1,99 €
Ich und die Urban Explorer
Phil und ich ermittelten in einem skurrilen Fall. Der Wall-Street-Banker Timothy Steele war mit einer Waffe erschossen worden, die in den späten 80ern für verschiedene Verbrechen eines Mafia-Clans benutzt worden und dann verschwunden war. Wo kam sie auf einmal wieder her? Die Mitglieder der Mafia-Familie, der sie gehört hatte, war bei einer Auseinandersetzung vollständig ausgelöscht worden. Es hatte einen regelrechten Krieg auf dem Gelände einer Villa gegeben!
Als wir uns den Schauplatz einmal aus der Nähe anschauten, staunten wir nicht schlecht: Erst kürzlich war hier ein sogenannter "Urban Explorer" umgekommen. Ein junger Mann, der zu einer Gruppe von Aktivisten gehörte, die verlassene Immobilien erkunden. Wie passte das alles zusammen?
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 145
Veröffentlichungsjahr: 2019
Cover
Impressum
Ich und die Urban Explorer
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelfoto: miodrag ignjatovic/iStockphoto
Datenkonvertierung eBook: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-8166-5
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Ich und die Urban Explorer
Sie bekam keine Luft mehr! Und sie geriet ins Rutschen!
Panik erfasste Beverly. Verzweifelt hielt sie sich an der rostigen Stahlarmierung fest. Vor ihr lag ein schwarzer Schacht, der steil in die Tiefe führte. Kalte, modrige Luft drang hervor.
»Beverly, was siehst du dort unten?, rief eine Stimme weit über ihr.
»Nichts«, ächzte sie. »Gar nichts. »Ich geh nicht weiter … Das ist zu gefährlich … Ich …«
Sie spürte, wie sie an die raue Wand stieß. Im selben Moment bröckelte neben ihr morsches Mauerwerk weg. Als hätte sie eine riesige Hand gepackt, zog es sie hinab.
Und dann sah und hörte sie nichts mehr.
Nieselregen fiel auf die Windschutzscheibe meines Jaguars, als wir uns an diesem Montagmorgen durch den Verkehr von der Upper West Side runter zur Federal Plaza kämpften.
Phil, der wie immer unterwegs zugestiegen war, blickte stumpf vor sich hin. Wahrscheinlich steckte ihm noch die Müdigkeit vom Wochenende in den Knochen.
»Keine Sorge, Partner«, sagte ich. »Wenn wir im Büro sind, gibt’s erst mal eine Tasse von Helens berühmtem Kaffee.«
»Ich glaube, ich könnte gleich eine ganze Kanne vertragen«, brummte Phil.
Über die Fahrzeugdächer hinweg sah ich die nächste Ampel gut hundert Yards vor uns. Seit sie das letzte Mal auf Grün gesprungen war, hatten wir gerade mal fünf oder sechs Wagenlängen in Richtung des Javits Federal Building geschafft, wo sich die Büros des New Yorker FBI befanden.
Phil gähnte herzhaft.
»Arbeit hilft auch gegen einen müden Kopf«, bemerkte ich sarkastisch und deutete auf das Tablet, das inklusive drahtloser Netzverbindung zur Ausstattung des Fahrzeugs gehörte.
»Ich reiß mich ja schon zusammen«, erklärte mein Partner kleinlaut und nahm den flachen Computer in die Hand.
Wie durch ein Wunder setzte sich im selben Moment die Schlange vor uns in Bewegung, und wir kamen immerhin bis zum nächsten Block.
Aus den Augenwinkeln verfolgte ich, wie Phil die Meldungen der letzten vierundzwanzig Stunden durchsah, die vor allem vom New York Police Department Eingang in das interne Polizeinetz gefunden hatten. Für die waren wir zwar nicht unbedingt zuständig, aber es war trotzdem wichtig zu wissen, was im Big Apple so vor sich ging.
