Jerry Cotton 3124 - Jerry Cotton - E-Book

Jerry Cotton 3124 E-Book

Jerry Cotton

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Beschreibung

In einer Bostoner Wäscherei in Chinatown wurde ein Ex-FBI-Agent tot gefunden - auf dem Bauch liegend und eine mit den Fußknöcheln verbundene Drahtschlinge um den Hals, sodass sich das Opfer langsam qualvoll selbst stranguliert hatte. Alles deutete auf einen Mord der Triaden hin. Doch Phil und ich bekamen es schnell mit einem viel gefährlicheren Gegner zu tun ...

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Inhalt

Cover

Impressum

Der Tod lauert überall

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelfoto: (Film) »Cold Weather«/ddp-images

eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln

ISBN 978-3-7325-4622-0

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

Der Tod lauert überall

Er kam im Dämmerlicht zu sich. Schweiß brannte in seinen Augen, sein Hemd klebte am Oberkörper, und der Kabelbinder schnitt ihm in die Handgelenke, die hinter seinem Rücken zusammengebunden waren. Der Gestank nach Heizöl machte ihm das Atmen schwer. Aber immerhin war er noch am Leben. Wenn er nur die Fesseln lockern könnte!

Eine Gestalt schob sich schweigend in den winzigen Raum. Im Lichtstrahl sah er Wäscheflusen durch die Luft schweben.

»Hören Sie«, krächzte er, »Sie bekommen jeden Cent zurück. Ich schwöre es!«

Mit vor Entsetzen geweiteten Augen beobachtete er, wie die Gestalt Blumendraht von einer Rolle wickelte. Er spürte, wie der Draht seine Fußknöchel schmerzhaft umschloss und dann um seinen Hals gelegt wurde.

Die Gestalt drehte ihn auf den Bauch. Die Schlinge um seinen Hals zog sich unerbittlich zu.

»Bitte«, flüsterte er rau, aber die Tür schloss sich bereits wieder.

Schritte entfernten sich, der schmale Lichtstreifen unter der Tür erlosch.

Er spannte jede Faser seines Körpers an, um den Zug aus der Schlinge zu nehmen.

Quälend lange Augenblicke verharrte er in dieser Position, doch schließlich verweigerten seine Muskeln ihm den Dienst.

Phil und ich füllten mit rauchenden Köpfen den Schadensbericht aus. Jemand hatte einem von uns in der U Street geparkten Chevy aus dem Fuhrpark eine nette Beule am Kotflügel verpasst und dann das Weite gesucht. Das bedeutete vor allem eines: massenhaft Papierkram.

»Ich entführe Sie ja nur ungern von Ihrer Lieblingsbeschäftigung«, zog Dorothy Taylor, die in der Tür zu Phils Büro auftauchte, uns auf. »Aber Mister High möchte Sie beide sprechen, am besten sofort.«

»Wie schade, der Bürokratenkram fing gerade an, mir Spaß zu machen«, spielte Phil den Enttäuschten und sprang von seinem Schreibtischstuhl auf.

Wir folgten Dorothy zu Mr Highs Büro. Nach einem höflichen Anklopfen traten wir ein. Der Chef deutete, den Telefonhörer noch am Ohr, auf den Besprechungstisch. Wir nahmen Platz, und nur einen Augenblick später stellte Dorothy eine Tasse Kaffee vor jeden von uns auf den Tisch. Ich zwinkerte ihr dankbar zu.

Mr High legte das Telefonat auf das Konferenztelefon um und gesellte sich zu uns. Im nächsten Moment erfüllte die Stimme von Dr. Willson, unserem Rechtsmediziner aus dem Scientific-Research-Team in Quantico, den Raum.

»Hallo, Jerry, hallo, Phil«, begrüßte er uns.

»Wann waren Sie das letzte Mal in Boston, Jerry?«, wollte Mr High wissen.

