar von einem Hauslehrer erteilt wurde. Es war nicht ungewöhnlich in Familien von Stand, die Töchter an den Privatstunden für die Jungen teilnehmen zu lassen und häufig lernten die Mädchen besser die Lektionen, waren wissensdurstiger als die jungen Herren, die zukünftigen Herrscher über Familie und Staat.

Jenny wurde laut Kirchenbuch zu Trier am 30. März 1828 in der heutigen Jesuitenkirche konfirmiert. Ihr Konfirmationsspruch lautete: „Ich lebe, aber doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir“. Ein Motto, das man auf ihr späteres Leben übertragen kann, nur atheistisch verfremdet mit Karl Marx als Bezugsperson.

Die Familie von Westphalen verkehrte überwiegend im überschaubaren evangelisch-protestantischen Umfeld, und so war es nicht verwunderlich, dass sich Jenny mit der zwei Jahre jüngeren Sophie Marx anfreundete. Bald hatten beide ihre jüngeren Brüder Karl und Edgar im Schlepptau. Die vier bildeten viele Jahre lang ein Quartett. Jennys und Karls jüngste Tochter Eleanor erzählte später, sich auf Augenzeugenberichte ihrer Tanten Sophia Schmalhausen und Louise Juta berufend, „daß Mohr ein schrecklicher Tyrann war; er zwang sie, in vollem Galopp den Markusberg in Trier herunter zu kutschieren, und was noch schlimmer war, er bestand darauf, daß sie die Kuchen äßen, welche er mit schmutzigen Händen aus noch schmutzigerem Teig selbst verfertigte. Aber sie ließen sich das alles ohne Widerspruch gefallen, denn Karl erzählte ihnen zur Belohnung so wundervolle Geschichten.“ 3 Es fällt schwer zu glauben, dass diese Beschreibung sich auf die vier Jahre ältere Jenny bezieht. Sie war schon als junges Mädchen durchsetzungsfähig, übte Widerspruch und bediente sich überlegener Redensarten. Wenn dies alles nichts nützte, blockte sie ab, wurde bockig – und da ihr Umfeld so vernarrt in sie war, hatte sie es nicht schwer, ihren Willen durchzusetzen. Je älter sie wurde, desto mehr bestach sie durch ihre Schönheit und nahm durch ihren Charme die anderen für sich ein.

Traditionsgemäß war das Leben einer jungen adligen Frau ausschließlich auf Heirat, Kindergebären und Repräsentieren ausgerichtet und entsprechend wurde die Baronesse von Westphalen erzogen und unterrichtet. Lesen, Schreiben, Singen, Klavierspielen, Handarbeiten und Konversation auf Französisch und Englisch waren die Fertigkeiten, in denen man junge Damen von Stand unterwies. Mädchen erhielten keine Ausbildung, um eine Grundlage zum selbständigen Lebensunterhalt zu erlangen; dieser Gedanke war abwegig. Die Existenzsicherung war Aufgabe des Mannes.

Jenny von Westphalen wuchs in einer bildungsbewussten Familie auf. Bruder Ferdinand rühmte noch in seinen Lebenserinnerungen, dass der Vater „unsre Herzen und Gedanken noch in den späten Abendstunden durch seine köstlichen Vorlesungen“ 4 erfreute. Aus den Werken Homers, Ovids, Shakespeares, Goethes und der Romantiker las man sich gegenseitig vor. Shakespeares Dramen begeisterten Jenny und Karl besonders und sie übertrugen später diese Liebe auf die Töchter; Eleanor konnte schon mit sechs Jahren ganze Passagen aus der „Hausbibel“ auswendig aufsagen.

Bruder Edgar und Karl Marx, die seit 1830 das Gymnasium zu Trier besuchten, das heutige Friedrich-Wilhelm-Gymnasium, verbrachten ihre Freizeit gerne mit Ludwig von Westphalen. Da auch Jenny sich für alles Wissenswerte interessierte und klug argumentierte, brachte es der Vater nicht übers Herz, sie aus dem männlichen Kreise zu verbannen. Ein kleiner Trost, denn trotz aller Belesenheit, Kritikfähigkeit und genialer Geistesblitze konnte Jenny von Westphalen aufgrund ihres Frauseins weder gymnasiale noch universitäre Bildung erlangen.

Vater von Westphalen begnügte sich nicht mit geistiger Bildung, sondern lebte nach dem Motto: „mens sana in corpore sano“. Ein- bis zweimal täglich badete er – bei angemessenen Temperaturen – in der Mosel. „Er ermangelte auch nicht, uns, seinen Kindern die Befreundung mit dem kalten Wasser angelegentlich zu empfehlen, und wir, wenigstens Carl, Franzisca und ich … schlossen uns des enthusiastischen Vaters Beispiel möglichst eifrig an. Jeden Morgen um 5 Uhr wanderten wir mit dem Vater hinaus über St. Matthias nach dem ,Herrenbrünnchen‘, einem klaren Quell gesunden Wassers, und schlürften der Becher mehrere“ 5 , pries Ferdinand das Vorbild des Vaters. Ferner „stärkte (man) den Körper durch kalte Waschungen und Nachmittags-Wanderungen über Berg und Thal.“ 6 Jenny wird sich diesen Vergnügungen angeschlossen haben.

1 Krosigk, Jenny Marx, S.16

2 Krosigk, Jenny Marx, S.16

3 Krosigk, Jenny Marx, S.17

4 Gemkow, Aus dem Leben einer rheinischen Familie, S.510

5 Gemkow, Aus dem Leben einer rheinischen Familie, S.512

6 Gemkow, Aus dem Leben einer rheinischen Familie, S.512

Politische Sozialisation in der Grenzstadt Trier

Ludwig von Westphalen war dienstbeflissen und loyal, aber er gehörte nicht zum Typus des bornierten, stockkonservativen Staatsbeamten; im Gegenteil, er glaubte, dass es für seinen Staat gut sei, sich nicht der gesellschaftlichen Entwicklung entgegenzustellen, sondern den Bürgern Mitspracherechte zuzugestehen. Hatten nicht die Befreiungskriege gezeigt, wozu Preußen imstande war, wenn die Bevölkerung sich mit ihrem Staat solidarisierte? Das Untertanentum mit der Knute zu zementieren, schien ihm unvernünftig und ein Grund für die Unzufriedenheit zu sein, gerade beim Bürgertum, dem Träger des modernen Gemeinwesens. Mit dieser Einstellung war er vermutlich nicht alleine, aber einflusslos. Der preußische König ließ seinen Herrschaftsanspruch nicht in Frage stellen. Friedrich Wilhelm III. (1770 – 1840), Ehemann der legendären Königin Louise, verfolgte eine restaurative Politik mit absolutistischen Tendenzen und verschärfte diese anlässlich der Unruhen im Jahre 1830. Mit Zar Alexander I. und Metternich ging er konform in der Verfolgung aller freiheitlichen Bewegungen.

