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Aufstand auf der Toteninsel
Phil und ich ermittelten in einem skurrilen Fall: Die Leiche eines Junkies war aus ihrem Sarg verschwunden. Als wir Nachforschungen anstellten, erfuhren wir, dass einer der Männer, die die Beerdigung durchgeführt hatten, bei einer Massenprügelei auf der Gefängnisinsel Rikers Island getötet worden war ... mit einem Schnitt durch die Kehle! Doch niemand wollte gesehen haben, wer ihn getötet hatte, und die Tatwaffe war nie aufgetaucht.
Mir war sofort klar, dass es einen Zusammenhang geben musste! Also beschlossen Mr. High, Phil und ich, dass ich eine Weile selbst in den Knast gehen würde - natürlich undercover ...
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Seitenzahl: 145
Veröffentlichungsjahr: 2019
Cover
Impressum
Aufstand auf der Toteninsel
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelfoto: (Film) »The Raid 2«/ddp-images
Datenkonvertierung eBook: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-7737-8
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Aufstand auf der Toteninsel
Graham Landon mochte seinen Job. Viele Menschen verstanden nicht, wie er Gefallen daran finden konnte, jeden Tag mit Toten umzugehen. Sie umzuziehen, zu schminken und in Särge zu legen. Aber Landon hatte seine Arbeit als Bestatter immer als Dienst an den Lebenden gesehen: Er ermöglichte den Angehörigen einen würdigen Abschied.
Und so, dachte er, musste er auch seinen heutigen Auftrag sehen. Als Dienst für eine trauernde Mutter. Trotzdem graute es Landon davor, den Sarg ihres Sohnes zu öffnen, der vor elf Monaten beerdigt worden war. Landon wappnete sich für den fauligen Geruch der Verwesung, den Anblick des Verfalls. Dann öffnete er den Sargdeckel. Und keuchte auf.
Denn in dem Sarg lag keine Leiche.
Corrections Officer Kevin Chang bemühte sich, sein Grinsen zu verbergen. Er wusste, dass offen zur Schau getragener Triumph die Häftlinge nur noch wütender machte. Das war das genaue Gegenteil von dem, was er erreichen wollte. Und dennoch: Es fühlte sich einfach verdammt gut an, sich durchzusetzen.
Chang führte Aufsicht beim Abendessen, und einer der Häftlinge hatte seine Erbsensuppe nicht gegessen, sondern sie demonstrativ auf dem gesamten Tisch verteilt. Chang hatte ihn wiederholt aufgefordert, die Sauerei wegzuwischen, aber der Kerl hatte sich taub gestellt. Erst als Chang seinen Schlagstock kaum einen Zoll neben seiner Hand auf den Tisch geschlagen hatte, hatte der Häftling aufgesehen. Und als der nächste Schlag seine Fingerknöchel traf, hatte er mit vor Schmerz verzerrtem Gesicht seine Serviette genommen und den Tisch gesäubert.
»Die Gefangenen sind wie Kinder«, hatte ein älterer Kollege zu Chang gesagt, als er seinen ersten Tag als Aufseher im Eric M. Taylor Center gehabt hatte, eine der zehn Haftanstalten auf der New Yorker Gefängnisinsel Rikers Island. »Du musst ihnen von Anfang an ihre Grenzen aufzeigen. Sonst tanzten sie dir auf der Nase herum.«
Und Chang wusste, dass das für ihn in besonderem Maße galt: Er war klein und schmal, manch einer würde ihn sogar schmächtig nennen. Und trotz des Bartes, den er sich stehen ließ, schätzten ihn die meisten Leute eher auf neunzehn und nicht auf sein tatsächliches Alter von sechsundzwanzig Jahren. Er hatte von Anfang an gewusst, dass er sein jugendliches Äußeres bei der Arbeit als Gefängnisaufseher durch besondere Härte wettmachen musste.
