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Nachdem bereits im Cumberland River in Kentucky eine nackte, kahl rasierte weibliche Leiche gefunden worden war, tauchten plötzlich zwei weitere tote Frauen auf - ebenfalls nackt, kahl rasiert und mit aufgeschlitzten toten Fischen im Schoß. Diesmal hatte der Täter seine Morde am Ufer des Dale Hollow Lake begangen, in der Nähe von Willow Grove, einer beschaulichen Kleinstadt in Tennessee. Wir fanden schnell heraus, dass fast alle Bewohner in dem entlegenen Provinznest ein dunkles Geheimnis mit sich herumtrugen. Jeder war verdächtig, nicht nur der seltsame Maler, der mit Vorliebe nackte, kahl rasierte Frauen zeichnete, die aufgeschlitzte, tote Fische in ihrem Schoß trugen ...
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Seitenzahl: 147
Veröffentlichungsjahr: 2018
Cover
Impressum
Der Fischer
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelfoto: (Film) »Der lange Tod des Stuntman Cameron«/ddp-images
eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-6504-7
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Der Fischer
Der Mann stand bis zu den Knien im Wasser. Ruhig hielten seine Hände die Angelrute. Weit ging sein Blick hinaus über den stillen See, in dessen Oberfläche sich das glühende Rot der Dämmerung spiegelte. Schwarzer Wald säumte die sanft geschwungene Uferlinie zu beiden Seiten der kleinen Bucht. Sollte man sich so die Pforte zum Paradies vorstellen? Der Mann war sich nicht sicher. Vielleicht sah so auch der Einlass zur Hölle aus.
Von Weitem hörte er die scharfen Pfiffe des Adlers, die ihm wie Lockrufe vorkamen. Wie eine Einladung zum Betreten einer anderen Welt, in der nur der Instinkt regierte. In der es nur Jäger gab und Gejagte. Er dachte an die Frau, die hinter ihm lag und deren tote Augen friedlich zum Himmel aufsahen. Ein Lächeln spielte um seine Lippen. Sie war ein guter Fang. Und die Fische, die er mit fetten Würmern köderte, waren sein Geschenk für sie.
Als wir mit dem schwarzen Chevrolet Tahoe, einem Wagen aus dem Fuhrpark des Field Office in Nashville, das Ortsschild von Willow Grove passierten, beschlich mich ein leises Unbehagen. Ich hätte nicht sagen können, woher es rührte. Es war noch früher Morgen. Die nächtliche Dunkelheit hatte sich zurückgezogen und war einem stumpfen Grau gewichen.
Links und rechts der holprigen und rutschigen Fahrbahn reihten sich die schmucklosen Häuser der kleinen Gemeinde wie steinerne Bauklötze unter einem regenschweren Himmel, durch dessen feine Risse ab und zu ein fernes Flimmern geisterte. Selbst das spätsommerliche Rot des Laubs der Amberbäume, die sich zwischen den tristen Gebäuden emporreckten, wirkte wie erloschen.
Ich wusste, dass der Dale Hollow Lake als beliebte Zufluchtsstätte für stadtmüde Kurzurlauber galt. Aber Willow Grove machte nicht den Eindruck, von diesem Umstand zu profitieren. Ich vermutete, dass die Touristen einen großen Bogen um den Ort machten. Auf der Fahrt hierher hatte ich im näheren Umfeld bebaute Äcker und Wiesen mit Rindern bemerkt. Ich nahm an, dass die Bewohner in erster Linie von der Landwirtschaft lebten und eventuell von Durchreisenden, die unterwegs schnell einen Snack verdrücken oder ein Bier runterspülen wollten.
Ich blickte zu Phil hinüber, der auf dem Beifahrersitz eine Landkarte der Region um den Dale Hollow Lake studierte.
