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New York war in heller Aufruhr: Ein Flugzeugabsturz mitten in der Stadt mobilisierte sämtliche Polizei- und Rettungskräfte, auch das FBI. Schon bald wurde über die Unglücksursache spekuliert: ein Feuer an Bord, eine Explosion, Sabotage oder gar ein Terroranschlag. Phil und ich beteiligten uns an den Ermittlungen - und waren sicher: Mit einem Unfall hatten wir es auf keinen Fall zu tun!
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Seitenzahl: 141
Veröffentlichungsjahr: 2018
Cover
Impressum
Hellfire
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelfoto: (Film) »Turbulence«/ddp-images
eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-6510-8
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Hellfire
Sie würden in wenigen Minuten sterben. Genauso wie die übrigen zweihunderteinundfünfzig Passagiere von Flug 5187, die sich an diesem Morgen in einer der Abfertigungshallen des John F. Kennedy International Airport befanden. Die fünfzehn Besatzungsmitglieder waren bereits an Bord des Airbus A-300.
Iwan Antonow klopfte seinem Freund Sergej Vileskin kräftig auf die Schulter. »Wir haben es bald geschafft, Towarischtsch!«, freute er sich.
Auch Sergej lächelte erleichtert, blickte zum wiederholten Male auf die Anzeigetafel. Endlich wurde der Flug von New York nach Moskau aufgerufen. Security Check und Passkontrolle hatten sie bereits hinter sich.
Wenig später bestiegen die beiden kurzhaarigen, bulligen Männer mit den übrigen Passagieren den Airbus A-300 der American Airlines. Natürlich hatten sie die First Class gebucht. Etwas anderes kam für sie nicht infrage.
Dabei ahnten Iwan Antonow und Sergej Vileskin nicht im Geringsten, dass sie schon in wenigen Minuten direkt in die Hölle fliegen würden!
Als die mächtigen Turbofan-Triebwerke vom Typ Pratt & Whitney JT9D-59A zündeten, lehnten sich die beiden Russen beruhigt in ihren komfortablen Sitzen zurück. Die tiefe, vertrauenerweckende Stimme des Kapitäns aus dem Bordlautsprecher kündigte den Start an. Die Fasten-Seatbelts-Anzeige ging an. Wenig später hob das Großraumflugzeug von einem der beiden parallelen, zueinander senkrechten Pistenpaaren ab.
Mit der Routengrafik auf den Bordmonitoren konnten die Passagiere den über neun Stunden dauernden Flug in die russische Metropole mitverfolgen. Die optimale Flughöhe würde 33.000 Fuß betragen. Noch aber befand sich das Flugzeug im Take-off, im Startmodus.
Während Vileskin die Augen schloss, blickte Antonow zum runden Fenster hinaus. Am Himmel über ihm sah er Zirruswolken, die wie weiße, aufgelockerte Watte aussahen. Unter ihm wurde die Skyline des Stadtteils Jamaica in Queens, in dem der JFK Airport lag, immer kleiner.
Dann geschah es!
Schlagartig sackte der Airbus ab. Und zwar so plötzlich und heftig, dass ein Passagier, der sich vorzeitig abgeschnallt hatte, um die Toilette aufzusuchen, wie eine Puppe durch den Mittelgang flog und gegen die Bordwand geschleudert wurde. Mit gebrochenem Genick blieb er liegen. Blut lief aus seinem verzerrten Mund.
Gellende Schreie, hysterisches Kinderweinen, wilde Rufe und laute Gebete brandeten auf, als der Airbus erneut anstieg, um gleich darauf wieder wild schlingernd abzusinken.
Mit wild pochendem Herzen starrte Antonow zum Fenster hinaus. Die Aluminiumtragfläche mit den beiden Kraftstofftanks auf seiner Seite bog sich regelrecht in den Windscheren. Die Turbulenzen waren stärker als alles andere, was er je erlebt hatte.