Kevin Chang ließ seinen Blick über die Tische im Speisesaal schweifen, an denen die Häftlinge mit gesenkten Köpfen ihre Erbsensuppe löffelten. Ja, es war als Corrections Officer auf Rikers Island überlebenswichtig, sich durchsetzen zu können. Und zwar nicht nur bei den Häftlingen.
Changs Blick fiel auf den hintersten Tisch im Raum. Die vier Männer dort waren in ein intensives Gespräch vertieft. Chang näherte sich und versuchte zu verstehen, was der Wortführer, ein hünenhafter Afroamerikaner, gerade mit gedämpfter Stimme sagte.
»… Sklavenarbeit, nichts anderes als das! Für ein paar Dollar am Tag …«
Als er näher kam, erkannte Chang den Mann. Es war Samuel Thompson, einer der Häftlinge aus dem Arbeitstrupp, den Chang beaufsichtigte. Ein unauffälliger Zeitgenosse.
»… sich organisieren. Anderswo ist das schon passiert, ich weiß von einem Gefängnis in …«
»Red lauter, Thompson, wir anderen wollen auch was von deinem kommunistischen Geschwafel mitkriegen!«
Die schneidende Stimme ließ die Köpfe aller Häftlinge im Speisesaal herumfahren. Ein Mann war vom Tisch neben Thompsons Gruppe aufgestanden und hatte sich mit verschränkten Armen neben dem Hünen aufgebaut. Calvin Murray. Auch diesen Häftling kannte Chang aus seinem Arbeitstrupp.
»Was willst du, Murray?«, fragte Thompson.
»Ich hab mich nur gefragt, warum du flüsterst. Wenn du was zu sagen hast, dann sag’s doch laut und deutlich, dann haben alle was davon!« Wie um seine Worte zu unterstreichen, wurde Murrays eigene Stimme mit jedem Wort lauter.
Alle anderen Gespräche im Speisesaal verstummten. Die Häftlinge warteten gespannt, wie Thompson auf die Provokation reagieren würde.
Chang zögerte. Sollte er sich zwischen die beiden Männer stellen? Aber manchmal führte erst ein vorschnelles Eingreifen eines Aufsehers zur Eskalation.
Er sah sich nach seinem Kollegen um, der mit ihm die Aufsicht führte. Corrections Officer Carlo Hernández saß auf einem Stuhl neben der Tür, sein Kinn lag auf seiner Brust. Offenbar war er eingenickt.
Hernández gehörte zum Inventar des Eric M. Taylor Centers, und das ließ er Neulinge wie Chang spüren. Von Anfang an hatte er deutlich gemacht, dass er lange genug hier arbeitete, um eine ruhige Kugel schieben zu dürfen, während Chang sich seine Sporen erst verdienen musste. Von Hernández hatte Chang keine Hilfe zu erwarten.
Als er seinen Blick wieder den Häftlingen zuwandte, war Thompson aufgestanden. Er überragte Murray um fast zwei Köpfe. Doch Murray war ein ziemlicher Muskelprotz. Chang wusste nicht, auf welchen der Männer er in einem Kampf sein Geld setzen würde.
»Kümmere dich um deinen eigenen Kram«, sagte Thompson, immer noch so ruhig, als spräche er über das Wetter. »Niemand hier redet mit dir.«
Murray reckte seine Brust hervor. »Ach ja? Na, vielleicht solltest du aber mit mir reden, du scheiß Kommunistenschwein!«
Chang umfasste seinen Schlagstock. Die Luft zwischen den beiden Häftlingen schien zu vibrieren. Und dann wandte sich Thompson ab, setzte sich wieder hin und löffelte seine Suppe.
Murray blieb noch einen Moment mit geballten Fäusten stehen, sichtlich perplex. Dann wandte er sich mit einem Schnauben ab, und Chang atmete auf.
Doch plötzlich erklang wieder Murrays Stimme.