»Leider schon eine Weile her, Sir«, antwortete ich. »Ich mag die Stadt. Erinnert mich immer an den Alten Kontinent.«

»Phil und Sie werden sehr bald wieder in das europäische Flair eintauchen können. Nur befürchte ich, für Sightseeing wird Ihnen beiden nicht viel Zeit bleiben. Agent Willson?«

Gerold nahm den Faden auf. »Kennen Sie die Chinatown von Boston, Jerry?«

»Sie ist nach der von New York und San Francisco die drittgrößte, wenn ich mich recht erinnere.«

»Das mag sein, Geografie war nie mein Steckenpferd. Im Herzen Chinatowns gibt es eine Wäscherei mit dem Namen Tyler Street Cleaners. Die Kollegen vom BPD wurden gerufen, weil man im Keller des Gebäudes eine Leiche gefunden hat.«

Ich stellte mir die Frage, was Gerold damit zu tun hatte, denn in Boston gab es sicher ebenfalls kompetente Coroner, die die Obduktion durchführen konnten. Bei einem gewöhnlichen Mordfall war es wohl kaum erforderlich, den wahrscheinlich fähigsten Mediziner beim FBI aufzubieten.

»Der Kollege in Boston hat mich hinzugezogen, weil derjenige, der die Leiche entsorgt hat, ein echter Profi war. Der Tote wurde in angefeuchtete Tücher gewickelt und in einem Heizungskeller versteckt, in dem durchgehend über hundert Grad Fahrenheit Temperatur herrschen. Sie können sich denken, dass das den Verwesungsprozess enorm beschleunigt.«

»Die Kollegen in Boston konnten die Leiche nicht identifizieren«, mutmaßte Phil.

»Und den Todeszeitpunkt nicht ermitteln. Dass man dem Toten einige Zähne herausgebrochen hat, hat die Sache noch erschwert. Der Tatort und die Art, wie der Mann getötet wurde, lassen auf ein Verbrechen im Milieu der Triaden schließen. Also haben sie seine DNA durch die CODIS-Datenbank laufen lassen, wieder ohne Erfolg. Weil der Leiter der Gerichtsmedizin in Boston und ich alte Studienfreunde sind, hat er mich konsultiert.«

»Lassen Sie mich raten, Gerold«, ich grinste Phil verschwörerisch an, »Sie haben mit irgendeinem Zaubertrick herausgefunden, wer der Kerl ist.«

»Ich bin kein Houdini, Jerry. Bei mir geht alles mit rechten Dingen zu. Neben den großen offiziellen Systemen habe ich Zugriff auf ein paar kleinere DNA-Dateien. Vor ein paar Jahren musste die halbe Bostoner Polizei Speichelproben abgeben, weil einige Tatorte bei der Sicherung mit fremder DNA verschmutzt wurden, weswegen man irrtümlicherweise zunächst einen Serientäter vermutet hatte.«

»Ich erinnere mich an den Fall.«

»Und in dieser DNA-Datei bin ich fündig geworden«, fuhr Gerold fort. »Der Tote, ein gewisser Damien Ang, hatte einige Zeit bei der Bostoner Polizei gearbeitet.«

Ich sah unseren Chef zweifelnd an. »Das erklärt immer noch nicht, was das FBI damit zu tun hat.«

»Ganz einfach, Jerry«, erklärte Mr High, »Mister Ang wechselte vom Boston Police Department ins dortige Field Office.«

Phil stieß einen Pfiff aus, völlig zu Recht. Ein ermordeter FBI-Beamter, möglicherweise ein verdeckter Ermittler, der das Opfer einer Auseinandersetzung konkurrierender chinesischer Triaden-Banden geworden war – eindeutig ein Fall für uns. Aber auch hier lag ich nicht hundertprozentig richtig, wie der Chef mir im Folgenden klarmachte.

»Mister Ang hat das FBI nach zwei Jahren wieder verlassen. Genauer gesagt: Er wurde rausgeworfen.«

»Er hat die Hand aufgehalten?«, spekulierte ich.

Mr High nickte.

»Und danach?«, fragte ich.

»Verschwand er von der Bildfläche.«

»Brauchen Sie mich noch, Sir?«, schnarrte Gerolds Stimme aus dem Telefon. »Wir sind immer noch dabei, den genauen Todeszeitpunkt zu bestimmen. Sie können sich nicht vorstellen, wie schwierig das in diesem fortgeschrittenen Stadium des Verfalls ist. Da wartet noch eine Menge Arbeit auf mich.«

Der Chef entließ ihn aus der Sitzung und wandte sich wieder an uns.

