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Abschiebung ‒ ein Job, den kein Polizist gerne übernahm. Doch im Fall von Tiziana di Lucca war unser Auftrag allzu berechtigt. Denn die schöne Sizilianerin war Mitglied der Cosa Nostra, und ihr sollte in Italien der Prozess gemacht werden. Leider hatte der New Yorker Gangsterboss Gregory Orlando alias »Don Gregorio« etwas dagegen, dass die Mafiaprinzessin die USA verließ, denn sie wusste allzu viel über seine verbrecherischen Geschäfte. Und so hetzte er uns Carlo Galante auf den Hals, seinen Mann fürs Grobe, dessen mörderisches Vorgehen schon an Wahnsinn grenzte ...
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Seitenzahl: 138
Veröffentlichungsjahr: 2020
Cover
Impressum
Ich und die Mafiaprinzessin
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelfoto: Olga Ekaterincheva/shutterstock
Datenkonvertierung eBook: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-9269-2
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Ich und die Mafiaprinzessin
»Bitte!«, flehte die schöne Sizilianerin. »Seid doch keine Unmenschen! Müsst ihr mich denn wirklich abschieben?«
Ihre Stimme ging fast unter im Maschinendröhnen des Coast-Guard-Patrouillenboots, das uns von Long Island wegbrachte. Traurigkeit trübte die sonst so leuchtenden dunklen Augen der schlanken, schwarzhaarigen Frau. Der harte Edelstahl der Handschellen über ihren zarten Handgelenken stempelte Phil und mich zu brutalen Bezwingern. Scheinbar.
Aber wir taten nur, was wir tun mussten. Denn Tiziana di Lucca war alles andere als eine schutzbedürftige schwache Frau. Sie war eine Mafiaprinzessin!
»Man kann doch über alles reden«, versuchte sie es noch einmal, niedergeschlagen jetzt.
»Kann man«, antwortete ich und wollte hinzufügen, dass es nichts nützte. Doch ich kam nicht dazu. Ein schmetternder Schlag erschütterte den Bootsrumpf.
»Runter!«, rief Phil.
Gemeinsam packten wir zu, rissen Tiziana auf den Kajütboden.
Sie schrie vor Schreck. Ihre Handschellen klirrten, als sie zwischen uns auf dem Hartholz landete. Geistesgegenwärtig hatte sie den Kopf an die Brust gezogen. Sie wusste, wie man hinfallen musste, wenn man sich nicht wehtun wollte.
Phil und ich kauerten uns über sie. Was auch geschehen mochte, wir beschützten die Sizilianerin mit unseren Körpern, ohne Rücksicht auf unser eigenes Leben. Denn das war unser Auftrag, und das hatten wir einst in unserem Diensteid geschworen: Menschenleben ohne Ansehen der Person zu retten.
Die beiden Innenborder des Patrouillenboots brüllten auf. Mächtiger Schub drückte das Heck abwärts und hob den Bug an.
Tiziana lag unter uns in Embryohaltung wie ein hilfloses Kind. Sie hatte das Gesicht nach oben gedreht, zu uns. Ihre Augen waren von Angst erfüllt, hatten allen Glanz verloren.
Es tat mir in der Seele weh, sie so sehen zu müssen. Ein Blickwechsel mit Phil zeigte mir, dass er genauso empfand. Und wir hassten diesen Job beide. Viel lieber hätten wir Tiziana an einem angenehmeren Ort kennengelernt. In der Bar eines der noblen Clubs in Manhattan. An einem Strand von Long Island. Oder im Foyer eines Kinos.
Und viel lieber hätten wir um die Wette mit ihr geflirtet. In einem fairen Wettstreit um ihre Gunst hätte dann einer von uns gewonnen. Derjenige natürlich, für den sie sich entschied. So hätte es laufen können, wenn sie nicht den Hintergrund gehabt hätte, den sie hatte.
Der Bootsführer, ein Lieutenant, gab dem Rudergänger knappe Instruktionen. Dann wandte er sich ab und verließ den Kommandostand. Er trug ein Headset mit daumengroßem Kopfhörer und Bleistiftmikro. Geduckt, mit wenigen Schritten, eilte er zu uns herüber. Im selben Moment wurde es draußen auf dem Wasser laut.
Hinter uns erwachte geballte Maschinenkraft zu donnerndem Leben. Die Einsatzreserve der Coast Guard trat in Aktion. Mindestens drei Patrouillenboote waren es, die ihr Versteck in einer Bucht an der Landseite verließen. So war es vorgesehen, laut Einsatzplan. Wir waren auf alles vorbereitet, obwohl wir nicht wirklich damit gerechnet hatten, dass jemand leichtsinnig genug war, einen Angriff zu riskieren.