»Alles klar, Thompson. Aber sag mir Bescheid, wofür du als Nächstes demonstrieren willst. Mehr Rechte für Homos? Hier hast du jedenfalls schon mal ’ne milde Gabe für warme Jungs.«
Mit diesen Worten griff Calvin Murray nach seiner vollen Suppenschüssel und warf sie Samuel Thompson an den Kopf.
Im Speisesaal brach die Hölle los. Überall sprangen Häftlinge auf, warfen ihre Stühle um und schrien lauthals durcheinander. Thompson stürzte sich auf Murray. Binnen Sekunden lagen die beiden Männer, völlig ineinander verkeilt, auf dem Boden, ein menschliches Knäuel aus schlagenden Fäusten und tretenden Füßen.
»Auseinander!«, rief Chang, doch niemand beachtete ihn.
Die anderen Häftlinge standen um die beiden Kämpfenden herum und feuerten sie lautstark an. Ein kleiner Glatzkopf versetzte Murray seinerseits einen Tritt, woraufhin sich ein tätowierter Latino auf ihn stürzte.
»Sofort auseinander!«, schrie Chang. »Das wird Konsequenzen haben!«
Wieder verhallte sein Appell ungehört.
Chang sah sich hektisch nach Hernández um. Sein Kollege war aufgewacht, doch er saß wie festgewachsen auf seinem Stuhl und schaute mit großen Augen der Schlägerei zu.
Der Lärm im Speiseraum war mittlerweile ohrenbetäubend. Immer mehr Gefangene mischten in der Schlägerei mit, die mit jeder Sekunde unübersichtlicher wurde.
Chang lief zu Hernández. »Steh auf! Wir müssen was machen, die Sache gerät außer Kontrolle.«
Hernández schüttelte langsam den Kopf. »Das sind viel zu viele. Die machen uns alle, wenn wir uns einmischen.«
»Dann rufe ich jetzt Verstärkung.« Chang griff nach dem Funkgerät an seinem Gürtel. »Prügelei im Essensraum. Wir brauchen hier mindestens fünf Officers zur Verstärkung.«
Er wartete die Antwort des Dienstkoordinators nicht ab, denn als er wieder zu den Gefangenen hinübersah, stockte ihm der Atem.
Ein muskulöser Weißer mit schulterlangen Haaren und muskelbepackten Armen hielt einen der Stühle über seinem Kopf und ließ ihn auf den Kopf eines am Boden liegenden Schwarzen niedersausen. Der Mann gab nur ein ersticktes Stöhnen von sich, als ihn das Stuhlbein an der Schläfe traf.
Chang dachte nicht nach. Mit wenigen Sätzen war er bei dem Pulk und hielt den Stuhl fest, bevor der Häftling ihn seinem Gegner erneut auf den Kopf donnern konnte.
»Verdammte Scheiße«, brüllte der Angreifer, ließ den Stuhl los und starrte Chang hasserfüllt an.
In diesem Moment wurde Chang heftig nach vorne geschubst. Er stolperte und fand sich mitten im Zentrum der Schlägerei wieder. Links und rechts von seinem Kopf flogen Fäuste. Er hörte Keuchen und erstickte Schreie.
Panisch schaute er sich um. Wo war Hernández? Wo blieb die Verstärkung? Und wie zur Hölle sollte er aus diesem Tumult wieder herauskommen?
Er hob seinen Schlagstock, als er plötzlich spürte, wie sich von hinten ein Arm um seine Brust schloss. Chang wand sich, aber er entkam dem Griff des Unbekannten nicht.
Und dann spürte er etwas Kaltes an seinem Hals. Etwas Scharfes. Bevor er verstanden hatte, was passierte, löschte ein heißer Schmerz alle anderen Empfindungen aus.
Kevin Chang wollte schreien. Doch nur ein feuchtes Gurgeln entrann seiner aufgeschlitzten Kehle.
