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Im Plain Dealer, Clevelands größter Tageszeitung, erschien ein reißerischer Artikel, der sich mit dem nie aufgeklärten Mord an Sarah Grey, der Tochter eines Senators, beschäftigte. Darin tauchte eine Information auf, die die Ermittlungsbehörden seinerzeit nicht veröffentlicht hatten und die nur der Täter wissen konnte. Als wir uns des Cold Case annahmen, der damit plötzlich wieder ganz heiß geworden war, wurde der Verfasser des Artikels kaltblütig ermordet ...
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Seitenzahl: 146
Veröffentlichungsjahr: 2018
Cover
Impressum
Ein unfreiwilliges Geständnis
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelfoto: (Film) »The Amityville Horror«/ddp-images
eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-5919-0
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Ein unfreiwilliges Geständnis
Sarah Grey zögerte einen Moment. Dann nahm sie das Küchenmesser und stach es wuchtig in das rohe Steak vor ihr. Einmal, zweimal, dreimal …
»Nein, nein und nochmals nein«, sagte sie mit vor Wut bebender Stimme. »Ich werde es durchziehen. Niemand bringt mich davon ab. Niemand, verstehst du?«
»Dein letztes Wort?«
»Ja.« Sarah drehte sich um. Ihre Augen wurden groß. »Was …?«
Die Kugel traf sie in den Bauch. Das Messer fiel klirrend zu Boden. Ungläubig legte die junge Frau die Hand auf die Wunde und starrte auf das hervorquellende Blut. Sie taumelte. Der zweite Schuss durchschlug ihr Brustbein. Direkt vor dem Kühlschrank ging Sarah zu Boden. Zusammengekrümmt blieb sie liegen. Der Killer sorgte für Chaos und nahm einige Wertgegenstände an sich.
Als er aus dem Apartment hastete, war Sarah längst tot. Gleich darauf schluckte ihn die Nacht.
Es regnete in Strömen, als wir uns auf der Pennsylvania Avenue durch den dichten Washingtoner Morgenverkehr quälten. Die Scheibenwischer meines Jaguar packten die Wassermassen kaum. Mein Missmut rührte allerdings woanders her. Ich machte erst gar keinen Versuch, ihn zu verbergen.
Phil saß grinsend auf dem Beifahrersitz und klopfte mit den Fingern auf der Türverkleidung herum. Dabei pfiff er Johnny Cashs Ring of Fire mit, obwohl er Regen normalerweise hasste. Seine gute und meine schlechte Laune hatten ein- und denselben Grund.
Über die endlose Kette roter Rücklichter hinweg sah ich das J. Edgar Hoover Building als verwaschenen grauen Schemen auftauchen.
»Sag mal, kann es sein, dass du mir noch was schuldest?«, fragte Phil plötzlich.
Ich seufzte. »Du kriegst die zwanzig Dollar im Büro.«
»Ah, sehr gut.« Sein Grinsen verstärkte sich. »Ich dachte schon, du hättest es vergessen.«
»Hab ich nicht.«
»Wettschulden sind Ehrenschulden.« Er nickte gewichtig. »Da würde ich immer drauf bestehen.«
Gestern Abend hatten meine New York Yankees die Meisterschaft der American League Baseball im direkten Duell an die Boston Red Sox verloren. Ausgerechnet gegen den Erzrivalen! Das tat doppelt weh. Die 20 Dollar, die ich deswegen nun an Phil abdrücken musste, ärgerten mich dabei am allerwenigsten.
Kurze Zeit später betraten wir das FBI-Hauptquartier.
Dorothy Taylor empfing uns mit einem Lächeln. »Guten Morgen, Jerry, guten Morgen, Phil. Sie brauchen Ihre Büros erst gar nicht zu betreten, Mister High erwartet Sie bereits.«
»Demnach ist es dringend«, erwiderte ich.
»Ja. Und damit Sie schon mal vorgewarnt sind: Sie beide werden heute noch verreisen. Ich habe die Tickets bereits buchen lassen.«
Wir klopften an die Tür des Assistant Director, nachdem ich Phil die 20 Dollar gegeben hatte.
