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Mord nach Drehbuch
Ein pensionierter Cop war ermordet worden, und Mr. High hegte den Verdacht, dass ein Serientäter dahinterstecken könnte. Der Tote, ein ehemaliger NYPD-Officer, war am Vorabend in seinem Wohnzimmer erschossen worden, anschließend hatte man ihm die Augen ausgestochen. Noch am Tatort erfuhren wir, dass es zwei Wochen zuvor einen weiteren Mord gegeben hatte. Eine Rentnerin war erwürgt worden, und anschließend hatte man ihr die Ohren abgeschnitten.
Zunächst bezweifelte ich, dass ein Zusammenhang zwischen den Taten bestand, doch dann verwies eine Kollegin auf die Krimis der Bestsellerautorin May Winters. Die Morde, die ihre Protagonistin Hannah Hollister aufklärte, entsprachen eins zu eins den Verbrechen, mit denen wir es zu tun hatten ...
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Seitenzahl: 148
Veröffentlichungsjahr: 2019
Cover
Impressum
Mord nach Drehbuch
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelfoto: Dm_Cherry / shutterstock
Datenkonvertierung eBook: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-8473-4
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Mord nach Drehbuch
»Ich kenne Sie nicht! Ich habe Sie noch nie gesehen!«
Leonard O’Brians Stimme war flehend. Doch der Mann schien ihn gar nicht zu hören. So wie O’Brian immer wieder versicherte, dass er ihn nicht kannte, wiederholte auch der Mann sein Mantra: »Du bist schuld.«
O’Brian kannte Schuld. Polizisten machten Fehler wie alle Menschen, nur kosteten die Fehler eines Cops im schlimmsten Fall Leben. Und doch wusste er nicht, worauf der Mann hinauswollte, der ihn mit einer Pistole bedrohte.
»Denk an das kleine Mädchen«, sagte der Fremde.
Eine Erinnerung blitzte auf. O’Brian öffnete den Mund. Doch bevor er reden konnte, drückte der Mann den Abzug.
Den Gedanken an das Mädchen nahm O’Brian mit ins Grab.
Dieses Buch würde sie umbringen.
Zehn Sätze standen auf der Seite. Das war alles, was sie geschrieben hatte, seit sie sich am Morgen an den Schreibtisch gesetzt hatte. Kaum eine halbe Seite. Jetzt war es fast 14 Uhr. An normalen Tagen hatte sie um diese Uhrzeit das Zehnfache geschrieben, an guten Tagen mehr.
Sie lehnte sich zurück und atmete tief durch. Sie war noch nie die Art Schriftstellerin gewesen, die glaubte, dass sie nur auf den Kuss der Muse zu warten brauchte, und dann würden die Worte aus ihr herausfließen.
Schwachsinn.
Schreiben war harte Arbeit, zumindest an den meisten Tagen. Hintern auf den Stuhl, Hände auf die Tastatur und Wörter aufs Papier. So entstanden Romane.
Ab und zu ließ sich die Muse zwar blicken, und das waren unbestritten die besten Tage. An ihnen kamen die Worte wie von selbst, dann konnte sie sich in ihren eigenen Sätzen verlieren. Aber die Muse war eigensinnig und scheu. Sie ließ sich nicht herumkommandieren, und wenn man bemerkte, dass sie am Werk war, ergriff sie oft noch im selben Moment die Flucht.
Die Muse war eine willkommene Besucherin, aber sie war keine verlässliche Kollegin. Romane mussten auch an den Tagen entstehen, an denen die Muse krankfeierte. So war es zumindest bei allen ihren bisherigen Büchern gewesen.
Aber dieses Buch war anders.
Sie stand auf. Streckte die Waffen, zumindest für heute. Sie öffnete die Balkontür und atmete die salzige Luft ein. Der Anblick des Meeres, das Rauschen der Wellen beruhigten sie sofort. Fast konnte sie das kühle Wasser an ihren Füßen spüren, das Salz auf den Lippen schmecken. Vielleicht sollte sie hingehen, einen Spaziergang machen. Vielleicht würde der Wind die Blockaden aus ihrem Kopf pusten, vielleicht könnte sie dann später weiterschreiben.