Neben ihm murmelte Vileskin etwas Unverständliches. Bei der russischen Luftwaffe hatten sie einst gelernt, im Notfall eine Überlebenshaltung einzunehmen, die sogenannte Brace Position. Dazu stellten sie die Beine eng zusammen, beugten sich weit nach vorne und legten ihre Köpfe auf die Knie. Gleichzeitig nahmen sie die Hände flach über den Hinterkopf und stützten die Ellenbogen auf die Sitzlehnen. Keinesfalls auf die Oberschenkel, damit die spitzen Ellbogenknochen nicht die Beine verletzten.
Die Nickbewegungen des Flugzeugs, das Anheben und Senken des Bugs, ähnlich wie bei einer Wippe, wurden immer stärker. Die Russen wussten, dass die Turbulenzen in der Flugzeugmitte am ruhigsten ausfielen, weil dort der Schwerpunkt der Maschine auf der Höhe der Tragflächen lag. Doch sie saßen in der First Class und damit im vorderen Bereich des Airbus.
Es wurde noch schlimmer! Der Kapitän schien die Kontrolle über die Maschine vollkommen verloren zu haben.
Die heftigen Vibrationen rissen Fahrwerksteile ab. Die Fliehkräfte waren so stark, dass selbst Nieten an den Wänden und vom Boden wie Popcorn wegplatzten. Die Gepäckfächer hielten der außerordentlichen Belastung nicht stand. Die Klappen sprangen auf, verwandelten die umherfliegenden Gegenstände in Wurfgeschosse, die die Passagiere und das Bordpersonal am Kopf und an verschiedenen Stellen des Körpers trafen.
Der Airbus legte sich nach Steuerbord auf die Seite und ging nahezu senkrecht in einen Sturzflug über. Alle an Bord waren völlig orientierungslos.
Überall Schreie, Chaos, Lärm und Blut.
Für die Todgeweihten von Flug 5187 dehnten sich die schrecklichsten Sekunden ihres Lebens zu elend langen Minuten.
Dann zerschellte das, was von dem Airbus A-300 noch übrig war, in einem Wohngebiet in Rockaway Beach. Mitten in New York!
Die Luft roch förmlich nach Tod und Verderben. Nach verbranntem Fleisch, glühendem Metall, verschmorten Kabeln, angesengtem Kunststoff. Aus tiefen Erdkratern stiegen dichte, dunkle Rauchschwaden in den Novemberhimmel, aus dem vor Kurzem der stählerne Tod herabgestürzt war. Ein ganzer Häuserzug war ausradiert, brannte lichterloh. Überall blinkende Warnlichter und heulende Sirenen. Korsos von Polizei-, Feuerwehr- und Rettungswagen reihten sich aneinander. Heisere Schreie und bellende, nervöse Befehle gellten durch die Trümmer. Überall loderten Flammen. Der Feuerschein hüllte die Katastrophe wie bei einer bizarren Theaterszenerie aus Unglück und Tod ein.
Selbst noch einige Straßenzüge nördlich und östlich von der Absturzstelle entfernt hatten Flugzeugteile Häuserdächer durchschlagen und Autos beschädigt. Im Umkreis verstreut lagen verkohlte Körperteile der über zweihundertsechzig Toten der American-Airlines-Maschine. Hinzu kamen jene, die am Boden, in ihren Häusern oder auf den Straßen, ums Leben gekommen waren.
Die kleine Wohnsiedlung Rockaway Beach auf der lang gezogenen Halbinsel Rockaway Peninsula im Stadtteil Queens, die direkt an der Einflugschneise des John F. Kennedy Airport lag, war kaum wiederzuerkennen. Die ansonsten friedliche Oase aus Bungalows, Geschäften und zwei Grundschulen, glich an diesem Tag einem Screenshot aus Dantes Inferno. Einem Flammenmeer! Einem Hellfire, wie bereits einige Zeitungen auf ihren Websites titelten.