Die Überschriften betrafen das Übliche: Festnahmen kleiner Drogenbanden, Überfälle auf Tankstellen oder Läden, vor allem in den Außenbezirken. In der Bronx hatte ein Familienvater auf seine Frau geschossen und war auf der Flucht vor der Polizei gestellt worden. Zum Glück war das Opfer nur leicht verletzt worden.
Phil wischte immer weiter. Schließlich blieb er bei einer Meldung hängen.
»Ein Mord auf offener Straße«, sagte er. »Gestern am frühen Abend. Das Opfer ist ein Banker namens Timothy Steele. Er wurde auf dem Heimweg erschossen, als er gerade aus einem Taxi gestiegen war. Kurz bevor er das Haus betreten konnte, in dem er wohnt.«
Mir war klar, warum ihn gerade diese Meldung interessierte. Morde im Bankenmilieu konnten immer auch etwas mit unserer Spezialaufgabe in der Task Force T. A. C. T. I. C. S. zu tun haben. Wenn es um Banker ging, ging es um Geld. Wenn es um Geld ging, ging es unter Umständen um organisiertes Verbrechen. Und dessen Bekämpfung war unsere Aufgabe. Deswegen schrillten in diesem Moment bei Phil und mir innerlich die Alarmglocken.
»Gibt es eine Verbindung zum Mob?«, fragte ich.
Phil schüttelte den Kopf. »Das ist alles noch nicht klar. Allerdings muss es sich um eine gezielte Tötung gehandelt haben. Der oder die Täter hatten sich in einem Wagen verschanzt und auf das Opfer gewartet.«
Wieder stockte der Verkehr. Phil suchte weitere Informationen. Ich verlor langsam die Geduld und aktivierte mein Handy.
»Was machst du?«, fragte Phil.
»Ich kontaktiere Steve. Wenn uns der Fall betrifft, kann er uns das gleich erklären, und wir brauchen uns vielleicht gar nicht bis ins Büro zu quälen, sondern können gleich ermitteln.«
Steve Dillaggio war Special Agent in Charge. Sein Job bestand unter anderem darin, sich mit den Kollegen vom NYPD abzustimmen und zu erkennen, welche Kriminalfälle in den Aufgabenbereich des FBI fielen. Dabei stand er in Kontakt mit unserem direkten Vorgesetzten Mr. High, unter dessen Führung wir dann tätig wurden.
»Ich wollte euch gerade anrufen«, sagte Steve, der es offenbar schon ins Büro geschafft hatte. »Ich komme gerade von einer Besprechung mit Mister High.«
»Der Steele-Fall?«, fragte ich.
Phil hörte ebenfalls zu, denn ich hatte das Handy auf Laut gestellt.
»Ich muss zugeben, ihr seid auf Zack«, sagte Steve. »Wenn ihr nicht ohnehin so großartige Kollegen wärt, müsste ich beim Chef gleich mal ein gutes Wort für euch einlegen. Aber da ihr das nicht nötig habt, lasse ich es.«
Er machte eine kurze Pause, in der das typische Klackern einer Kaffeetasse zu hören war, die gerade abgestellt wurde.
Ich blickte zu Phil, dessen Gesichtsausdruck pure Betrübnis zeigte. Helens Kaffee!
»Was den Steele-Fall betrifft …«, fuhr Steve fort. »Da hat uns ein Kollege vom NYPD Crime Lab über eine interessante Erkenntnis informiert.«
»Wir sind ganz Ohr«, rief Phil. »Schmeckt der Kaffee?«
»Wunderbar«, schwärmte Steve übertrieben. »Genau das Richtige an so einem frühen Montagmorgen.«
Er wurde wieder ernst.
»Also … wie ihr wisst, werden bei Gewaltverbrechen immer wieder Spuren wie Patronenhülsen mit den Daten abgeglichen, die wir aus den vielen Auseinandersetzungen aus dem Gangland gewinnen. Damit wir mehr Querverbindungen erhalten«, führte er überflüssigerweise aus.
