Jenseits der Dunkelwelt - Christa Schyboll - E-Book

Jenseits der Dunkelwelt E-Book

Christa Schyboll

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Beschreibung

Der psychologische Roman entführt den Leser in die Welt einer inneren Zerreißprobe des verzweifelten Familienvaters Karl Sandhauser nach seiner wahren Bestimmung. Auf der Suche nach mehr Freiheit wird er zwischen familiären und beruflichen Alltagspflichten und Sehnsucht nach einem anderen Leben zerrieben. Für seine Ziele schreckt er auch vor Verbrechen nicht zurück und landet schließlich in der Psychiatrie. Dort begegnet er zwei geheimnisvollen Frauen, die ihn über die erweiterte Wirklichkeit aufzuklären beginnen und damit sein Wesen langsam verändern. Alles was er nun plant und ausführt steht unter der Grenzmarkierung von Wahn und Wirklichkeit, Bewusstheit und Unbewusstem, Realität und Fiktion. Ertrinkt er im Strudel der Ereignisse? Und steckt nicht in uns allen auch die Energie der Verzweiflung, die selbst vor Verbrechen nicht halt macht, wenn nur der innere Druck groß genug ist?

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Christa Schyboll

Jenseits der Dunkelwelt

Copyright © 2015 Alojado Publishing6109 Ilog, Negros Occ., Philippinen

Covergestaltung:Dietmar Bückart

Titelbild:THO-MA-S/photocase.de

Published by:Alojado Publishing, Ilog (Philippinen)www.alojado-publishing.com

ISBN 978-621-8015-13-5

Der psychologische Roman entführt den Leser in die Welt einer inneren Zerreißprobe des verzweifelten Familienvaters Karl Sandhauser nach seiner wahren Bestimmung. Auf der Suche nach mehr Freiheit wird er zwischen familiären und beruflichen Alltagspflichten und Sehnsucht nach einem anderen Leben zerrieben. Für seine Ziele schreckt er auch vor Verbrechen nicht zurück und landet schließlich in der Psychiatrie. Dort begegnet er zwei geheimnisvollen Frauen, die ihn über die erweiterte Wirklichkeit aufzuklären beginnen und damit sein Wesen langsam verändern.

Alles was er nun plant und ausführt steht unter der Grenzmarkierung von Wahn und Wirklichkeit, Bewusstheit und Unbewusstem, Realität und Fiktion.

Ertrinkt er im Strudel der Ereignisse? Und steckt nicht in uns allen auch die Energie der Verzweiflung, die selbst vor Verbrechen nicht halt macht, wenn nur der innere Druck groß genug ist?

Inhalt

Erster Teil

Zweiter Teil

Dritter Teil

νῶθι σεαυτόν

Gnōthi seautón --- Erkenne dich selbst

(Orakel von Delphi)

ERSTER TEIL

1.

In jener Zeit, an deren Schwere er sich heute nicht mehr erinnern mochte, legte die Deutschlehrerin den Keim einer Tragik in Karls junges Leben. Es begann mit Cervantes Don Quijote und Karls beständig sehr guten Noten in Deutsch.

Es waren jedoch nicht so sehr die Geschichten um den Ritter von der traurigen Gestalt, als die Lebensumstände Cervantes, die die Fantasie des eher stillen Kindes auf die Temperatur von glühender Grillkohle aufheizten. Dass jenes Meisterwerk ausgerechnet im Gefängnis geschrieben worden war, erregte den Jungen auf eine Art, über die er mit niemandem sprechen wollte. Was immer das Leben bringen mochte, eines wusste er schon damals genau: Auch er war zum Schreiben eines großen Werks geboren. Das war seine Aufgabe. Und dann kämen weitere Werke. Er war nicht auf den Erfolg aus, sondern allein auf den Schöpfungsakt seiner Fantasie.

Stattdessen gebar Jahre später seine Frau Viktoria ein Kind nach dem anderen. Nun hatten sie schon drei. Und der erfolgreich verhinderte Schriftsteller war Systemadministrator in einer Bank. Dort pflegte er die informationstechnische Infrastruktur. Er konfigurierte die Rechner und war verantwortlich für das Funktionieren der diversen Systemanwendungen, die ein modernes Unternehmen zum Überleben auf heiß umkämpften Märkten braucht. Das alles tat er nun, statt seine Gedanken in spannende Geschichten zu kleiden und die Herzen der Menschen damit zu erfreuen. Nein, Systematik und Analytik waren in seinem Alltag angesagt, was seine rechte Gehirnhälfte neidvoll checkte. Alles war nach links ausgerichtet in seinem Beruf, der von seiner Berufung so weit entfernt war wie die Legehenne in der Batterie von einem frei lebenden Perlhuhn – oder auch Sancho Pansa von seiner Insel.

Abends hieß es dann Umschalten. Kaum hatte er sich aus der monotonen binären Denkweise ausgeklinkt, zwang ihn sein Schicksal in die Niederungen des familiären Chaos. Hier regierte die unfassbare Anarchie der Wirbel und Strömungen, die man mit den starken Winden der Emotionalität und beständig neuen Ideen anfachte. So stand Karl immerzu unter einem enormen Stress. Alles war einfach verkorkst.

Wie es je dazu hatte kommen können, begriff er selbst nicht wirklich. Er hatte zwar eine Reihe von literarischen Jugendpreisen eingeheimst, doch Geld verdienen konnte er mit seinen Geschichten nicht. Hätte Viktoria damals nicht ihren unglaublichen Sexappeal geradezu penetrant eingesetzt, dann wäre Nathan, sein Erstgeborener, nicht zur Schlüsselfigur seiner tragischen Wende geworden.

Niemand wollte es heute gewesen sein, der ihm die verrückte Idee seines unseligen Berufs eingeredet hatte. Noch zu Beginn der Schwangerschaft war er vom Studium der deutschen Sprache und Literatur auf das damals noch vielversprechende Computergeschäft umgesattelt. Seine kleine Familie brauchte ein ordentliches Auskommen und sollte nicht des Hungers sterben. Das zumindest hatte er heute geschafft, mitsamt der Tatsache, dass die Familie jetzt schon ordentlich der Anzahl nach gewachsen war. Jedoch waren die Kinder immer noch klein. Jedenfalls zu klein und zu jung, als dass er seiner Bestimmung nach hätte leben können.

Die Schulden für das Auto und das Reihenhaus am Kölner Stadtwald und die Kleinkredite für Viktorias Firlefanz waren so perfekt kalkuliert, dass er sich tatsächlich ohne den Einsatz von krimineller Energie jeweils über den nächsten Monat retten konnte. Nicht bezahlbar war das Musikinternat für den bald 15jährigen Nathan. Der war im Begriff, sich die Welt selbst zu erobern, und hatte gerade die ersten anregenden Erfahrungen mit Psilocybin hinter sich. Eine für den Knaben spannende Angelegenheit, auf der er nach den ersten Ausrutschern vollends abzurutschen drohte, wie Viktoria befürchtete, falls man ihm keine intelligente Alternative böte. Nathan selbst hingegen sah darin eher eine Art Bewusstseinserweiterung, einen Aufstieg, der einzig durch seine rigiden Eltern auf unschöne Weise behindert wurde.

Nathans musikalische Begabung war außergewöhnlich. Seine Sucht nach Leben passte sich dem perfekt an. Gern hätte er ein Musikinternat besucht. Doch der Alte war eben nicht imstande, die Kohle dafür abzudrücken. Jetzt las er halt Nietzsche, lachte sich dabei einen Affen, hörte Bushido und spielte Bach. Allein schon in dieser Kombination kreativer Zusammenführungen sah Viktoria ein außergewöhnliches Talent. Nathans Ambitionen angesichts dieser Erwartungen gingen dabei eher in Richtung Dealen. Und er musste die Substanz der Stoffe natürlich testen, um als Zwischendealer nicht übers Ohr gehauen zu werden.

