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Phil und ich sollten den Kronzeugen H. P. Sanderson, der wegen seiner Skrupellosigkeit auch "Die Bestie" genannt wurde, genauestens überprüfen. Der Mann, ehemaliger Securitychef im windigen Geldwäsche-Kartell NimagTrade, stand kurz davor, gegen die eigenen Leute auszusagen. Während wir Sanderson befragten, um uns von seiner Entschlossenheit zu überzeugen, erhielt er einen Anruf von seinem Sohn Clark. Der Achtjährige war entführt worden! Sofort fuhren wir schweres Geschütz auf, denn wir mussten nicht nur zusehen, Sanderson trotzdem zu einer Aussage zu bewegen, sondern vor allem, seinen Jungen lebendig aus den Fängen der Kidnapper zu befreien.
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Seitenzahl: 145
Veröffentlichungsjahr: 2017
Cover
Impressum
Das Schweigen der Bestie
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelfoto: (Film) »Short Caller«/ddp-images
eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-5552-9
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Das Schweigen der Bestie
Alles um ihn herum war dunkel. Seine Füße und Arme waren verschnürt, und sein Kopf schmerzte von dem Schlag, den er abbekommen hatte. Das Atmen fiel ihm schwer. Der Junge spürte Panik in sich aufsteigen.
»Dad?«, flüsterte er heiser. »Wo bist du?«
Es war ein kläglicher Versuch. Denn im Grunde wusste er, dass er ganz allein war. Das monotone Motorengeräusch, ein leichtes Rütteln und die dunkle Enge verrieten ihm, dass er sich im Kofferraum eines Wagens befand. Er war gefesselt, aber nicht geknebelt. Es fühlte sich an wie ein Albtraum, doch es war die Wirklichkeit: Sie hatten ihn entführt!
Der Junge begann zu zittern, und Tränen rannen ihm übers Gesicht.
»Dad?«, wisperte er noch einmal. »Hilf mir, Daddy!« Er lauschte seinen Worten nach und hielt dabei unwillkürlich die Luft an.
Doch natürlich bekam er auch diesmal keine Antwort.
Ich mochte das WITSEC-Gelände nicht. Es lag gut dreißig Autominuten außerhalb von Washington und hatte den herben Charme einer stillgelegten Chemiefabrik. Keine Bäume, kaum Rasen, nur Beton und Asphalt und drum herum unüberwindbarer Stacheldrahtzaun.
Phil schien meine Gedanken zu lesen. »Wie hübsch«, sagte er und grinste. »Vielleicht mache ich hier mal Urlaub.«
»Viel Vergnügen«, erwiderte ich. »Wird sicher aufregend.«
Wir hatten nicht zum ersten Mal hier draußen zu tun. Das FBI brachte Kronzeugen hierher, die insUnited States Federal Witness Protection Program,kurz WITSEC, aufgenommen wurden. Es war die erste Anlaufstelle für die Aussagewilligen und für ihre Familienangehörigen.
»Immerhin einer der sichersten Orte der Welt.« Phil zuckte mit den Schultern.
Bis zum Ende des Prozesses konnten die Zeugen auf dem Gelände wohnen, bestmöglich geschützt vor dem Zugriff der Gangs und Firmen, aus denen sie aussteigen wollten und die ein berechtigtes Interesse daran hatten, sie am Reden zu hindern.
Das WITSEC wurde üblicherweise vom United State Marshals Service betreut, wir koordinierten das Verfahren nur. Doch in diesem speziellen Fall lagen die Dinge ein klein wenig anders. Denn uns war einer der fettesten Fische ins Netz gegangen, die wir je an Land gezogen hatten.
Nachdem wir unsere Dienstausweise vorgezeigt hatten, tätigte der bis an die Zähne bewaffnete Security Guard einen Kontrollanruf, dann öffnete er uns schweigend das Tor zum Gelände. Er schob einen Kaugummi im Mund hin und her, davon abgesehen verzog er keine Miene.