Das Licht war viel zu hell. Yvette Connolly öffnete die Augen und kniff sie sofort wieder zusammen. Grelle Deckenleuchten strahlten unbarmherzig auf sie hinunter.
Sie wandte den Kopf ab und schrie leise auf, als Schmerz sie durchzuckte. An ihrem Hinterkopf ertastete sie eine dicke Beule.
»Wie fühlen Sie sich, Mrs. Connolly?«
Wem gehörte diese nasale Stimme mit dem britischen Akzent? Wo war sie? Panik erfasste sie. Mit einem Ruck setzte sich Yvette auf.
»Machen Sie langsam«, sagte der Brite.
Yvette sah sich um. Der grell beleuchtete Raum war mit altmodischen Eichenschränken eingerichtet. Sie lag auf einer Liege, ähnlich wie in einer Arztpraxis. Vor ihr stand ein Mann mit ordentlich gescheiteltem Haar, gepflegtem Schnurrbart und besorgtem Blick.
»Sie waren zwanzig Minuten lang bewusstlos«, sagte er. »Wenn Sie zu schnell aufstehen, könnten Sie wieder ohnmächtig werden.«
Mit einem Schlag waren die Erinnerungen zurück. Und Yvette wünschte, sie könnte sie sofort wieder vergessen. Der Mann vor ihr war der Bestatter, Graham Landon. Als Yvette bewusst wurde, wo sie hier liegen musste, wurde ihr übel.
»Ist das etwa … Liegen hier normalerweise …«
Landon sah betreten zu Boden. »Ja, hier bahre ich die Leichen auf. Wo hätte ich Sie denn sonst hinlegen sollen? Ich konnte Sie schließlich nicht auf dem Boden des Ausstellungsraums liegen lassen.«
Yvette sprang auf, musste sich aber sofort wieder auf die Liege setzen, weil sich alles um sie herum drehte.
Der Ausstellungsraum des Castle Hill Funeral Homes. Das war das Letzte, woran sie sich erinnerte. Dort hatte sie gestanden, inmitten von Särgen, die für die interessierte Kundschaft ausgestellt waren, als Graham Landon ihr eröffnet hatte, dass er soeben den Sarg ihres Sohnes geöffnet hatte. Und dass der Sarg leer war.
»Wo ist …«, setzte Yvette Connolly an, aber sie brachte seinen Namen nicht über die Lippen.
Dabei hatte sie ihn in den letzten Wochen und Monaten so oft gesagt.
»Kennen Sie diesen jungen Mann?«, hatte sie gefragt. »Er heißt Jimmy. Er ist mein Sohn, und ich muss ihn finden.«
Sie hatte sein Foto unzähligen Menschen in New York City gezeigt: Polizisten, Ehrenamtlichen in Suppenküchen, Sozialarbeitern in Einrichtungen für Drogensüchtige und Obdachlosen in Parks. Yvette wusste, dass Jimmy vermutlich nicht mehr aussah wie auf dem Bild: Darauf hatte er runde Wangen und strahlende Augen, ein breites Grinsen. Zwei Jahre auf den Straßen von New York mit täglichen Dosen dieses Teufelszeugs, das er sich durch die Venen jagte, hatten ihm all das sicherlich geraubt.
Aber es gab Dinge, die konnten die Drogen nicht verändern, und auch die sah man auf dem Foto: die goldenen Sprenkel in Jimmys braunen Augen. Der Knick in seiner Nase, die er sich gebrochen hatte, als er als Kind vom Küchentresen gesprungen war. Die Zahnlücke, die er in seiner Jugend verteufelt hatte, die zu richten aber mehr Geld gekostet hätte, als Yvette als alleinerziehende Mutter von drei Kindern übrig gehabt hatte.
Yvette Connolly hatte Jimmys Foto so lange herumgezeigt, bis jemand ihren jüngsten Sohn erkannt hatte: Brandon Goldstein, ein Cop in der Bronx.