Karl bemerkte durchaus, dass Nathan ständig unterfordert war. Das hatte Konsequenzen, die den Rest der Familie oft überforderten. Nichts, was nicht seinen Ausgleich suchte. Der alltägliche Mix aus Unter- und Überforderung war wie ein Pulverfass, und Nathan gab mit seiner Wut und seinem schwarzem Humor ordentlich Lunte. Würde nicht bald was Entscheidendes passieren, rutschte Nathan tatsächlich noch ab. Viktoria hatte Recht. Wie immer. Zu kontrollieren war der Bursche in seinem Alter auch nicht mehr wirklich, wenngleich ihr schönes, aber hoch verschuldetes Heim ein gewisses Maß an Geborgenheit und schützender Nähe bot. Dieser Zone der Behütung entwuchs der Knabe mit jedem weiteren Experiment mit Substanzen wie Dimethyltryptamin, deren Namen auszusprechen schon eine Herausforderung war.

Es blieb Karl verborgen, wie Viktoria mit diesem schwierigen und in der Tat hochbegabten Jugendlichen zurechtkam. Sie hatte da so ihre eigenen Talente, um die Karl sie beneidete. Hätte er sie auch besessen, so wären diese schlimmen Jahre des Ausnahmezustandes eines Pubertierenden nervlich leichter zu schultern gewesen. Zwei Jahre hatte man schon Übung. Aber es folgten ja noch zwei weitere Geschwister, an denen man in wenigen Jahren das nun frisch Erlernte an sich selbst überprüfen konnte.

Im täglichen Ringen um Durchsetzung überboten sich Nathan und Viktoria an Sarkasmus. Häufig war er mit der ganz heißen Nadel gestrickt. Ein schwieriger Balanceakt für den Rest der Familie. Für so manch ein zu unglücklichen Zeiten hereinschneiendes Sensibelchen hätte die Fassungslosigkeit über den verbalen Umgang der beiden miteinander schon beim bloßen Zuhören in einem seelischen Schock enden können. Viktoria und Nathan jedoch hatten eine gemeinsame Sprache gefunden, in deren Geheimnisse nur jene langsam hineinwachsen konnten, die imstande waren, hinter ihren martialischen Verbalattacken die Liebe zu orten. Eine reine Mutter-Sohn-Liebe, die den Duft des Meuchelmordes trug und dennoch auf geheimnisvolle Weise immer wieder im verstehenden Miteinander endete. Kam es ganz schlimm, zog Viktoria zuerst alle Register zumutbarer und unzumutbarer Strafen, bevor es dann lauter wurde. Sie sah schon den Tag X nahen, an dem die Polizei mit einem Haftbefehl vor ihrer Tür stand. Erwirkt durch den eigenen Sohn. Gestützt durch die Zeugenaussagen hellhöriger Nachbarn. Nathans Resistenz, irgendwelchen sozialpraktischen Vorgaben zu folgen, die das psychische Überleben dieser Familie irgendwie sicherten, war vollkommen. Einzig in den Stunden des Musizierens in seinem mit Instrumenten überladenen Zimmer war Nathan ein reiner Engel. Nichts kam diesem mehr gleich.

Wie oft hatten Karl und Viktoria, im Flur lauschend, einander bei den Händen gehalten und mit Tränen in den Augen dem Herrn gedankt, dass ihren Lenden ein solches Genie entsprungen war. Alles würde man tun, um ihm zu seiner Berufung zu verhelfen! Ein Genie, das seiner Blüte entgegenstrebte.

Wesen aus der Engelhierarchie waren auch die beiden anderen Kinder. Der Himmel war gut zu den Seinen und säte am rechten Ort.

Ein Hochbegabter und zwei durchschnittlich begabte Kinder waren keine gute Konstellation für eine Frau wie Viktoria. Da war es effizienter, in allen drei Kindern die Hochbegabung klar zu erkennen. Mit der Spürnase eines unbestechlichen Fährtenjägers kundschaftete sie jene Eigenschaften bei den Kindern aus, die sie für untrügliche Zeugnisse besonderer Talente hielt, während böse Zungen behaupteten, es handele sich dabei um bedenkliche Verhaltensstörungen. So befand sich Viktoria ständig wegen eines der Kinder im emotionalen Ausnahmezustand. Ein pausenloses hin und her zwischen zwei normalen, wenngleich wilden Rangen und nur einem Hochbegabten wäre lästig und unnütz anstrengend dazu. So aber war alles gut.

Überhaupt hatte sich das Gute in dieser Familie durchgesetzt, wie Viktoria fand. Gepaart mit dem Schwierigen. Aber starke Eltern hatten eben auch starke Kinder. Diese zeichneten sich besonders dadurch aus, dass sie eben anders waren als alle anderen, und Auffälligkeiten zeigten, die als Preis für die Sonderstellung zu zahlen waren. Sie waren innerlich sehr frei, akzeptierten selten Grenzen und waren, wenn man nur den richtigen Blick für ihre Besonderheiten hatte, die reizendsten Wesen der Welt.

Der achtjährige Mikosch war gerade in jenem spannenden Alter, wo sein unbewusster Fokus nur auf eines gerichtet war: auf den älteren Bruder. Was macht er? Und wie macht er das? Warum er etwas machte, war dem Achtjährigen vollkommen gleichgültig. Motivlagen tiefer zu hinterfragen, so sagte man doch allgemein, beginne bei Kindern meist etwas später. Auch Mikosch interessierte sich sehr für Musik. Jedoch auf eine andere Weise.

Er interessierte sich nämlich für die Innenseite der Musik. Das betraf in seinem Fall die Mechanik der Instrumente. Nicht alles konnte auseinander genommen werden. Aber er musste herausfinden, warum und auch wie all diese verschieden klingenden Töne entstanden. Gab es eine Grenze? Und was passierte, wenn man diese Grenze mit diesem oder jenem Experiment überschritt? Hier ein Drähtchen gekappt, hier ein Schräubchen entfernt und schon klang doch alles ganz anders. Und natürlich interessierte er sich auch für die abenteuerlichen Flausen des bewunderten Bruders.

Viktoria sah in all dem eine Ausprägung der genialen Erbanlagen, zu denen sie und Karl ihren Kindern verholfen hatten. Sicherlich war es kostspielig, wie Mikosch die Dinge derzeit noch anging. Dennoch erhoffte sie dahinter die ersten ernsthaften Schritte eines neuen Stradivari oder eines Steinway.

Karl dagegen vermutete eher eine besondere Form von Unverstand, da ein Achtjähriger nun mal kein unschuldiger Dreijähriger mehr war, der aus unbedarfter Entdeckungslust heraus alles zerlegte. Mit acht Jahren komponierten andere Hochbegabte schon Opern. Aber Mikosch schraubte generell alles so auseinander, dass es nachher nicht mehr zusammenpasste. Schwer beschaffbare wichtige kleine Einzelteile rollten dabei schon mal unauffindbar unter Schränke. Mit etwas Glück fanden sie sich hin und wieder auch in der großen Legokiste, oder sie waren bereits in der Raumkapsel Cassiopeia F7A verbaut. Karls Bedenken gegen dieses Verhalten hatte Viktoria mit einem harschen und klaren Hinweis auf sein mangelndes psychologisches Einfühlungsvermögen schnell beendet. Und Karl war klug genug zu erspüren, wann er besser nicht widersprach.