Er bemerkte es und tippte mit dem Finger auf das Faltblatt. »Dieser See ist riesig. Rund zweiundvierzig Quadratmeilen. Es gibt unzählige einsame Buchten, in denen es wieder geschehen könnte, ohne dass es bemerkt werden würde.«
»Der Kerl«, gab ich zu bedenken, »lechzt geradezu nach Aufmerksamkeit. Das könnte seine schwache Seite sein.«
»Denkst du, dass er geschnappt werden will, Jerry?«
»Schwer zu sagen. Er scheint jedenfalls eine traurige Berühmtheit anzustreben.«
Phil nickte nachdenklich. »Was glaubst du, hat es mit diesen toten Fischen auf sich?«
»Wenn ich das wüsste«, war meine belanglose Antwort.
Gestern Mittag hatten wir im Büro von Mr High gesessen. Es ging um zwei Frauen. Beide waren nackt und mit kahl geschorenem Kopf aufgefunden worden. Die eine war auf dem Wasser des Cumberland River neben einem Ausflugsboot getrieben, die andere hatte an der Böschung einer Bucht am Dale Hollow River gelehnt. Zehn Meilen entfernt von Willow Grove. Zwei Leichen, eine in Kentucky vor drei Monaten, eine hier in Tennessee vor zwei Wochen. Im Schoß des zweiten Opfers hatten mehrere aufgeschlitzte Fische gelegen.
Der Sheriff von Clay County hatte das FBI in Nashville informiert. SAC Theo Calhan wusste aus der Presse von dem Mord in Kentucky, der dank der reißerischen Berichterstattung eines gewissen Edgar Sidgwick bundesweit Aufsehen erregt hatte. Insbesondere, weil Sidgwick behauptete, ein anonymer Anrufer habe sich bei ihm als Täter zu erkennen gegeben. Er habe sich selbst als Fischer bezeichnet. Und er habe weitere Morde angekündigt. Calhan hatte sich an Mr High gewandt.
Es war zu befürchten, dass man es mit einem Serienmörder zu tun hatte. Eine Vermutung, die sich noch am Vorabend zu bestätigen schien. Man hatte Samstagnachmittag eine dritte Frau gefunden, diesmal nur drei Meilen von Willow Groveentfernt. Nackt, kahl rasiert, mit toten Fischen ausstaffiert. Phil und ich brachen noch in der Nacht nach Willow Grove auf. Möglicherweise kam der Täter von dort.
Jedenfalls hatte das erste Opfer, Alma Ferguson, vorübergehend in diesem Ort gewohnt, bis vor einem halben Jahr. Sie hatte dort in einem Pub namens Greg’s Home hinter der Theke ausgeholfen. Danach war sie spurlos verschwunden. Der Journalist Sidgwick, der es mit dem Bericht über das zweite Opfer, Lucie Anderson, bis auf die Titelseite der Washington Post brachte, lebte schon immer in Willow Grove. Und zwei Leichen wurden in unmittelbarer Nähe der Gemeinde gefunden.
Der Ort war überschaubar. Im Schatten der kleinen Kirche, eines verwitterten Holzbaus, lag der Pub, in dem an diesem Morgen ein Bürgertreffen stattfand: Greg’s Home.Flackernde Neonreklame im Fenster neben der grün gestrichenen Eingangstür. Hinter den übrigen Scheiben der schlecht verputzten Fassade hingen knittrige Vorhänge mit blassen Blumenmustern. Ich parkte gleich vor dem Gebäude, neben einem verdreckten Pick-up und dem Geländewagen des Sheriffs.
Auf dem Bürgersteig vor dem Pub zeugten jede Menge Zigarettenkippen und etliche zerschlagene Flaschen davon, dass in der Nacht von Samstag auf Sonntag kräftig gefeiert worden war, obwohl man am Nachmittag unweit von Willow Groveeine Frau ermordet aufgefunden hatte. Doch die Leute ließen es sich eben nicht nehmen, sich zu amüsieren.