Natürlich wussten wir das. Als die Task Force gegründet worden war, hatte New York bei der Aufklärung von organisierter Kriminalität einiges aufzuholen gehabt. So nutzten wir alle Informationen, die es gab.
»Steele wurde mit einer Beretta 92SB-F erschossen. Das ist eine Waffe, die ab den 80er-Jahren auch unter der Bezeichnung M9 bei der US Army Verwendung fand.«
»Willst du uns einen Vortrag über die Geschichte von Handfeuerwaffen halten?«, rief Phil. »Es reicht doch, wenn du uns den Kaffee wegtrinkst.«
»Das Geschoss aus Steeles Leiche stammt wohl aus so einer Waffe«, fuhr Steve unbeirrt fort. »Und nicht nur das. Die Jungs aus dem Labor haben rausgekriegt, dass diese ganz konkrete Pistole schon mal eingesetzt wurde. Und zwar von Soldaten der Mariani-Familie.«
»Wann war das?«, fragte ich.
»Ende der 80er. Den Clan gibt es nicht mehr. Die Waffe ist im Zuge der Entwicklungen von damals verschwunden.«
»Und jetzt wieder aufgetaucht«, ergänzte ich. »Mit tödlicher Wirkung.«
»Ganz recht, Jerry. Ich schicke euch alle Untersuchungen elektronisch rüber. Einen schönen Gruß von Mister High. Jetzt seid ihr am Zug. Der Fall ist offiziell eine Aufgabe für die Task Force.«
Steeles Zuhause befand sich auf der 5th Avenue. Allerdings nicht in dem touristisch überlaufenen Abschnitt in Midtown, sondern viel weiter im Süden, fast am Washington Park und in unmittelbarer Nähe der presbyterianischen Kirche, die sich, umgeben von einer kleinen eingezäunten Rasenfläche, zwischen den Hochhäusern duckte.
Unterwegs hatte mich Phil über weitere Einzelheiten aufgeklärt. Steele war dreiundvierzig Jahre alt geworden. Er war verheiratet gewesen, aber kinderlos. Seine Frau Felicity war dreizehn Jahre jünger als er.
Wir parkten vor dem Zaun, stiegen aus und sahen zu dem nächsten Gebäudeklotz hinüber, der etwa ein Dutzend Stockwerke besaß. Vor dem Eingang hatten sich, trotz der Nässe, noch Reste der polizeilichen Markierungen erhalten.
»Timothy Steele ist gestern Abend mit dem Taxi angekommen«, fasste Phil den Polizeibericht weiter zusammen. »Der Fahrer hielt etwa zwanzig Yards vom Eingang entfernt. Steele bezahlte ihn, stieg aus, und der Fahrer fuhr weg. Sekunden später hörte er den Schuss, stoppte und lief zurück. Steele lag vor dem Eingang.«
Er deutete nach vorne.
»Da, wo jetzt die Markierungen sind«, erklärte er. »Der Taxifahrer sah, wie sich neben der Kirche ein Wagen entfernte. Zum Wagentyp oder zum Kennzeichen konnte er keine Angaben machen. Er hat dann sofort den Notruf gewählt.«
Ich sah mich um. »Überwachungskameras?«, fragte ich.
Phil schüttelte den Kopf. »Nur auf der anderen Seite der Kirche und weiter unten Richtung Park.«
»Dann halten wir uns mal an die Ehefrau«, sagte ich.
Phil steckte das Tablet in die Tasche, und gemeinsam betraten wir das Haus. Ein Doorman mit Schirmmütze und einem Namensschild, auf dem »Adam« stand, erwartete uns hinter einem hölzernen Tresen.
Wir zeigten unsere Ausweise und trugen unser Anliegen vor. Nach einem kurzen Anruf erklärte uns Adam, dass uns Mrs. Steele erwarte.
»Zwölfte Etage«, sagte er.
»Danke«, sagte ich. »Hatten Sie gestern Abend auch Dienst? Als die Sache mit Mister Steele passierte?«
»Ja, Sir. Allerdings habe ich kaum etwas mitbekommen.«
»Kaum etwas oder nichts?«, hakte ich nach.