»Einen schönen Tag noch«, sagte Phil, erntete aber nur einen eisigen Blick. »Okay«, stöhnte er. »Vielleicht doch lieber Hawaii.«
Ich erwiderte nichts. Auch mir war die Lust am Scherzen vergangen. Spätestens wenn sie hier ankamen, musste den Zeugen aufgehen, worauf sie sich eingelassen hatten. WITSEC war kein Spaziergang, WITSEC war bitterer Ernst.
Vor dem Hauptverwaltungsgebäude blieben wir stehen.
»Müssen wir noch irgendetwas besprechen, bevor wir die Höhle des Löwen betreten?«, fragte ich. Natürlich hatten wir beide unsere Hausaufgaben gemacht, hatten die Akte gründlich gelesen, aber es war nicht auszuschließen, dass einer von uns über zusätzliche Informationen gestolpert war.
»Cynthia hat mich vor seinem stechenden Blick gewarnt«, erwiderte Phil grinsend.
»Cynthia?« Ich zog die Stirn kraus. »Wer, zum Teufel, ist …?«
»Du lernst sie gleich kennen. Cynthia McPhearson. Leiterin der WITSEC-Anlaufstelle. Ich habe ein paarmal mit ihr telefoniert. Gestern waren wir zusammen essen.«
Ich lächelte breit. Typisch Phil! Seine Vorbereitung unterschied sich doch manchmal gehörig von meiner.
»Und das ist alles, was du von ihr erfahren hast?«, hakte ich nach.
»Sie sagt, er sei schwer einzuschätzen. Ein Choleriker mit zwei Gesichtern. In einem Moment hält man ihn für einen freundlichen, aufrichtigen Menschen, im nächsten Moment siehst du seinen Blick und alles in dir gefriert zu Eis.«
»Wie aufregend! Liest deine Cynthia etwa zu viele schlechte Romane?« Ich schüttelte unwillig den Kopf. »Natürlich ist unser Mann furchteinflößend. Sonst würde man ihn wohl kaum die Bestie nennen.«
»Moment mal, Sie ist nicht meine Cynthia«, protestierte Phil.
Wir drückten auf den Klingelknopf, eine Kamera surrte und filmte uns von oben bis unten ab, schließlich öffnete sich die Tür.
Cynthia McPhearson hatte eine tadellose Figur, hübsche weiße Zähne, eine helle, fast durchscheinende Haut und loderndes rotes Haar. Zum ersten Mal sahen wir auf dem WITSEC-Gelände ein Lächeln. Es galt natürlich ausschließlich Phil.
»Da sind Sie ja endlich«, begrüßte sie uns. »Ihr Mann sitzt schon seit einer halben Stunde im Sprechzimmer. Sollen wir das Gespräch aufzeichnen?« Sie beugte sich vertrauensvoll nach vorne, senkte die Stimme und zwinkerte Phil zu. »Ich würde ihn nicht länger warten lassen. Geduld ist nicht gerade seine Stärke.«
»Wir sind bereit«, versicherte Phil.
»Hier entlang, Gentlemen. Viel Erfolg!« Die Leiterin betätigte einen Schalter, der die Tür ihrem Schreibtisch gegenüber öffnete. Wir traten ein und waren im nächsten Moment allein mit Hugh Peter Sanderson, der Bestie.
***
Der Raum war so spärlich eingerichtet wie ein Verhörzimmer. Ein leerer Schreibtisch stand in der Mitte, zwei Stühle auf der einen Seite, ein einzelner gegenüber. Keine Bilder, keine Bücher, nicht einmal ein Fenster. Nur vier Überwachungskameras, in jeder Zimmerecke eine. Und ein Mikro, das das Gespräch nach außen zu Cynthia McPhearson übertrug, die es für uns aufzeichnete.
Auf dem einzelnen Stuhl saß breitbeinig H. P. Sanderson.