Jetzt wussten wir es besser.
Und wieder traf ein Schmetterschlag unser Boot.
Der Lieutenant wirkte ruhig. Er ging neben uns in die Knie. Sein Namensschild wies ihn als Daniel Murphy aus. Er war dunkelhaarig, hatte blaue Augen und trug einen gepflegten Vollbart. Ich schätzte ihn auf Ende Zwanzig.
»Sprenggeschosse«, sagte er und deutete mit dem Zeigefinger nach oben, auf die Panzerglasscheiben der Kajütfenster. Zwei der rundeckigen Quadrate waren mit einem spinnenfaserigen Muster und schneeballförmigem Weiß in der Mitte ausgefüllt.
Unser Boot wendete in einem weiten Bogen. Im selben Moment hörten wir, wie die anderen Patrouillenboote an uns vorbeizogen. Die Crews eröffneten das Feuer. Bordkanonen hämmerten. Schnellfeuergewehre peitschten.
»Angreifer geortet?«, fragte ich militärisch knapp.
»Positiv, Sir.« Murphy deutete mit dem Daumen über die Schulter, nach Backbord. »In der Kommandozentrale haben sie alles auf dem Schirm. Die Angreifer sitzen auf der Landzunge, etwa auf gleicher Höhe mit uns. Zwei Mann, gut getarnt, gute Deckung, mit einer Maschinenkanone auf Lafette.«
»Bricht hier der Krieg aus?«, wunderte sich Phil.
»Die Mafia kehrt zu ihren gewalttätigen Wurzeln zurück«, sagte ich grimmig, und auf einmal sah ich Tiziana mit anderen Augen. Sie war nicht länger das verletzliche, schutzbedürftige Reh. Sie war der Auslöser dieses Teufelstanzes, denn ihre Welt war so rau und so grausam wie die härteste Männerwelt.
»Wir ziehen uns in die Bucht zurück, wie vorgesehen«, erklärte Lieutenant Murphy. »Die Kollegen haben die Lage im Griff. Aber was, in aller Welt, bezwecken diese Angreifer?«
»Sie haben erreicht, was sie wollten«. antwortete ich. »Sie haben uns daran gehindert, Tiziana außer Landes zu bringen. Und jetzt werden sie sie im Auge behalten und bei passender Gelegenheit töten.«
Lieutenant Murphy rückte seinen Kopfhörer zurecht und sah Phil und mich an. »Ich höre gerade, dass die Kollegen ein Boot auf dem Radar haben – auf der anderen Seite der Landzunge. Es bewegt sich von uns weg.«
Ich brauchte keine Sekunde, um meinen Plan zu entwickeln. Ich erläuterte ihn mit knappen Worten.
Phil und der Lieutenant hörten zu und starrten mich ungläubig an.
Die schwarzgekleideten Männer umringten Carlo Galante auf dem Achterdeck der schnittigen Bayliner-Cruiser-Yacht. Abwechselnd blickten sie nach unten und nach oben. Unten war der Bildschirm des Steuergeräts, das Galante auf den Knien hielt. Oben stieg die Drohne auf hundert Fuß. Zügig schwirrte das kleine, sechsrotorige Fluggerät davon. Es erreichte die Höhe der Landzunge.
Galante war ein Muskelberg von einem Mann. Enge Jeans und ein weißes T-Shirt unterstrichen seinen athletischen Körperbau. Kurz geschnittenes schwarzes Haar bedeckte seinen kantigen Schädel wie eine Matte. Seine dunkelblauen Augen fixierten das Display hochkonzentriert, während er die beiden winzigen Steuerknüppel so feinfühlig bediente, als wären sie aus sprödem Glas.
Der Rudergänger lenkte die Yacht mit langsamer Fahrt von dem lang gestreckten Landstreifen weg und nahm Kurs auf den offenen Long Island Sound. Im Maschinenraum unter den auf Edelglanz polierten Mahagoniplanken des Achterdecks wummerten die beiden Mercury-Innenborder mit verhaltener Kraft.
»Verdammt, was wird das denn?«, fluchte Galante plötzlich. »Kriegen die denn gar nichts mit?«
Die vier Schwarzgekleideten mussten nicht nachfragen, was er meinte. Der relativ kleine Bildschirm gab die Aufnahme der Drohnenkamera mit brillanten Farben und gestochen scharf wieder.