Ich stand mit Phil mitten im Katastrophenviertel, nicht einmal siebenundzwanzig Meilen von Manhattan, dem Herzen New Yorks, dem Herzen Amerikas entfernt.
Nach der Crash-Meldung hatte Mr. High sämtliche Agents, die entbehrlich waren, an den Ort der Tragödie geschickt. Phil und ich sollten die Ermittlungen vonseiten der neu gegründeten FBI Task Force T.A.C.T.I.C.S. leiten.
Um uns herum das hektische Treiben der Rettungskräfte. Unweit der Absturzstelle fuhren Anwohner Schubkarren gefüllt mit Mineralwasserflaschen zu den Helfern. Darunter Schüler der Young Israel of Belle Harbour School, die sich in unmittelbarer Nähe befand und dem Inferno gerade so entkommen war.
In den rußgeschwärzten Gesichtern der Feuerwehrleute, Notärzte, Sanitäter und Cops funkelten müde und matte Augen. Allesamt hatten sie in dieser Ausnahmesituation einen Blick in die Hölle geworfen.
Einsatzleiter des Queens Police Department war Captain Craig Longfield. Natürlich waren auch Kollegen anderer Departments im Einsatz, ebenso die Nationalgarde, die NTSB, die Nationale Behörde für Verkehrssicherheit und wir vom FBI.
Wir hatten alle Hände voll zu tun, weil niemand genau wusste, ob es sich bei dem Absturz um einen tragischen Unfall handelte, oder ob auf Flug 5187 vielleicht sogar ein Terroranschlag verübt worden war.
Aus diesem Grund wurde der Sitz der Vereinten Nationen in Manhattan, in dem momentan die UN-Vollversammlung tagte, evakuiert und hermetisch abgeriegelt. Auf Anweisung des Bürgermeisters war auch das Empire State Building geräumt worden. Die drei New Yorker Flughäfen JFK, Newark und LaGuardia wurden vorübergehend geschlossen, der U-Bahn-Verkehr zwischen Queens und den umliegenden Stadtteilen eingestellt. Außerdem waren alle Brücken und Tunnel, die von und nach New York führten, für den normalen Verkehr vorsorglich gesperrt. Seit Nine-eleven hatten die Sicherheitsbehörden hinsichtlich des Katastrophen- und Terrorschutzes einiges dazugelernt.
Das war der aktuelle Stand, über den uns Captain Craig Longfield, ein zierlicher Mann mit Stirnglatze, gerade unterrichtet hatte. Er nickte Phil und mir zu und verschwand wieder im Getümmel.
Die Gesichtshaut meines Partners glänzte wächsern. Ich sah bestimmt nicht besser aus. Mit großer Wahrscheinlichkeit waren alle zweihunderteinundfünfzig Passagiere sowie die fünfzehn Mitglieder der Bordcrew ums Leben gekommen. Einen solchen Absturz konnte normalerweise niemand überleben, das wurde uns klar, als wir das Ausmaß erkannten. Hinzu kam eine bislang noch unbekannte Anzahl an Toten und Verletzten am Boden.
Was für ein Horror!
Über unseren Köpfen kreisten Kampfjets, die den Luftraum über der Hudson-Metropole kontrollierten. Alle waren nervös. Die Erinnerung an den verheerendsten Terroranschlag in der amerikanischen Geschichte erfüllte die Stadt, war überall fast körperlich zu spüren.
Ich zog die gefütterte Winterjacke fester um die Schultern. Der Novembertag war klar und kalt.
»Was glaubst du?«, riss mich Phil aus meinen trüben Gedanken, worauf ich ihn fragend ansah. »Terroranschlag oder Unfall?«, präzisierte er.
Zu diesem Zeitpunkt standen noch sämtliche Optionen offen. Aber das wusste Phil natürlich ebenfalls. Allerdings kannte ich ihn lange genug, um zu wissen, dass er mich nach meinem Bauchgefühl fragte.
Doch ehrlicherweise musste ich dieses Mal passen.