Wortlos taxierten wir einander. Er hatte eisblaue Augen, blondes, zurückgekämmtes Haar und volle Lippen, die von einem Oberlippenbart fast überdeckt wurden. Im Moment war sein Blick alles andere als stechend, eher gelangweilt.
Ich setzte mich, Phil blieb stehen. Je länger das Schweigen anhielt, desto nervöser wurde Sanderson. Ich sah es an den Fingern, die zu zucken begannen.
»Inspektor Cotton und Inspektor Decker«, stellte ich uns endlich vor. »Mister Sanderson, Ihr erster Gerichtstermin steht bevor. Wir sind hier, um noch einmal die wichtigsten Punkte mit Ihnen durchzugehen.«
Das war nur die halbe Wahrheit. In Wirklichkeit hatte uns Mr High geschickt, um die Entschlossenheit des Kronzeugen noch einmal zu überprüfen. Unserem Chef ging es ähnlich wie McPhearson: Er hegte Zweifel an der Aufrichtigkeit der Bestie.
»Wenn wir eine Person ins Witness Protection Program aufnehmen, müssen wir uns zu hundert Prozent darauf verlassen können, dass sie den Prozess auch durchsteht«, sagte ich laut. »Ihre Aussage muss hieb- und stichfest sein und sich belegen lassen. Sie muss vor den raffiniertesten Anwälten standhalten, denn unser Gegner wird die Besten des Landes auffahren, das ist sicher.«
Sanderson verzog keine Miene.
»Unsere Kronzeugen dürfen nicht ins Wanken geraten, wenn sie ihren ehemaligen Bossen und Kameraden gegenüberstehen«, fuhr ich fort. »Sie dürfen sich nicht einschüchtern lassen.«
»Oh bitte«, unterbrach mich Sanderson mit tiefer, unerwartet wohlklingender Stimme. »Nicht schon wieder. Das habe ich doch alles schon hundertmal durchgekaut.«
»Möglich. Aber nicht mit uns.« Phil lächelte gewinnend, doch seine Stimme war scharf wie ein Skalpell.
»Okay.« Sanderson seufzte, seine Finger trommelten ein Stakkato auf dem Schreibtisch. »Dann also noch mal von vorne.«
»Das NimagTrade-Kartell ist dezentral organisiert«, begann Phil. »Die Arme der Organisation kooperieren miteinander wie die Tentakel eines Kraken. Aber nicht einmal die obersten Bosse der einzelnen Sektionen kennen einander mit Namen. Wie kommt es also, dass Sie, Mister Sanderson, ein einfacher Schläger und Killer, gegen Mister Cronenberg, den Kopf des Kartells, aussagen können? Überschätzen Sie sich da nicht ein wenig?«
Sandersons volle Lippen verzogen sich zu einem amüsierten Grinsen. Unten links blitze ein Brillant im Eckzahn auf.
»Ein schöner Vergleich«, sagte er. »Der Krake, meine ich. Wissen Sie, gerade die einfachen Killer kommen überall hin. Sie kennen alle schmutzigen Geheimnisse.«
»Heißt das, Mister Cronenberg hat ausgerechnet Sie in seine Geschäftspraktiken eingeweiht?« Phil versuchte es mit Provokation. Manchmal verrieten sich selbst die abgebrühtesten Gauner, wenn sie sich in ihrer Berufsehre verletzt fühlten. Doch Sanderson fiel nicht auf diesen Trick herein.
»Yeah«, sagte er. »Er wusste, dass er sich auf mich verlassen kann.«
»Man nennt Sie dieBestie«, schaltete ich mich ein. »Bekannt für Ihre Brutalität und Skrupellosigkeit. Sie schrecken vor nichts zurück, haben sogar Kinder ermordet. Nennen Sie uns einen guten Grund, warum wir Ihnen trauen sollten.«
Ich hatte mich spontan dafür entschieden, Sanderson die Wahrheit zu sagen. Wir hatten es hier ganz offensichtlich nicht mit einem hirnlosen Schläger zu tun, sondern mit einem intelligenten Mann, der zwar kaltblütig war, sich seine Stellung innerhalb des Kartells aber mit Klugheit erarbeitet hatte.