Ein High-Definition-Bild im Fernseher hätte nicht besser sein können. Die beiden Bediener der Hotchkiss-Maschinenkanone trugen die gleichen schwarzen Kampfanzüge wie die Männer an Bord des Bayliners. Ihre Stellung hatten sie hinter brusthohen Mauerresten der Ruine eines ehemaligen Leuchtfeuerhauses eingerichtet.
Das Tarnnetz, das sie über die Hotchkiss und das Mauerwerk geworfen hatten, bewegte sich zuckend auf und ab. Es sah aus, als würden unsichtbare Finger an dem olivgrünen Netz zupfen. Der Geschützbediener und der Gurtzuführer blieben unbeirrt, feuerten weiter auf das Patrouillenboot, das in diesem Moment wendete und auf die Mündung einer Bucht am jenseitigen Ufer zuhielt.
Die Sprenggeschosse verursachten nicht mehr als weiße Flecken auf dem Panzerglas und Dellen auf dem grauen Rumpf des Coast-Guard-Boots. Dass es den Rückzug antrat, bedeutete nicht viel – angesichts der Übermacht von drei weiteren Einsatzbooten, die aus ihrem Bereitstellungsraum in der Bucht hervorgebrochen waren.
Und die Besatzungen feuerten aus allen Rohren – mit Bordgeschützen auf Lafetten und Gewehren im Schulteranschlag. Dass es sich keineswegs nur um Schnellfeuergewehre handelte, stellte Galante fest, ohne zweimal hinsehen zu müssen.
»Runter! Scharfschützen!«, schrie er den Bildschirm der Fernsteuerung an, als würden die beiden Männer ihn hören können.
Doch sie kriegten nichts mit, und als die Geschosse, die am Tarnnetz zupften, tiefer lagen, war es auch schon zu spät.
Der Hotchkiss-Schütze wurde von der vollautomatischen Waffe weggerissen und von der Wucht des Einschusses herumgewirbelt. Wankend stürzte er zu Boden. Den Gurtzuführer schleuderte es nach hinten, ins wuchernde Gestrüpp.
Sekundenlang waren Galante und seine Männer wie erstarrt. Dann erkannten sie, dass sich ihre Gefährten in der Geschützstellung noch bewegten. Einzig Galante war darüber nicht erleichtert.
»Diese Schweinehunde«, knurrte er. »Das haben sie mit Absicht gemacht.«
»Wer? Was?«, fragte einer der Männer irritiert. Die anderen sahen ihren Anführer stirnrunzelnd an.
»Die verdammten Scharfschützen«, antwortete Galante dumpf, ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden. »Die haben sie absichtlich am Leben gelassen. Damit sie wieder ein paar Zeugen zum Ausquetschen haben.« Er gab einen zornigen Laut von sich. »Aber das lässt sich ausbügeln. Wenn wir erst mal wissen, in welchem Gefängnishospital sie liegen.«
Die Männer pressten die Lippen zusammen, doch sie ließen sich nicht anmerken, wie geschockt sie waren. Die Einschätzung, dass sie vor diesem Mann auf der Hut sein mussten, bestärkte sich. Galante war ein Emporkömmling, einer, der es geschafft hatte, durch ein paar erfolgreiche Coups die Gunst der Bosse zu erlangen.
So war er vom Zuträger zum Vollmitglied der Mafiafamilie Orlando geworden. Aber das reichte ihm nicht. Er wollte nach oben. So schnell wie möglich. Um das zu schaffen, würde er buchstäblich über Leichen gehen – auch in den eigenen Reihen. Letzten Endes konnten ihm tote Zeugen nicht gefährlich werden.
Keiner der Männer wagte es, einen Kommentar abzugeben. Und Galante war mit seinen Gedanken längst weiter, steuerte die Drohne hinter dem Patrouillenboot mit Tiziana di Lucca an Bord her. Die Einmündung der Bucht erweiterte sich im Aufnahmewinkel der Drohnenkamera.
Ein kleines, wendiges Schnellboot vom Typ »Safe 25« löste sich von der Steuerbordseite eines größeren Kajütkreuzers, beide im Einheitsgrau der Coast Guard. Das Schnellboot fuhr dem Patrouillenboot entgegen und ging längsseits. Zwei Männer erschienen an Deck und stiegen auf das kleinere Boot um.
Galante stieß einen Pfiff aus.
»Cotton und Decker!«, hauchte er andächtig. »Welch eine Ehre. Man muss schon eine ganz große Nummer sein, um von denen aufs Korn genommen zu werden.«
Die Männer wechselten vielsagende Blicke. Dass Carlo Galante sich für eine große Nummer hielt, war ihnen schon lange klar gewesen.