Allerdings wusste ich eines: Sollte es tatsächlich kein Unfall sein, dann würde ich alles daran setzen, den oder die Täter und Hintermänner dieser Katastrophe zu fassen. Koste es, was es wolle! Das war ich, das waren wir, die wir als Assistant Special Agents in Charge des FBI für die US-Regierung arbeiteten, den Hunderten Toten schuldig!
Nach 9/11 – ein neuer Terroranschlag mitten in New York?
Wurde die USA wieder Opfer einer terroristischen Attacke auf eigenem Boden?
Sind die Sicherheitsbehörden unfähig, die Bürger vor Terrorangriffen zu schützen?
So oder ähnlich klangen tagelang die Schlagzeilen der auflagenstärksten Zeitungen der Stadt, wie etwa der New York Times, des Wall Street Journal, der Daily News oder der New York Post.
Die Sicherheitsmaßnahmen der Behörden waren wieder aufgehoben worden. Inzwischen war bestätigt, dass niemand an Bord der Todesmaschine den Absturz überlebt hatte. Zu den zweihundertsechsundsechzig Opfern kamen noch dreiundsiebzig am Boden dazu sowie hundertzweiunddreißig Verletzte. Neun Häuser waren komplett zerstört, fünf weitere schwer beschädigt.
Ich legte die Zeitungen auf den Stapel zurück. Phil und ich saßen im Büro unseres Chefs und warteten auf Norman Hawkins, den Chefermittler des National Transportation Safety Board. Dieser wollte uns persönlich das Fazit des vorläufigen Berichts zum Absturz von Flug 5187 erläutern.
Als er nach der ersten Tasse von Helens Kaffee noch immer nicht aufgetaucht war, schickte uns Mr. High wieder an die Arbeit, von der es reichlich gab. Auf halbem Weg zu unserem Büro, lief uns der NTSB-Ermittler jedoch sprichwörtlich in die Arme. Gleich darauf saßen wir erneut um den Konferenztisch im geräumigen Büro des Assistant Director in Charge.
Norman Hawkins war ein stattlicher Mann mittleren Alters, etwa so groß wie ich, aber mit mehr Speck auf den Rippen. Das eisengraue Haar hatte er glatt nach hinten gekämmt, was ihm ein löwenartiges Aussehen verlieh. Seine kleinen Augen schimmerten in einem verwaschenen Blau und passten zu der fleischigen Nase und dem breiten Mund.
»Nach unserem vorläufigen Bericht gehen wir von einem Unfall aus«, begann der NTSB-Ermittler in sachlichem Ton. »Um Ihnen das verständlich zu machen, muss ich allerdings etwas ausholen.«
Phil und ich wechselten einen schnellen Blick, bevor er fortfuhr.
»Kurz bevor Flug fünf-eins-acht-sieben bei besten meteorlogischen Bedingungen starten konnte, hob vor ihm eine Boeing sieben-vier-sieben-vierhundert der Japan Airlines Richtung Tokio ab. Der Tower-Controller warnte Sydney Bear, den Kapitän des nachstartenden, vollbetankten Airbus A-dreihundert, vor Weak Turbulences.«
»Können das Sie für uns Laien etwas näher erklären?«, bat Mr. High.
Ich quittierte dies mit einem dankbaren Nicken.
Hawkins kratzte sich kurz am Kinn. »Im Grenzbereich zwischen starken und schwachen Luftströmungen entstehen tückische vertikale Winde, die für abrupten Auf- und Abtrieb sorgen: sogenannte Turbulenzen. Passagiere nehmen diese als Luftlöcher wahr. Solche Windscheren können bei einem Gewitter entstehen, aber auch in Bodennähe bei Verwirbelungen der Luft durch stürmische Winde, hervorgerufen durch Bergzüge, Wälder und Gebäude. Turbulenzen können jedoch auch durch vorausfliegende Flugzeuge verursacht werden. So wie in unserem Fall.«
»Ich verstehe«, sagte der Chef.