Zum ersten Mal sah ich eine Gefühlsregung auf seinem Gesicht. Eine Art Schmerz trat in seine Züge.
»Das mit den Kindern bedauere ich heute sehr«, sagte er traurig und klang fast ein wenig verletzlich. »Sie haben sicher meine Akte gelesen. Dann sollten Sie den Hauptgrund für meinen Ausstieg bei NimagTrade kennen.«
Ich nickte.
»Vielleicht ist er für Menschen mit einem geordneten Leben schwer nachvollziehbar. Aber wer wie ich auf der Straße groß geworden ist, umgeben von roher Gewalt, der weiß nicht, was Heimat und Familie bedeuten. Man lernt früh, niemandem zu trauen, nur sich selbst. Man lernt, seinen Vorteil zu suchen und ohne Rücksicht zu nutzen. So habe ich meinen Platz im Kartell gefunden.«
»Und wie kam es dann zur völligen Kehrtwende in Ihrem Leben?« Phil klang skeptisch.
Sandersons Lippen zitterten. Vielleicht war es genau dieses kleine Beben, das in mir die Überzeugung weckte, dass er die Wahrheit sagte.
»Clark«, sagte er. »Clark hat das geschafft.« Er holte tief Luft. »Als mir diese Hure das Kind vor die Tür gelegt hat, hätte ich sie am liebsten kaltgemacht. Was bildete sich das Weib ein? Sie kannte mich gut, wusste, was ihr blüht, deshalb ist sie rechtzeitig untergetaucht. Mein nächster Impuls war, das Kind zu töten. Nur ein Zufall hinderte mich daran. Ich hatte Handwerker im Haus, und die Sache war mir zu heikel. Hören Sie, Inspektor Cotton, Inspektor Decker, ist es wirklich nötig, dass ich hier eine Lebensbeichte ablege?«
»Ja«, sagten Phil und ich wie aus einem Mund.
Sanderson schüttelte resigniert den Kopf. »Kurz und gut, ich habe den Jungen bei mir behalten. Keine Ahnung, warum. Es geschah aus einer Laune heraus. Aber diese Laune hat mein ganzes Leben umgekrempelt. Nach und nach habe ich durch Clark gelernt, dass es da draußen mehr gibt als Geld und Macht. Es hat ein paar Jahre gedauert, aber als Mister Cronenberg mir vor Kurzem den Auftrag erteilte, ein Kind zu entführen, wusste ich, dass ich es nicht mehr konnte. Ich hatte genug von diesem Job. Ich wollte aussteigen.«
»Die gezähmte Bestie«, bemerkte Phil sarkastisch.
»Verdammt, lesen Sie einfach das Gutachten! Wozu habe ich mich eigentlich stundenlang mit Ihrem Psychologen unterhalten?«, zischte Sanderson wütend.
Er hatte recht. In den Unterlagen fanden sich zahlreiche Protokolle von Gesprächen mit dem FBI-Profiler Adam Johnson. Sandersons Aussage uns gegenüber deckte sich mit dem Inhalt dieser Papiere. Johnson war zu dem Ergebnis gekommen, dass die Bestie die Wahrheit sagte. Doch er konnte ein gewisses Restrisiko nicht ausschließen. Ein Mann, der sein Leben lang gelogen und betrogen hatte, konnte ein Meister der Verstellung sein.
Wieder entschloss ich mich zur Ehrlichkeit. »Das Zeugenschutzprogramm ist eine kostspielige Angelegenheit, Mister Sanderson. Nach dem Prozess erhalten Sie von uns eine völlig neue Identität. Sie werden an einen geheimen Ort gebracht, wo Sie unter neuem Namen und mit einem neuen Job, den wir Ihnen besorgen, ganz von vorne anfangen.«
»Das ist mir klar.«
»Vielleicht gefällt Ihnen der Job nicht«, fuhr ich ungerührt fort. »Vielleicht gefällt Ihnen auch Ihr neues Zuhause nicht. Aber Sie haben keine Wahl. Wenn Sie nicht von Ihren ehemaligen Freunden ermordet werden wollen, müssen Sie die Tarnung vermutlich für den Rest Ihrer Tage aufrechterhalten. Und nicht nur Sie selbst, die neue Identität betrifft alle, die Ihnen nahestehen.«
Sanderson nickte.