»Herein.« Mr High saß hinter seinem Schreibtisch. Er begrüßte uns freundlich.
Wir nahmen Platz.
»Lassen Sie uns gleich zur Sache kommen«, sagte er und aktivierte per Fernbedienung den Beamer, der die Oberfläche seines Bildschirms auf die Wand projizierte. Im Lichtfeld erschien die aktuelle E-Edition des Plain Dealer, Clevelands größter Tageszeitung. Phil runzelte die Stirn, während sich Mr High elektronisch durch die Seiten blätterte. Beim Politikteil stoppte er schließlich. Wir starrten auf einen Block aus zwei großen, reich bebilderten Artikeln samt einem Kommentar.
»Lesen Sie«, forderte uns Mr High auf.
Im Hauptartikel befasste sich der Autor namens Judd Marshall mit den jüngsten Wahlkampfauftritten des republikanischen Senators für Ohio, Michael Grey. Er warf ihm vor, bereits zum zweiten Mal den Tod seiner Tochter Sarah zu instrumentalisieren. Diese Masche habe schon im Wahlkampf vor sechs Jahren bestens funktioniert, deswegen ziehe Grey sie nun erneut durch, um Wählerstimmen der Rührung zu erhalten.
Marshall verwies darauf, dass der Senator und Freizeitprediger bei jeder Wahlkampfveranstaltung ein überdimensionales Porträtbild Sarahs hinter sich hängen habe, was durch einige Fotos illustriert wurde. Laut Grey habe seine Tochter ihn kurz vor ihrem Tod gebeten, unbedingt wieder als Senator zu kandidieren. Obwohl er kaum die Kraft dazu habe, führe er den Wahlkampf weiter, um so den letzten Willen seiner Tochter zu erfüllen. Das sei ihm immens wichtig.
Im zweiten Artikel rollte Marshall den nach wie vor ungeklärten Mord an der Studentin Sarah Grey noch einmal auf, die vor sechs Jahren mit zwei Schüssen im Oberkörper in der Küche ihrer Bostoner Wohnung aufgefunden worden war. Auch einige nichtssagende Interviews mit in den Mordfall involvierten Personen hatte Marshall geführt. Seine Fragestellung: Hat der Mord Sie selbst oder Ihren Alltag verändert? Am Ende des Artikels wies er explizit darauf hin, dass weder Sarahs Familie noch das FBI zu Stellungnahmen bereit gewesen wären.
Im Kommentar schließlich geißelte Marshall die Taktik des Senators als moralisch fragwürdig und behauptete, dass die Wähler dieses Mal schon die richtige Antwort geben würden.
»Was ist dran an Marshalls Aussagen, Sir?«, fragte ich, gespannt, wo das Ganze enden würde. Im Moment sah ich nämlich keinen Anhaltspunkt für einen Einsatz.
Mr High hob bedauernd die Schultern. »Darauf kann ich Ihnen keine Antwort geben, Jerry. Ich weiß nur wenig, denn ich wurde lediglich in aller Kürze vom Field Office in Cleveland informiert. Finden Sie’s vor Ort heraus, wenn nötig.«
»Ich erinnere mich noch ziemlich gut an den Mordfall Sarah Grey«, sagte ich. »Hat damals mächtig viel Staub aufgewirbelt. Die junge Frau wurde Opfer eines Raubmords. Ich nehme an, dass wir wegen ihr nach Ohio fliegen. Richtig, Sir?«
»Richtig, Jerry. Wenn Sie so wollen, ist der Artikel, der sich mit dem Mord befasst, eine kleine Sensation. Er enthält nämlich eine Information, die wir nie öffentlich gemacht haben und die eigentlich nur der Täter wissen kann …«
Phil und ich sahen uns überrascht an.
»Wovon reden Sie, Sir?«, fragte ich.