Die Rheinprovinz und insbesondere deren Regierungsbezirkshauptstadt Trier waren für die preußische Regierung angesichts dieses Herrschaftsverständnisses keine leicht zu regierende Region. Hinzu kam die schlechte wirtschaftliche Lage. Die Befreiungskriege 1813/14 hatten einen hohen Tribut bei der Zivilbevölkerung gefordert. Blüchers Stabschef, der spätere Generalfeldmarschall Gneisenau, berichtete, er habe noch nie so ausgemergelte und ausgehungerte Gestalten gesehen wie in der Trierer Gegend, mit einer Ausnahme, nämlich französische Kriegsgefangene in russischen Lagern. Mit diesen Bildern vor Augen wurde Oberbürgermeister Wilhelm von Haw bei der preußischen Regierung mit der Bitte vorstellig, die wirtschaftliche und finanzielle Misere in seiner Stadt zu mildern. Die von ihm zur Bekämpfung der Armut der „untersten Volksklasse“ geforderten 1.500 Taler wurden nicht bewilligt, man stellte lediglich 600 Taler zur Verfügung. Der Oberbürgermeister beschrieb 1830 die Stimmung in seiner Stadt: „Oft muß man hören, dass die Einwohner als französisch gesinnt, als der preußischen Regierung abgeneigt beschrieben werden und beschuldigt werden. Eine so unvernünftige Beurteilung, die wir von vielen uns ganz fremden Beamten, die das Land nicht kennen, die Denkart der Einwohner nicht verstehen und unter denen manche durch einen perfiden Gegensatz sich geltend zu machen suchen, erlitten haben, ist eine empörende Misshandlung. Wer zu denken, zu vergleichen und zu verurteilen vermag, der weiß, dass in Hinsicht auf die Volksstimmung die übergänge nicht zu erzwingen und wesentliche Veränderungen nur von der Dauer der Zeit zu erwarten sind. Umgeben von Tumult, Aufruhr und Empörung, hat die Rheinprovinz ungeachtet aller Keime der Unzufriedenheit die öffentliche Ruhe und Ordnung bewahrt. Im Vertrauen auf die Gerechtigkeit und die Einsichten des Königs werden wir eine bessere Zukunft ruhig abwarten. Lindere man den Druck der unerträglich gewordenen Steuern, dann werde ich mich innig freuen, und alle rechtlichen mit mir, beteuern zu können, dass die Rheinländer und namentlich die Trierer mit wahrer Liebe für die Person des Königs Ergebenheit und Anhänglichkeit für die Regierung vereinigen, daß man auf ihre unverbrüchliche Treue und unbeschränkte Zuneigung zählen dürfe.“ 1 Falsche Anschuldigungen von Beamten, die unfähig waren, die Situation der Bevölkerung zu verstehen, wurden hier verbrämt angeprangert. Und solange die empörenden, ruinierenden Steuern auf den Einwohnern lasteten, konnte man nicht verlangen, dass der König und mit ihm die Preußen beliebt waren. Die Politik der Herrschenden, getrieben von der Angst vor der eigenen Bevölkerung und einzig auf den Machterhalt einiger Cliquen zielend, wurde von vielen rigoros abgelehnt. Die „Trier’sche Zeitung“ setzte sich für Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit ein und trotz scharfer Zensur war sie für den Oberpräsidenten der Rheinprovinz „eins der radikalsten Blätter deutscher Sprache.“ 2 über Jahre hinweg unterstützten die Redakteure die kritische Haltung der Bürgerschaft und forderten politische und soziale Reformen ein.

In Trier befürchteten die preußischen Behörden wiederholt Unruhen, denn aus Sicht des Historikers Gemkow gab es „Vorzeichen ... bereits in Form von Drohungen und Missmut bei den Unterprivilegierten. Der Regierungsbezirk Trier galt hinsichtlich des Lebensstandards der Bewohner als der schlechteste, erbärmlichste im preußischen Hoheitsgebiet. Die seit Jahren zunehmende Not der unteren Schichten, die drückenden Mahl- und Schlachtsteuern, die wachsende Zahl an gerichtlichen Pfändungen und Versteigerungen, an Konkursen und Verpfändungen in der Stadt – bis in die Mittelklasse hinein – machten die Einwohner 1830 empfänglich für revolutionäre Einflüsse. Mannigfache regierungs- und preußenfeindliche Aktivitäten in Trier ließen die Behörden sogar einen politischen Aufstand befürchten.“ 3 In solch einer preußischen Behörde war Jennys Vater federführend; neben Hospitälern und Wohltätigkeitsanstalten fielen in sein Ressort Gendarmerie und Gefängnisse. Der liberale, königstreue Beamte hoffte in einem Brief an Friedrich Perthes, den Vetter seiner Frau, auf die „Weisheit und vaterländische Huld“ des Königs, „dass aus der gegenwärtigen Verwirrung der gleichsam aus ihren Angeln gehobenen politischen Welt die wahre Freiheit im unzertrennlichen Bunde mit der Ordnung und Vernunft, gleich einem Phönix aus der Asche hervorgehen werde.“ 4 Westphalen hielt es für einen Fehler, die noch von der französischen Verwaltung eingeführte Personal- und Mobiliarsteuer durch eine viermal höhere Klassensteuer zu ersetzen, denn damit werde die Verelendung nur gesteigert. In einem Rechenschaftsbericht von 1829 monierte er, „daß (es) der mittleren und geringen Klasse der Landbewohner an Arbeitsverdienst und Erwerbsmitteln fehle.“ 5 Es bleibe demzufolge nur eine Gruppe von ländlichen Bewohnern übrig, der es gut gehe, nämlich die obere Klasse, die durch einige Großbauern und adlige Großgrundbesitzer repräsentiert werde. Er machte auf „wirklich vorhandenen großen Nothstand“, zunehmende Verarmung und großen Geldmangel, auch bei der Mittelschicht, aufmerksam und verwies auf die äußeren Anzeichen der prekären Lage. Viele Häuser waren trotz schöner Fassaden baufällig und 30 größere Häuser standen nach dem Abzug der Franzosen leer. Es gab keine Wasserleitungen, höchstens einen Hausbrunnen, und das Schmutzwasser wurde in die Straßenrinnen gekippt. Ratten und Ungeziefer und demzufolge Krankheiten und Epidemien blieben nicht aus. 1849 und 1865/66 forderten Cholera-Epidemien viele Todesopfer in Trier.