»Vor allem Ihren Sohn. Wie Sie wissen, wurde er bereits an einen sicheren Ort gebracht. Ein Special Agent und der zuständige US-Marshal kümmern sich um ihn, bis der Prozess vorbei ist und Sie Ihre neue Identität bekommen. Sie werden einsehen, Mister Sanderson, dass wir bei diesem enormen Aufwand ungern aufs falsche Pferd setzen wollen.«
»Machen Sie sich keine Sorgen, Inspektor Cotton«, sagte Sanderson. »Ich werde keinen Rückzieher machen. Ich will aussteigen und bin mir der Konsequenzen voll und ganz bewusst. Ich möchte, dass mein Sohn ein normales Leben führt und aufwächst wie andere Kinder. Er ist mein Ein und Alles. Durch ihn habe ich gelernt, zu lieben.«
Phil und ich wechselten einen kurzen Blick und nickten uns unmerklich zu. Wir waren hier fertig. Mehr würden wir aus der Bestie nicht herausbekommen. Entweder meinte es Sanderson ernst, oder er war ein hervorragender Lügner. Uns blieb vorerst nichts anderes übrig, als ihm zu glauben.
***
Irgendwann versiegten die Tränen. Sie trockneten auf seinem Gesicht, und die Haut begann, zu spannen. Er hätte sich gerne die Augen gerieben, doch es gelang ihm nicht, die Fesseln an den Händen loszuwerden. Wenn er sich zu sehr bewegte, stieß er mit dem Kopf an die Heckklappe. Alles tat ihm weh: der Hals vom Weinen, Arme und Beine vom verkrümmten Liegen, der Kopf von dem Schlag und der Bauch vom panischen Atmen.
Der Junge spürte, wie ihm erneut Tränen in die Augen traten, doch er schluckte tapfer und unterdrückte das Bedürfnis, zu weinen. Normalerweise heulte er nicht. Mit seinen acht Jahren war er viel zu alt dafür. Außerdem war er ein cooler Junge, kein Weichling. Er war einer der coolsten von allen. Im Moment nützte ihm das allerdings nichts. Was konnte er schon Cooles tun, gefesselt und eingesperrt im Kofferraum eines Wagens?
Immer noch bewegte sich das Auto in gleichmäßigem Tempo. Das sanfte Rütteln war schwächer geworden, der Straßenbelag ebenmäßiger. Viel Verkehr gab es hier nicht, denn nur selten hörte er andere Motorengeräusche, und nie bremste der Wagen ab. Die monotone Bewegung hatte fast etwas Beruhigendes an sich.
Doch der Junge war nicht dumm. Er wusste, dass diese Ruhe trügerisch war. Solange das Auto fuhr, mochte ihm nichts weiter passieren. Aber irgendwann würde es anhalten, sein Ziel erreichen. Und dann? Was hatten sie mit ihm vor?
Wieder begann er, zu zittern. Er musste sich etwas einfallen lassen, brauchte einen Plan. Und zwar schnell!
Vorsichtig bewegte er sich. In seinem Rücken spürte er seit einiger Zeit einen unangenehmen Druck. Er hatte ihn lange ignoriert, weil er zu sehr mit Weinen beschäftigt gewesen war. Jetzt versuchte er, sich vom Rücken auf die Seite zu drehen. Es ging leichter als gedacht, und der Druck verschwand.