Doch sie wusste, dass sie sich etwas vormachte. Ihre Schreibblockade lag nicht an mangelnder Bewegung oder fehlender Inspiration, sondern daran, dass sie Angst hatte. Angst vor den Orten, an die sie dieses Buch führen würde. Den Orten in ihr selbst. Und vielleicht ganz realen Orten.
Ein Gedanke, der schon seit Tagen um die Ränder ihres Bewusstseins schlich, drängte sich in den Vordergrund. Vielleicht konnte sie dieses Buch nur schreiben, wenn sie zurückkehrte. An den Ort, den sie nie wieder sehen wollte, zu dem Menschen, den sie um jeden Preis aus ihrem Herzen verbannen wollte. Und der doch immer darin blieb, eingeritzt in ihr Innerstes wie eine hässliche Narbe.
Jedes ihrer bisherigen Bücher war für ihn gewesen. Aber nicht dieses. Dieses Buch war für sie selbst.
Und es würde sie umbringen oder endlich befreien.
So hatte ich Mr. High noch nie gesehen. Ich kannte meinen Chef versunken in Fallakten oder Besprechungsprotokolle. Aber als ich an diesem Morgen sein Büro betrat, saß er zurückgelehnt in seinem Schreibtischstuhl und war vertieft in ein Taschenbuch. Und dem bunten Cover nach zu urteilen, handelte es sich nicht etwa um eine wissenschaftliche Abhandlung, sondern um einen Unterhaltungsroman.
Ich warf meinem Partner Phil Decker, der neben mir in der Zimmertür stand, einen Blick zu. Auch er sah überrascht aus. Dann räusperte ich mich.
»Entschuldigen Sie, Sir, Helen sagte, Sie wollten uns sprechen? Wenn Sie gerade Pause machen, kommen wir später.«
Mr. High sah auf. Mit einem Lächeln legte er das Buch auf seinen Schreibtisch und winkte uns heran.
»Natürlich stören Sie nicht. Setzen Sie sich!«
Im Näherkommen las ich den Titel des Romans. Der Ring des Schweigens von May Winters. Der Name der Autorin kam mir vage bekannt vor.
»Ist das gut?«, fragte Phil.
»Kann ich noch nicht sagen«, gab Mr. High zurück. »Helen hat es mir gerade aus einer Buchhandlung ein paar Straßen weiter besorgt. Es fängt spannend an. Aber das werden Sie dann selbst sehen.«
Ich runzelte die Stirn und wollte gerade nachfragen, warum Mr. High glaubte, dass Phil und ich sein Buch ebenfalls lesen würden, als er schon weitersprach: »Ich habe Sie zu mir gebeten, weil es einen Mord gegeben hat.«
Sofort war das Buch vergessen. Ich hörte konzentriert zu, während Mr. High von dem Fall erzählte, den er uns übertragen wollte. Ein pensionierter Officer des New York Police Departments, Leonard O’Brian, war ermordet worden. Er war am Morgen mit seiner Tochter zum Frühstück in einem nahegelegenen Café verabredet gewesen, aber nicht erschienen. Weil er auf ihre Anrufe nicht reagierte, betrat die Tochter mit ihrem Zweitschlüssel die Wohnung und fand ihren Vater erschossen in seinem Lesesessel. Und es gab ein verstörendes Detail.