Die geheimnisvolle Liebe der beiden Brüder zueinander ermöglichte ihnen ein relativ friedliches Miteinander. Natürlich war Nathan sauer, wenn Mikosch wieder an den falschen Stellen geschraubt und gehebelt hatte. Aber es setzte nur selten saftige Ohrfeigen. Mikosch akzeptierte sie in aller Regel, ohne aus ihnen besondere Konsequenzen für die geschwisterliche Bande zu ziehen. Die beiden herausgeschlagenen Zähne hatten sowieso schon seit einem Jahr gewackelt. Dafür gab es Zeugen. Nathan war nicht für alles verantwortlich zu machen. Zahnen war ein natürlicher Vorgang. Erst recht im Zusammenhang mit Streit.

Für Karl jedoch hieß es nicht zahnen, sondern zahlen. Und Karl zahlte. Viktoria bestand darauf, dass er Mikoschs zarte Anlagen nicht ständig durch pädagogische Kleingeistigkeit erstickte. Da Nathan seinen kleinen Bruder trotz ihrer Streitereien immer wieder gern in sein Zimmer ließ, ihn knuffte und mit ihm balgte, ihn auf das Bett warf und in die Luft, ihn manchmal auffing und manchmal auch nicht, sorgte diese fröhliche Atmosphäre immer wieder für ein gutes, gesundes Familienklima. Glockenhelles Lachen und gelegentlich infernalisches Gebrüll bereicherten so die Randzone des Kölner Stadtwaldes. Es war nur natürlich, alles Weitere zwischen den beiden Brüdern dem Schicksal zu überlassen. Bei all dem öfter mal tapfer die Augen zu verschließen, geboten allein schon die eigenen Nerven. Irgendwann einmal würden sie in Sachen Musik gemeinsam Überragendes leisten. Dessen war sich Viktoria sicher.

Lucy, süße fünf Jahre, sprach kaum – für Viktoria ein klares Zeichen von Hochbegabung. Je eiserner Lucy schwieg, umso wortgewandter erklärte Viktoria dies jedem, der es hören wollte oder auch nicht. Viele große Genies der Weltgeschichte hätten spät mit Sprechen begonnen. Welche, wusste sie nicht so genau. Aber es musste so gewesen sein. Irgendwo hatte sie das einmal im Zusammenhang mit einer wissenschaftlichen Analyse gelesen. Man hatte ein Profiling über diesen Personenkreis erstellt. Lucy passte genau in diese Kategorie. Solche Menschen sparten sich ihre Worte für wirklich Wesentliches im Leben auf. Sie schnatterten nicht einfach drauf los wie der gemeine Mensch schlechthin. Sie machten sich eben nicht schon mit sechs Jahren einen schlechten Namen. Jede geistvolle Gedankenperle hoben sie sich schon im Alter von zwei Jahren für später auf, wenn das Publikum sie endlich zu verstehen vermochte. Für jenen Zeitpunkt, an dem sie etwas Bedeutsames zu sagen hätten. Wenn die Welt sie händeringend darum bat, das Wort an sie zu richten. In Lucy steckte einfach alles.

Dass sie bei all dem auch noch ein wunderschönes Kind mit langen blonden Locken war, welches schon jetzt ein umwerfendes Lächeln besaß, bestärkte Viktoria in ihrer Überzeugung. Es bestand nicht der leiseste Zweifel an der Genialität auch des dritten Kindes. Man kannte das doch. Man brauchte sich nur die Familie Bach anzusehen. Oder die Manns. Oder die Baseler Familie Bernoulli, die seit dem 17. Jahrhundert Dutzende Gelehrte hervorgebracht hatte. Und jetzt die Sandhausers. Allesamt hochbegabt! Dass es sich bei Lucy nur um eine Inselbegabung handeln könnte, wie ihr einmal eine neidische Freundin einflüsterte, glaubte sie nicht. Sie kannte ihren kleinen Engel. Der würde einmal alle in den Schatten stellen. Sogar sie selbst.

Viktorias eigene Inselbegabung bestand also ganz klar darin, mit untrüglichem Blick in allen Familienmitgliedern Genies zu sehen, die nur auf ihre Erweckung warteten. Doch Warten war ihre Sache nicht. Sollte es doch alle Welt wissen! Man würde sich früh um die Aufnahme in einer Eliteschule bemühen. Vielleicht konnte man sogar darauf hoffen, dass später einmal der ganze Familienverband unter das Weltkulturerbe gestellt und man dann selbst zu jenem erlauchten Kreis gehören würde. Karl schlich sich in solchen Momenten lieber aus dem Raum. Viktoria wiederum gewährte nicht dem leisesten Zweifel Zutritt in ihr verstehendes Herz, das sich engagiert dieser Sache verschrieben hatte.

Nicht, dass die Kleinkarriere ihres äußerst talentierten Gatten als Systemadministrator etwas zu bedeuten hätte. Dieser Job war nur als eine vorübergehende Lebensstation anzusehen, bis auch er seine Berufung finden würde und anfing, wirklich zu leben. Auch seine Zeit würde noch kommen. War es nicht schon ein Wink des Schicksals, ihn auf einer Literaturpreisverleihung kennengelernt zu haben? Vom ersten Augenblick an war sie überzeugt, mit einem Menschen wie ihm wundervolle Kinder zeugen zu können. Das hatte sie ihm auch schnell klar und überaus schmackhaft gemacht. Ihre sexuelle Energie verfügte immer noch über ausreichend Potenzial, den männlichen Anteil des ganzen Viertels lahmlegen zu können, wenn da nur nicht ihre permanent anstrengende Familie wäre, die all ihre Überschüsse vollständig absorbierte.

Dennoch musste Karl aufpassen, da ihre Leidenschaft fürs Mutterdasein durchaus jener ersten modernen Preußenkönigin Luise glich, die es binnen Kurzem auf zehn Kinder gebracht hatte. Anmut und Schönheit, mütterliche Liebe und ständige sexuelle Bereitschaft hatten dieser aber nicht nur zehn Kinder beschert, sondern auch einen frühen Tod mit fünfunddreißig Jahren. Dieses Alter hatte Viktoria zum Glück überschritten. Oder hielt sie es am Ende für zu riskant, den Hochbegabtenschnitt in der Familie durch ein Normalmitglied zu gefährden? In den letzten fünf Jahren jedenfalls war es zu keiner weiteren Schwangerschaft gekommen.

Doch das süße Familienglück hatte bereits feine Risse. Und genau durch diese Risse tropfte still und unbemerkt Karls letzte Hoffnung auf die Beantwortung der Frage, wie es eigentlich um ihn stand und wie es mit ihm und dem Schreiben weitergehen sollte.

Er hatte als Alleinverdiener für fünf Menschen zu sorgen. Viktoria war mit Kindern, Haus, Hof, Gänsen, Familienorganisation, Klimaschutzbewegung und Hochbegabtenförderung, dermaßen ausgelastet, dass Karl tiefe Bewunderung für seine Frau empfand. Selbst ihr unerbetenes Engagement durch Eingaben an staatliche Stellen für die Entwicklung neuer Intelligenztests, die den Fähigkeiten ihrer eigenen Kinder angepasst waren, brachte sie offenbar nicht an die Grenze ihrer Belastbarkeit. Karl sah, was sie leistete und wie sie es leistete. Bemerkenswert auch, wie sie den sich zuverlässig und termingerecht am Wochenende anbahnenden Familientragödien die Spitze zu nehmen vermochte, falls sie es nicht selbst auf die Spitze trieb. All diese Qualitäten aufrechtzuerhalten, war selbst für sie zu viel, wenn sie dazu noch berufstätig werden sollte. In dem Fall müssten Kompromisse her, die aber niemals die Schranken ihres mütterlichen Anspruchs überwinden würden.