Niemand hatte sich die Mühe gemacht, vor der heutigen Veranstaltung sauber zu machen. Die Tür war nur angelehnt. Im fahlen Licht, das sich durch die Vorhangspalten zwängte, wirkte der unaufgeräumte, menschenleere Schankraum wie eine ausrangierte Filmkulisse. Ein Durchlass seitlich der Theke führte in einen Flur, an dessen Ende sich etwa hundertfünfzig Bürger von Willow Grove in einem länglichen, mit Stühlen vollgestopften Saal versammelt hatten. Kakofonisches Stimmengewirr schlug uns entgegen. Es ebbte kurz ab, als man Phil und mich bemerkte, um dann umso stärker anzuschwellen. Auf einem Podest an der Stirnseite wurde gerade ein Mikrofon auf einem Ständer platziert.
Ein kleiner, kugeliger Mann in einem altmodischen Anzug tippelte kurzatmig auf uns zu. Ich schätzte ihn auf Mitte sechzig. Sein starres Lächeln ließ erahnen, dass ihn die Situation überforderte.
»Ich nehme an, Sie sind die Inspektoren aus Washington.« Er sprach leise, mit einem leicht unterwürfigen Ton. Man hörte ihn fast gar nicht in dem allgemeinen Lärm.
»Ja«, sagte ich. »Jerry Cotton und Phil Decker. Und Sie sind der Bürgermeister?«
»Ganz recht, Fred Tomkins. Freut mich, dass Sie den Weg zu uns gefunden haben. Ich meine, falls man so etwas überhaupt sagen kann. Also, in Anbetracht der Umstände. Na ja, ich gebe zu, ich bin etwas durcheinander. Kein Wunder, nicht wahr? Willow Grove war immer eine friedliche Gemeinde, zugegeben, ein bisschen langweilig. Und jetzt das! Zwei Morde, gleich hintereinander.«
Er schwieg abrupt. Vermutlich war ihm seine eigene Redseligkeit peinlich. Mit fahrigen Gesten dirigierte er Phil und mich zur ersten Reihe, wo zwei Plätze reserviert waren. Wir setzten uns. Tomkins erklomm steifbeinig ein paar Stufen, die auf das Podest führten. Er stellte sich hinter das Mikrofon und winkte jemandem zu, der sich offensichtlich noch unten im Saal befand.
Kurz darauf betrat der Sheriff in seiner olivgrünen Uniform das Podium und stellte sich neben ihn. Er war ein stämmiger Mittvierziger mit wettergegerbtem Gesicht und einem harten, schmalen Mund. Sie verständigen sich kurz miteinander, ehe Tomkins das Mikrofon aus der Halterung nahm und es dicht vor seine Lippen brachte.
»Ich darf Sie alle bitten, jetzt Ihre Plätze einzunehmen.« Sein breiter Südstaatenslang verdickte die Worte zu einer einzigen, zähen Masse.
Während er sprach, brummte und knisterte es aus den Lautsprechern seitlich der Bühne.
»Das Ding ist nicht richtig angeschlossen!«, brüllte eine heisere Stimme aus dem Publikum. Sie wurde ignoriert.
Kurz darauf trat Stille ein. Alle blickten jetzt gespannt nach vorne, wo das Drama von Willow Groveseine Fortsetzung in den Ausführungen des Bürgermeisters der Gemeinde und des Sheriffs des Clay County finden sollte. Wo es den Leuten von Willow Grove fassbar, unmissverständlich und machtvoll ins Bewusstsein gerückt werden würde, damit sie die Tragödie als Teil ihrer gemeinsamen Existenz zu begreifen lernten. Willow Grovehatte endgültig seine Unschuld verloren.
»Sheriff Ralph Wilders brauche ich Ihnen natürlich nicht vorzustellen. Wohl aber unsere Gäste aus Washington, die FBI-Inspektoren Cotton und Decker.«
Phil und ich erhoben uns kurz, damit uns alle in Augenschein nehmen konnten.
»Hey, Jungs«, rief jemand von hinten, »schnappt euch den Bastard!«
»Wie Sie hören«, sagte Tomkins an Phil und mich gewandt, »wird das FBI hier freudig begrüßt.«
Sheriff Wilders quittierte diese Äußerung mit einem säuerlichen Grinsen.