»Ihm wurden die Augen ausgestochen«, sagte der Assistant Director in Charge. »Seine arme Tochter steht unter Schock. Sie wird zurzeit ärztlich behandelt.«
»Furchtbar, dass Sie das sehen musste«, stimmte ich zu. »Aber erlauben Sie mir die Frage, Sir: Ist der Mord nicht eher ein Fall für das NYPD? Oder wollen die nicht selbst ermitteln, weil das Opfer ein Ruhestands-Cop aus den eigenen Reihen ist und sie glauben, nicht unbefangen genug zu sein?«
»Das spielt zwar auch eine Rolle, ist aber nicht der Grund, warum Detective Tina Ramirez das FBI angefordert hat«, erwiderte Mr. High. »Vielmehr deutet ihrer Meinung nach einiges auf einen Serientäter hin.«
Phil runzelte die Stirn. »Wegen der ausgestochenen Augen? Ich kann mich nicht erinnern, dass es in jüngster Zeit einen ähnlichen Mord gab.«
»Da haben Sie recht, Agent Decker. In diesem Fall ist die Verbindung nicht ganz so offensichtlich. Aber das kann Ihnen Detective Ramirez besser erklären als ich. Ich schlage vor, Sie fahren zum Tatort, sprechen mit ihr und machen sich selbst ein Bild.«
»In Ordnung.«
Als Phil und ich aufstanden, griff Mr. High wieder nach dem Taschenbuch und reichte es mir.
»Das sollten Sie mitnehmen.«
Ich nahm das Buch entgegen und sah mir das Cover genauer an. Wie viele Krimis, die die Regale der Buchhandlungen füllten, war es ziemlich reißerisch aufgemacht. Titel und Autorenname waren in fetten roten Lettern gedruckt, im Hintergrund war schemenhaft ein Mann zu sehen, der die Augen verbunden und den Mund zum Schrei aufgerissen hatte.
Ich blickte auf, um Mr. High zu fragen, ob der Mann mit den verbundenen Augen etwas mit unserem Fall zu tun hatte. Doch mein Chef war schon wieder in seinen Computer vertieft.
Ich bedeutete Phil zu gehen. Wir würden sicher gleich erfahren, wie der Mord mit dem Buch zusammenhing.
Im Haus von Leonard O’Brian herrschte reger Betrieb. Jeder Winkel seines Wohnzimmers war mit Scheinwerfern ausgeleuchtet. Männer in weißer Schutzkleidung liefen scheinbar ziellos durcheinander. Doch ich wusste, dass der Eindruck täuschte: Die Betriebsamkeit folgte einer genauen Ordnung. Jeder der Mitarbeiter der Crime Scene Unit hatte eine Aufgabe, sicherte Fingerabdrücke, DNA- oder Schmauchspuren an Tatort und Leiche. Für die Aufklärung des Falls konnte es entscheidend sein, dass in diesem frühen Stadium keine Fehler passierten.
Und so blieben Phil und ich zunächst im Hausflur stehen, um das Tatortteam nicht zu stören. Leonard O’Brian wohnte in einem Reihenhaus im Brooklyner Viertel Prospect Park. Eine gediegene Nachbarschaft mit von Platanen gesäumten Straßen, in der überwiegend Familien und gut situierte Rentner lebten.
Auch O’Brians Haus machte einen gepflegten, etwas spießigen Eindruck. Ein dicker cremefarbener Teppich dämpfte unsere Schritte, Porzellanfiguren zierten die Fensterbänke, karierte Kissen waren akkurat auf dem beigen Sofa platziert.
Das Wohnzimmer war makellos aufgeräumt. Selbst die Art, wie der Tote in seine Lesesessel saß – ein Buch im Schoß, die Hände darauf gefaltet –, wirkte merkwürdig ordentlich, wie hindrapiert. Wären da nicht die beiden Einschusslöcher in O’Brians Brust und die blutigen Höhlen im Gesicht, wo eigentlich seine Augen sein sollten.
Phil und ich zogen gerade die Plastik-Überschuhe an, die uns ein Kollege von der Spurensicherung gegeben hatte, als eine junge Frau auf uns zukam. Sie war etwas mollig, hatte ihr schwarzes Haar zu einem straffen Pferdeschwanz gebunden und zeigte beim Lächeln sympathische Grübchen.
»Sie müssen Detective Tina Ramirez sein«, sagte ich.