Während sich die FBI-Agenten in den Kommandostand begaben, tauchte ein uniformierter Coast-Guard-Mann auf dem Vordeck des Schnellboots auf. Mit wenigen Handgriffen machte er das Buggeschütz einsatzbereit. Es war ein leichtes Maschinengewehr.
Der Uniformierte schwenkte es himmelwärts. Das Kameraauge blickte direkt in die Mündung der Waffe. Galante und die anderen sahen noch den ersten Mündungsblitz, dann zersprang das Videobild in tausend Glitzersplitter.
Wieder tauschten die Männer Blicke. Galante hatte mal eben zwei von ihnen, eine Hotchkiss-Maschinenkanone und eine nicht ganz billige Drohne geopfert.
»Ab die Post!«, rief er zum Ruderstand hin. »Wir haben 410 PS, und wir sind stärker als die. Denen fahren wir locker davon!«
Mein Plan war einfach.
Direkter Vorstoß. Punktgenau ins Ziel. Das war es im Wesentlichen.
Mit dem Schnellboot waren wir dafür bestens gerüstet. Die Besatzung bestand aus vier Mann, und es gab ein großzügig bestücktes Waffenarsenal an Bord – von Signalpistolen über Maschinenpistolen bis hin zum leichten Buggeschütz.
Wir würden das Boot verfolgen, das sich dort drüben, jenseits der Landzunge, abzusetzen versuchte.
Während wir auf das Schnellboot übergewechselt waren, hatten Kollegen vom US Marshals Service unsere Schutzbefohlene übernommen.
Die Marshals hatten an Bord des Kajütkreuzers auf uns gewartet. In diesen Minuten bereiteten sie Tiziana di Luccas Überführung in ein Safe House vor. Die Drohne, die den Vorgang hätte beobachten können, war atomisiert im Wasser der Bucht versunken. Das hatte ich zwar nicht vorplanen können, aber umso mehr kam es uns jetzt zugute.
Die verwundeten Angreifer von der Geschützstellung wurden ebenfalls in diesen Minuten abtransportiert. An Land, im nächstgelegenen Hospital, sollten sie medizinisch versorgt und dann verhört werden.
Per Radar und Satellitenüberwachung behielten die Kollegen von der Coast Guard das davonjagende Boot auf dem Schirm. Es war das einzige in der unmittelbaren Umgebung, das sich nach Norden entfernte. Alle anderen Wasserfahrzeuge folgten dem Verlauf des Long Island Sound entweder in Ost-West-Richtung oder umgekehrt.
Dank der Satellitenbilder wussten wir inzwischen, dass die Fliehenden eine Bayliner Cruiser Yacht benutzten, das Innenborder-Modell mit zwei bärenstarken Maschinen.
Doch unser Schnellboot hatte noch ein paar Pferdestärken mehr, denn es war eine getunte Version der Standardausführung. Davon ahnten Außenstehende nichts. Mit meinem Plan kalkulierte ich diesen Umstand ein. Wir würden die Verfolgten stellen, indem wir sie den bereits in Marsch gesetzten Coast-Guard-Einheiten in die Arme trieben.
Es handelte sich um eine kleine Armada aus den nahegelegenen Stützpunkten an den Küstenabschnitten des Long Island Sounds. Die Patrouillenboote und Kreuzer kamen uns in einem weiten Halbkreis entgegen, den sie immer enger schließen würden, bis die Fliehenden in der Falle saßen.
Sobald wir sie eingesackt hatten, würde ich den Bayliner entern.
In der Tat, so einfach war mein Plan.
Davon war inzwischen auch Phil überzeugt. Anfangs war er strikt dagegen gewesen. Viel zu gefährlich, hatte er argumentiert. So was gehe nur mit einem Großeinsatz von Spezialkräften. Und überhaupt hätten Alleingänge was Selbstmörderisches. Ich solle endlich aufhören, das als meine Spezialität zu betrachten.
Natürlich war das eine Unterstellung – eine durchaus gut gemeinte allerdings.
Und mein Freund hatte sich überzeugen lassen. Vor allem durch den Punkt, den ich an erster Stelle ins Feld führte: Bis wir einen Großeinsatz organisiert hatten, würde einfach zu viel Zeit vergehen. Wir würden unsere Chance vergeben, den Kerl zu stellen, der es riskierte, sich mit einer ganzen Streitmacht der Coast Guard anzulegen.
Auch beim Entern würde Phil nun mitmachen. Darauf hatte er bestanden. Wenn ich schon mitten in die Hölle spazieren musste, wollte er wenigstens dabei sein. ›Wozu sind wir Dienstpartner?‹, hatte er gesagt.