»Davon, dass Sarah Grey mit zwei Schüssen getötet wurde. Leider hat Marshall diese Aussage keinem seiner Interviewpartner zugeordnet. Von einem muss er sie aber erhalten haben. Deswegen ist der Cold Case Sarah Grey mit einem Schlag wieder brandheiß geworden.«
»War Marshall damals ebenfalls in den Fall verwickelt? Ich meine, könnte er selbst davon wissen?«, erkundigte sich Phil.
Mr High schüttelte den Kopf. »Unwahrscheinlich. Marshall kommt aus Corpus Christi und hat erst vor zwei Monaten beim Plain Dealer angefangen.«
Wir nickten.
Mr High blickte uns intensiv an. »Jerry, Phil, Sie werden in diesem heiklen Fall die Ermittlungen übernehmen, nicht zuletzt auch auf Wunsch von Director Fuller, zu dessen Bekannten Senator Grey zählt. Und das hat nichts damit zu tun, dass unser Field Office in Cleveland damals bei den Ermittlungen versagt hat. Aber neue Leute haben eine neue Sicht auf die Dinge, das ist möglicherweise hilfreich. Und Ihre Erfolgsquote spricht ohnehin für Sie beide. Jerry, Phil, geben Sie Ihr Bestes. Nicht nur Director Fuller ist voller Hoffnung, dass der Mord an Sarah Grey nun doch noch geklärt werden kann. Ihre Familie ist sechs Jahre durch die Hölle gegangen.«
»Wie immer werden wir hundertzwanzig Prozent geben, Sir.« Phil lächelte.
»Das weiß ich.« Mr High hob bedauernd die Hände. »Tut mir leid, wenn ich Sie schon wieder aus dem Büro dränge, aber ich muss zwei wichtige Konferenzen vorbereiten.«
»Kein Problem, Sir. Wir sind schon so gut wie weg«, gab ich zurück.
»Viel Erfolg. Dorothy wird Ihnen die Einzelheiten mitteilen.«
Das tat sie in bewährter Manier. »Sie fliegen dieses Mal mit United, die Maschine startet genau um zwölf Uhr vom Ronald Reagan National Airport. Das sollte Ihnen reichen, um zuvor die nötigsten Sachen zusammenzupacken. Special Agent in Charge Bruce Anthony wird Sie dann auf dem Hopkins Airport in Empfang nehmen. Die Details zum Fall entnehmen Sie bitte den Ermittlungsakten, die auch elektronisch vorliegen. Danke. Und nun viel Erfolg, Gentlemen.«
***
Judd Marshall machte Pause. Er verließ die riesige Redaktionshalle des Plain Dealer, in der rund neunzig Journalisten und Grafiker in kaum voneinander abgegrenzten Boxen ihrer Arbeit nachgingen. Marshall war froh, dem ständigen Lärmpegel und der allgegenwärtigen Hast eine Weile entfliehen zu können. Er betrat das Restaurant im obersten Stockwerk des Skylight Office Tower. Dank der Panoramascheibe eröffnete sich ihm ein atemberaubender Blick über den belebten Public Square und auf die Skyline von Cleveland dahinter.
So langsam begann er, diese hässliche Stadt zu lieben. Sie würde das Sprungbrett in eine große Journalistenkarriere sein. Seine Geschichten erregten auch überregional Aufsehen, für den Grey-Artikel war er in der heutigen Planungskonferenz ausdrücklich gelobt worden. Und der nächste Hammer war bereits in der Mache: Bei der Bauvergabe einiger öffentlicher Gebäude waren Schmiergelder im großen Stil geflossen. Es war der richtige Schritt gewesen, sich auf die Anzeige des Plain Dealer zu bewerben und aus dem verschlafenen Corpus Christi wegzugehen.
Sein Mobiltelefon klingelte. Eine Rezeptionistin aus der Eingangshalle.
