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In der Nähe von Sugar Land, einer texanischen Kleinstadt unweit von Houston, wurde ein Schulbus entführt. Neben dem Fahrer waren dreizehn Schülerinnen im Alter zwischen achtzehn und neunzehn Jahren aus aller Herren Länder an Bord, die das private Mädcheninternat Highville besuchten. Phil und ich leiteten die Ermittlungen und nahmen schon bald eine Satanssekte ins Visier. Doch bevor wir eine Spur von den jungen Frauen fanden, wurde die Mutter eines der Entführungsopfer auf grausamste Weise getötet!
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Seitenzahl: 139
Veröffentlichungsjahr: 2018
Cover
Impressum
Satans Grabgesang
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelfoto: (Film) »Die Vögel: Attack from Above«/ddp-images
eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-6288-6
www.bastei-entertainment.de
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Satans Grabgesang
Die gellenden Schreie der dreizehn Internatsschülerinnen an Bord des Schulbusses wurden vom lauten Kreischen der Bremsen übertönt. Das Reifengummi radierte über den Asphalt und hinterließ schwarze Streifen. Nur wenige Yards vor dem Van, der nach der Kurve so unvermittelt mitten auf der Landstraße aufgetaucht war, kam das schwere Fahrzeug zum Stehen.
Das war verdammt knapp!, schoss es Timothy Carpenter, dem Busfahrer, durch den Kopf. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis sich sein Herzschlag wieder beruhigte. Er warf einen Blick in den Rückspiegel, sah, dass keine der jungen Frauen verletzt war, und betätigte die mechanische Tür. Mit weichen Knien stieg er aus, um nachzusehen, ob er bei dem Transporter Pannenhilfe leisten musste. Doch noch bevor er den Van erreichte, brachen aus dem dornigen Gestrüpp neben der Straße drei mit Sturmgewehren bewaffnete Maskierte hervor!
Wie ihre Mitschülerinnen starrte Amanda Thompson durch die große Frontscheibe auf die schreckliche Szenerie. Mit vorgehaltenen Waffen befahlen die Maskierten Mr Carpenter, zum Bus zurückzukehren. Dann mussten sie sich alle in den hinteren Bereich setzen.
Das erste Mal in ihrem Leben spürte Amanda Todesangst. Wie eine hungrige Ratte nagte sie an ihren Eingeweiden und trieb ihr Tränen in die Augen. Ein Blick in die bleichen, verzweifelten Gesichter ihrer Freundinnen verriet ihr, dass es ihnen nicht anders erging.
Mr Carpenter musste den Bus von der Straße auf einenbreiten, holprigen Feldweg lenken und ihm folgen. Nach über einer Stunde endete die Fahrt neben einem alten Kanal, wo bereits ein schwarzer Van mit abgedunkelten Scheiben wartete, ähnlich dem, der die Straße versperrt hatte. Gleich darauf wurden die Internatsschülerinnen in den Transporter gezwungen. Auch der Busfahrer nahm auf einer der doppelten Sitzbankreihen Platz. Die drei maskierten Entführer bedrohten die Insassen nach wie vor mit ihren Waffen. Der vierte Mann, der im Van auf den Bus gewartete hatte, saß hinter dem Steuer und gab Gas.
Amanda zitterte am ganzen Leib. Sie schloss die Augen, stellte sich vor, wie irgendwelche Perversen die unvorstellbarsten Dinge mit ihnen anstellten. Als sie daran dachte, konnte sie nicht mehr an sich halten und weinte still vor sich hin, die Hände ihrer Sitznachbarinnen fest umkrampft. Keine von ihnen wusste, wohin die Reise ging. Sie hätten weit entfernt vom Internat sein können oder nur im Kreis herumgefahren sein. Die mit schwarzer Farbe bestrichenen Seitenscheiben nahmen ihnen jegliche Orientierung.
Im Inneren des Transporters war es stickig. Es gab weder eine Belüftung noch eine Klimaanlage.
Irgendwann hielt der Transporter an, und die dreizehn jungen Frauen und Carpenter wurden angewiesen, auszusteigen.
Amanda Thompson stieg die Stufen des Busses hinunter. Sie standen mitten in einem Steinbruch vor einer einfachen Hütte aus Ziegelsteinen und Brettern, die auf einem Fundament aus Beton ruhte. Als die Internatsschülerinnen auf die Holztür zugetrieben wurden, mussten sie sich unter dem tief hängenden Blätterdach der hochgewachsenen Pekannussbäume ducken.