»Und Sie die Kollegen vom FBI.« Sie begrüßte Phil und mich mit einem kräftigen Händedruck. »Kommen Sie mit, die Gerichtsmedizinerin wollte mir gerade ihre erste Einschätzung zur Leiche mitteilen.«
Phil und ich folgten Tina Ramirez ins Wohnzimmer zu einer Frau mit brünettem Kurzhaarschnitt, die einen babyblauen Overall trug und direkt neben der Leiche auf uns wartete. Im Näherkommen wurde mein Blick wieder von Leonard O’Brians Gesicht angezogen.
Warum raubte ein Mensch einem anderen das Augenlicht, bevor er ihn umbrachte? Um ihn zu foltern? Falls ja, dann sah O’Brian erstaunlich friedlich aus. Seine Hände waren gefaltet, sein Gesicht wirkte ausdruckslos. Würde ein Mensch, dem die Augen ausgestochen wurden, sich nicht wehren oder vor Schmerzen winden? Diese Frage stellte ich der Gerichtsmedizinerin, die sich als Anna Martin vom Office of Chief Medical Examiner vorstellte.
»Gut beobachtet, Agent Cotton«, sagte sie. »Tatsächlich wurden dem Toten die Augen erst posthum ausgestochen. Das erkennt man an der Blutgerinnung. Er wurde mit zwei gezielten Schüssen ins Herz getötet, bevor jemand mit einem Messer die Augen herausgeschnitten hat. Ich vermute übrigens, dass er bereits gestern Abend ermordet wurde.«
»Der Mörder hat O’Brian also überrascht, als er im Sessel gelesen hat, und ihn erschossen, bevor er aufstehen und flüchten konnte«, sagte Phil. »Aber wie ist er ins Haus gekommen? Die Eingangstür war nicht beschädigt. Gibt es auf der Rückseite des Hauses Einbruchsspuren?«
Anna Martin schüttelte den Kopf. »Es deutet nichts auf einen Einbruch hin.«
Ich verschränkte die Arme. »Das heißt, entweder hatte der Täter einen Schlüssel, oder O’Brian hat seinen Mörder selbst ins Haus gelassen.«
Phil deutete auf das Ledersofa, das dem Sessel gegenüberstand. »Vielleicht haben die beiden hier gesessen und sich unterhalten: der Täter auf dem Sofa, O’Brian im Sessel.«
Ich sah nachdenklich zwischen der Leiche und dem leeren Sofa hin und her. »Könnte sein. Aber warum hat O’Brian dann gelesen? Man holt sich doch keinen Gast ins Haus, um sich dann in einen Roman zu vertiefen.«
Tina Ramirez, die bis hierhin schweigend zugehört hatte, räusperte sich. »Und hier kommt meine Theorie ins Spiel. Haben Sie bemerkt, was für ein Buch da liegt?«
Das hatte ich bisher nicht. Es handelte sich um ein gebundenes Buch mit Schutzumschlag. Ich beugte mich über den Schoß der Leiche, um den Titel lesen zu können. Schuld und Sühne von Fjodor Dostojewski.
»Ein bedeutungsschwangerer Titel«, sagte ich.