»Hallo, Mister Marshall, hier ist eine Lady, die Sie sprechen möchte. Soll ich sie nach hinten schicken?«
Er verzog ärgerlich das Gesicht. »Wie heißt sie, und was will sie?«
»Mrs Kate Grey würde sich gerne mit Ihnen über Ihre heutige Geschichte unterhalten.«
Sofort spürte Marshall ein unangenehmes Ziehen im Magen. Ausweichen würde er dennoch nicht. »Ist ein Besprechungszimmer frei?«
»Moment. Ja, die Sieben.«
»Gut. Dann bringen Sie Mrs Grey dorthin. Ich komme sofort.«
Marshall eilte zurück in die Redaktionsräume. Als er das Besprechungszimmer betrat, blickte ihm eine hochgewachsene, schlanke, sehr hübsche Mittfünfzigerin im schwarzen Kostüm erwartungsvoll entgegen. Das modisch gestylte blonde Haar fiel ihr bis auf den Rücken hinunter. Sie trug einen schwarzen Hut mit Schleier und über dem linken Arm eine schwarze Jacke. Zudem hing eine teure Handtasche über ihrer Schulter. Marshall erkannte Kate Grey sofort, obwohl er sie bisher nur auf Bildern gesehen hatte.
»Guten Tag, Mrs Grey«, sagte er mit fester Stimme, drückte ihr kurz die Hand und wies dann mit einer einladenden Handbewegung auf den Tisch. »Bitte.«
Die Frau sah ihm in die Augen, lächelte kurz und nahm Platz.
Leichte Unsicherheit überkam ihn. »Was kann ich also für Sie tun, Mrs Grey?«
»Danke, dass Sie mich empfangen haben, Mister Marshall. Ein Feigling scheinen Sie zumindest nicht zu sein.«
Er erwiderte nichts.
»Ich bin hier, weil ich Ihnen in die Augen schauen will. Was haben Sie sich nur dabei gedacht, Mister Marshall, als Sie diese unsäglichen Verleumdungen über uns geschrieben haben?«
»Moment mal, ich habe über Ihren Mann geschrieben, das ist ja wohl ein kleiner, aber feiner Unterschied«, brauste er auf.
Kate Grey lächelte erneut. Es war ein kaltes Lächeln. »Meines Wissens kommt auch meine Tochter Sarah in Ihren … nun Artikeln vor. Mit Ihren Verleumdungen schaden Sie nicht nur meinem Mann, Sie entweihen gleichzeitig das wundervolle Verhältnis, das Sarah und er hatten. Schon aus diesem Grund würde Michael seine Tochter niemals bewusst für einen profanen Wahlkampf instrumentalisieren. Es ist einfach so, dass ihm ihr Foto die nötige Kraft gibt, um Sarahs Vermächtnis zu erfüllen. Alles andere ist eine bösartige Interpretation Ihrerseits.«
Marshall schluckte ein paarmal hektisch.
»Und wissen Sie, was noch viel unsäglicher ist, Mister Marshall? Sie ziehen zugleich die Ehre meiner ganzen Familie in den Schmutz. Denn nun wird sich jeder fragen, der Ihr Pamphlet liest, warum ich und meine Söhne diese angebliche Instrumentalisierung Sarahs nicht verhindert haben.«
Er lachte ärgerlich. »Sie werden mir verzeihen, wenn ich das ein wenig anders sehe. Ihr Mann ist nun mal eine öffentliche Person und muss sich deswegen gefallen lassen, von den Medien beäugt und bewertet zu werden. Ich habe über ihn und seine fragwürdigen Methoden geschrieben, dazu stehe ich. Mehr nicht. Was Sie nun alles hineininterpretieren, das geht mir am Allerwertesten vorbei. Verzeihen Sie meine drastische Ausdrucksweise, Mrs Grey. Und ich sehe nicht, wo ich das Andenken Ihrer Tochter beschmutzt hätte.«
Die Frau schwieg.
Marshall beugte sich nach vorne. Er war jetzt so richtig in Fahrt. »Vielleicht wäre die ganze Geschichte ja anders ausgefallen, wenn Ihre Familie meine Interviewanfrage nicht ignoriert hätte, Mrs Grey. Ich betone: vielleicht. Im persönlichen Gespräch stellt sich vieles anders dar.«
Plötzlich traten Tränen in ihre Augen.