Sie hatte es vor zwei Jahren noch einmal mit außerhäuslicher Arbeit versucht, mit dem Ergebnis, dass Mikoschs Grundschule mehrmals die Woche anrief und Lucy ihre latente Sprachwilligkeit wieder gänzlich einstellte. Kurz darauf versuchte Nathan sich an seinem ersten LSD-Trip. Beiden war klar, dass dies nicht die Lösung sein konnte, wenn man die erstklassigen Anlagen ihrer Kinder nicht schon im Keim zerstören wollte. Der Keim selbst war ja gelegt und begann, hoffnungsvoll zu wachsen. Doch die alltäglichen Verpflichtungen entzogen auch dem besten Boden die Nähstoffe, drohten, das Besondere zunichte zu machen, und es war allein Viktorias Hingabe zu verdanken, dass ihre Pflänzchen weiter gediehen. Ihre Anwesenheit zu Hause war eine absolute Notwendigkeit.

Doch jetzt, mit Anfang vierzig, begann sich ein leiser Zweifel in ihm zu regen und zu wecken, was so lange in ihm geschlafen hatte. Hätte er eine Mutter wie Viktoria gehabt, dann wäre alles ganz anders verlaufen.

2.

Es begann mit Kopfschmerzen, die sich ausschließlich in der Nacht einstellten. Mit Tabletten waren sie auszuhalten, aber sie verschwanden nicht. Waren es Symptome für etwas Unterdrücktes, das kein Arzt herausfinden konnte? Sicher, der Stress. Allerorten und zu allen Gelegenheiten. Vor allem im Job. Bei jedem internen Crash rief alles nach Karl. Und wehe, er war nicht schnell genug. Alles hing von ihm ab. Nichts lief mehr im gesamten Banksystem, wenn er versagte. Ein ständiger Schleudersitzjob. Zudem saß ihm die junge, intelligente Konkurrenz im Nacken, die technisch ausgereifter ausgebildet war als er selbst. Permanente Neuerungen überschlugen sich in einem Maße, dass es selbst das Nervenkostüm eines unbedarften, ruhig dahin lebenden Singles ins Schleudern brächte. Erst recht aber mit einer solchen Familie und einer solchen Bürde! Er musste raus aus dem Job. Und zwar möglichst bald.

Mehr und mehr wurden die Nächte zur Qual und zwangen ihn schon gegen vier Uhr morgens, das eheliche Bett zu verlassen. Er wanderte ziellos durch das Haus. Immer wieder reflektierte er seine Gesamtsituation und steigerte sich unbewusst in eine abgründige Hoffnungslosigkeit hinein. Er liebte seine Familie und hatte für alle tiefstes Verständnis. Doch Sympathie und Zuneigung stießen an ihre Grenzen, wenn sie seine Freiheit in Gefahr brachten.

Freiheit? Karl wusste schon lange nicht mehr, was dieser Begriff für ihn bedeutete. Selbst Freizeit kam nur unzureichend in seinem Alltag vor. Betrat er nach Feierabend erschöpft sein wohnliches Heim, überfiel ihn seine Familie mit Wünschen, nagelneuen Ideen, Gesprächsbedürfnissen – und vor allem Geldforderungen. Waren diese erfüllt, und alle drohenden Streitigkeiten abgewendet, stellte sich nach dem Abendessen nicht etwa die dringend benötigte Ruhe ein, sondern es erwachte die geballte Lebensaktivität Viktorias mit ihrem unbändigen Drang nach noch nicht Erprobtem. Es musste genetisch bedingt sein bei dieser Frau, dass sie alles konnte, nur eben keine Ruhe geben. Ein Bündel von Energie, trotz ihres höchst anstrengenden Nachwuchses. Alle Versuche, sich ihrer Energie zu widersetzen, scheiterten nach heftigen Debatten und der Einsicht, dass Viktoria mit ihren verrückten Visionen ja nicht nur Recht hatte, sondern ihre Beziehung auch ungeheuer bereicherte. Durchaus auch in sexueller Hinsicht. Sie schien ein Füllhorn der Götter zu sein, die mit ihr ein Wesen erschaffen hatten, dessen Lebenselixier das »immer mehr« war und sich dabei nicht einmal verausgabte. Noch nicht! Karl liebte seine Frau und seine drei Kinder. Nur die Fähigkeit zu einer gesunden, überlebensnotwendigen Selbstliebe hatte ihn niemand gelehrt. Deshalb wurde er krank. Doch auch davon wusste er zunächst noch nichts. Da schlug ja kein Herz einen Salto. Kein Blutdruckmesser wurde außer Kraft gesetzt. Und nirgends floss sichtbar Blut.

Ein ansteigender Missmut legte sich wie eine zweite Haut um Karl. Er wusste selbst nicht so genau, wie und warum es passierte. Er wurde zunehmend nervöser und rastete bei Kleinigkeiten immer leichter aus, je tiefer Nathan in die Pubertät rutschte. Und Mikosch folgte ihm stramm und freudig auf eben diese zu. Doch Freude für ihn? Nichts und nirgends. Es war, als hätte sich alle Zufriedenheit in ihre Atome zerlegt und den Rest der Welt bestäubt, und nur ihn dabei ausgelassen.

Karl konnte später nicht mehr sagen, in welcher der vielen Nächte sich etwas entscheidend in ihm veränderte. Er begann etwas zu tun, was er die letzten fünfzehn Jahre seines Lebens nicht mehr getan und scheinbar nicht einmal vermisst hatte. Er begann, sich wegzuträumen. Er träumte von sich selbst und einem anderen Leben. Er träumte einen zweiten Karl, der im Paralleluniversum seiner Gefühle alles richtig machte, während der Hauptkarl nur die Rolle eines Träumers hatte. Er träumte im Alphazustand den Traum eines Traumes und war dabei voll bewusst und klar. Er befand sich in jener Form von Entspannung, wo Klarträumen nicht nur funktionierte, sondern zu einem schöpferischen Tun wurde, das er selbst gestalten konnte. Diesen Schöpfungsakt wiederholte er nun regelmäßig in seinem Arbeitszimmer zwischen vier und sechs Uhr morgens. Das war seine Zeit. Sie gehörte nur ihm. Die einzige Zeit in 24 Stunden.

Der neue Zustand euphorisierte ihn so sehr, dass er wieder gern zur Arbeit ging. Viktoria fiel eine Last von ihrem mütterlichen Herzen, das auch ihn mit einschloss. Schließlich hatte sie genug mit sich selbst und den drei Kindern zu tun. Sie brauchte wirklich nicht noch eine fünfte Baustelle. Die Sorge, dass der einzige Ernährer irgendwann einmal ausfallen und ihre drei kleinen Genies dadurch einmal zur Normalität verdammt sein könnten, machte ihr seit geraumer Zeit nervlich zu schaffen. Sie musste zusehen, dass er durchhielt. Was hätte sie denn für Alternativen? Doch höchstens, auf den Hausfrauenstrich zu gehen. Vormittags, das ginge, rein zeitlich, überlegte sie kurz. Eine ausschließlich finanzielle Schnellüberlegung, die sich nur aus der praktischen Tatsache ergab, dass sie zufällig nicht nur kurvenreich und attraktiv, sondern auch sexuell begabt war. Und hier wäre nun mal in kürzester Zeit das meiste Geld zu verdienen. Begabungen müssen doch eingesetzt werden. Von jedem. Und möglichst ökonomisch und zielgerichtet.