Ramirez nickte. »Ganz genau. Ich glaube nicht, dass Officer O’Brian dieses Buch wirklich gelesen hat. Ich glaube, der Täter hat es ihm in den Schoß gelegt. Als Hinweis.«
»Glauben Sie deshalb an einen Serienmörder?«
»Nicht nur deshalb. Es gab vor zwei Wochen einen weiteren Mord in Prospect Park, nur etwa fünfhundert Yards entfernt. Eine 69-jährige Rentnerin, Edna Kaczmarek, wurde erwürgt.«
Phil runzelte die Stirn. »Eine räumliche Nähe lässt sich nicht abstreiten, aber das muss nicht heißen, dass ein Zusammenhang besteht. Serientäter zeichnen sich schließlich durch ähnliches Vorgehen aus. Erdrosseln und Erschießen sind ziemlich verschiedene Mordmethoden.«
»Schon«, gab Tina Ramirez zu. »Aber dem ersten Opfer wurden die Ohren abgetrennt.«
»Das klingt bizarr«, sagte ich. »Hatte Edna O’Brian ebenfalls einen Dostojewski im Schoß liegen?«
Tina Ramirez schüttelte den Kopf. »Nein, aber auch das passt zu meiner Theorie. Lesen Sie beide Krimis?«
Ich lachte. »Agent Decker und ich ermitteln täglich in Kriminalfällen. Ich denke, ich spreche für uns beide, wenn ich sage, dass wir kein Bedürfnis verspüren, in unserer Freizeit Geschichten über erfundene Kriminalfälle zu lesen.«
Tina Ramirez lächelte gutmütig. »Da bin ich anders. Bei mir war es die Leidenschaft für Krimis, die mich erst auf die Idee brachte, zur Polizei zu gehen. Und heute lese ich immer noch gerne Romane, in denen man sicher sein kann, dass am Ende immer die Gerechtigkeit siegt.«
»Kann ich verstehen«, gab ich zu. »Aber darf ich fragen, was das mit dem Fall zu tun hat?«
»Jede Menge«, sagte sie. »Ich schlage vor, wir lassen die Kollegen von der CSI-Unit hier ihre Arbeit machen und unterhalten uns woanders in Ruhe.«
Phil warf einen Blick auf die Uhr an der Wand. »Gute Idee. Und da es fast Mittagszeit ist, weiß ich genau den richtigen Ort dafür.«
Wir hatten Glück und ergatterten den letzten freien Tisch im Mezzogiorno. Zur Mittagszeit herrschte bei unserem Lieblingsitaliener immer reger Betrieb. Kein Wunder: Er servierte die beste Pasta weit und breit, und auch die Pizza war vorzüglich.
Nachdem wir bestellt hatten, kehrten wir vom Smalltalk über die besten Restaurants in der Gegend zurück zum Fall.
»Auch wenn Sie beide keine Krimifans sind, haben Sie bestimmt schon von der ›Schweigen‹-Reihe von May Winters gehört, oder?«, fragte Tina Ramirez.
Ich zog das Buch hervor, das Mr. High uns gegeben hatte, Der Ring des Schweigens.
»Gehört haben wir davon, allerdings erst vor ein paar Stunden, als unser Chef uns dieses Buch in die Hand gedrückt hat. Ich nehme an, es gehört zu der Reihe?«
Tina Ramirez nickte. »Das ist der zweite Band. Die Romane standen monatelang auf der New York Times-Bestsellerliste. Ich habe sie verschlungen. Es geht um die junge Ermittlerin Hannah Hollister. Im ersten Band, Der Preis des Schweigens, ermittelt sie nach der Ermordung einer Lehrerin an einer schicken Privatschule. Die Frau wurde erwürgt, anschließend wurden ihr die Ohren abgeschnitten.«
»Genau wie Edna Kaczmarek«, stellte Phil fest.
»Richtig.«
»Und wer war der Täter?«, fragte Phil. Als er Tina Ramirez’ amüsierten Blick bemerkte, fügte er schnell hinzu: »Im Buch, meine ich natürlich.«
»Nun, Hannah Hollister findet heraus, dass die Lehrerin jahrelang den Schulleiter gedeckt hat, der Schüler sexuell missbraucht hat. Obwohl sich einige Schüler Hilfe suchend an sie wandten, unternahm sie nichts. Jahre später wird sie von einem dieser Missbrauchsopfer erdrosselt.«
Ich schluckte. Ziemlich starker Tobak für einen Roman, den ich als reine Unterhaltung abgestempelt hatte.
»Ist Ihnen der Zusammenhang gleich aufgefallen, als Sie die Ermittlungen in Edna Kaczmareks Mord aufgenommen haben?«, fragte ich.
»Nein, in dem Fall haben Kollegen von mir ermittelt. Ich habe zwar davon gehört, aber nicht weiter darüber nachgedacht. Erst als ich zum heutigen Tatort gerufen wurde, zog ich die Verbindung. Denn der Mord an Leonard O’Brian entspricht genau dem im zweiten Band.« Tina Ramirez tippte auf die Ausgabe von Der Ring des Schweigens, die auf dem Tisch lag.