»Na ja, ich habe den Schuss gehört. Ich bin aufgesprungen und hab nach draußen gesehen. Da lag Mr. Steele, und ein Mann war neben ihm. Wie sich später herausstellte, war es der Taxifahrer, der ihn nach Hause gebracht hatte. Das habe ich Ihren Kollegen aber schon gesagt.«
»Alles klar«, sagte ich. »Reine Routine, dass wir Sie noch mal befragen.«
Der Lift brachte uns ins oberste Stockwerk. Wir waren gerade aus der Kabine gestiegen, da öffnete sich gleich gegenüber eine Wohnungstür mit Videoüberwachung.
Mrs. Steele stand vor uns. Ihr dunkles Haar rahmte ihr Gesicht ein wie bei einer Madonna. Man sah sofort, dass sie die Ereignisse stark mitgenommen hatten. Ein gequälter Ausdruck ließ sie deutlich älter als dreißig erscheinen. Vielleicht trug dazu auch ihr dunkles, hochgeschlossene Kleid bei.
»Kommen Sie bitte herein«, sagte sie, nachdem wir uns kurz ausgewiesen und ihr unser Beileid ausgesprochen hatten.
In der Wohnung überkam einen das Frösteln. Der Boden bestand aus weißen, glänzenden Fliesen. An den blendend weißen Wänden hingen abstrakte Kunstwerke. Der Maler hielt wenig von Farbe, er hatte bei seinen Strichen, Quadraten, Kringeln und all den anderen Gebilden nur Schwarz, Weiß und die verschiedensten Grautöne verwendet. Die Möbel in dem großen Wohnzimmer wurden ebenfalls von weißen Flächen dominiert, dazu gab es hin und wieder chromfarbene Griffe oder Armlehnen.
Immerhin bot das Fenster, das bis zum Boden reichte und vor dem Felicity Steele nachdenklich stehen geblieben war, einen prächtigen Ausblick. Die Sicht ging Richtung Westen nach New Jersey, wo die fernen Hochhäuser im Grau des regnerischen Himmels verschwammen.
»Was kann ich Ihnen sagen, was ich nicht schon Ihren Kollegen vom NYPD gesagt habe?«, fragte sie, ohne uns anzusehen.
Ich erklärte ihr, dass wir eine neue Erkenntnis hinsichtlich der Tatwaffe hatten. Wahrscheinlich war es in diesem Fall das Beste, mit unserem weiteren Verdacht gleich zur Sache zu kommen.
»Die Waffe stammt aus den Beständen der Mafia«, erklärte ich. »Und da …«
Mit einer schnellen Bewegung drehte sie sich um.
»Und da suchen Sie jetzt nach Verbindungen meines Mannes?«, unterbrach sie mich. »Zu Verbrechern?«
»Mrs. Steele«, sagte ich und machte eine beschwichtigende Handbewegung. »Das soll ja nicht heißen, dass wir Ihren Mann wegen irgendetwas verdächtigen. Er ist und bleibt das Opfer. Aber es muss ja einen Grund geben, weshalb er zum Opfer wurde. Vielleicht hat ihn jemand erpresst? Vielleicht ist er einem Verbrechen auf die Spur gekommen, wollte es anzeigen und jemand hat das verhindern wollen?«
»Ich weiß von so etwas nichts«, sagte sie.
»Was für eine Art von Banker war Ihr Mann eigentlich?«, fragte Phil. »Welche Geschäfte hat er gemacht? Wir wissen bereits, dass er nicht fest angestellt war, sondern auf Provisionsbasis gearbeitet hat.«
»Ich verstehe davon nicht viel, Agent Decker«, sagte sie. »Ich weiß nur, dass es seit etwa einem Jahr bei seinen Geschäften vor allem um Immobilien ging.«
»Wo kam er denn gestern her?«, hakte ich ein. »War es ein Geschäftstermin?«
»Auch das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich selbst war auch nicht zu Hause.«
»Und wo waren Sie?«, fragte ich.