Dass die Männer der Coast Guard uns Feuerschutz geben würden, stand sowieso fest.
Die schmale Wasserfläche zwischen der Landzunge und der Long-Island-Küste war wie ein natürlicher Hafen, dessen Ausfahrt wir uns jetzt näherten. Unser Blickfeld öffnete sich nach Norden und Westen, dann auch nach Süden, als unser Boot den Kurs nach Backbord änderte.
Die scheinbar endlose Weite des Long Island Sound breitete sich vor uns aus. Weiße Segel von unterschiedlich großen Yachten waren zu sehen, dazwischen dunkle, klobige Umrisse von Küstenfrachtern und Tankern. Es herrschte nur schwacher Wellengang. Auf die Ferne gesehen, wirkte die See fast glatt.
Der Kommandant unseres Schnellboots war Lieutenant Commander Sean Thompson, ein schlanker, dunkelhaariger Mann ohne den weit verbreiteten Seebären-Vollbart. Er hatte sein Fernglas bereits an die Augen gehoben und scannte den Sound zum nördlichen Horizont hin. Hinter einem Dunststreifen verborgen, erstreckte sich dort die Küste von Connecticut.
»Da haben wir ihn«, sagte Thompson zufrieden. Er ließ das Glas sinken und deutete über den Backbordbug voraus.
Der Bayliner war noch mit bloßem Auge zu erkennen.
Aus der Distanz sah er aus wie ein schlankes Insekt, das von weit ausgebreiteten gischtweißen Flügeln getragen wurde. Die schäumende Hecksee, die das 410-PS-Boot hinterließ, glich einer Straße, die soeben über den Wellengang gelegt wurde – einladend und wie für uns gemacht.
All right, wir würden uns nicht zweimal einladen lassen.
Thompson sah mich an. Ich nickte. Es gab keine Fragen mehr. Thompson gab knappe Anweisungen an den Rudergänger, einen Seaman namens Michael Shanahan. Die beiden übrigen Crewmitglieder hielten sich unter Deck auf, im Maschinenraum und in der Kajüte.
Phil und ich ergriffen die Handrails, denn wir wussten, was kam. Im selben Moment, als Seaman Shanahan die Regler nach vorn schob, verwandelte sich das Schnellboot in ein brüllendes Ungeheuer.
Das Boot schien uns den Boden unter den Füßen wegreißen zu wollen. Ohne die Handrails wären wir nach hinten geschleudert worden. Mit Mühe gelang es uns, dem mächtigen Vortrieb standzuhalten, uns dagegen zu stemmen und uns in eine vornübergebeugte Haltung zu ziehen.
Inzwischen war der Bug schräg nach oben gerichtet. Seitlich wehten die Gischtfahnen vorbei. Das Blickfeld, das die flachen Windschutzscheiben uns erlaubten, wurde himmelwärts gezwungen. Unten, im Bauch des Schnellboots, dröhnte der Stahlgesang der Maschinen.
Sean Thompson hatte sich an die Backbordseite des Kommandostands begeben. Von dort aus war er in der Lage, scharf am Bug vorbeizuspähen, über das schäumende Weiß hinweg. Er hob das Doppel-Okular des Fernglases an die Augen, hielt es mit der linken Hand. Den rechten Arm streckte er in unsere Richtung und gab uns das Daumenzeichen.
Wir holten auf, hieß das.
Die Gischtfahnen der Bugwelle hatten an Backbord und an Steuerbord ihren Höchststand erreicht. Außer nach vorn, zum Blau des Himmels, hatten wir nur noch nach achtern freie Sicht. Dort ließ das Schnellboot eine ähnlich breite weiße Hecksee zurück wie der Bayliner vor uns.
Geduld war angesagt. Es würde eine Weile dauern, bis wir zu dem Fliehenden aufgeschlossen hatten. An Backbord blieben schemenhaft die Umrisse der Insel zurück. Es war ein felsiges kleines Eiland, das auf offiziellen Landkarten nicht verzeichnet war.
Rocky Island.
Den einfallslosen Namen kannten wir nur durch unsere V-Männer, die uns mit Informationen aus dem Gangland versorgten, der Welt des organisierten Verbrechens – einer Parallelwelt, in der die Mafia nach wie vor eine führende Rolle spielte.
Rocky Island war Privateigentum, ein ansonsten nutzloser Felsenklotz von gerade mal zehntausend Quadratyard, knapp drei Meilen außerhalb der nördlichen Long Island-Küste bei Shoreham, Suffolk County, New York.