Hawkins stützte die Ellenbogen auf den Schreibtisch und legte die Handflächen aneinander. »Wirbelschleppen sind eine Begleiterscheinung des dynamischen Auftriebs, die unvermeidlich bei jedem Flugzeug auftreten. Denn Tragflächen können nur dann mithilfe des Luftstroms Auftrieb erzeugen, wenn sie Luft nach unten beschleunigen. Da diese Dynamisierung nicht außerhalb des Flügelbereiches erfolgt, entsteht ein Drehimpuls. Oder anders ausgedrückt: Es bilden sich hinter dem Flugzeug zwei gegenläufig drehende Wirbel. Dabei gilt, je schwerer eine Maschine ist, desto mehr Luft muss sie nach unten beschleunigen und umso ausgeprägter ist ihre Wirbelschleppe. Zusätzlich versetzen die Turbinen von Strahltriebwerken die Luft in Rotation.«
Phil und ich nickten wie in der Schule.
»Nun gut«, meinte Hawkins. »Um Ihnen die Gefährlichkeit dieser Wirbelschleppen zu verdeutlichen, sollten Sie Folgendes wissen: Auf Reiseflughöhe können die Weak Turbulences eines schweren Flugzeugs sogar eine etwa neunhundert Fuß tiefer und in entgegengesetzter Richtung fliegende leichtere Maschine so hart treffen, dass die Piloten die Kontrolle verlieren. Erreichen Wirbelschleppen bei tieffliegenden Flugzeugen mit hoher Geschwindigkeit den Erdboden, können im Extremfall sogar Häuserdächer abgedeckt, Solarmodule oder Fenster zerstört werden.«
Ich muss sagen, dass ich beeindruckt war, hatte ich mich doch nie mit dieser Thematik beschäftigt. Zukünftig würde ich mit einem anderen Bauchgefühl in ein Flugzeug steigen.
»Und eine solche Wirbelschleppe hat letztlich den Absturz verursacht?«, hakte Phil nach.
»Immer der Reihe nach, Agent Decker«, bremste der Ermittler der Verkehrssicherheitsbehörde meinen Partner. »Ich erspare mir die exakten Angaben sämtlicher Daten und Zahlen, die Sie im Bericht nachlesen können. Etwa zwei Minuten nach dem japanischen Flieger ging der Airbus in die Luft. Das Fahrwerk wurde ordnungsgemäß zurückgezogen. Die Maschine stieg auf etwa fünftausend Fuß und ging dann in eine Linkskurve über die Jamaica Bay. Das war wohl der Moment, in dem Flug fünf-eins-acht-sieben in die Wirbelschleppe der vorausfliegenden Flugzeugs geriet.«
»Und was geschah dann?«, wollte Phil wissen.
»Captain Bear versuchte, die gefährlichen Turbulenzen auszugleichen, sprich die ausgelöste Drehung des Flugzeugs mit heftigem Vollausschlag des Seitenruders zu korrigieren. Dazu trat er mehrere Male in die Seitenruderpedale, um den Airbus in der turbulenten Luft geradezurichten, der bei einer Geschwindigkeit von zweihundertzwanzig Meilen pro Stunde quasi mit dem Schwanz wedelte. Außerdem erhöhte er den Schub.« Hawkins verstummte kurz, trank einen Schluck Kaffee, als hätte er sich heiser geredet.
Wir warteten geduldig, dass Hawkins weitersprach.