»Bei einer Versammlung unseres Fördervereins, der junge Künstler unterstützt. Ich bin die Vorsitzende.« Sie machte eine unbestimmte Bewegung in Richtung der Gemälde an der Wand. »Ich fürchte, Sie haben sich umsonst herbemüht, meine Herren.«
In diesem Moment brummte mein Handy in der Tasche. Ich murmelte eine Entschuldigung, ging ein paar Schritte weg und meldete mich. Phil unterhielt sich weiter mit Mrs. Steele.
Am Telefon war Zeerookah. Er hatte zusammen mit dem ganzen Team, das unter anderem noch aus den Agents Joe Brandenburg, Les Bedell und unserem IT-Spezialisten Dr. Ben Bruckner bestand, im Field Office weitere Ermittlungen aufgenommen.
»Wo seid ihr gerade?«, fragte er.
Ich informierte ihn knapp.
»Habt ihr Informationen über Timothy Steeles Kontakte und die geschäftlichen Verbindungen erhalten?«
»Negativ«, sagte ich.
»Keine Sorge, Jerry. In diesem Moment zerpflückt unser Computergenie Ben Steeles Daten. Das wird uns weiterhelfen. Davon abgesehen, haben wir noch was anderes.«
»Was denn?«, fragte ich.
»Das sagen wir euch, wenn ihr hier seid. Die Sache hat doch größere Ausmaße als angenommen. Befehl von Mister High: Schwingt euch in den Jaguar, und kommt sofort ins Field Office.«
»Die Frau verschweigt uns doch was«, schimpfte Phil, als wir wieder im Wagen saßen. »Als du telefoniert hast, habe ich sie gefragt, ob ihr Mann nicht irgendwelche Feinde hatte. Rate mal, was sie gesagt hat.«
»Dass ihr Mann keine Feinde hatte?«
»Ganz genau.«
Ich schaltete das Warnlicht und die Sirene ein. Wir waren jetzt im Einsatz und hatten es eilig. Unsere New Yorker Mitbürger machten uns bereitwillig Platz, und so erreichten wir das Javits Federal Building innerhalb von ein paar Minuten. Im dreiundzwanzigsten Stock, in dem sich die FBI-Büros befanden, war die Stimmung ziemlich angespannt.
Helen, Mr. Highs Sekretärin, begrüßte uns freundlich und erklärte, dass ein sofortiges Meeting anberaumt sei. In einem Besprechungsraum, der mit großen Monitoren und modernster Computertechnik ausgestattet war, saß bereits das ganze Team der Task Force zusammen.
Der Chef hielt sich bei der Begrüßung kurz und erteilte Zeerookah das Wort, der, wie immer, inmitten der eher lässig gekleideten Agents wie ein Dressman wirkte. Schuhe und Anzug waren maßgefertigt, und auf dem blendend weißen Hemd erstrahlte eine farbige Krawatte, deren Muster von einem Nobeldesigner stammte. In diesem Outfit wirkte sein indianisches Gesicht besonders attraktiv. Das hatten wir bei so manchem Einsatz feststellen können, als Zeuginnen und andere weibliche Beteiligte geradezu dahingeschmolzen waren, während sie mit dem Abkömmling des Volkes der Cherokee gesprochen hatten.
Mr. High erteilte ihm das Wort. Zeery stand auf und kam gleich zur Sache.
»Ich habe die Geschichte der Beretta, mit der Timothy Steele erschossen wurde, weiterverfolgt«, sagte er. »Dass sie Ende der 80er-Jahre im Besitz des Mariani-Clans war, wissen wir ja schon. Aber nun gibt es noch etwas.«
Er bediente eine drahtlose Tastatur, und auf dem großen Monitor an der Wand, der mindestens siebzig Zoll in der Diagonale maß, erschien das Bild einer hübschen Villa. Sie war von Rasen, Büschen und Bäumen umgeben. Das Foto war offensichtlich eine Luftaufnahme. Es sah aus wie aus einem Immobilienprospekt.