Eines war Viktoria sonnenklar: Begabungen in so reichem Maße, wie sie in ihrer Familie vorkamen, waren als deutliche Botschaft des Schicksals anzunehmen und in ihr Leben verantwortungsvoll zu integrieren. Und sie selbst hatte eben auch ganz eigene Begabungen, über ihr untrügliches Gespür für die Begabungen der anderen hinaus. Aber andere Kerle interessierten sie nicht wirklich und im Grunde auch nicht einmal Sex an sich. Das Einzige, was sie an Sex reizte, war die Möglichkeit immer neuer Spielvarianten. Nebenwirkungen wie Schwitzen oder Zeitverlust konnte sie als Kollateralschäden hinnehmen, solange sie sich selbst nicht langweilte. Es war fast wie eine schöpferische Art von Schach auf einer anderen Ebene. Oder auch nicht. Je nach Partner war Schach doch wieder spannender. Es bot einfach noch mehr Möglichkeiten. Und aus all diesen und anderen Gründen, die sich ihr explosionsartig erschlossen, kam diese schnelle Verdienstmöglichkeit natürlich nicht in Frage. Es war ja lediglich eine spontane Überlegung des Geldes wegen, in Zeiten von Rezession und Arbeitslosigkeit. Karl hatte einfach tapfer durchzuhalten, dazu gab es letztlich keine Alternative. Sie musste gut zu ihm sein. Das war sie, und zwar von Herzen gern. Nicht aus Kalkül, sondern aus einer seelischen Notwendigkeit heraus, die sie mit Freude erfüllte. Schließlich hatten sie ein gemeinsames Ziel. Und dazu gehörte auch die gemeinsame Verantwortung. Dabei war ihr Leben doch in gewisser Weise viel anstrengender als das seine. Das müsste er doch zugeben! So dachte sie leise.

Auf wie viele Wünsche hatte sie selbst verzichten müssen, seit sie ihr Studium der ›First Nations Studies‹ in Vancouver abgebrochen hatte. Sie war dabei, für ihr Bachelor Studium die Grundlagen der ›Coast Salish Language‹ Hul’q’umi’num’ zu studieren und die sozio-kulturellen Konflikte zwischen Ureinwohnern und Einwanderern endlich auf eine bedeutendere wissenschaftliche Basis zu stellen, als sie merkte, dass sie von Karl schwanger war. Wäre es nach ihr gegangen, sie wäre allein schon wegen ihrer Forschungen in Kanada geblieben, von denen sie überzeugt war, dass durch sie ein weiterer Mosaikstein zum Frieden zwischen den Menschen gelegt würde. Dass sie zwischendurch immer mal wieder nach Deutschland flog und just während einer Literaturlesung auf diesen jungen, attraktiven und sprachbegabten Karl traf, sollte diesem Forschungszweig jedoch eine überaus wertvolle und engagierte Bachelor-Absolventin vorenthalten. Aber das Leben war ständig eine Frage von Kompromissen, und so musste der Weltfrieden vorerst ohne ihre Kompetenz auskommen. Sie würde sich aber auf andere Weise erkenntlich zeigen. Mit ihren gleich drei hochbegabten Kindern war sie nun sicher, eine sogar bessere Wahl für das Wohl der Menschheit getroffen zu haben.

Trotzdem dachte sie nur ungern zurück an jenen Verzicht und fand sich lieber flexibel und gutgelaunt mit der Ist-Situation ab. Kräfte an falscher Stelle zu verschleudern, entsprach nicht ihrem Niveau. Immerhin hatte sie sich andere hohe Ziele gesteckt, und mit drei berühmten Kindern würde ihr Leben auch in Zukunft anstrengend bleiben. Vermutlich musste sie, wenn ihre Genies ihre Karriereziele erreicht hatten, ständig um die ganze Welt reisen. Sie musste sie weiter unterstützen, ermuntern und dafür Sorge tragen, dass nichts Unbotmäßiges ihre wahren Talente störte. Diese Ziele jedoch waren nur durch intelligentes Timing und richtige Prioritätensetzung zu erreichen. Das konnte man nicht früh genug üben.

Mit Nathan verband sie eine besondere Nähe. Sie beide bildeten einen perfekten Gegenstrom zu Karls Sensibilität, die manchmal zu sehr ins Empfindliche abglitt, wie Viktoria fand. Oft fand sie es schwierig, die richtigen Worte zu finden. Mit ihrem drastischen Humor hätte sie ihn gern häufiger zur Steigerung der gemeinsamen Lebenswürze auf die Schippe genommen. Aber hier war Vorsicht geboten. Was das anging, musste sie sich andere Spielfelder suchen. Sie musste die schwarzen Pisten, auf die sie ihr locker angelegtes Mundwerk mit ihren radikal gedachten Gedanken gerne schickte, glätten, wenn sie nicht Gefahr laufen wollte, unter einer Superlawine ihren Karl am Ende noch zu begraben. Nathan dagegen war ihr auf dieser Ebene ein ebenbürtiger Spielkamerad. Der Grad verbaler Obsession, die beide selbst ohne irgendwelche Konflikte ständig an den Tag legten, ließ ihr soziales Umfeld nicht selten in Furcht erzittern, mit dem für Viktoria günstigen Ergebnis, dass sich keiner so schnell mit ihr anlegte. Zu scharf waren ihre Wortwaffen. Gleich einer fliegenden chinesischen Guillotine, die den Kopf schneller vom Hals trennt, als die Angst in die Hose rutscht. Auch in solchen Momenten schlich Karl sich lieber leise hinaus, auch wenn er selbst nicht im Zentrum der aktuellen Ereignisse stand.

Karl träumte von einem Leben in völliger Freiheit. Dort gab es keine Kinder, keine Viktoria – überhaupt keine Frauen. Es gab nur ihn. Wenn er in seinen Träumen jemand anderen brauchte, vervielfachte er sich nach Belieben selbst. Diese Karls, mit seinen eigenen Genen ausgestattet, waren ihm lieber als all diese merkwürdigen und anstrengenden Zeitgenossen, deren Gerüche, Nasen, Blicke ihm schon zuwider waren, bevor sie vor seine Sinne traten. Seine Fantasie reichte aus, alle Parts zu bedienen, die er für ein glückliches Leben mit sich selbst benötigte. Selbst den des begeisterten Lesers seiner eigenen Werke. Er wurde sein eigener Kritiker und Lektor und schaffte sich seine eigene Preis-Jurorenschaft. Karl wusste schon lange um sein multiples Innenleben, und wusste es auch gut zu steuern. Die Problematik eines vielfachen Seins stellte sich für ihn seit seiner Kindheit nicht mehr im Sinne einer Fragestellung, sondern nur noch im Sinne eines sinnvollen Umgangs damit. Binnen Minuten konnte er in alle Rollen schlüpfen, die er erschuf. Dann roch er mit dem Spürsinn eines hungrigen Wolfs das frische Fleisch oder verführte als Göttin jene Widersacher, die er selbst auf den Plan gerufen hatte. In Momenten der Erschöpfung gab es nichts Leichteres und Angenehmeres, als zu einem uralten schweren Baum zu werden und das Auf- und Abströmen der Säfte zu spüren. Dem Wind in seinen sich sanft wiegenden Zweigen zu lauschen. So still, so umspielt von den Klängen des Waldes und so friedlich, dass er sich kurze Zeit später an sich selbst vorbei wandern sah, kontemplativ in die Rätsel des I Ging versenkt, während zugleich andere Teile in ihm durch lockere Federwolken auf die Erde lächelten.

Einzig der physische Hauptkarl, der sich für die unselige Rolle eines Systemadministrators mit drei Kindern und einer verdammt anstrengenden Partnerin entschlossen hatte, machte ihm Kummer. Seine Hauptsorge galt seiner charakterlichen Disponiertheit. Er konnte sich einfach nicht von seinem inneren Schwur lösen, der einmal übernommenen Verantwortung für seine Familie bis zu seinem Ende nachzukommen. Selbst wenn er sich von Viktoria trennen würde, aus dieser Versorger-Rolle konnte ihn nichts und niemand erlösen. Denn es war nicht nur eine Frage des Geldes, sondern vor allem des Herzens. Trotzdem kostete das alles natürlich Geld. Es fühlte sich wie in einem Hamsterrad gefangen. Mit normalen Mitteln war an eine Flucht gar nicht zu denken. Zu tief hatten ihn Elternhaus, Religion und Schule geprägt, eine angenommene Verantwortung nicht abzugeben. Vielleicht, so dachte er, schlummerte in ihm ja auch ein schwerwiegendes vorgeburtliches Erbe, das sich nicht nur biologisch, sondern auch geistig auswirkte? Davon musste er zwangsläufig ausgehen, in Anbetracht vieler seiner Kollegen, die mit derartigen Verantwortungsfragen völlig anders umgingen.