»Ich glaube, ich habe ihn schon mal gesehen«, hatte er gesagt, als Yvette ihm das mittlerweile zerknickte Foto reichte, und sie traurig angesehen. »Beten Sie, dass ich mich irre.«
Und dann hatte Officer Goldstein Yvette das Foto gezeigt, das er von Jimmy besaß. Es gehörte zu einer Kartei von Menschen, die in New York City gestorben und nie identifiziert worden waren.
Yvette Connolly hatte die dazugehörige Akte gelesen.
Fundort der Leiche: Soundview Park, Bronx, New York City.
Todesursache: Atemstillstand, ausgelöst durch eine Überdosis Heroin.
Todeszeitpunkt: vor elf Monaten.
Yvette Connolly hatte nicht geweint, als sie das Bild gesehen und die Akte gelesen hatte. Alles, was sie gefühlt hatte, war Scham. Ihr Sohn war alleine gestorben, in einem Park fernab seiner Heimatstadt Atlanta, weil sie ihn vor zwei Jahren vor die Wahl gestellt hatte: Entweder du hörst auf mit dem Teufelszeug, oder du lässt dich hier nie mehr blicken.
Yvettes Scham war ins Unermessliche gestiegen, als Officer Goldstein ihr mit sanfter Stimme erzählt hatte, wo sich Jimmys Leiche nun befand: auf einem Friedhof für Menschen, die niemand kannte oder wollte. Auf einer Insel, die an den meisten Tagen im Jahr nur von Verbrechern betreten wurde. In einem schmucklosen Sarg in einem riesigen Grab zusammen mit Dutzenden Unbekannten.
Auf Hart Island.
Yvette Connolly hatte an diesem Mittwochabend in der Polizeiwache in der Bronx beschlossen, dass sie nur noch eins für ihren Sohn tun konnte: ihn von diesem Ort wegzuholen und ihm das Begräbnis zu geben, das er verdiente.
Dafür hatte Yvette einen monatelangen Krieg mit der Stadt New York geführt. Einen Krieg der Briefe und Anträge und Formulare. Am Ende hatte sie gesiegt. Jimmys Leiche war aus dem anonymen Massengrab geholt worden. Der schmucklose Kiefernsarg, eher eine hastig zusammengezimmerte Holzkiste, war von der Insel ins Castle Hill Funeral Home in der Bronx gebracht worden.
Der Inhaber Graham Landon hatte sich bereiterklärt, Jimmys Leiche in einen schlichten, aber doch würdevollen Sarg aus polierter Eiche umzubetten. Dieser Sarg sollte nach Atlanta überführt und dort auf demselben Friedhof bestattet werden, wo schon Jimmys Großeltern lagen, und natürlich sein viel zu früh verstorbener Vater.
Als Graham Landon sie in ihrem New Yorker Hotel angerufen und sie um ein persönliches Gespräch gebeten hatte, hatte Yvette vermutet, es gehe ums Geld. Sie hatte damit gerechnet, dass der Bestatter einen Aufschlag verlangen würde, weil das Umbetten einer bereits im Verwesen begriffenen Leiche eine Zumutung war.
Stattdessen hatte Landon vor ihr gestanden und an seinem Schnurrbart gezupft.
»Mrs. Connolly, ich kann mir nicht erklären, wie das möglich ist, aber der Sarg Ihres Sohnes ist leer«, hatte er gesagt.
Jetzt versuchte Yvette Connolly, ihre Gedanken zu sammeln und wieder auf das Hier und Jetzt zu fokussieren.