»Das ist die Villa des Mariani-Clans auf Staten Island«, erläuterte Zeery. »Das Bild entstand kurz nach der Fertigstellung 1981. Nur acht Jahre später hat es auf dem Gelände eine Schießerei gegeben, die einem kleinen Bürgerkrieg ähnelte. Ein wahres Massaker.«
Er wechselte das Bild. Nun sahen wir Zeitungsausschnitte von damals, ebenfalls mit Fotos. Allerdings waren sie schwarz-weiß und bei Weitem nicht mehr so idyllisch. Auf einem der Bilder waren Leichen zu sehen, die auf der Terrasse lagen und die man notdürftig mit Planen abgedeckt hatte.
»Ein anderer Clan hat sich mit den Marianis diesen Krieg geliefert«, fuhr Zeery fort. »Die Innocenti.«
Unser Kollege Joe Brandenburg begann zu lachen.
»Innocenti?«, rief er ungläubig. »Heißen die wirklich so?«
Wir konnten uns alle ein Grinsen nicht verkneifen. Innocenti war Italienisch und hieß »die Unschuldigen.«
»Sie hießen wirklich so«, sagte Zeery, der ernst geblieben war. »Bei dem Kampf wurde die Mariani-Familie komplett ausgelöscht. Die Mitglieder der Innocenti kamen entweder ins Gefängnis oder gingen nach Europa.«
Phil meldete sich. »Warum berichtest du uns das?«, wollte er wissen. »Kam damals auch die geheimnisvolle Pistole zum Einsatz?«
»Nicht nur das, Phil«, fuhr Zeery fort. »Es hat auf dem Gelände der Villa vor einigen Tagen einen mysteriösen Vorfall gegeben.«
»Die Villa steht also noch?«, fragte ich.
»Sie steht noch«, bestätigte Zeery. »Aber sie ist in einem extrem schlechten Zustand. Schaut hier.«
Wieder wechselte das Bild. Was wir sahen, war wieder eine Luftaufnahme. Doch die glanzvolle Villa des Mafiaclans war nur noch eine Ruine, die die Pflanzen des wildwuchernden Parks fast verschlungen hatten. Inmitten eines Urwalds von Bäumen und Sträuchern ragte alte Bebauung in die Höhe. Wir sahen graue Mauern, zerbrochene Schornsteine, verrostete Balkongeländer, leere Fensterhöhlen.
»Kein schöner Anblick«, brummte Joe Brandenburg. »Was für einen Vorfall meinst du? Hat es einen zweiten Mord gegeben?«
»Das wird uns nun unser Kollege Ben erklären«, sagte Zeery. »Er hat weiterrecherchiert.«
Nun stand Dr. Ben Bruckner auf, unser IT-Experte. Er bediente auch den Computer weiter.
»Am Wochenende waren sogenannte Urbexer auf dem Gelände«, sagte er.
»Was für Leute?«, fragte Joe dazwischen.
Ben, der einerseits extrem intelligent war, aber anderseits schnell den Faden verlor, wenn er plötzlich sein Konzept ändern musste, lief rot an und kam kurz ins Stottern.
»Urbexer … Das sind sogenannte Urban Explorer«, erläuterte er. »Leute, die alte verlassene Immobilien aufsuchen, um sie zu erkunden und Fotos zu machen. Es gibt eine regelrechte Urbexer-Szene, die dann ihre Fotos und Videos auf Webseiten postet.«
»Und was ist daran so toll, verfallene Gebäude zu fotografieren?«, fragte Joe weiter. »Vor allem, wo das Ganze ja auch noch strafbar ist. Wenn ich das richtig sehe, begehen diese Typen damit doch Hausfriedensbruch.«
Ben sah verwirrt in die Runde. Er griff in die Tasche und holte ein Lakritzbonbon hervor. Die waren sein ganz persönliches Beruhigungs- und Genussmittel.