»Ich möchte, dass Sie beide morgen nach Boston fliegen und sich im Field Office in der Maple Street einfinden. Special Agent in Charge Norman Galston ist gebrieft. Finden Sie heraus, wer Damien Ang getötet hat, und vor allem, warum!«

***

Der Flug vom Ronald Reagan Airport nach Boston am nächsten Morgen war so kurz und ereignislos, dass Phil nicht mal mehr den bestellten Tomatensaft serviert bekam. Das Field Office hatte einen jungen Sikh geschickt, der uns am Flughafen mit einem handgeschriebenen und ziemlich unleserlichen Namensschild erwartete. Er brachte uns zum Stützpunkt des örtlichen FBI-Büros in Chelsea, einer kleinen Stadt, die nördlich an Boston grenzte.

Als unser Ford Interceptor Stealth die Andrew McArdle Bridge überquerte, glitzerte unter uns der berühmte Mystic River im Sonnenlicht. Ich rückte meine Sonnenbrille gerade und genoss die Aussicht und den blauen Himmel. Boston war doch immer eine Reise wert.

Auf dem Parkplatz vor dem Bürogebäude drückte der junge Kollege uns schüchtern lächelnd die Schlüssel in die Hand. Nun waren wir mobil. Hoffentlich würden wir diesen Wagen in einem makelloseren Zustand zurückgeben als den letzten.

Der Neubau der FBI Division Boston war erst vor wenigen Tagen bezogen worden, und der Stolz auf sein neues Hauptquartier war Norman Galston, dem Leiter des Field Office, deutlich anzumerken.

»Das Gebäude ist nach den neuesten ökologischen Kriterien geplant«, dozierte er und führte uns durch sein Schmuckstück. »Ich habe Ihnen einen Besprechungsraum herrichten lassen, darin gibt es auch ein Videokonferenzsystem und auf dem Gang neben der Tür eine brauchbare Kaffeemaschine. Wenn Sie irgendetwas benötigen, lassen Sie es mich wissen! Ich möchte, dass Sie sich bei uns wie zu Hause fühlen.«

»Danke, Special Agent in Charge Galston, wir wissen Ihre Unterstützung zu schätzen«, bauchpinselte ich ihn. Nicht alle Field-Office-Leiter waren so aufgeschlossen, wenn man ihnen jemanden aus Washington schickte, um einen Fall aufzuklären, an dem sich die lokalen Behörden die Zähne ausgebissen hatten.

Wir richteten uns zunächst in unserem Übergangsbüro ein. Phil schloss seinen Laptop ans Netz an, ein Bote karrte auf einem Rollwagen ein gutes Dutzend Ordner zum Fall Ang herbei, deren Inhalt wir überflogen und die Unterlagen griffbereit sortierten. Dann suchten wir Galston wieder in seinem Büro auf. Bei unserem Anblick schickte er zwei Frauen, mit denen er offensichtlich mitten in einer Besprechung war, hinaus und bat uns herein. Die eine der beiden, eine umwerfend aussehende Mittdreißigerin mit rotblonden Locken, schenkte mir beim Hinausgehen ein Lächeln, das ich gerne erwiderte.

»Wir hätten auch warten können, bis Sie fertig sind«, entschuldigte ich mich.

»Es ging um die Organisation der Housewarming Party«, antwortete der SAC mit einem Augenrollen. »Ich bin froh, dass Sie mich gerettet haben. Was kann ich für Sie tun?«

»Was können Sie uns über Damien Ang erzählen?«, fragte ich.

Galston stand auf und schloss die Tür zu seinem Büro, sodass wir unter uns waren. Er tippte auf seiner Tastatur herum, dann drehte er den Bildschirm zu uns. Vom Display lächelte uns ein junger Mann an, dessen asiatische Züge mit denen des typisch amerikanischen Collegeboys eine perfekte Synthese eingegangen waren. Sein akkurater Seitenscheitel betonte sein braves Image.