»Da rein«, befahl einer der Maskierten barsch. Mit dem Gewehrlauf versetzte er Amanda, die vorausging, einen schmerzhaften Stoß in den Rücken. Die schlanke junge Frau mit dem weizenblonden Haar stolperte als Erste über die Türschwelle. Und als sie sah, was sie erwartete, drang ein entsetzter Schrei über ihre Lippen.
***
Der einzelne Blitz zuckte wie ein Stück glühenden Drahts über den Horizont, an dem sich dunkelviolette Wolken auftürmten. Gleich darauf klang ferner Donner auf, als würden Kanonen in immer kürzeren Abständen abgefeuert werden. Das unheilvolle Grollen kündigte ein schweres Gewitter über Washington an.
Als die ersten Regentropfen gegen die Scheiben trommelten, wandte ich meinen Blick vom Fenster ab. An diesem Nachmittag saßen Phil und ich in Mr Highs Büro, der gerade ein Telefongespräch beendete. Es kam nicht oft vor, dass wir unseren Chef so ratlos sahen. Der Anruf schien ihn sichtlich mitgenommen zu haben. Dennoch behielt er seine professionelle Ruhe.
»Das war Director Fuller«, sagte er sachlich und sah uns der Reihe nach ernst an. »Innerhalb einer Stunde war das bereits der dritteAnruf von ihm.«
Ich ahnte nichts Gutes. Wenn es der Chef des FBI und Mr Highs direkter Vorgesetzter so dringend machte, dann musste es sich tatsächlich um etwas sehr Wichtiges handeln.
Gerade als Mr High zu einer Erklärung ansetzte, riss ihm das Krachen eines gewaltigen Donnerschlags, der das ganze Gebäude erzittern ließ, die Worte von den Lippen. Am westlichen Himmel tanzten dünne weiße Blitze. Der Regen war jetzt so stark, dass die einzelnen Tropfen wie Bindfäden aussahen.
»In der Nähe von Sugar Land, einer texanischen Kleinstadt unweit von Houston, ist ein Schulbus entführt worden«, sprach der Assistant Director über den Lärm hinweg. »Außer dem Fahrer waren dreizehn Schülerinnen im Alter zwischen achtzehn und neunzehn Jahren an Bord. Acht von ihnen stammen aus den USA, die übrigen fünf aus Deutschland, Großbritannien und Frankreich. Sie alle besuchen das private, internationale Mädcheninternat Highville.«
»Was genau ist passiert?«, wollte ich wissen.
»Der Bus hat die Teenager von einem Freizeitpark, der etwa dreißig Meilen von der Internatsschule entfernt ist, abgeholt, ist dort aber nie angekommen. Als der Kontaktversuch der Internatsleitung per Handy zum Fahrer beziehungsweise zu den anderen Insassen fehlschlug, informierte sie die örtliche Polizei. Dabei stellte sich heraus, dass es weder eine Fahrzeugpanne noch einen Unfall gab. Die anschließende Suchaktion verlief im Sande. So kam das FBI ins Spiel.«
»Ein Schulbus kann sich doch nicht einfach in Luft auflösen«, warf Phil ein, und ich pflichtete ihm still bei.
Mr High atmete tief durch. »Vermutlich wurde der Bus an einer bestimmten Stelle der Strecke zwischen dem Freizeitpark und dem Internat angehalten und dann auf einen Nebenweg umgeleitet. Die Highway Patrol sucht immer noch nach dieser Örtlichkeit. Bislang vergeblich. Und auch das zuständige Field Office in Houston tappt im Dunkeln. Das Fahrzeug samt den vierzehn Businsassen bleibt verschwunden.«
Jetzt war mir klar, warum der Fall für Director James E. Fuller oberste Priorität besaß.
»Die nationale und internationale Presse hat bereits Wind von der Entführung bekommen«, führte Mr High seinen Bericht weiter aus, als hätte er meine Gedanken erraten. »Das Außenministerium und das FBI haben die Medien gebeten, sich mit der Berichterstattung zurückzuhalten, um die laufenden Ermittlungen nicht zu gefährden. Doch Sie wissen selbst, dass wir keinen Einfluss darauf haben.«
Ich nickte.