So träumte er weiter, bis Karl eines Tages merkte, dass ihn seine Träume nicht mehr befriedigen konnten. Alle Varianten waren durchgeträumt und schossen nur noch in eine graue Leere. So sehr er sich auch bemühte, die Bilder, die ihm so lange eine kurzweilige stille Zufriedenheit verschafft und die Liebesspiele mit Viktoria mehr und mehr abgelöst hatten, wollten sich nicht mehr einstellen. Irgendetwas in ihm verweigerte sich. Als wäre in ihm eine Art innerer Zensor erwacht, der ihm befahl, die Traumebene zu verlassen. Es war an der Zeit, diese Ebene in seiner Lebenswirklichkeit, in seinem Alltag, wiederzufinden.

Lebenswirklichkeit. Dieses schwer aushaltbare Etwas mit seinem ewigen Berufs- und Familiendruck. Was blieb ihm denn schon für eine Alternative? Er konnte sich aufmachen und ins Kloster gehen. Da hätte er dann seine Ruhe. Aber auch das stimmte ja nicht. Als Klosterbruder hätte er neben seinen Tagespflichten zusätzlich allen Verordnungen des Codex Iuris Canonici zu folgen. Und dazu gehörten je nach Klostergemeinschaft auch die Gebetsstunden, die er auch während seiner kreativsten Phasen einzuhalten hätte. Giordano Bruno kam ihm in den Sinn. War die starre klösterliche Zeiteinteilung gar der eigentliche Grund für seine geniale Ketzerei gewesen? Durchaus denkbar, dass sie den Anstoß für sein reformatorisches Gegenwerk gab. Auch schliefen manche Mönche sogar in ihren Kleidern und nahmen nur selten ein Bad. Auf dem Höhepunkt dieser Gedankenfolge recherchierte Karl sicherheitshalber noch einmal genau nach. Ob es noch heute so in allen klösterlichen Bruderschaften zuging, konnte er auf die Schnelle nicht herausfinden. Aber es reichte ihm, was er da las: Zwischen den Messen und geistlichen Übungen werden die klösterlichen Arbeiten verrichtet. Und wann bitte schön sollte er zu seiner eigenen Berufung kommen? Armut und Keuschheit wären ja kein Problem. Der langjährige intensive Sex mit Viktoria reichte bereits jetzt schon für drei weitere Leben aus. Durch lebenslangen Verzicht auf Sex würde er sich für andere Aufgaben schonen. Allein die bildhafte Erinnerung ihrer gemeinsamen wilden Betteskapaden reichte aus und schon war er todmüde und satt von all dem. Der Überdruss eines üppig Gespeisten, der sich nach Wasser und Brot sehnt. Oder einfach nach Licht.

Der Gehorsam konnte jedoch zu einem Problem werden, wenn man ihn im Kloster gängelte. Und man würde ihn bevormunden, da war er sich sicher. Man würde ihm die Zeit neiden, die er für sich beanspruchte, und ihn aus Niederträchtigkeit vermutlich zum Kartoffelschälen abkommandieren. Außerdem, welches Kloster würde überhaupt einen 42jährigen Novizen mit drei Kindern aufnehmen?

Für ihn, Karl, blieb es eine groteske Idee, vor allem wegen der abartigen Betzeiten. Doch auch die absurdeste Idee sollte sauber und wohl überdacht sein, bevor sie aus dem Katalog der Möglichkeiten eliminiert wurde.

Karl wusste schon immer: Alles war erreichbar, wenn man nur fest daran glaubte. Die Energie richtet sich nach der Vorstellung. Immer! Bisher war alles in seinem Leben den umgekehrten Weg gegangen, was für ihn aber keinesfalls die Wahrheit dieses Glaubenssatzes in Zweifel stellte. Es lag einzig an seiner innerlichen Zersplitterung, die er in aller Klarheit sehen und auch benennen konnte. Seine Lebensbilanz war eindeutig: Hätte er nur genug an sich selbst geglaubt, wären ihm entweder seine drei Kinder mit Viktoria gar nicht erst passiert oder er hätte sich auf andere Weise durchsetzen können. Karl wusste jedoch auch: Was spät kommt, hat trotzdem eine Chance! Alles war eine Frage der festen inneren Entscheidung. Sie muss genug Sehnsucht und Kraft in sich tragen. Der Wunsch muss einen starken Impuls haben und eine reiche Vorstellungskraft, die wieder und wieder von Gefühlen und Gedanken gespeist wird. Ablenkende Gedanken sind nicht zu dulden. Nie das Ziel aus den Augen verlieren. Eine Vision darf sich nicht von Hoffnungslosigkeit leiten lassen. Weder von Bequemlichkeit noch vom Risiko. Dann kann es funktionieren. Sein bisheriges Leben abzuwerfen und die eigene Wirklichkeit neu zu gestalten, war nichts für labile Gemüter. Nur für jene, die das nötige Feuer in sich trugen. Die Energie des Feuers war bei jedem Schöpfungsprozess unverzichtbar. Sei es bei der Gestaltung eines Planeten oder eines alltäglichen, banalen Wunsches.

Karl erkannte, dass sein Versagen vor allem in seinem einseitigen Fokus auf die anderen Familienmitglieder lag. Ihm fehlte offenbar jenes besondere Gen, das Viktoria in sich trug. Sie war für die anderen und sich selbst zugleich da. Und weil sie sich selbst gut pflegte, konnte sie mehr für andere tun als er, der nichts für sich tat. Die Formel musste nur umgestellt werden. Doch das war leichter gesagt als getan. Die Erkenntnis war zwar ein erster Schritt, aber ihr mussten konkrete Handlungen folgen, die sich nicht nur in der Fantasie abspielten. Was also war zu tun, um nicht vollends der Depression zu verfallen?

Karl begann von vorn. Was wollte er denn eigentlich? Er wollte frei sein. Er wollte schreiben, wollte seine Talente ausleben. Spüren, wo er in all dem quirligen Leben um sich herum stand, er selbst, als Karl. Er hatte genug von den Rollenspielen seiner Vernunft, von der Verantwortung, er wollte einfach das tun, was für ihn gesund und richtig war. All das möglichst so, dass niemand zu Schaden kam, nicht eingeengt wurde oder seine Wünsche zurückstecken musste. Mit anderen Worten: Karl wollte das Unmögliche – und zugleich nicht dafür zahlen. Allen sollte es gut gehen. Ihm jetzt besonders und erstmalig überhaupt. Keinesfalls aber auf Kosten der Kinder und Viktoria, die von seinem Einkommen abhängig waren.

Er wollte nichts weniger als die Quadratur des Kreises. War er zu feige, einen gesunden Egoismus auszuleben, weil ihm das am Ende Vorhaltungen einbrachte, ohne den es andererseits aber auch nicht ging? – Vielleicht. Warum zögerte er noch? Aber Karl stand in diesen Dingen zu seinen Anschauungen. Er war seines inneren Friedens wegen gezwungen, im Vorfeld alle praktischen Dinge sorgsam zu regeln. Wenn ihm das nicht gelang, war an eine schöpferische Arbeit gar nicht erst zu denken. Sein permanent belastetes Gewissen würde jede Kreativität in ihm ersticken. Sollte er nicht alles unter einen Hut bekommen, dann müsste er eben darauf verzichten. Notfalls müsste er halt krank werden und sterben. Das wäre auf jeden Fall die bessere Alternative, als körperlich gesund in dem Wissen weiterzuleben, seine Talente nicht verwirklicht zu haben.