Die Wirtschaft stagnierte. Man zögerte, in der Grenznähe Industriebetriebe anzusiedeln, denn wozu investieren, wenn man nicht wusste, wann sich die preußische Armee mit französischen Truppen in diesem Gebiet wieder bekriegen würde? Um die Truppen im Bedarfsfall schneller aufmarschieren lassen zu können, wurde 1860 eine Eisenbahnverbindung zwischen Luxemburg, Trier und Saarbrücken gebaut.

Der einstmals schwungvolle Weinhandel lag am Boden und führte zu einer Verelendung der Winzer. Ludwig Gall (1791 – 1863), Regierungssekretär, Erfinder und Sozialtheoretiker, prangerte das Elend in Trier in seinem 1825 erschienenen Buch „Was könnte helfen?“ an und machte Vorschläge zur Verbesserung. Gall half konkret, indem er 1854 zur Verbesserung des Weines das heute nicht mehr zulässige Verfahren der „Nasszuckerung“ propagierte und damit den Winzern an der Mosel ihre Existenz sichern half. Ludwig von Westphalen wird Gall gekannt haben.

Die Arbeitslosen, Winzer und Tagelöhner aus dem Umland drängten in die Stadt und vergrößerten die Zahl der Armen. 1834 wurde die Straßenbettelei verboten, aber diese Anordnung ließ sich nicht durchsetzen, die Not war zu groß. Das Elend zeigte sich auch daran, dass viele Kinder die Schule nicht besuchen konnten, weil sie nicht in Lumpen im Unterricht erscheinen sollten. Holzdiebstahl und Forst- und Feldfrevel nahmen zu und mit dem Zuzug des Militärs stieg die Prostitution erheblich an. 6 Das Militär, das 10 – 15% der Bevölkerung ausmachte, war ein besonderer Kostenfaktor, da die Stadt für dessen Verpflegung und Einquartierung zumindest teilweise zuständig war. 7 Von der Bevölkerung gehörten 21% zur Mittelschicht und nur 1% zur Oberschicht. 78% der Stadtbevölkerung vegetierten am Existenzminimum, ein Viertel davon lebte von Fürsorge und Almosen. Von 16.973 Einwohnern (mit Frauen und Kindern) erfüllten 1846 nur 728 Männer über 25 Jahren die Bedingungen für das Zensuswahlrecht, das ein Jahreseinkommen von mindestens 300 Talern vorschrieb. Da sich für den Mittelstand zunehmend eine Verelendung abzeichnete, stieg die Aussicht auf soziale Unruhen in einer breiten Bevölkerungsschicht.

Die Ungerechtigkeit des Systems bereitete Vater Westphalen Sorgen und er verschwieg seine Befürchtungen zu Hause bei der aufgeweckten jungen Jenny, bei Sohn Edgar und dessen Freund Karl im nachmittäglichen Kreise nicht. Jenny hatte den Vater einige Male auf seinen Inspektionsreisen begleitet und wurde dabei auf die bittere Not der Menschen aufmerksam. Das Elend der Landbevölkerung, der Bauern und Winzer, hinterließ bei ihr einen bleibenden Eindruck; ihr „Mitleiden“ mit den Unterdrückten, die Tag und Nacht schufteten und dennoch am Existenzminimum dahinvegetierten, war geweckt. Obwohl es nicht schaden konnte, wenn eine zukünftige Herrin wusste, aus welchen Verhältnissen ihre Bediensteten stammten, sie also Gutes tat, wenn sie den elenden Geschöpfen Kost und Logis gab, sollte der Einblick in die Lebensverhältnisse der unteren Klasse keinesfalls zu einer Forderung nach Veränderungen führen. Aber wie sollte Jenny sich systemkonform entwickeln, wenn der eigene Vater mit ihr und den beiden jungen Männern offen über die Missstände in einem Staat sprach, welcher es zuließ, dass ganze Bevölkerungsgruppen darbten? Nur wer Leistungen und Güter produziere, so hieß es in der von ihnen diskutierten Lehre von Henri comte de Saint-Simon (1760 – 1825), sei für die Gesellschaft von Nutzen und solle angemessen nach Leistung entlohnt werden. Die Verteilung des Sozialprodukts solle gerecht erfolgen, war eine seiner Forderungen. Die Vorstellungen des Vorvaters der wissenschaftlichen Soziologie und des utopischen Sozialismus´ fielen auf fruchtbaren Boden bei Jenny, Edgar und Karl, die die Kluft zwischen Arm und Reich in der Stadt und der Umgebung täglich beobachten konnten. Bei jedem Gang durch Trier und jeder Wanderung oder Fahrt in die Umgebung konnten sie Armut, Verwahrlosung und Bedürftigkeit registrieren.

Es war nur eine Frage der Zeit, bis die jungen Leute sich als Vertreter des „Jungen Deutschland“ sahen, einer literarischen Bewegung dieser Zeit, die demokratische Freiheitsrechte und soziale Gerechtigkeit einforderte. Dennoch waren die Eltern nicht übermäßig beunruhigt: Vater Westphalen war das Vorbild und er war kein Oppositioneller, kein Antimonarchist, nur ein kritischer, denkender Beobachter. Jennys und Karls Lebenswege schienen vorgezeichnet: Jenny würde einen Mann von Adel heiraten und Kinder bekommen, Karl nach einem Studium seine Fähigkeiten in den Dienst des preußischen Staates stellen und vielleicht die gesellschaftlichen Missstände in Trier und im Rheinland verbessern helfen.