»Außerdem machen die Eltern der jungen Frauen nicht nur hierzulande, sondern auch in den betreffenden Ländern in Europa Druck.« Mr High hielt kurz inne und fuhr sich mit der Rechten durch das silbergraue Haar. »Sie drohen bereits, an die Öffentlichkeit zu gehen, weil sie natürlich erfahren wollen, was mit ihren Töchtern passiert ist. Director Fuller gab mir die Anweisung, Sie und Phil unverzüglich nach Houston abzustellen. Dort sollen Sie Special Agent in Charge Terence Wheaton, den Leiter des Field Office, und sein Team unterstützen. Sie fliegen in zwei Stunden. Sie werden mich über jeden Ihrer Schritte auf dem Laufenden halten, damit ich Director Fuller zeitnah berichten kann.«
Damit war die Unterredung beendet. Mr High erhob sich, schüttelte uns die Hände und wünschte uns viel Glück.
***
Als die Maschine aus Washington auf dem George Bush Intercontinental Airportvon Houston landete, war der Horizont vom letzten flammenden Rot der Sonne erhellt. Keine Spur von Gewitterwolken. Special Agent Leroy Rock, der die Highville-Ermittlungen leitete, wartete bereits im Ankunftsterminal auf uns, um uns die knapp dreißig Meilen nach Houston Downtown zu bringen.
Rock war ein freundlicher, versiert erscheinender Mann mit kurzem, tintenschwarzem Haar und olivfarbener Haut, die ihm ein mexikanisches Aussehen verlieh. Nur die schmalen hellbraunen Augen und das runde irische Kinn passten nicht zu diesem Eindruck.
Trotz der hereinbrechenden Dämmerung war außerhalb des Flughafens kein Luftzug zu spüren. Die Temperaturen lagen bei angenehmen achtundsechzig Grad Fahrenheit. Wir hatten handliches Gepäck dabei und würden später in unser Hotel einchecken. Als wir nach kurzweiliger Fahrt schließlich das Field Office erreichten, begleiteten wir Rock durch die Sicherheitsschleuse zum Büro seines Vorgesetzten.
Für den Leiter eines Field Office war SAC Wheaton mit seinen gerade mal vierzig Jahren recht jung. Doch das tat seiner Kompetenz keinen Abbruch. Er war bullig und kräftig, sein Haar flachsblond, genauso wie der struppige Schnurrbart unter der langen Nase. Über den kräftigen Wangenknochen lagen wässrig grüne Augen, die freundlich blitzten, als er uns begrüßte.
Nachdem wir uns mit Agent Rock zusammen an den Konferenztisch gesetzt hatten, sagte Wheaton ohne jede Erleichterung in der Stimme: »Vor wenigen Minuten habe ich von der Highway Patrol die Information erhalten, dass der Schulbus gefunden wurde. Er steht völlig ausgebrannt auf einem abgelegenen Feldweg etwa zwanzig Meilen von Sugar Land und vom Highville-Internat entfernt. Keine Spur von den jungen Frauen, dem Fahrer oder den Entführern. Fest steht bislang nur, dass sie nicht im Bus saßen, als er angezündet wurde.«
Mit diesen Worten überreichte uns Wheaton eine Akte mit den bisherigen Ermittlungsergebnissen. Bis auf die Information, dass von allen Entführungsopfern inzwischen DNA-Proben, wie etwa Haare, getragene Kleidungsstücke oder Ähnliches, durch Verwandte zur Verfügung gestellt worden waren, gab es keine, die wir nicht bereits kannten. Allerdings war das, was der Special Agent in Charge uns danach berichtete, neu für uns.
»Unter den Entführten befindet sich auch die neunzehnjährige Amanda Thompson«, führte Wheaton weiter aus. »Sie kommt als Einzige aus Sugar Land. Ihre Mutter Ellie plant eine groß angelegte internationale Medienkampagne zur Aufklärung der Massenentführung.«
»Außerdem gab sie uns den Tipp, dass der Busfahrer Timothy Carpenter einem Satanskult huldigen soll. Jedenfalls prahlte er damit mal vor den Schülerinnen«, ergänzte Agent Rock. »Tatsächlich sind uns mehrere verschiedene okkulte Gruppierungen in und um Houston bekannt. Vielleicht gibt es ja einen Zusammenhang mit den Entführungen. Das müssen wir noch überprüfen.«
Mein Partner warf mir einen kurzen Blick zu. Es war nicht das erste Mal, dass wir mit dieser Szene in Berührung kamen.
»Inspektor Decker und ich werden gleich morgen früh noch einmal mit Mrs Thompson sprechen«, schlug ich vor. Aus den Unterlagen ging hervor, dass es bislang noch keinen persönlichen Kontakt zu Ellie Thompson gegeben hatte, sondern lediglich Telefongespräche zwischen Rock und ihr.