Wie er es auch drehte und wendete, die Gleichung ging nicht auf. Und nach einem Monat kam ihm die paradoxe Idee, dass es wohl nur einen Weg gab, wenn er seine Freiheit wollte: Er musste ins Gefängnis gehen. Er wusste, er bräuchte fünf Jahre zum Schreiben seines ersten Großwerkes. Fünf Jahre für sich. Das hieße aber auch fünf Jahre Verzicht auf ein normales Familienleben, mit allen Konsequenzen. Dafür hätte er im Falle eines Bestsellererfolgs für den Rest seines Lebens ausgesorgt. Früher oder später würde der Erfolg kommen, wenn seine Grundenergie endlich ins Fließen gekommen wäre. Einmal im Fluss, wäre er nicht mehr zu stoppen. Dann gewänne die Kreativität die Oberhand über sein Leben. Die Dinge dann anders einzurichten, wäre auch kein finanzielles Problem mehr.

Vielleicht eine Hütte am Fluss, am Meer oder in den Bergen. Ganz für sich und seine wahre Berufung. Dazu aus der Entfernung ein harmonisches Familienleben. Nach dem ersten Bestseller würden die Gelder dauerhaft fließen. Dann wäre der Knoten geplatzt und auch die Nachfolgewerke kämen in stetigem Strom aus seiner Hand, seinem Herzen und seiner Inspiration. Notfalls müsste er sich eben befreien, indem er sich vorübergehend physisch einkerkern ließ.

Fünf Jahre väterlicher Erziehung und Prägung würden in den Biografien der Kinder letztlich fehlen. Im Gegenzug hätten sie dann aber keinen toten Vater, sondern einen sehr erfolgreichen. Die Jahre dafür waren zu investieren. Es war doch für alle Familienmitglieder ein Gewinn. Nathan würde es kaum merken, da er genau jene fünf Jahre im Musikinternat verbringen würde und endlich unter einer Kontrolle wäre, die zugleich seinen Bedürfnissen und Talenten gerecht würde. Musikalische Qualität würde ihn mehr zu fesseln wissen als die vielen noch nicht ausprobierten Substanzen. Lucy und Mikosch wiederum würde er jeden zweiten Tag Briefe mit besonderem seelischem Tiefgang schreiben, und so den Mangel an körperlicher Zuwendung kompensieren.

Wie viele Männer, beruhigte sich Karl, waren in Freiheit und dennoch nie für die Kinder da? Sie waren auf Geschäftsreisen rund um den Globus oder tummelten sich abends und am Wochenende auf politischen oder sozialen Veranstaltungen. Oder trieben sich in Kneipen, Stadien oder Bordellen herum. Ja, was waren denn das für Väter! Und überlebten deren arme Kinder nicht auch? Es gab unzählige Beispiele, in denen die leibliche Vateranwesenheit mit den eigenen Kindern weder zeitlich noch emotional etwas zu schaffen hatte. Und sowieso, in allen Familien lebte jeder früher oder später sein eigenes Leben. Das war ganz normal.

Kinder dagegen, die in einer ständigen emotionalen Korrespondenz über ihre Nöte und Geschichten des Alltags mit ihrem Vater standen, die sollte man doch erst mal finden! Ein als großer Schriftsteller aus der Haft entlassener Gefängnisvater war doch allemal besser als jeder Durchschnittsvater. Je tiefer Karl seine Situation betrachtete, umso mehr wuchs in ihm die Überzeugung, dass es geradezu seine väterliche Pflicht wäre, in den Knast zu gehen, damit die Kinder den besten Vater aller Zeiten bekämen. Das würde sogar Viktoria einsehen.

Jetzt konnte er ihr endlich zeigen, was er drauf hatte. Und Viktoria würde mit dem Geld, das es bald regnen würde, all das machen können, was ihr wirklich wichtig war. In diesem Punkt war sie so zuverlässig wie ansonsten permanent anstrengend.

Von all diesen Gedanken ahnte Viktoria nichts. Sie nahm zwar die Symptome einer angehenden Krise wahr, besaß aber genug Feingefühl, nichts vor der Zeit zu problematisieren. Dazu verhalfen ihr eine grundsolide Menschenkenntnis und die besondere Fähigkeit, mit komplexen Zusammenhängen im Umfeld des inneren Gefühlschaos traumwandlerisch sicher umzugehen. Sie hatte eine eigene Mentalrezeptur entwickelt, die ihr bedeutete, man müsse das Komplizierte möglichst in Windeseile unbedingt weiter verkomplizieren, so dass der Verstand wirklich gezwungen sei, eine kluge, schlichte und einfache Lösung zu finden. Sie sah sehr wohl, dass viele Menschen mit solchen Herausforderungen völlig falsch umgingen, indem sie die Not an der falschen Stelle abzuwenden gedachten. Das brachte ihnen eine Reihe unnötiger Schwierigkeiten ein. Denn auch eine Not will ernst genommen werden und sich erst mal zeigen dürfen. Sie will ihre Botschaften aussenden und nicht schon in kleine, alberne Nöte zerstückelt werden, bevor sie erblühen kann. Viktoria hatte Verständnis für jede Not und keineswegs nur für den Notleidenden an sich. Deshalb das Erblühen der Not, die Spitze, der Höhepunkt, der Gipfel, auf dem die Lösung des Ganzen ruhig hockt und darauf wartet, dass sie von jemandem abgeholt wird.

Aber wer dachte schon auf solche Weise über das Wesen der Not nach! Waren doch alle nur bemüht, sie zu ächten und zu verdrängen, so als hätte die Not keine Existenzberechtigung. Kein Wunder also, dass so viele Menschen beständig in Schwierigkeiten steckten. Sie gingen die Sache mit der noch nicht erblühten Not auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung einfach nicht radikal genug an, sondern verblieben im Zustand einer ständigen Angst.

Auch Viktoria war nicht angstfrei. Mehr Angst als die Angst aber machte ihr etwas ganz anderes. Und das war dann auch ihr Motor: Sie hasste ungeklärte Situationen. Gleich danach kam die permanente Sorge, dass eines Tages die Langeweile hinterrücks in ihr ständig aufregendes Leben einfallen könnte. Mit diesen Ideen schaffte sie es, Ängste zu überwinden, das Komplizierte auf seinen eigenen Höhepunkt zu zwingen, um von dort aus die Klarheit der schlichten Lösung zu finden.

Im Herzen wusste sie schon lange, was Karl fehlte. Er kam einfach hoffnungslos zu kurz. Und so sehr sie sein Schreibtalent bewunderte, so sehr bedauerte sie ihn für seine immerwährende Schwäche in Bezug auf die Gestaltung des persönlichen Glücks. Selbst ihre raffinierten Bettspiele vermochten ihn nicht mehr zu fesseln. Nicht einmal die Fesseln selbst. Sie würde sie wieder in Ebay einstellen. Fast neu. Zehn Euro. Taschengeld für Mikosch. Ansonsten würde sie beobachten und abwarten. Es würde sich schon geben.

Die Tatsache der kollektiven familiären Hochbegabung sah sie als Garant dafür, dass alles gut werden würde. Wie sollte es auch anders gehen. Sonst wäre die Hochbegabung ja keine. Sie war schon immer der Meinung, dass intelligente Menschen stärker herausgefordert werden müssten als durchschnittlich begabte Menschen. Das Leben an sich wäre doch sonst inadäquat. Ja, es sei geradezu beleidigend, bedeutende Menschen mit Potential nur mit lächerlich kleinen Sorgen zu prüfen statt mit heftigen und großen Herausforderungen. Insofern war diese Prüfung nicht nur folgerichtig, sondern auch notwendig und gut. Nach diesen tröstlichen Gedanken stellte sie sich stolz vor den Spiegel und sagte sich: Viktoria, du musst den Überblick behalten! Nur dann hältst du das Heft in der Hand. Sei wie eine Göttin!