1 Böll, Aufsätze,Kritiken,Reden, S.90/91

2 Monz, Karl Marx, Grundlagen der Entwicklung zu Leben und Werk, S.107

3 Gemkow, Edgar von Westphalen, S.407/408

4 Gemkow, Edgar von Westphalen, S.408

5 Krosigk, Jenny Marx, S.17

6 Monz, Karl Marx. Grundlagen der Entwicklung zu Leben und Werk, S.86

7 Monz, Karl Marx. Grundlagen der Entwicklung zu Leben und Werk, S.86

Verliebt, verlobt, getrennt

Die Jahre 1830 und 1831

Jenny von Westphalen stand im Mittelpunkt der Familie. Die junge Frau bezauberte durch ihre Intelligenz und nahm durch ihr Interesse an aktuellen Themen und gesellschaftlichen Problemen für sich ein. Offene Parteinahme für die Armen oder Aufmüpfigen entschuldigte ihr Umfeld mit jugendlicher Unreife. Nur mit dem ältesten Bruder gab es immer wieder Reibereien. Ferdinand machte aus seiner Regierungstreue und seiner Ergebenheit zum preußischen König keinen Hehl und stieß damit auf Unverständnis und Widerspruch bei seiner jüngeren Schwester. Der Karrierejurist, sehr adelsbewusst, zeigte sich zudem den im väterlichen Haushalt lebenden Frauen gegenüber recht überheblich. Die „Damen benehmen sich ganz artig, jedoch lasse ich mich mit ihnen nicht vertraulich in wichtige Unterhaltung ein, u. setze ihnen in der Regel ein ernstes etwas phlegmatisches Antlitz entgegen“ 1 , schrieb er seiner Braut. Stiefmutter Caroline, ihre Schwester Christiane Heubel, die seit 1817 im Westphal’schen Haushalt lebte, und Jenny hätten gerne mit ihm über seine zukünftige Frau, Louise von Florencourt, geplaudert und ihm Einrichtungstipps für seine neue Wohnung in Bitburg gegeben, aber er unterband jegliche Vertraulichkeit. Ferdinand war nicht bereit, sich „mit diesen gleichgültigen abstoßenden Personen … in Unterhaltungen über das einzulassen, was mir das Liebste und Edelste auf der Erde ist und was wäre es dann auch, wenn sie in Dein Lob u. in mein Glück Deinetwegen mit einstimmten, müsste ich mir ja doch stets sagen, dass es nicht aus ihren Herzen kam. So erwiedre ich denn auf ihre Abneigung mit Kälte und Trockenheit.“ 2 Zum Eklat ließ er es wegen des Vaters, dessen angenehmes Wesen allgemein betont wurde, nicht kommen. Ferdinands Mutter, Ludwigs erste Frau, hatte des Vaters Sanftmut, seine seltene Herzensgüte und die immer gleiche Gemütsstimmung gerühmt, und diese Meinung teilte Caroline, die zweite Frau. „Ein herrlicher Charakter, durch den ich hienieden einen Himmel genieße, alle Stürme des Lebens tragen wir mit Liebe untereinander, denn oft hat freilich das Schicksal unsanft an uns gezerrt, aber wer eine solche Stütze hat wie ich an ihm habe, da sinkt mein Fus nicht“ 3, pries sie ihren Mann bei Vetter Perthes. Ein solcher Mann war ein guter, verständnisvoller, liebevoller Vater, aber Ferdinand wünschte sich von ihm mehr Durchsetzungskraft. In seinen Lebenserinnerungen beklagte er: „Der edle Vater waltete über dem Ganzen in seiner unzerstörbaren Freundlichkeit und Selbstverleugnung, mit seinem fein gebildeten Geist und angeborenen Takt sich mehr unterordnend und zurückhaltend, als ihm seiner höher angelegten Persönlichkeit zukam. … Doch es lag nun einmal ein hinderndes Etwas, eine unübersteigliche Schwierigkeit im Wege – … vorwiegend in den Eigenthümlichkeiten seiner Gattin, deren Bildungsstandpunct und Begabung so ganz verschieden war von der seinigen. Dies trat denn auch in der Art und Weise der Erziehung der Kinder, sowohl was die leibliche Wartung, als was Zucht und Gehorsam betrifft, immer bemerkbarer hervor. Das leitende Princip der Mutter war, den lieben Kindern ihren Willen lassen! – und sie wurden von ihr, man kann sagen, ihnen in’s Angesicht gelobt, selbst, wenn sie dumme Streiche machten und was sich nicht schickte, ward entschuldigt oder – nicht gesehen, vor allem aber Fremden, den Freunden gegenüber, wurden der Kinder vortreffliche Eigenschaften herausgestrichen.“ 4 Eine moderne Erziehung, die Ferdinand nicht gutheißen konnte. Sein gnadenloses Urteil über die in seiner Wahrnehmung leicht proletarisch angehauchte und nicht standesgemäße Stiefmutter verriet ein angespanntes Verhältnis. Wenigstens erinnerte er sich, dass „etwas dieser Art … wir Älteren schon in Salzwedel erfahren (hatten); was Wunders, dass wir – ich nehme Carl aus – uns am Ende selbst besser und tüchtiger dünkten, als wir waren.“ 5 Das mochte bei ihm zutreffen. Obwohl der Erstgeborene nach dem Tode des Vaters den Kontakt zur Stiefmutter und seinen Halbgeschwistern hielt, leugnete er sie. In seinen Erläuterungen zu den von ihm 1859 herausgebrachten Manuskripten seines Großvaters erwähnte er nicht mit einem Wort die zweite Ehe seines Vaters. Jenny war empört, denn damit unterschlug er nicht nur 30 glückliche Lebensjahre des Vaters, sondern auch ihre und Bruder Edgars Existenz. Auf diese Weise konnte er nach Ansicht Jennys sie „geschickt um ihr, ihn störendes, Dasein bringen.“ 6 Einer der Gründe für sein Verschweigen war, dass er seine Halbschwester Jenny, eine geborene von Westphalen, nicht erwähnen wollte, weil diese inzwischen Frau Marx, die Frau eines Staatsfeindes, geworden war. Es war ihm nicht daran gelegen, dieses Faktum der Öffentlichkeit ohne zwingenden Grund zu unterbreiten.

Jenny wuchs unbeschwert in angenehmen Verhältnissen zu einer jungen Frau von Stand heran. „Meine älteste Tochter Jenny … schön an Seel und Körper, sie ist unsere wahre Freude im Leben …“ 7, schwärmte die Mutter bei ihrem Vetter über die Tochter, ein großes, schlankes Mädchen mit einem hübschen, schmalen Gesicht und ausdrucksvollen Augen, umrahmt von dunklen Haaren. Bald schon wurde die junge Adlige von der Männerwelt umworben, ihre Heiratschancen waren vorzüglich. „Jenny war ein mit den Reizen der Jugend ausgestattetes, schönes Mädchen, ausdrucksvollen Antlitzes, durch ihren hellen Verstand und energische Charakter-Anlagen die meisten ihrer Altersgenossinnen überragend. Es konnte nicht fehlen, dass sie unter den jungen Männern aller Augen auf sich zog“ 8, schrieb Bruder Ferdinand stolz an seinen Schwiegervater. Sie werde „fleißig von Curmachern umschwärmt, soll jedoch fortfahren, denselben ihr sangfroid – was in diesem Stücke gut angebracht ist – entgegenzusetzen.“ 9 Die Baronesse zeigte nicht die kalte Schulter, als ein Karl von Pannewitz aus Schlesien auftauchte. Die inzwischen zur „Ballkönigin“ avancierte Sechzehnjährige verliebte sich in den schneidigen, zackigen Secondeleutnant mit den guten Umgangsformen, und nach kurzer Bekanntschaft hielt dieser bei Vater Ludwig um ihre Hand an und erhielt die Zustimmung. Jenny war selig, turtelte mit dem schmucken Militär und fühlte sich wichtig im Kreise der jungen Damen, die, kaum erwachsen, von einem Manne zur Frau begehrt wurden. Die Verlobung fand (vermutlich) im Frühling 1831 statt. Alles schien den vorbestimmten Weg zu nehmen und die romantische Jenny träumte von Hochzeit.