»Mister Landon, wo ist die Leiche meines Jungen?«
Graham Landon zupfte erneut an seinem Schnurrbart. »Ich weiß, es ist verrückt. Aber die Leiche befand sich nicht in dem Sarg. Ich weiß nicht, wo sie ist.«
»Wessen Leiche lag dann darin?«
»Das ist es ja«, gab Landon zurück. »Gar keine.«
»Und das soll ich Ihnen glauben?« Yvettes Stimme wurde schrill. »Wieso hat denn beim Transport niemand gemerkt, dass der Sarg viel zu leicht ist?«
Landon lockerte seine Krawatte. Für einen Moment befürchtete Yvette, dass als Nächstes der Funeral Director in Ohnmacht fallen würde.
»Nun, wenn ich sage, dass der Sarg leer war, meine ich nicht, dass er völlig leer war«, sagte Landon gedehnt. »Es lag keine Leiche darin. Sondern Erde.«
»Könnte es sich dabei nicht um … um ein Produkt der Verwesung handeln?«
»Völlig ausgeschlossen. Nicht nach elf Monaten. Und selbst nach deutlich längerer Zeit wären noch menschliche Überreste zu erkennen. Der Sarg ist mit schlichtem Humus gefüllt.«
Yvette spürte wieder die Enge in der Brust, die ihr auch vorhin den Atem genommen hatte. Sie atmete tief durch, bevor sie weitersprach.
»Wenn das so ist, Mister Landon«, sagte sie. »Wo ist dann mein Sohn?«
»Ein bisschen gruselig ist es schon.« Phil stellte seine Kaffeetasse auf seinen Schreibtisch und schüttelte sich.
»Ich wusste gar nicht, dass du so ein Angsthase bist«, zog ich meinen Partner auf.
»Angsthase? Du musst doch zugeben, dass die Geschichte unheimlich klingt. Oder lässt dich das völlig kalt?«
»Natürlich nicht«, gab ich zu.
Die Geschichte, die unser Chef, Assistant Director in Charge John D. High, meinem Partner und mir heute Morgen erzählt hatte, zählte tatsächlich zum Merkwürdigsten, was ich seit Langem gehört hatte. Denn es ging um eine verschwundene Leiche.
Ich betrachtete das Foto, das den jungen Mann zu Lebzeiten zeigte. Ein Anfang zwanzigjähriger Afroamerikaner, etwas übergewichtig, mit Pausbacken und leichtem Doppelkinn. Er hatte Dreadlocks, eine auffällige Zahnlücke und sanfte Augen. Sein Name war Jimmy Connolly. Wir würden gleich seine Mutter treffen, die sich an das FBI gewandt hatte, um herauszufinden, wo Jimmys Leiche war.
Jimmy Connolly kam aus Atlanta und war heroinabhängig gewesen. Vor elf Monaten war er im Soundview Park in der Bronx an einer Überdosis gestorben. Weil seine Leiche nicht identifiziert werden konnte, wurde er als anonymer Toter auf Hart Island begraben, dem Armenfriedhof von New York City. Dort ließ die Stadt nicht nur alle unbekannten Toten, sondern auch diejenigen begraben, deren Angehörige kein Geld für ein Begräbnis hatten. Ebenso waren Tausende totgeborene Kinder auf der kleinen Insel im Long Island Sound vor der Küste der Bronx beigesetzt.
»Sind wir denn sicher, dass der richtige Sarg ausgegraben wurde?«, fragte Phil. »Schließlich werden die Toten auf Hart Island in Massengräbern beerdigt.«
»Das stimmt, aber die Massengräber und die Särge darin sind nummeriert, und es werden Begräbnislisten geführt«, sagte ich. »Nachdem Yvette Connolly ihren Sohn in der Kartei des NYPD als einen der unbekannten Toten identifiziert hatte, haben die Kollegen die Akte mit der Begräbnisliste von Hart Island abgeglichen. So fanden sie heraus, in welchem Massengrab Jimmy bestattet wurde. Yvette Connolly hat dann die Exhumierung beantragt.«
»Findest du es nicht morbide, dass Yvette Connolly die Leiche ihres Sohnes wieder hat ausgegraben lassen?«, fragte Phil. »Sollte man die Toten nicht ruhen lassen?«