Marshall registrierte es betroffen. »Äh, brauchen Sie vielleicht ein Taschentuch?«
»Nein, danke.« Sie nahm eines aus der Handtasche und tupfte die Tränen ab. »Können Sie sich vorstellen, Mister Marshall, was es heißt, ein Kind zu verlieren? Nein, natürlich nicht. Selbst nach sechs Jahren haben wir das Ganze nicht verarbeitet, aber so langsam finden wir unsere innere Ruhe wieder. Da wollten wir die ganzen schrecklichen Ereignisse einfach nicht wieder aufwühlen. Ist das so schwer zu verstehen?«
»Ach ja?« Seine Stimme troff vor Hohn. »Und was macht dann Ihr Mann, wenn er Sarahs Foto für Wahlkampfzwecke benutzt?«
»Das ist etwas anderes. Wir müssen uns dabei nicht mit den Umständen ihres Todes beschäftigen. Dass nun … alles wieder hochkommt, das haben Sie geschafft.« Erneut kamen ihr die Tränen. »Ich dachte … Entschuldigen Sie.«
»Schon gut, kein Problem.«
»Trotzdem möchte ich Sie herzlich bitten, künftig nichts mehr über meinen Mann oder meine Familie zu schreiben«, fuhr sie mit leiser, brüchiger Stimme fort. »Natürlich ist Michael eine Person der Öffentlichkeit, ich bin ja nicht naiv. Aber … für uns als Familie ist das alles so schwierig, ich denke manchmal, ich schaffe es nicht mehr. Vielleicht sind Sie ja fähig, die Dinge mal unter diesem Aspekt zu betrachten.«
Marshall spürte, wie seine Hände leicht zitterten. »Natürlich bin ich dazu fähig, Mrs Grey. Aber, verzeihen Sie, das ist nicht mein Job. Deswegen kann ich Ihnen das nicht zusagen.«
Sie nickte und erhob sich. »Wirklich schade, Mister Marshall. Aber ich glaube weiterhin an das Gute im Menschen.«
Marshall stand ebenfalls auf. »Was werden Sie nun tun? Ihr Plain-Dealer-Abo kündigen? Mich verklagen?«
»Nein. Wir werden in unserer Gemeinde für Sie beten. Vielleicht führt Sie der Herr ja doch noch auf den rechten Weg, wenn ich es schon nicht schaffe. Auch ich persönlich werde für Sie beten.«
Als Mrs Grey die Tür hinter sich zuzog, wusste Judd Marshall, dass er zumindest an diesem Tag keine gute Laune mehr haben würde.
***
Die halbvolle Maschine nach Cleveland startete mit zehn Minuten Verspätung. Wir nutzten die anderthalb Stunden Flugzeit, um uns mit dem Fall vertraut zu machen. Dazu holten wir uns die kompletten Ermittlungsakten auf den Laptop. Wir gingen sie grob durch und besprachen sie. Im Dialog kommen oft Fragen auf, die man sich beim Lesen nicht gestellt hat.
»Beginnen wir mit Sarahs Familie«, schlug ich vor.
»Schieß los, Jerry.«
»Hm. Michael Grey aus Cleveland, seit zwölf Jahren Senator, wie die ganze Familie sehr religiös geprägt, gehört einer christlichen Freikirche an, predigt dort sonntags immer mal wieder. Andererseits ist er Mitglied der National Rifle Association und ein glühender Verfechter des Waffentragens für jeden Amerikaner. Dazu hat er sich schon mehrmals öffentlich geäußert. Hat selbst welche zu Hause.«
Phil wartete, dass ich weitersprach.