Im Casino am Kornmarkt in Trier avancierte Jenny von Westphalen zur Ballkönigin

Laut den preußischen Militärakten gehörte ein Secondeleutnant Karl von Pannewitz (9. März 1803 – 16. Oktober 1856) dem 2. Bataillon des Infanterieregiments Nr. 28 an, das vom 8. Oktober 1830 bis zum 15. Juli 1831 in Trier und bis Mai 1832 im Hochwald stationiert war. Im Hause 462 bezog vom 8. Oktober bis zum 16. Dezember 1830 nachweislich ein von Pannewitz Quartier.

Die Verbindung zwischen der kapriziösen Baronesse und dem Leutnant sorgte bald für Gerede. Louise, inzwischen Ferdinands Frau, mischte eifrig mit. Nachdem sie von Caroline von Westphalen in einem „Triumphbrief“ von der Verlobung erfahren hatte, teilte sie im Oktober 1831 ihrer Mutter wichtigtuerisch mit: „Desto unangenehmer wurden aber wir durch Deine Nachrichten, Jenny’s neu geknüpftes Verhältniß betreffend, überrascht. Mir ist es noch ganz unerklärlich, wie die Mutter so schnell von ihrem wahrhaft unvernünftigen Enthusiasmus zurückgekommen ist, u. wie überhaupt die Enttäuschung in so kurzer Zeit so grell hat erfolgen können. Begierig sehen wir nun Alle Euren weiteren Bemerkungen über dieses leider! so bald von seinem ersten schönen Nimbus entkleidete Verhältniß entgegen, u. vor allem wünschen wir Jenny’s Empfindungen näher ergründen zu können, indem Ferdinand mit mir der Meinung ist, daß wenn das arme bethörte Mädchen jetzt schon den übereilten Schritt bereut, die Auflösung der Verbindung für alle Theile sehr zu wünschen ist. Wahrlich, Mutter u. Tochter dauren mich Beide sehr!“ 10 Im Familien-, Verwandten- und Bekanntenkreis wurde vermutlich über Probleme zwischen Fräulein von Westphalen und Karl von Pannewitz geklatscht, aber man war noch im Ungewissen, ob es zu einer Aufkündigung der Verlobung kommen würde. Louise zerbrach sich über Dinge den Kopf, die sie eigentlich nichts angingen. Sie bedauerte vor allem ihren Schwiegervater, den „Pylades“, denn ihr erschien „die Mutter, die doch wahrscheinlich die Hauptbeförderin von Jennys Verlobung gewesen ist, um so unverantwortlicher, da es bei wahrer Liebe für ihren ausgezeichneten Mann ihr erstes Streben hätte sein sollen, ihn … zum Verlassen des Geschäftslebens zu überreden, statt daß sie ihn, durch das eitle Befördern jener thörichten Verbindung … noch fest an seine Ketten geschmiedet hat. Oh, möchte doch dieses unpassende Verhältnis aufgelöst werden!“ 11 Nach ihrer und Ferdinands Ansicht hätte Ludwig von Westphalen aus gesundheitlichen Gründen den Dienst quittieren sollen.

Louise bat ihre Eltern, die in Trier lebten, um alle relevanten Informationen, denn der weiteren „Entwicklung von Jennys merkwürdigem Verhältnisse, sehen wir begierig entgegen.“ 12 Von Schwiegermutter Caroline hatte die Neugierige nämlich wenig befriedigende Auskünfte erhalten: „In der sie betreffenden Hauptsache, äußert sie sich übrigens sehr wenig und dunkel, so dass wir, ohne Eure vorhergegangenen Erläuterungen, von Jennys jetzigem Verhältnisse gar keine richtige Ansicht bekommen hätten.“ 13 Voller heuchlerischer Anteilnahme bat Louise ihre Mutter, Frau von Westphalen zu versichern, „daß es mir gewiß um Jennys und um ihretwillen sehr leid thäte, dies Verhältniß, von dem sie sich so viel Freude versprochen hätte, so trübe umwölkt zu sehen, dass ich indessen sehr hoffte und wünschte, dass sich diese betrübte Angelegenheit noch auf ein oder die andre Weise zu ihrer Zufriedenheit endigen würde.“ 14 Ihre Doppelzüngigkeit verriet ihr ambivalentes Verhältnis zu ihrer Schwiegermutter. Sie zeigte Adelsdünkel und Arroganz und vergaß, dass ihre Mutter ein gebürtiges Fräulein Wegener war, das sich „hochgeheiratet“ hatte; somit war auch sie wie Jenny halb bürgerlich. Vielleicht förderte Caroline von Westphalen gerade deshalb die Liaison Jennys mit dem adligen Leutnant, damit der Makel wie bei Louise beseitigt werden konnte.