»Die Adresse finden Sie im Dossier, Inspektor.« Der Special Agent selbst wollte sich um das ausgebrannte Buswrack kümmern.
Wir saßen noch eine halbe Stunde zusammen, dann fuhren wir mit einem perlweißen Chevrolet Tahoe LS aus der Fahrbereitschaft des Field Office in das reservierte Hotel. Es befand sich ganz in der Nähe des Justice Park Drive, in dem das Field Office lag. Ich wünschte Phil eine gute Nacht und ging unter die Dusche. Als ich aus dem Bad kam und meine nassen Haare mit einem Handtuch trocken rubbelte, klingelte mein Handy. Dr. Mai-Lin Cha, unsere Kollegin vom Scientific Research Team in Quantico, war dran.
»Mister High hat mich darauf angesetzt, herauszufinden, ob es schon mal einen ähnlichen Fall einer Busentführung gab. Ich bin fündig geworden, Jerry«, eröffnete die Informatikerin und Mathematikerin, die nicht nur hochbegabt, sondern auch absolut brillant war, nach kurzer Begrüßung das Gespräch. »Neunzehnhundertsechsundsiebzig wurden in der kalifornischen Gemeinde Chowchilla sechsundzwanzig Kinder in einem Schulbus entführt. Nachdem sie stundenlang in der Gegend herumkutschiert worden sind, wurden sie in einem Möbeltransporter umgeladen. Mit dem fuhren die Täter in einen abgelegenen Steinbruch. Sie notierten sich Namen, Geburtsdatum, Adresse und Telefon von den Kindern und nahmen von jedem einzelnen Fetzen ihrer Kleidungsstücke an sich. Dann warfen sie ein paar Wasserflaschen, ein Glas Erdnussbutter und etwas Brot hinein.« Mai-Lin stockte, bevor sie weitersprach. »Schließlich vergruben die Entführer das Fahrzeug …«
Ich meinte, mich verhört zu haben, obwohl die Mobilfunkverbindung hervorragend war. »Der ganze Transporter mitsamt den Kindern wurde im Steinbruch verscharrt?«, fragte ich ungläubig, während sich in meinem Magen ein flaues Gefühl breitmachte.
»Ganz genau, Jerry. Vorher haben die Entführer noch eine Stahlplatte auf die Dachluke des Lieferwagens gelegt und sie mit Industriebatterien beschwert, damit niemand rauskonnte.«
Sprachlos starrte ich durch das Hotelfenster in die Finsternis hinaus, die nur durch das grelle Licht einer Neonreklame am gegenüberliegenden Gebäude erhellt wurde. In diesem Moment wurde mir wieder einmal schmerzhaft bewusst, wie abgrundtief böse manche Menschen nicht nur handelten, sondern auch waren. Ohne jegliche Empathie und Moral. Wie konnte man Kindern so etwas Schreckliches antun? Vor meinem geistigen Auge tauchten die Bilder von einem Transporter auf, in dem sechsundzwanzig Kinder lebendig unter Schutt, Steinen und Erde begraben worden waren …
»… später stellten die Täter Lösegeldforderungen«, hörte ich Mai-Lins Stimme wie aus weiter Ferne.
Mit der flachen Hand fuhr ich durch mein noch feuchtes Haar und lauschte gebannt, was die Informatikerin noch zu berichten hatte.
»Insgesamt sechzehn Stunden mussten die Kinder damals in dem Möbelwagen ausharren. Diese Zeit traumatisierte sie für ihr ganzes Leben. Wegen des immer knapper werdenden Sauerstoffs und wegen Wassermangel und Hunger verloren einige von ihnen das Bewusstsein. Die Stärkeren stapelten die Matratzen bis zum Dach hinauf.«
»Was ist dann passiert?«
»Tatsächlich gelang es ihnen, die Stahlplatte von der Dachluke herunterzudrücken, Jerry. Danach gruben sie sich mit bloßen Händen durch die Erde, die von den Entführern auf den Transporter geschaufelt worden war. Auf diese Art und Weise befreiten sich die Kinder selbst aus ihrem dunklen Grab.«
Dieser Fall war wirklich starker Tobak, obwohl er bereits über vierzig Jahre zurücklag. Vielleicht fand er in der Highville-Entführung jetzt seine grausige Entsprechung.
»Wurden die Täter damals gefasst?«, fragte ich.