»Das Opfer wird erschossen, und ihm werden die Augen ausgestochen«, folgerte ich.
»Ganz genau. Und das Opfer liest gerade Dostojewskis Schuld und Sühne, als ihn der Täter überrascht.«
»Handelt es sich um denselben Täter wie im ersten Band?«, fragte Phil.
Tina Ramirez schüttelte den Kopf. »Nein, aber der Fall hat parallelen zum ersten. Das Opfer ist Polizist, der einen Kinderpornoring deckt. Die Täterin ist diesmal die Mutter eines der Jungen, der in den Filmen missbraucht wird.«
Wir unterbrachen unser Gespräch, als der Kellner unsere Bestellung brachte. Doch die Schilderung der Romanhandlung hatte mir den Appetit verdorben. Ich stocherte in meiner Pasta herum und versuchte, meine Gedanken zu ordnen.
»Kindesmissbrauch scheint in May Winters’ Büchern immer eine Rolle zu spielen«, sagte ich. »Das müssen wir bei den Ermittlungen berücksichtigen. Doch bevor wir voreilige Schlüsse ziehen, sollten wir mit der Autorin sprechen.«
Tina Ramirez verzog das Gesicht. »Das könnte schwierig werden.«
Sie griff nach dem Roman, schlug die letzte Seite auf und reichte ihn mir. Ich las den kurzen Absatz laut vor, der unter der Überschrift über die Autorin abgedruckt war.
»May Winters ist die erfolgreiche Autorin der Kriminalromane um die Ermittlerin Hannah Hollister. Sie lebt und schreibt sehr zurückgezogen im Staat New York.«
Ich ließ das Buch sinken. »Könnte schlimmer sein«, sagte ich. »Sie könnte schließlich auch in Kalifornien leben.«
Phil grinste. »Wieso schlimmer, Jerry? Gegen einen Trip in den Golden State hätte ich nichts einzuwenden.«
Tina Ramirez ignorierte den Einwurf meines Partners. »Das Wort zurückgezogen ist in diesem Falle wörtlich zu nehmen. May Winters ist ein Pseudonym. Niemand kennt ihre wahre Identität. Sie tritt nie öffentlich auf und gibt auch keine Interviews.«
»Nur weil die Öffentlichkeit nicht weiß, wer sie ist, heißt das nicht, dass es schwierig wird, sie zu finden«, wandte Phil ein. »Schließlich muss ihr Verlag wissen, wer hinter dem Pseudonym steckt.«
»Gute Idee, Phil!« Ich betrachtete das kleine Logo, das in der unteren Ecke des Romancovers aufgedruckt war. Der stilisierte Kopf einer Frau, die die Hände von den Mund geschlagen hatte. Darunter stand Nailbite Publishing.
»Nailbite«, murmelte ich, »nie gehört.«
Sofort war Tina Ramirez wieder in ihrem Element. »Das ist ein mittelgroßes Verlagshaus, das sich auf Spannungsliteratur spezialisiert hat. Soweit ich weiß, waren die Schweigen-Romane der größte Erfolg des Verlags seit Jahren.«
Ich öffnete auf meinem Smartphone die Verlagswebsite.
Phil stöhnte. »Kann das nicht bis nach dem Essen warten?«
»Du hast wie immer recht, Partner.« Mit einem entschuldigenden Lächeln steckte ich das Handy wieder ein und griff nach meinem Besteck. »Hungrig in die Ermittlungen zu starten, ist eine schlechte Idee.«
Für das restliche Mittagsessen sprachen wir bewusst über andere Themen. Tina Ramirez nutzte die Gelegenheit, uns ihre liebsten Krimiautorinnen und -autoren zu empfehlen. Als wir das Mezzogiorno verließen, nahm sie uns das Versprechen ab, zumindest den einen oder anderen Roman mal anzulesen.
»Im nächsten Urlaub mache ich das gern«, sagte ich und reichte ihr die Hand.