Die Entlobung erfolgte spätestens Ende Oktober 1831 und natürlich suchte Louise nun in den Briefen an ihre Eltern nach den Ursachen. Sie konnte „noch immer nicht begreifen, was für gewichtige neue Gründe meine Schwiegereltern u. Jenny so schnell gegen diese Verbindung eingenommen haben. Die schlechten pecuniären Aussichten für die Zukunft sind ja die nämlichen geblieben, als sie bei der Schließung dieser Verbindung waren: die Hauptgegengründe müssen jetzt also wohl in der Persönlichkeit des H. v. Pannewitz aufgefunden sein; doch schreibt meine Schwiegermutter, dass sie sich in seinem Charakter zwar nicht geirrt hätten“ 15, aber der „Hauptfehler des H.v.P.“, so hatte Louises Mutter kolportiert, sei dessen „Mangel an Kenntnis und an Sinn daran!“ 16 Bildungsmangel und Bildungsunlust waren für Louise natürlich „ein großer übelstand“, „doch hätten wir nicht geglaubt, daß dieser von Seiten der Mutter u. Jenny’s so hoch angeschlagen würde, u. glauben überhaupt nicht, daß dieser neu entdeckte Fehler einen alleinigen gewichtigen Grund zur Auflösung der Verbindung darbieten könnte, wenn nicht bedeutendere Charakter – u. moralische Fehler noch zum Grunde liegen.“ 17 Die Forderung nach Bildung über das übliche Maß hinaus konnte bei der so kritischen Jenny eigentlich kaum überraschen. Louise verbiss sich in das Thema, nahm die Rolle der ungeliebten Caroline von Westphalen und deren Schwester Christiane ins Visier. Zu ihren Eltern: „Fast möchte ich sagen, dass mir das jetzige Benehmen der beiden ältern Damen gegen den unglücklichen Liebhaber noch weit mehr widersteht als ihr früheres; oder um mich deutlicher auszudrücken, dass die thörichte, eitle Verblendung, die sie früherhin zum Begünstigen und Befördern dieser Verbindung bewog, mir fast noch verzeihlicher erscheint, als ihre jetzige Härte, Ungerechtigkeit u. Indelicatesse in Behandlung dieses Verhältnisses. Ja wenn nicht wirklich, uns sämtlich verschwiegene, bedeutende moralische Fehler, der Abneigung der beiden ältern Damen gegen H.v.P. zum Grunde liegen, so möchte ich behaupten, daß ihrem Verfahren gegen ihn sogar alle Rechtlichkeit fehlt. Wenn aber wirklich moralische Flecken an dem armen Verfolgten durch die spähenden Beobachtungen hätten aufgefunden werden können, so würden sie diesen Makel sicher nicht verschwiegen haben, da ihnen dadurch das leichteste und gerechteste Mittel zu der von ihnen so heiß gewünschten Auflösung der Verbindung in die Hand gegeben würde.“ 18 Die Stiefschwiegertochter vermutete letztendlich „gekränkte Eitelkeit“ bei den Damen: der Leutnant habe ihnen nicht mehr hofiert und sei deshalb in Ungnade gefallen. Louise ergriff Partei: „Bei aller Oberflächlichkeit und Alltäglichkeit des jungen Mannes, die ich, ohne ihn zu kennen, reichlich suggerire, dauert er mich doch indem er unrechtlich und unpassend behandelt wird. – Ja, der sonst so ruhige Carl meinte in seiner Entrüstung über die ganze Sache, dass, wenn er an H. v. Pannewitz Stelle wäre, er wohl wüsste, welch einen Aufsage-Brief er den sämtlichen Damen zusenden würde.“ 19 Sogar Bruder Carl wurde instrumentalisiert, damit Louise sich moralisierend aufspielen konnte. Für sie war zudem „das Umhertreiben auf Casino-Bällen unter solchen Umständen (...) fast eine öffentliche Blame zu nennen.“ 20 Jenny war zwar jung und lebenslustig, aber keine Herumtreiberin. Bruder Ferdinand hoffte auf Einsicht der Schwester nach der gescheiterten Verlobung, „wenn es ihr bei ihrem sonst verständigen Urtheil nicht bereits gelungen sein sollte. Aber mindestens bleibt immer eine harte sehr empfindliche Lehre zurück.“ 21 Er stellte bei seinem Schwiegervater Erwägungen zum Ende der Beziehung an, nämlich „dass der Mangel an Vermögen auf beiden Seiten … nicht als ein wesentliches Hinderniß erschienen ist; dagegen zählte ich umso gewisser auf die anderen guten und für die Zukunft noch mehr versprechenden Eigenschaften; sobald hierin aber bei dem Mann nur ein gewöhnlicher Grad anzutreffen war, u. zwar so wie er im Offiziersstande eben vorkommt, – musste ich auch die Sache für ein wahres Unglück ansehen.“ 22 Der Bruder begrüßte letztendlich die Trennung von dem doch sehr durchschnittlichen Leutnant. Mit keinem Wort ging er hingegen darauf ein, die Eltern hätten die Verlobung wegen zu naher Verwandtschaft zu der Familie von Pannewitz nicht gut geheißen. Die Mutter der ersten Frau Ludwigs war eine Friederike Albertine von Pannewitz gewesen, und dies führte in der Literatur zu überlegungen, ob nicht zu enge familiäre Verbindungen vorlagen. Dies ist im Prinzip für die Kinder aus der zweiten Ehe irrelevant.

Schwägerin Louise ereiferte sich auch Anfang Januar 1832 noch. Während ihre Familie in aller Bescheidenheit Weihnachten gefeiert hatte, missfielen ihr die Festlichkeiten bei ihrer Schwiegerfamilie. An ihre Eltern: „In Jenny’s Gemüth muß aber auch kein Fünkchen Gefühl wohnen, sonst würde sie sich doch schon aus Mitleid mit ihrem unglücklichen ihr so viel Liebe bewiesen habenden Verlobten, gegen solch eine unpassende Feier gewehrt haben. … Wie lange wird es dauren, u. der erste, beste Nachfolger tritt an H. v. Pannewitz Stelle, wenn die etwaigen Bewerber nicht durch die dem Armen widerfahrene Behandlung etwas kopfscheu gemacht sein sollten.“ 23 Was die Schwägerin nicht ahnte, war, dass der „erste, beste Nachfolger“ bereits in unmittelbarer Nähe war. Ausgehend von ihrer begierigen Anteilnahme an Jennys erster Verlobung lässt die Vorstellung schaudern, wie sie sich über die nächste Liaison geäußert hat.

Von den Hauptpersonen liegt keine Äußerung zu dieser Episode vor, und so bleiben nur Mutmaßungen. Für Jenny von Westphalen war des Leutnants engstirnige Geisteshaltung für die Trennung entscheidend gewesen. Der preußische Soldat hatte Gehorsam und Exerzieren gelernt, selbständiges Denken und kritische Auseinandersetzungen waren ihm fremd. Er sah keinen Sinn darin, Bildung und Wissen über das übliche Maß hinaus zu erlangen. Wider Erwarten zeigte sich die Verlobte nicht nur an Handarbeit, sondern auch an Literatur und sozial-politischen Themen interessiert. Die Gründung des Staates Belgien und vor allem die Julirevolution in Frankreich 1830 waren Diskussionsthemen im häuslichen Kreise gewesen und Jenny wollte auch bei Pannewitz zu den brennenden politischen Fragen nicht brav schweigen, wie es von einer jungen Dame von Stand erwartet wurde. Noch schlimmer: Die Braut votierte nicht für das Niederschlagen revolutionärer Aktionen durch das Militär. Ihr Verlobter hingegen zeigte vermutlich keinerlei Verständnis und Sympathie für die Aufrührer. Für ihn war das Eingreifen der Armee eine Selbstverständlichkeit. Er war bereit, die aufmüpfigen Bürger in Trier niederzuschießen und niederzustechen, ganz nach Friedrich Wilhelms IV. späterem Motto: „Gegen Demokraten helfen nur Soldaten“. Bei näherem Kennenlernen behagte Jenny die Einstellung des Verlobten immer weniger, und ihr Verhalten wurde eine Herausforderung für den elf Jahre älteren Leutnant, der er nicht gewachsen war. Inwieweit es Jenny als chic empfand zu opponieren, mag dahingestellt sein, aber sie fühlte in ihrem Innersten, dass ihrem Leutnant noch etwas fehlte, was sie für unverzichtbar hielt: ein soziales Gewissen, d.h. Empathie mit den Armen und Bedürftigen und Verständnis für die aufgeklärten, mündigen Bürger, die Mitspracherecht in ihrem Staat einforderten und nicht länger Untertanen sein wollten. Das musste keineswegs eine prinzipiell antimonarchische Haltung bedeuten, aber der Soldat Karl von Pannewitz empfand es als zu provozierend, dass das 17-jährige Fräulein eine andere – aus seiner Sicht revolutionäre! – Meinung vertrat. Sie oder er zogen die Konsequenz.