»Ja. Es handelte sich um die Brüder Christopher und Richard Schoenfeld und ihren Komplizen Fred Woods. Alle drei stammten aus wohlhabenden Familien, und deshalb ist es bis heute ein Rätsel, warum sie fünf Millionen Dollar Lösegeld gefordert haben«, antwortete Mai-Lin. »Die Kidnapper wurden zu siebenundzwanzigjährigen Haftstrafen ohne Aussicht auf Bewährung verurteilt. Allerdings hob ein Berufungsgericht das ursprüngliche Urteil vor ein paar Jahren auf.«
»Warum?«, hakte ich nach.
»Letzten Endes hätte keiner der Täter seine Opfer körperlich verletzt, hieß es damals in der Begründung. Schließlich kamen die Schoenfeld-Brüder nach einem Berufungsbegehren wieder frei. Nur Woods nicht, weil er sich während der Haft aggressiv verhalten hat.«
»Das ist krank«, entfuhr es mir. Es gab Momente, in denen ich an unserem Rechtssystem zweifelte, obwohl ich einer seiner Vertreter war. »Wie kommen Menschen bloß auf eine solche abartige Idee?«
Auch darauf wusste Mai-Lin eine Antwort. »Vor Gericht stellte sich heraus, dass die Täter die Anregung zu dieser Entführung aus einem Horrorroman hatten.«
Ich atmete tief durch und dachte einen Moment an den Busfahrer Timothy Carpenter, der nach Mrs Thompsons Aussage einem Satanskult angehören sollte. Ich verabschiedete mich von Mai-Lin und legte mich aufs Bett.
Doch in dieser Nacht fand ich keinen Schlaf. Immer wieder kamen mir die schrecklichen Bilder des eingegrabenen Möbeltransporters in den Sinn.
***
Sugar Land gilt als der heißeste Ort im Bundesstaat Texas. Deshalb war ich froh, dass wir nicht im Hochsommer, sondern im Frühling hier waren. Die nicht einmal hunderttausend Einwohner zählende Stadt gehört zur Houston-Sugar-Land-Baytown-Metroarea und ist das wirtschaftliche Zentrum des Fort Bend County.
Das Haus der Thompsons lag am südlichen Rand der Stadt. Es war alt und mit dem verwitterten Schindeldach, der grau verfärbten Holzverschalung, die einmal weiß gewesen war, und den dunkelgrünen Fensterläden sah es genauso elend aus wie das struppige Gras ringsum.
Ich parkte den perlweißen Chevrolet Tahoe direkt vor dem Gebäude.
»Ich frage mich, wie sich Mrs Thompson als Supermarktangestellte das Privatinternat ihrer Tochter leisten kann«, meinte mein Partner skeptisch, bevor wir ausstiegen.
Wir gingen die wenigen Stufen zur Veranda hoch, auf der ein einsamer Schaukelstuhl neben einem kleinen Korbtisch stand. Die Klingel funktionierte nicht. Ich klopfte an den Holzrahmen der Fliegentür. Gleich darauf hörten wir Schritte. Die Tür ging auf.
Im Halbdunkel erblickten wir eine Frau um die fünfzig. Sie hatte halblanges Haar mit der unbestimmten Farbe zwischen Braun und Blond. Ihr rundliches, nicht unattraktives Gesicht sah blass und erschöpft aus. Unter den hellbraunen Augen hatten sich tiefe Krähennester eingegraben. Ein Indiz dafür, dass sie wohl zu wenig Schlaf bekommen hatte. Sie trug ein über dem Bauchnabel zusammengeknotetes kariertes Herrenhemd und verblichene abgeschnittene Bluejeans. Um ihre wohlgeformten Beine strich ein fetter schwarzer Kater mit gelben Augen.
»Sind Sie Mrs Thompson?«, fragte ich freundlich.
»Wer will das wissen?« Ihre Stimme klang angespannt und kehlig wie bei einer Kettenraucherin.
»Ich bin Inspektor Cotton, und das ist Inspektor Decker, FBI«, stellte ich uns vor. Vorschriftsmäßig zeigten wir unsere ID-Cards. »Wir haben noch ein paar Fragen wegen Ihrer Tochter.«
»Ich habe Ihren Kollegen in Houston schon alles gesagt, was ich weiß. Sämtliche Informationen über Amanda und die neusten Fotos haben sie bekommen. Was wollen Sie denn noch?«
»Können wir das vielleicht drinnen besprechen?« Phil setzte sein charmantestes Lächeln auf, zu dem er fähig war, und tupfte sich fast schon bühnenreif mit einem Taschentuch die Stirn.
Seine theatralische Einlage schien zu wirken. Ich musste mir ein Grinsen verkneifen.