»Dieser unnötige und unangemessene Einsatz der Ruderpedale führte zu einer aerodynamischen Überlastung des senkrechten Seitenleitwerks am Heck, das daraufhin in der Luft abbrach«, berichtete er dann weiter. »Damit war die Maschine nicht mehr zu steuern. Bear und sein Co-Pilot verloren die Kontrolle. Es traten so hohe Kräfte auf, dass beide Triebwerke noch in der Luft von den Tragflächen gerissen wurden. In der Folge zerbarst der Flieger in vier Teile. Der fast senkrechte Absturz des vollbetankten Airbus A-dreihundert erfolgte drei Minuten und zweiundzwanzig Sekunden nach dem Start vom JFK Airport. Durch die Aufprallkräfte und das Postcrash-Feuer wurde das, was von ihm noch übrig geblieben war, vollkommen zerstört.«
Totenstille senkte sich über Mr. Highs Büro. Wir waren alle in unsere eigenen Gedanken versunken, vor allem in die Trauer um die Opfer.
»Dann ist also das Fehlverhalten von Captain Bear der Auslöser für das Unglück«, stellte ich nach einer ganzen Weile fest.
Hawkins stimmte nur bedingt zu. Denn es gab einen weiteren Aspekt, den er uns gleich darauf erläuterte. »In dem Moment, als der Airbus in die Wirbelschleppe geriet, sind auf den Cockpitaufnahmen neben den Stimmen des Käpt’ns und seines Co-Piloten noch andere Geräusche zu hören: ein kurzes Quietschen sowie ein eigentümliches Rattern. Dies lässt auf starke Vibrationen im Flugzeug schließen. Deshalb kommt als mögliche Unglücksursache außerdem Materialschwäche hinzu. Sie müssen wissen, dass der Airbus-Konzern Pionier beim Einsatz kohlefaserverstärkter Kunststoffe war, das leichter und fester als Aluminium ist. Allerdings können kleinste Fehler bei der Herstellung zu schwerwiegenden Materialschäden führen.«
»Zwei Dinge verstehe ich jetzt nicht«, gab ich zu. »Hätte das Versagen dieses Kunststoffmaterials zum Absturz geführt, dann müssten jetzt doch Hunderte Airbusse stillgelegt werden.«
»Sie haben recht, Agent Cotton. Die dahingehenden Überprüfungen wird das NTSB demnächst einleiten.«
»Also ist ein Terroranschlag absolut auszuschließen?«, vergewisserte sich Mr. High.
Hawkins nickte. »Weder an den Wrackteilen noch an den sichergestellten Gepäckstücken fanden wir irgendwelche Sprengstoffspuren. Außerdem war auf den Cockpitaufnahmen, außer dem Knall, als das Seitenruder abbrach, keine Explosion zu hören.«
»Der Airbus ist noch einen Tag vor dem Absturz routinemäßig untersucht worden«, warf Phil ein. »Eine intensivere Inspektion hat es sogar fünf Wochen vorher gegeben.«
»Das eine schließt das andere nicht aus. Materialfehler werden meistens erst nach einem Unglück als solche festgestellt«, erklärte Hawkins. »In diesem Fall kam das Fehlverhalten des Captain in der Ausnahmesituation hinzu. Das ist der Nährboden, auf dem sich Katastrophen entwickeln. Die Nationale Verkehrssicherheitsbehörde wird noch heute Abend eine Pressekonferenz anberaumen, um den vorläufigen Unfallbericht von Flug fünf-eins-acht-sieben vorzustellen. Die Bürger der Stadt und des ganzen Landes werden auf eine gewisse Art und Weise erleichtert sein.«
Als uns der NTSB-Chefermittler kurz darauf verließ, bat uns Mr. High, noch in seinem Büro zu bleiben. »Am Ausdruck ihrer Gesichter meine ich, zu erkennen, dass Sie Zweifel am Ergebnis der Vorabuntersuchung haben«, sagte er uns auf den Kopf zu.
Tatsächlich hielt sich bei mir die Erleichterung darüber, dass der Absturz kein Terroranschlag, sondern ein Unfall aufgrund menschlichen Versagens und möglicherweise aufgrund von Materialfehlern war, in Grenzen. Phil schien es genauso zu gehen. Als er Mr. High noch einmal auf die zurückliegenden Inspektionen des Airbus hinwies, die nach unseren Unterlagen auf keine Mängel hindeuteten, winkte er ab.