Schwägerin Louise mag durchaus richtig mit ihrer Beobachtung gelegen haben, dass Mutter und Tante in beide Entscheidungen involviert waren. Jennys Wahl des protestantischen, adligen, preußischen Leutnants Pannewitz konnten sie eigentlich nur gutheißen, zumal die Mitgift der Braut bescheiden war. Inwieweit sie zur Entlobung rieten, ist nicht zu belegen.

Die Trennung war letztlich ein guter Schritt. Wäre Jenny mit Karl von Pannewitz in den Stand der Ehe getreten, wäre ihr Leben typisch für eine Adlige verlaufen. Sie hätte in ihren Kreisen verkehrt, hätte standesgemäß repräsentiert und ein materiell abgesichertes Leben geführt – allerdings mit dem Risiko, wie manche Frauen ihrer Zeit aus Mangel an geistiger Anregung zu verkümmern.

Die „harte, empfindliche Lehre“ war schnell abgehakt. Schwägerin Louise meinte nun mitfühlend: „Da Jenny die Bälle wieder besucht, so nehmen wir denn an, daß auch ihr Trübsinn hoffentlich mehr und mehr weicht.“ 24 Bald träumte die Baronesse wieder von der großen Liebe. Interessante Männer gab es in der Garnisonsstadt einige, und sie würde schon einen passenden Mann aus ihren Kreisen finden. „Die Betheiligung an den gesellschaftlichen Verhältnissen Triers hatte sich im Hause meiner Eltern einigermaßen gesteigert, indem die Mutter, in lebhaftem Interesse für den Eintritt ihrer Tochter Jenny in die Welt, den gesellschaftlichen Verpflichtungen ihre ganze Aufmerksamkeit zuzuwenden sich gedrungen fühlte, so weit dies irgend mit den beschränkten Einnahmen des Vaters zu vereinigen stand“ 25, bemängelte Ferdinand in seinen Lebenserinnerungen die kostenintensive Heiratspolitik der nach Höherem strebenden Stiefmutter. Caroline zog alle Antipathie auf sich, war der Sündenbock, nicht der gute Vater.

Die Entwicklung der Kinder Ferdinand, Franziska und Lisette aus der ersten und Jenny und Edgar aus der zweiten Ehe von Ludwig von Westphalen, Carl lässt sich nicht eindeutig zuordnen, verlief unterschiedlich. Die Diskrepanz lässt sich besonders gut an Jenny und Ferdinand, den dominierenden Kindern, ausmachen. In ihrem politischen und gesellschaftlichen Denken gab es erhebliche Unterschiede. Ferdinand empfand beispielsweise die bürgerliche zweite Frau des Vaters bereits als Pubertierender als nicht standesgemäß, trotz ihrer Zugehörigkeit durch die Heirat zum Adelsstand. Auch wenn ihm nachgesagt wurde, er sei in jugendlichem übermut liberal und systemkritisch eingestellt gewesen, war dies bei ihm wie bei so vielen nur eine kurze Phase. Ferdinand internalisierte die Grundsätze seines feudalistisch geprägten Staates, war für Karl Marx ein Aristokrat „comme il faut“. Möglicherweise hätte er anders empfunden, wenn er seine Entwicklungsjahre in Trier verbracht hätte. Seine Schwester Jenny diskutierte zu Hause in aller Offenheit mit dem Vater, Edgar und Karl über die Missstände in Staat und Gesellschaft und dabei war ihr nicht verborgen geblieben, dass der Vater aufgeschlossener für die Anliegen des liberalen Bürgertums war, als er offiziell zugeben durfte. Jenny erlebte, dass auch Nicht-Adlige über Geist und Ausstrahlung verfügten, so Heinrich Marx und sein Sohn Karl. Inwieweit die Mutter ihre bürgerliche Herkunft thematisierte, ist nicht belegt, aber da auch Vater und Schwester Heubel im Haushalt lebten, gab es keine Standesunterschiede in Jennys engstem Umfeld. Es kam der jungen Frau nie in den Sinn, die Mutter geringer zu achten, nur weil sie bürgerlich war. Sie war im Gegensatz zu Ferdinand ohne Vorurteile und überlegenheitsgefühl anderen Menschen gegenüber.

„Jenny sei ein schwer zu lenkendes Mädchen mit einem Gerechtigkeitsgefühl gewesen, das zu leidenschaftlichen Ausbrüchen führen konnte und einem Wissensdrang, der sie schon als Kind zu den Büchern greifen ließ. Sie habe sich als Vertreterin des ,Jungen Deutschland‘ auf die Seite der Radikalen gestellt. Es sei so weit gekommen, dass vermieden werden musste, den Bruder Ferdinand und das stolze Mädchen sich begegnen zu lassen. Mit der leidenschaftlichen überzeugungstreue der Frau, der Jugend und der revolutionären Politikerin habe sie das Hinterwäldlertum der bürgerlichen Welt gegeißelt. Die Stiefschwester Lisette habe zwar anschauungsmäßig auf seiten des Bruders gestanden, menschlich sich jedoch durch die märtyrerhafte überzeugung, die Reinheit der Leidenschaft und das glühende Herz der Schwester angezogen gefühlt, der um der Gerechtigkeit und Liebe willen das Los der vom Schicksal Betrogenen, der Proletarier, naheging“ 26, beschrieb ein Enkel Lisette von Krosigks die Entwicklung Jennys Jahrzehnte später.

1831/32 war Jenny von Westphalen noch nicht revolutionär. Auch wenn sie sich gerne als Unangepasste, Aufgeklärte gab, die Relevanz einer gesellschaftlich korrekten ehelichen Bindung stellte sie nicht in Frage – noch war ein Bruch mit der Konvention für sie undenkbar.