»Wir treffen uns heute«, fuhr Tomkins fort, »weil innerhalb von zwei Wochen in der Nähe unserer Gemeinde zwei Frauen ermordet wurden. Wir alle haben das Bedürfnis, darüber zu sprechen, um mehr Informationen zu erhalten und uns gegenseitig Mut zu machen. Das FBI wird unserem Sheriff zur Seite stehen bei der Suche nach dem Wahnsinnigen, der sich selbst als Fischer bezeichnet. Wir haben also Anlass, darauf zu vertrauen, dass man den Kerl bald erwischt und es keine weiteren Opfer geben wird. Sehe ich das richtig, Ralph?« Er überreichte Wilders das Mikrofon.
»Also«, sagte der Sheriff schroff, »ihr wisst ja, ich halte nicht viel von großen Worten. Eines möchte ich klarstellen: Das FBI ist hier, weil es diese Tote in Kentucky gab und man glaubt, dass die Fälle zusammenhängen. Ansonsten würde ich den Killer auch allein zur Strecke bringen.«
»Hey, Ralph«, schrie einer dazwischen, »was stellst du mit ihm an, wenn du ihn zu fassen kriegst?«
»Was schon?«, entgegnete Wilders abweisend und kniff die Augen zusammen.
»Machst du es wie bei Doc Dead?«
Allgemeines Gelächter im Saal.
»Keine Ahnung, wovon du da faselst«, knurrte Wilders.
»Seid ihr noch bei Trost?«
Ich wandte mich um. Drei Reihen hinter mir stand eine Frau mit feuerrotem Haar und fuchtelte erregt mit den Armen.
»Das ist keine beschissene Comedyshow! Wir Frauen haben Angst, dass demnächst eine von uns massakriert wird! Wer war das Opfer gestern? Und was hat dieser Perverse mit ihr angestellt?«
»Immer mit der Ruhe«, versuchte Tomkins, sie zu besänftigen. »Lass Ralph erst mal ausreden!«
»Das Opfer hieß Jean Grey und kam aus Nashville«, sagte Wilders. »Die Frau war neunzehn Jahre alt und arbeitete als Zimmermädchen in einem Hotel. Ihre Leiche wurde gestern gegen vier Uhr nachmittags von einem Segler in einer Bucht am See entdeckt. Sie war kahl geschoren, nackt und hatte ’ne Menge tote Fische im Schoß. Sieht so aus, als wäre sie ertrunken. Das wär’s so weit.«
Stille, als wäre ein frostiger Hauch über die Köpfe der Zuhörer gezogen. Niemand rührte sich. Die Nüchternheit der Mitteilung machte ihre Botschaft nur noch eindringlicher und unfassbarer.
Plötzlich ertönte ganz hinten im Raum ein inbrünstiger Gesang. »I put all my hope in You. Jesus I will trust You!« Die Sängerin hielt kurz inne. Als sie wiedereinsetzte, wurde sie von anderen Frauen begleitet. »I’ll close my eyes and just let go. And fall into my only hope.«
Für die Dauer des Chorals verschmolzen Furcht und Hoffnung zu einer einzigen magischen Empfindung. Als könnte ein kindliches Gemüt alles Unheil aus der Welt verbannen.
Dann aber verstummte der Gesang der Frauen, und im Saal brach allgemeines Chaos aus. Dutzende Frauen und Männer bestürmten Tomkins und den Sheriff mit Fragen, auf die es zurzeit keine Antwort gab. Sinnlose Beschuldigungen wurden ebenso vorgetragen wie Ergebenheitsadressen an den Sheriff, den viele wohl für einen tollen Burschen hielten, der es selbst mit dem Teufel aufnahm.
Schließlich beendete der Bürgermeister das Treffen, nicht ohne zuvor noch an die Wachsamkeit der Anwesenden zu appellieren. Ab jetzt, so viel stand fest, würden die Menschen in dieser Gemeinde einander mit Misstrauen begegnen. Der Mörder hatte den Keim des Unfriedens in Willow Grove gesät.