»Ang hatte einige Jahre beim Boston Police Department gearbeitet. In seiner Zeit als Officer hatte er nebenher einen Bachelor in Jura erlangt und sein eingerostetes Kantonesisch auf Vordermann gebracht. Mit den Qualifikationen bewarb er sich vor drei Jahren bei uns und wurde vom Fleck weg eingestellt.«

Ich nickte. »Als Special Agent?«

»Nein – und zwar auf eigenen Wunsch. Ang wurde zuerst als Analyst zum Thema organisiertes Verbrechen beschäftigt, hat aber später vor allem an der Organisation von Zeugenschutzprogrammen speziell aus diesem Milieu mitgewirkt. Seine Kenntnisse der chinesischen Kultur und Sprache waren für uns äußerst wertvoll.«

»Er hat also nicht direkt im Feld gearbeitet?«, wollte ich wissen.

Galston schüttelte den Kopf. »Damien war ein Schreibtischhengst, wenn Sie so wollen.«

»Assistant Director High meinte, Ang sei nach etwas mehr als zwei Jahren unehrenhaft entlassen worden«, bemerkte ich.

»Das ist leider richtig.« Galston lehnte sich in seinem Chefsessel zurück und strich sich übers Kinn, auf dem sich bereits am späten Vormittag der erste Bartschatten bildete.

Seine Körpersprache verriet, dass ihm die Beschäftigung mit diesem Kapitel seines ehemaligen Mitarbeiters unangenehm war. Verständlich, dachte ich: Ein guter Vorgesetzter fühlte sich, ob begründet oder nicht, für das Fehlverhalten seiner Mitarbeiter immer mitverantwortlich.

»Damien hatte wohl ein Drogenproblem. Seit einem Steckschuss im Schulterblatt, den er im aktiven Dienst beim BPD erlitten hatte, musste er regelmäßig Schmerzmittel nehmen. Das erlittene Trauma war im Übrigen einer der Gründe, warum er aus dem BPD ausschied und nach einem etwas ruhigeren Job suchte, weitab von der Front, wenn Sie so wollen.«

»Ich verstehe.«

»Bei der medizinischen Einstellungsuntersuchung kamen diese Schmerzmittel zwar zur Sprache, aber niemand hier wusste, dass sich Ang schon weit davon entfernt hatte, lediglich die Rückenschmerzen zu betäuben, die ihn quälten. Er warf Tabletten ein, wie andere Leute Erdnüsse während des Superbowl-Finales.«

»Er brauchte vermutlich sehr viel mehr Geld, als er hier verdiente, um an die Medikamente zu kommen«, mutmaßte ich.

»Schlimmer als das«, erwiderte Galston. »Einer der Bostoner Clan-Chefs ließ Damien direkt mit verschreibungspflichtigen Schmerzmitteln versorgen, damit der ihm im Gegenzug Informationen über das Zeugenschutzprogramm lieferte. Bei einer Razzia tauchte Damiens Name im Adressbuch des Smartphones eines der Verhafteten auf. Das war der Anfang vom Ende.«

»Glauben Sie, sein Tod hat etwas mit dieser Geschäftsbeziehung zu tun?«, wollte Phil wissen.

Galston zuckte die Schultern. »Gut möglich. Damien hat sich schon früh mit den falschen Leuten eingelassen. Ich kann mir kaum vorstellen, dass er nach seiner Entlassung zum Chorknaben wurde. Außerdem sprechen die Umstände seines Todes dafür. Details finden Sie im Obduktionsbericht, der Ihnen hoffentlich inzwischen zugestellt wurde.«

Das bestätigte ich und bedankte mich bei ihm. »War Mister Ang verheiratet? Hatte er Kinder? Sonstige lebende Verwandte?«

Galston verneinte. »Er hatte eine Freundin, ein hübsches Ding, deren Namen ich jedoch vergessen habe. Sie hatte ein auffallendes Skorpion-Tattoo auf dem Oberarm, daran erinnere ich mich noch. Aber ich glaube nicht, dass das damals etwas Ernstes war. Die Eltern sind schon länger verstorben, Geschwister hatte er nicht.«

Phil und ich sahen uns an. Für den Moment hatten wir genug Informationen. Den Rest würden wir in den Ordnern in unserem Büro finden.