1 Gemkow, Aus dem Leben einer rheinischen Familie, S.511

2 Gemkow, Aus dem Leben einer rheinischen Familie, S.511

3 Gemkow, Edgar von Westphalen, S. 405

4 Gemkow, Aus dem Leben einer rheinischen Familie, S.510

5 Gemkow, Aus dem Leben einer rheinischen Familie, S.511

6 Monz, Politische Anschauung und gesellschaftliche Stellung von Ludwig von Westphalen, S.25

7 Gemkow, Edgar von Westphalen, S.407

8 Schütrumpf, Jenny Marx, S.12

9 Gemkow, Edgar von Westphalen, S.409

10 Monz, Politische Anschauung und gesellschaftliche Stellung von Johann Ludwig von Westphalen, S.26/27

11 Monz, Politische Anschauung und gesellschaftliche Stellung von Johann Ludwig von Westphalen, S.27

12 Monz, Politische Anschauung und gesellschaftliche Stellung von Johann Ludwig von Westphalen, S.27

13 Monz, Politische Anschauung und gesellschaftliche Stellung von Johann Ludwig von Westphalen, S.28

14 Monz, Politische Anschauung und gesellschaftliche Stellung von Johann Ludwig von Westphalen, S.28

15 Monz, Politische Anschauung und gesellschaftliche Stellung von Johann Ludwig von Westphalen, S.30

16 Krosigk, Jenny Marx, S.28

17 Monz, Politische Anschauung und gesellschaftliche Stellung von Johann Ludwig von Westphalen, S.30

18 Monz, Politische Anschauung und gesellschaftliche Stellung von Johann Ludwig von Westphalen, S.31

19 Monz, Politische Anschauung und gesellschaftliche Stellung von Johann Ludwig von Westphalen, S.32

20 Monz, Politische Anschauung und gesellschaftliche Stellung von Johann Ludwig von Westphalen, S.32

21 Monz, Politische Anschauung und gesellschaftliche Stellung von Johann Ludwig von Westphalen, S.33

22 Monz, Politische Anschauung und gesellschaftliche Stellung von Johann Ludwig von Westphalen, S.33

23 Monz, Politische Anschauung und gesellschaftliche Stellung von Johann Ludwig von Westphalen, S.34

24 Monz, Politische Anschauung und gesellschaftliche Stellung von Johann Ludwig von Westphalen, S.34

25 Gemkow, Aus dem Leben einer rheinischen Familie, S.512

26 Monz, Politische Anschauung und gesellschaftliche Stellung von Johann Ludwig von Westphalen, S.35

Erste Erfahrungen mit dem Obrigkeitsstaat

Die Jahre 1832 bis 1835

Die 17-jährige Jenny hakte das Abenteuer Ver- und Entlobung ab, ärgerte sich höchstens über das Gerede der Verwandtschaft und der Leute in der Stadt. Aber auch das ging vorbei.

Zu ihrem 18. Geburtstag überraschte der Vater sie mit „100 Rtr [Reichstaler] zur Reise nach Paris oder in die Schweiz.“ 1 Ein schönes Geschenk für die junge Dame. Allerdings gibt es keinen Hinweis, ob und wann die Reise stattfand.

Die junge Baronesse wurde auf die traditionelle Rolle der Hausherrin vorbereitet, wobei das Nähen ihre liebste praktische Tätigkeit wurde. Es blieb ihr nebenbei noch genügend Zeit sich weiterzubilden und mit dem Vater, Edgar und Karl über die sozialen und politischen Missstände zu debattieren, Reformen einzufordern und einen Funken Aufruhr auf deutschem Territorium zu ersehnen. Für einen kurzen Augenblick glomm Hoffnung auf Veränderung auf. Vom 27. bis zum 30. Mai 1832 trafen sich 30.000 Bürger/innen auf dem Hambacher Schloss in der Pfalz; Liberale und Demokraten, unter ihnen zahlreiche Vertreter der 1819 durch die Karlsbader Beschlüsse verbotenen Burschenschaften. Zum ersten Male erschallte in der deutschen Öffentlichkeit der Ruf nach Demokratie und Versammlungs-, Meinungs- und Pressefreiheit. Redner wie Johann Georg August Wirth, Philipp Jakob Siebenpfeiffer und Ludwig Börne plädierten für die Souveränität des Volkes und die nationale Einheit in bundesstaatlicher Form. Ob Monarchie oder Republik als Staatsform sollte das Volk entscheiden. Derartige Forderungen mussten von der Obrigkeit unterbunden werden. Die Wortführer wurden vehement verfolgt und im Bundestag ein Verbot politischer Vereine und öffentlicher Kundgebungen beschlossen. Das Hambacher Fest sollte eine Episode bleiben. Allerdings waren die Herrschenden vorgewarnt und wurden immer nervöser, auch in Trier. Johann Hugo Wyttenbach, Direktor des Gymnasiums zu Trier, wurde unter staatliche Aufsicht gestellt und systemkritische Lehrer wurden observiert. Das führte zu erregten Debatten und Unmut unter einigen der Eleven dieser Anstalt, zu denen Karl Marx und Edgar von Westphalen gehörten, und auch Jenny nahm regen Anteil.

1834 traf der Arm des Staates erstmals unmittelbar das häusliche Umfeld von Jenny und Karl, nunmehr 20 und 16 Jahre alt. Karls Vater war in den Verdacht geraten, kein staatstreuer Untertan zu sein. Am 12. Januar hatte der Justizrat anlässlich eines Festes zu Ehren der vier Abgeordneten der Stadt Trier und Umgebung nach ihrer Rückkehr vom vierten rheinischen Provinziallandtag in einer Rede verkündet: „Ein Gefühl vereinigt uns zu dieser Feierlichkeit. Ein Gefühl beseelet in diesem Augenblicke die ehrenwerthen Bürger dieser Stadt: das Gefühl der Dankbarkeit für ihre Stellvertreter, von denen sie die Ueberzeugung haben, dass sie mit Wort und Tat, und Eifer und Muth, für Wahrheit und Recht gekämpft. Doch bevor wir dem Ergusse dieses Gefühls uns ganz überlassen, erfüllen wir eine ebenso angenehme als heilige Bürgerpflicht, indem wir unseren innigsten Dank, unsere heißesten Wünsche unserem gütigen Monarchen bringen, dessen Hochherzigkeit wir die erste Institution einer Volksvertretung verdanken. In der Fülle der Allgewalt hat er aus freiem Willen Ständeversammlungen angeordnet, damit die Wahrheit zu den Stufen seines Thrones gelange. Und wohin möchte die Wahrheit gelangen, wenn nicht dort?“ 2