Als sich der Saal leerte, schob sich ein dürrer Mann mit brennenden Augen und glatten, fettigen Haaren an Phil und mich heran.
»Ich bin Edgar Sidgwick, ich muss Sie dringend sprechen, vertraulich. Können wir uns irgendwohin verdrücken?«
Phil und ich warfen uns einen kurzen Blick zu.
»Ich rede mal mit dem Sheriff«, sagte Phil. Dann ließ er mich mit dem Journalisten allein.
Sidgwick führte mich in einen Seitenraum. Ein länglicher Tisch bot Platz für ein Dutzend Personen. Darüber baumelte ein klobiger, hölzerner Kandelaber.
»Hier tagt der Gemeinderat«, erklärte Sidgwick. Dann schloss er die Tür und sprach mit gesenkter Stimme weiter. »Ich weiß nicht, warum mich der Fischer auserkoren hat. Bisher dachte ich, dass ihn seine Geltungssucht dazu treibt. Dass er will, dass ich ihn mit meinen Berichten berühmt mache. Aber jetzt …« Er zuckte unschlüssig mit den Schultern und hielt mir verstohlen ein Blatt hin, auf dem fünf Namen notiert waren. »Das kann ich doch unmöglich veröffentlichen, er muss etwas anderes damit bezwecken.«
Ich nahm das Blatt und las:
Ralph Wilders
Tyler Davies
Dark Hero
Greg Norton
Bobby Cunningham
»Was hat es damit auf sich?«, fragte ich.
»Ein anonymer Anrufer hat mich mitten in der Nacht geweckt und mir diese Leute genannt. Er behauptete, einer von ihnen sei der Fischer.«
»Also er selbst?«
»Ich wüsste nicht, wer sonst.«
»Den Sheriff kenne ich ja schon. Wer sind die anderen?«
»Davies ist unser Prediger, seine Frau leitet den Chor. Hero ist Maler und lebt etwas außerhalb. Sein richtiger Name ist Dale Hall. Norton gehört dieser Pub, und Bobby Cunninghams Vater hat eine Farm im Norden von Willow Grove. Sie sind alle anständige Burschen, auch wenn Hero auf gewisse Weise ziemlich durchgeknallt ist.«
»Alma Ferguson, das erste Opfer: Hat sie in diesem Pub vorübergehend gearbeitet?«
Sidgwick nickte heftig. »Hat sie. Und ich verrate Ihnen noch etwas: Sie wurde nicht gut behandelt.«
Ich beschloss, auf diese Andeutung eventuell später zurückzukommen. »Hat der Anrufer sonst noch etwas gesagt?«
»Er meinte, ich könne mit den fünf Namen anstellen, was ich wollte. Sie jetzt veröffentlichen oder später. Jedenfalls gebe es noch viele Fische im Dale Hollow Lake. Danach hat er aufgelegt.«
»Sie haben seine Stimme nicht erkannt?«, wollte ich wissen.
»Nein, der Kerl klang wie ein Roboter.«
»Haben Sie das Gespräch aufgezeichnet?«
»Nein, darauf bin ich mitten in der Nacht leider nicht gekommen.«
Ich nickte. »Okay. Wem haben Sie noch von dieser Liste erzählt?«
»Niemandem selbstverständlich.«
»Gut, dabei sollte es auch bleiben.«
Die Tür öffnete sich, und Tomkins steckte den Kopf durch den Spalt. »Ah, hier stecken Sie also. Ich würde gerne noch mit Ihnen sprechen, Inspektor.«
Sidgwick zog die Schultern hoch, als wollte er unwillkürlich in Deckung gehen, und eilte hinaus. Tomkins schloss die Tür hinter ihm, setzte sich an den Tisch und blickte mich auffordernd an. Ich nahm neben ihm Platz.
»Ich mache mir so meine Gedanken«, sagte Tomkins.