»Ich denke, wir werden uns zuerst in der Tyler Street umsehen. Irgendetwas, das wir uns besonders vornehmen sollten?«

»Ja, gehen Sie unbedingt ins Golden Dragon Café in der Hudson Street.«

»Warum? Haben Sie da einen Informanten sitzen?«, wollte Phil wissen.

Galston grinste. »Nein, da gibt es die besten Dim Sum südlich des Mystic River.«

***

Ich steuerte unseren Ford den Highway 1 in südlicher Richtung entlang. Erneut überquerten wir den Fluss, diesmal auf der Tobin Memorial Bridge, und zweigten dann bei Millers River auf die Interstate 93 ab. Am entfernten Ende des Flusses setzte sich das hoch aufragende Backsteingebäude des Bostoner Nordbahnhofs vor dem fast wolkenlosen blauen Himmel ab.

»Hast du dir die Tatortfotos angesehen?«, fragte Phil.

Das hatte ich. Sie waren definitiv nichts für zarte Gemüter. Die hohe Luftfeuchtigkeit und die Wärme hatten ihren Tribut gefordert. Aber wir beide hatten mehr als genug Leichen gesehen, als dass uns so etwas die Laune an einem strahlenden Sonnentag in Boston verhageln würde.

»Sieht sehr nach einem Profi aus«, kommentierte mein Partner.

»Es war jedenfalls definitiv kein Affektverbrechen«, stellte ich fest. »Wohl eher eine Hinrichtung.«

»Mit dem Charakter einer deutlichen Warnung«, sagte Phil.

Da pflichtete ich ihm bei: Der oder die Täter hatten Ang zuerst auf den Bauch gelegt. Sie hatten seine Fußknöchel gefesselt und eine Schlinge um seinen Hals gelegt und beides dann so miteinander verknüpft, dass sich Ang zwangsläufig selbst erdrosselte, sobald seine Kraft nachließ.

Ein langsamer und grausamer Tod. Und eine Inszenierung mit Symbolwirkung.

Diese Art, jemanden umzubringen, hatte ich schon einmal gesehen: bei einem Bandenkrieg zwischen zwei verfeindeten Triaden-Clans in New York.

Damals war das NYPD in ein Abbruchhaus in der Bronx gerufen worden. Sie hatten die Leichen von vier Männern entdeckt, die exakt auf dieselbe Art getötet worden waren. Wie sich später herausstellte, hatte es sich um Überläufer gehandelt. Die Mörder hatte man nie gefasst, aber jedem war klar, dass es sich gleichermaßen um eine Bestrafung wie auch um eine Machtdemonstration zwischen konkurrierenden Gruppen gehandelt hatte.

»Wenn die Täter wirklich aus dem Umfeld der Triaden kommen, möglicherweise aus der 14-K-Bande, kann das schnell sehr unübersichtlich werden.«

»Stimmt, Phil. Aber es gibt auch einiges, das nicht so recht zur Triaden-Theorie passt.«

»Und das wäre?«, fragte mein Partner.

»Die Mordmethode ist auffällig. Eine Inszenierung. Aber warum der Versuch, die Identifikation des Opfers zu verhindern? Die Tücher, die Entfernung der Zähne? Das scheint mir kontraproduktiv, wenn man die Konkurrenz vorführen möchte. Und das Opfer lag ja schon eine Weile dort. Niemand hat die Polizei gerufen, um die Sache publik zu machen. Was bringt einem die schönste Hinrichtung ohne Schaulustige?«

Phil nickte zustimmend. »Es wäre gut zu wissen, was Ang nach seiner Zeit im Verein so getrieben hat.«

»Ich denke, wir sollten uns auch ansehen, mit wem er in Kontakt stand, während er für den Zeugenschutz gearbeitet hat. Wenn er tatsächlich Zeugen verraten hat, gibt es haufenweise Geschädigte, die einen guten Grund hätten, ihm den Hals umzudrehen. Von denen haben nicht wenige selbst Dreck am Stecken.«

»Sofern diese Leute überhaupt noch am Leben sind«, gab Phil zu bedenken. Denn falls Ang Nutznießer des Zeugenschutzes verraten hatte, waren deren Tage vermutlich schnell gezählt gewesen.