»Kate Grey, seine Ehefrau, engagiert sich ebenfalls stark in der Kirche und im Wohltätigkeitsbereich, vor allem für krebskranke Kinder«, fuhr ich fort. »Organisiert rund zwanzig Wohltätigkeitsveranstaltungen im Jahr. Elias und Joshua Grey, die Söhne, top Harvard-Abschlüsse, erfolgreiche Rechtsanwälte in ihrer eigenen Kanzlei Grey & Grey in Cleveland, beide verheiratet, je zwei Kinder, der ganze Klan lebt auf der familieneigenen Spotted Horse Ranch zwischen Cleveland und Akron. Sarah war die Jüngste.«
»Eine wirklich hübsche junge Frau«, stellte Phil fest. »Mit einem ziemlich mäßigen Highschool-Abschluss allerdings.«
Ich nickte. »Ja. Ein Wunderkind war sie nicht gerade. Möglicherweise war dieser Abschluss der Grund, warum sie nicht ebenfalls in Harvard studieren konnte. Die nehmen nur die Allerbesten. In diesem Fall haben wohl selbst Daddys glänzende Beziehungen versagt.«
Phil grinste. »Die Boston University ist ja auch keine ganz schlechte Adresse. Sarah hat im siebten Semester Rechtswissenschaften studiert und auch dort keine überragenden Leistungen gebracht. Die Lady hatte wohl andere Dinge im Kopf. Junge Männer vielleicht?«
»Vielleicht hatte sie es einfach nicht drauf«, erwiderte ich. »Soll’s ja geben.«
»Möglich. Wohngemeinschaft mit Wirtschaftsstudentin Linda Perkins in einem Einfamilienhaus in Forest Hills, dicht bewachsenes Grundstück, die nächsten Nachbarn über zweihundertzwanzig Yards entfernt. Gefunden wurde die Tote aber nicht von Perkins, sondern von einer anderen Studentin namens Geena Alexander. Die alarmierte nach eigener Aussage sofort die Polizei, ohne die Küche zu betreten. Tatsächlich fanden sich dort keinerlei Spuren von ihr.«
»Ja. Geena Alexander gab an, sich mal wieder mit Sarah zum Lernen verabredet zu haben. Freundinnen seien sie aber nicht gewesen. Linda Perkins tauchte erst viel später auf, als die Leiche bereits abtransportiert war. Sie war so geschockt, dass sie zusammenbrach.«
Phil fuhr sich durchs Haar. »An der Eingangstür gab es keinerlei Einbruchsspuren. Perkins sagte aus, dass Sarah immer wieder vergessen habe, die Tür abzuschließen. Ob ihr das zum Verhängnis wurde?«
»Die andere Möglichkeit ist, dass Sarah ihren Mörder kannte und freiwillig hereingebeten hat.«
»Ja. Laut Untersuchungsbericht war Sarah gerade dabei, sich Abendessen zuzubereiten. Auf der Küchentheke lag ein rohes Steak, daneben stand eine Schüssel frischen Salats. Als der Einbrecher plötzlich vor ihr stand, versuchte sie wohl noch, sich mit dem Messer zu wehren. Ein tödlicher Fehler, Jerry.«
»Der Killer muss sofort geschossen haben, die Kugeln wurden aus größerer Entfernung abgegeben. Keinerlei Schmauchspuren am Körper der Toten, keine Anzeichen für eine Vergewaltigung.« Ich schaute kurz aus dem Fenster. Unter uns türmten sich bizarre Wolkengebirge auf, die eine geschlossene Decke bildeten.
»Die Frage war damals, ob der Täter ein Profi oder ein Dilettant war, der einfach viel Glück hatte«, murmelte Phil. »Der benutzte Schalldämpfer deutet aber eher auf einen Profi hin.«
»Muss nicht unbedingt sein. Einen Schalldämpfer kann sich jeder besorgen. Und die saubere Waffe kann bedeuten, dass der Täter bis dahin unbescholten war.«
»Oder dass man ihn nicht erwischt hat.« Phil sah von seinem Laptop auf. »Er ließ auf jeden Fall das komplette Bargeld und einige persönliche Gegenstände von Sarah mitgehen, darunter eines ihrer beiden Smartphones, das bis heute nicht gefunden wurde. Das andere lag im Schlafzimmer, er hat es wohl übersehen.«