»Kein Wunder, in Anbetracht der Umstände.«
»Nein, so meine ich es nicht. Ich habe einen konkreten Verdacht, Inspektor. Ich hoffe nur, Sie halten mich nicht für leichtfertig, wenn ich damit rausrücke.«
»Keineswegs.«
»Man soll ja niemanden anschwärzen. Immerhin habe ich keine Beweise.«
»Sie müssen sich nicht rechtfertigen.«
Tomkins straffte sich. »Also schön. Es geht um den Prediger, Tyler Davies. Alle halten ihn für einen gottesfürchtigen, ehrbaren Mann.«
»Ich nehme an, für Sie trifft das nicht zu.«
»Da haben Sie verdammt recht.« Tomkins blinzelte mich unter halb geschlossenen Lidern nervös an. Seine Pupillen waren winzige schwarze Punkte in der mattgrauen Iris. »Tyler schlägt seine Frau.« Er stöhnte leise, als hätte er sich zu einem peinlichen Geständnis durchgerungen.
»Das heißt nicht zwangsläufig, dass er auch zu einem Mord fähig ist, Mister Tomkins.«
»Um Gottes willen, nein, ganz recht! Andererseits, ich dachte, Sie müssen es erfahren. Es zeigt immerhin, dass er ein brutaler Schweinehund ist. Ich meine, eine Frau zu schlagen, dazu gehört schon was, stimmt’s?«
»Und Mrs Davies hat ihn nicht angezeigt?«, erkundigte ich mich.
»So was tut sie nicht. Sie ist keine, die ihren Mann verrät«, antwortete der Bürgermeister.
»Wie haben Sie dann davon erfahren?«
Diese Frage brachte Tomkins kurz aus dem Gleichgewicht. Er rutschte unsicher auf seinem Stuhl herum. Schließlich entschloss er sich zu einer Antwort. »Sie hat sich mir anvertraut.«
»Warum gerade Ihnen?«
Er zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht. Sie hatte nie einen Vater. Vielleicht liegt es daran.«
Die Tür wurde weit aufgerissen, und ein drahtiger Mann in mittleren Jahren betrat strahlend den Raum. Ein smarter Typ mit einem verkniffenen Mund.
»Verzeihen Sie die Störung, Bürgermeister, aber ich lasse es mir nicht nehmen, den Inspektor auch im Namen des Herrn in unserer kleinen Gemeinde zu begrüßen!« Er streckte mir schwungvoll die Rechte hin und entblößte zwei Reihen makellos weißer Zähne. Mit seinem blonden Haarschopf, blauem Polohemd und weißen Hosen hätte er auf jede Hochglanzbroschüre für Golfspieler gepasst. »Gestatten, Tyler Davies.«
Tomkins erhob sich und trat zwischen den Prediger und mich. »Kein Problem, Tyler«, sagte er leise, mit einem tadelnden Unterton. »Ich wollte ohnehin gerade gehen.« Er nickte mir kurz zu und hastete hinaus.
»Ich vermute«, wandte ich mich an Davies, »Sie haben mir etwas mitzuteilen.«
Der freudige Ausdruck im Gesicht des Predigers erlosch. An seine Stelle trat eine Miene aufrechter Entschiedenheit. »Sie haben mich durchschaut, Inspektor. Aber erst einmal muss ich Sie um absolute Diskretion bitten!«
***
Bobby Cunningham war bereits zwanzig Jahre alt. Ein Umstand, um den er wusste, der ihm aber zugleich nichts bedeutete. Was womöglich daran lag, dass seine Eltern in seiner Gegenwart häufig davon sprachen, dass er seit seinem zehnten Lebensjahr keine nennenswerten Fortschritte mehr gemacht hätte. Im Gegenteil, eine gewisse Schwerfälligkeit im Denken hatte man ihm unterstellt, so lange er sich zurückerinnern konnte. Körperlich war er gut ausgestattet. Hochgewachsen und muskulös. Und sein sexueller Appetit hatte sich geradezu prächtig entwickelt. Was allerdings immer wieder zu lästigen Ermahnungen seines Vaters führte. Es kam sogar vor, dass ihn seine Mutter ohrfeigte. Dann nämlich, wenn Bobby einer Frau mal wieder ohne viel Federlesen auf den Leib gerückt war.