Im nächsten Augenblick stieß Phil einen Freudenschrei aus. Er hatte quasi direkt vor Tyler Street Cleaners einen Parkplatz entdeckt – nicht gerade eine Selbstverständlichkeit in der Bostoner Chinatown.

Wir stiegen aus und sahen uns um. Überall Pagoden, von den meisten Fassaden hingen rote Flaggen mit goldenen chinesischen Schriftzeichen. Quer über die Straßen waren rot-goldene Lampions gespannt. Straßenhändler boten angebliche Markenuhren und Original-DVDs an, und auf einer improvisierten Bühne am Ende der Straße probten kleine Mädchen unter der strengen Beobachtung ihrer Lehrerin eine Tanzaufführung zu fremdartiger Musik, die aus einem Lautsprecher plärrte. In einer winzigen Fleischerei baumelte ein Dutzend glasierter Enten in der Auslage.

Ich nahm fasziniert die Atmosphäre auf und sog die Düfte ein, die durch die Straßen waberten. Schade, dass uns nur wenig Zeit bleiben würde, die kulinarische Vielfalt dieses Stadtteils zu genießen.

Ein kleiner Lieferwagen auf der gegenüberliegenden Straßenseite, der die Beschriftung Li River Laundry trug, wurde von einem sehnig aussehenden Asiaten beladen, sein etwas beleibterer Kollege lehnte am Kotflügel, eine Zigarette im Mundwinkel, und sah gelangweilt zu uns herüber.

Die Blinker leuchteten kurz auf, als ich die Zentralverriegelung am Ford auslöste. Wir begaben uns in die Wäscherei. Die Türglocke am Eingang zur Wäscherei setzte ein Windspiel in Bewegung, dessen schwebende Klänge uns in einem abgelegenen Bergkloster wähnen ließen.

Hinter dem Tresen saß eine uralte Lady mit einem verwitterten Gesicht auf einem Stuhl und schob etwas Undefinierbares von einer Backe in die andere. Sie musste weit über achtzig sein, und ihren eingefallenen Lippen nach zu schließen hatte sie weniger Zähne im Mund als Stanley Ketchel nach seinem K.o. durch Jack Johnson im Jahr 1909.

Phil und ich präsentierten ihr unsere Dienstmarken. Sie wirkte nicht gerade beeindruckt.

»Guten Tag, Ma’am. Mein Name ist Cotton vom FBI, das ist mein Partner Decker. Wir möchten Mister Xu sprechen.«

Die Alte starrte uns an, als wären wir zwei Außerirdische.

»Mister Xu, ist er zu sprechen?«, wiederholte ich lautstark, da ich vermutete, dass das Gehör der alten Dame nicht mehr das beste war.

Sie runzelte die Stirn, dann schnappte sich ihre altersfleckige Klaue einen Abholzettel der Wäscherei vom Tresen und fuchtelte damit vor meinem Gesicht herum. Ganz offensichtlich versuchte sie mir deutlich zu machen, dass sie ohne eine gültige Quittung außerstande war, mir meine Wäsche auszuhändigen.

»Na, wenn das die Clan-Chefin ist, dann gute Nacht organisiertes Verbrechen«, murmelte Phil sarkastisch hinter meinem Rücken.

»Mister Xu. Der Chef!«, machte ich einen letzten verzweifelten Versuch.

Im selben Moment teilte sich der Vorhang aus Perlenschnüren hinter ihr, und ein kleines, ebenso dürres wie kahlköpfiges Männlein trat in den Vorraum.

»Meine Mutter ist nicht nur schwerhörig, sondern spricht auch kein Wort Englisch«, sagte er mit einer hohen Fistelstimme und einem deutlichen Akzent. Er streckte uns eine schmale Hand zur Begrüßung hin. »Yang Xu mein Name. Ich bin der Inhaber der Wäscherei. Und Sie sind von der Polizei?«

»Vom FBI, Mister Xu. Wir kommen aus Washington, um den Fall des Toten in Ihrem Heizkeller zu untersuchen.«