Mit den nach hinten gefesselten Händen tastete er den Boden des Kofferraums ab, um herauszufinden, worauf er gelegen hatte. Zuerst griffen seine Finger ins Leere, doch als er weiter nach vorne rutschte, ertasteten sie ein rechteckiges Ding aus Plastik. Im ersten Moment konnte er es nicht einordnen, dann erkannte er, was es war, und sein Herz schlug schneller.
Ein Handy!
Da lag ein Mobiltelefon. Und zwar eines der altmodischen Sorte, mit Tasten zum Drücken, nicht mit Display und Touchscreen.
Vor Aufregung verschluckte sich der Junge an seiner eigenen Spucke und musste husten. War das seine Rettung? Ein Handy, mit dem er Hilfe rufen konnte?
Es gab nur eine Nummer, die er jetzt anrufen wollte. Die kannte er auswendig. Aber er durfte keinen Fehler machen. Da er das Handy nicht sehen, sondern nur fühlen konnte, musste er ganz genau überlegen, wo sich welche Ziffer befand. Nur jetzt nicht verwählen! Er wusste ja nicht, ob er mehr als einen Versuch hatte. Vielleicht konnten ihn die Entführer vorne im Wagen hören und nahmen ihm das Telefon weg, wenn sie ihn erwischten.
Vielleicht … Der Junge schluckte. Vielleicht war es ja auch gar nicht geladen.
Zitternd tippte er die Nummer ein.
Ja!
Es klingelte am anderen Ende der Leitung. Doch erst nach einer Ewigkeit nahm jemand das Gespräch an.
»Hallo?«, hörte er die vertraute Stimme.
»Dad«, wimmerte er. »Oh, Daddy! Bitte hilf mir! Sie haben mich entführt!«
***
Wir gaben McPhearson über die Kameras ein vorher verabredetes Zeichen, damit sie uns die Tür öffnete.
Ich stand auf. »Viel Glück«, sagte ich statt einer Verabschiedung. Sanderson würde es in seinem neuen Leben gebrauchen können.
»Danke«, sagte er grinsend und erhob sich ebenfalls. In seiner Hosentasche klingelte ein Handy. Er runzelte die Stirn. »Könnte wichtig sein«, erklärte er und fischte es heraus. »Nur der Anwalt und die WITSEC-Leute haben diese Nummer. Und natürlich mein Sohn.« Er nahm das Gespräch an. »Hallo?«, sagte er.
Dann wurde er leichenblass, seine Beine knickten weg, und er sank wie ein gefällter Baum zurück auf den Stuhl. Das Handy hielt er fest umklammert.
Phil warf mir einen alarmierten Blick zu. Ich trat an Sanderson heran und stellte mit einem schnellen Griff das Mobiltelefon auf Lautsprecher.
»Daddy?«, erklang die ängstliche Stimme eines kleinen Jungen. »Bist du noch dran?«
»Ja, Clark, natürlich.« Sanderson bemühte sich um einen festen Tonfall. »Wer hat dich entführt?«, fragte er. »Von wo rufst du an?«
»Ich weiß es nicht. Ich hab einen Schlag auf den Kopf bekommen und bin im Kofferraum eines Autos aufgewacht. Da bin ich immer noch. Das Handy hab ich gefunden.«
»Beruhig dich, mein Junge!«, sagte Sanderson. »Dir passiert nichts. Ich hole dich da raus.« Seine zitternden Hände straften die Worte Lügen. Doch das konnte der Junge nicht sehen.
»Jetzt biegen wir von der Straße ab«, rief Clark aufgeregt. »Es wird holprig. Wie auf einem Waldweg. Oh, bitte, hilf mir, Dad!«
»Das werde ich, Clark. Hör mir jetzt gut zu: Du behältst das Handy so lange wie möglich bei dir. Aber wir müssen unser Gespräch beenden. Ruf mich nur an, wenn du ganz sicher sein kannst, dass dich niemand hört. Wir wissen nicht, ob das Telefon voll aufgeladen ist. Nur solange es Saft hat, kann ich herausfinden, wo du steckst.«