Göttinnen sind Macherinnen und voller Vertrauen. Sie wissen um ihre Schöpferkraft. Selbst um die von Karl! Auch wenn er selbst es nicht ahnte!

Viktoria, das Leben ist schwer und schön! Schwer schön!

Sich im stummen Zwiegespräch in der dritten Person anzusprechen, war ein uraltes Ritual, das es ihr ermöglichte, in Abstand zu sich selbst zu treten. Dass dabei in aller Regel etwas Positives abfiel oder zumindest doch eine aufbauende Zuversicht, war kein unbeabsichtigtes Nebenprodukt. Es war gewissermaßen ein Erkenntnisakt, der eine ganz eigene Kraft hatte und aus einer Region ihres Wesens kam, die ihr vertraut war. Dass sie dieser inneren Kraft blind vertrauen konnte, stand ganz außer Frage.

Die Nächte dieses Sommers waren schwül. Karls Kopfschmerzen kamen wieder und die Träume im bewusst gewählten Alphazustand waren kaum noch aufrechtzuerhalten. Im Arbeitszimmer holte Karl die alten Kladden aus der Schublade, in denen er die Gedichte seiner Jugend aufbewahrte. Er las und staunte, was ihm alles aus der Feder geflossen war. Fast las er sich wie einen Fremden, und doch offenbarten sich ihm die Sehnsüchte, die ihn damals erfüllt hatten, mit einer Klarheit, die schmerzte. Wo waren all diese tiefen Gefühle hin?

Karl legte die Gedichte beiseite und überließ sich ganz seinen Gefühlen. Er überdachte sein Leben und spürte, wie ihn die kalte Wut überkam. Wie hatte er es nur zulassen können, dass ihn alle Welt dominierte? Oder war er bereits domestiziert? Ein innerlich wildes Tier, an die Kette einer nie enden wollenden Verantwortung gelegt? Der Arbeitgeber, die Familie, die Kinder. Verpflichtungen auf allen Ebenen. Und alles ruhte auf seinen Schultern. Den Gedanken, warum Viktoria unmöglich arbeiten gehen konnte, ohne dass die Kinder zu kurz kamen, hatte er x-fach hin und her bewegt. Es erschloss sich ihm auch jetzt keine neue Alternative. Die Kinder gediehen bei ihr optimal. Daran war nichts zu deuteln, selbst dann nicht, wenn man ihre ständige Hochbegabungsbehauptung als komplett durchgeknallten Spleen ansähe, über den sich fast jedermann hinter ihrem Rücken amüsierte. Aber alles war schon jetzt unverhältnismäßig anstrengend. Wie würde es erst sein, wenn auch die beiden Kleinen in die Pubertät kämen. Die langen Studien- und Ausbildungsjahre! Jahr um Jahr ging dahin. Sein ganzes Leben. Fiel Viktoria aus, um irgendwelchen Jobs nachzugehen, war das für sie nicht nur keine Verwirklichung, sondern sogar Verrat an ihren wertvollsten Prinzipien. Aber verdammt noch mal, das Geld reichte hinten und vorne nicht, wenn er auch mal zu seinen eigenen Angelegenheiten kommen wollte.

Viktoria wiederum hatte noch nie verstehen können, worin bei vielen berufstätigen Frauen denn bitteschön die ernsthafte Selbstverwirklichung liegen sollte, nur weil sie außer Haus für Fremde arbeiteten. Zumeist wären es doch nur lächerliche subalterne Jobs mit armselig entlohnten, inhaltsleeren Tätigkeiten. Manch eine ihrer allmorgendlich aus dem Haus flüchtenden Freundinnen war ja schon dankbar, wenn sie in ihren High Heels für einen kurzen Augenblick zum Blickfang geiler Männer in dunklen Anzügen wurde. Hirnlose Nichtcheckerbräute, die ein körperliches Schütteln bei Viktoria auslösten angesichts des Gedankens, auf solche Karrieren tatsächlich auch noch stolz zu sein.

Anders mochte es bei all jenen Frauen sein, deren Job tatsächlich in irgendeiner Weise kreativ, spannend oder heilend war. Die an Schaltstellen sinnvollen Wirkens saßen, wo die gestellte Aufgabe für das individuelle Talent und die eigene Berufung perfekt zusammenfielen. In diesen Fällen war das Kriterium echter Selbstverwirklichung für Viktoria glaubhaft gegeben. Unabhängig davon, welchen Preis die Frauen dafür bezahlten. Letztlich war bei jeder Variante alles irgendwie mit irgendwas zu bezahlen. Keine bekam ihr Glück zum Nulltarif. Wäre es anders, gäbe sie sich jetzt auf der Stelle die Kugel. Kaliber 45, aus einer Glock.

Aber wie vielen Frauen erging es denn schon so? Ihren teils in Büros arbeitenden Freundinnen jedenfalls konnte sie die Selbstverwirklichung in der Regel nicht ansehen. Hatten sie dennoch jenes gewisse Etwas, so war es in den wenigen Fällen auf anderem Fundament gewachsen, das letztlich mit dieser beruflichen »Selbstverwirklichung« nun wirklich nichts zu tun hatte. Überhaupt war sie der Meinung, dass dieser Begriff grundsätzlich mit Vorsicht auszusprechen sei.

So sprach sie immer wieder zu Karl und er fand, dass sie das durchaus richtig sah. Selbstverwirklichung begänne erst da, wo Qualitäten nicht nur vorhanden waren, sondern auch angewandt und ausgelebt wurden und erst damit eine Einheit mit dem Individuum bildeten. Viktorias Gedankenstrukturen waren auf eine Weise angelegt, die nur von wenigen Menschen nachvollzogen werden konnten. Karl jedoch konnte es, manchmal. Und dann faszinierte es ihn auch sehr. Viktorias Reiz lag eben nicht nur in ihrer Optik, sondern auch in der Klugheit, die sich dem Mainstream feministischer Moderne auf unnachahmliche Weise entgegenstellte. Eine freie Antifeministin, jenseits aller politischen oder gesellschaftlichen Klischees, die sich um nichts scherte als um ihre tatsächliche Berufung. Und die bestand darin, der Welt ihre drei Hochbegabten zu schenken. Notfalls auch um den Preis, dass ein zweiter James Joyce des 21. Jahrhunderts nicht in die Annalen der Literaturgeschichte eingehen konnte. Als starkes Individuum war Viktoria bereit, sich jederzeit zwischen alle Stühle zu setzen. Keineswegs aus reiner Mutterliebe, sondern aus Liebe zur schicksalhaften Berufung.

Entsprechend nahm sie sich das in ihren Augen rechte Maß an Freiheit. Neben ihren vielfältigen Alltagspflichten war sie in diversen Gruppen aktiv, die nur eines gemeinsam hatten: Sie hatten keine der üblichen hierarchischen Strukturen.

Ihre Nebenaktivitäten sorgten dafür, dass sie nicht das Gefühl familiärer Enge empfand, unter dem so viele ihrer Freundinnen litten, die einfach ihre alten Muster nicht wirklich zu verändern wussten. Die nur halbherzige Sachen machten, die keinen Mut erforderten und deshalb auch wenig Befriedigung brachten. Die Familie war auch der Mittelpunkt ihres Lebens. Aber jede Form von Hausfrauenfrust prallte an ihrer Amazonenrüstung ab.